DISKUSSION ERWÜNSCHT
Laut Opposition wird Venezuelas Demokratie nun endgültig zu Grabe getragen. Parteien, Kirche und UnternehmerInnen wettern gegen die geplante Verfassungsreform, die sie als „Staatsstreich“, „verfassungswidrig“ und „unmoralisch“ bezeichnen. Chávez wolle sich mit ihr als absolutistischer Sonnenkönig auf seinem Thron verewigen und die BürgerInnen zu seinen bloßen UntertanInnen machen. Studierende liefern sich in allen Universitätsstädten des Landes Straßenschlachten mit der Polizei. Und obwohl die chavistische Basis massiv für die Reform mobilisiert, wird auch in den eigenen Reihen die Kritik an Chavéz derzeitigem Vorgehen lauter.
Wirft man einen nüchternen Blick auf die Inhalte der geplanten Reform von insgesamt 69 Artikeln, so ist ein widerspruchsfreies Fazit kaum möglich. Die Reform würde zugleich einen Abbau und einen Zuwachs von Demokratie ins Recht setzen: Dass der Präsident zum Beispiel künftig in die territoriale Gliederung des Landes eingreifen könnte, die Mindestzahl von Unterschriften für die Zulassung von Referenden angehoben werden könnten oder eine einfache Parlamentsmehrheit die RichterInnen des Obersten Gerichtshofs absetzen kann, stellt nicht gerade einen Fortschritt für die Demokratie dar. Andere Artikel hingegen schon. So sollen die partizipatorischen Kommunalen Räte Verfassungsrang erhalten, die Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung verboten werden und die Universitätsleitung künftig paritätisch durch Studierende, ProfessorInnen und MitarbeiterInnen gewählt werden.
Doch das eigentliche Problem liegt tiefer. Es betrifft die Art und Weise, wie das Reformprojekt regelrecht durchgepeitscht wird. Neben den Änderungsvorschlägen von 33 Verfassungsartikeln, die Chávez selbst aufgestellt hat, wurden lediglich vier Wochen vor dem Referendum am 2. Dezember noch 36 Artikel von der Nationalversammlung als Paket hinzugefügt. So bleibt kaum Zeit für öffentliche Meinungsbildungsprozesse, für Austausch und kritische Diskussion – das wirft kein gutes Licht auf ein erklärtermaßen partizipatorisches Projekt. Rund die Hälfte der Bevölkerung würde laut Umfragen die Reform heute nicht mittragen. Damit sägt Chávez selbst an der demokratischen Legitimität des „bolivarianischen Prozesses“. Die unter Chávez verabschiedete Verfassung von 1999 hingegen findet breite Akzeptanz, selbst in Oppositionskreisen.
Vor allem aber ist es schlechtes Zeichen für jedes politisches Projekt, wenn es sich keine Debatte erlauben kann oder will. Dies scheint in Venezuela derzeit der Fall zu sein. Dafür steht nicht nur das Eilverfahren, in dem die Reform verabschiedet werden soll, sondern auch die Entwicklung, dass kritische Stimmen innerhalb des chavismo als Verrat gebrandmarkt werden, anstatt zu Diskussionen anzuregen. Dass die vom Nationalen Wahlrat geplanten Fernsehdebatten aufgrund mangelnden Interesses von Chávez’ Vereinigter Sozialistischer Partei PSUV ausfallen, spricht weniger für kritisches Medienbewusstsein als vielmehr für Arroganz. Ob es sich dabei um die Arroganz einer sich selbst sicheren oder um die einer verunsicherten Macht handelt, sei dahin gestellt. Die Botschaft bleibt klar: Diskussion und Kritik sind unerwünscht.
Ein noch traurigeres Bild bietet allein die Opposition. Dieselben Leute, die seit über acht Jahren permanent vom Ende der Demokratie faseln und sie durch ihre offene oder heimliche Unterstützung des Putsches gegen Chávez 2002 beinahe tatsächlich abgeschafft hätten, sind nicht nur nicht in der Lage, mit Inhalten Politik zu machen. Sie scheinen auch schlicht unfähig, die angebliche rechnerische Mehrheit gegen die Reform dafür zu nutzen, um geschlossen für das „Nein“ an der Wahlurne zu mobilisieren.
Eine ernsthafte Debatte über die Reform scheint in der polarisierten venezolanischen Gesellschaft derzeit kaum möglich zu sein. Ohne Kritik- und Lernfähigkeit ist jedoch nicht nur jedes emanzipatorische Projekt zum Scheitern veruteilt. Eine Gesellschaft, in der KritikerInnen mehr und mehr als FeindInnen wahrgenommen werden, verspricht darüberhinaus nichts Gutes.