Nummer 402 - Dezember 2007 | Venezuela

Reform ohne Debatte

Am 2. Dezember entscheidet Venezuela über Chávez‘ Verfassungsreform. Eine Debatte ist in dem polarisierten Land nicht möglich

„Staatsstreich“ oder „Fortsetzung der Revolution“: Die Verfassungsreform, die Präsident Hugo Chávez auf den Weg gebracht hat, vertieft die Spaltung des Landes. Umfragen deuten an, dass die Mehrheit der Bevölkerung die Verfassungsänderung ablehnt, aber die Opposition ist zu zerstritten, um für ein „Nein“ an den Urnen zu mobilisieren.

Tobias Lambert, Robin Stock

Langsam wird es zur Routine. Am 2. Dezember dieses Jahres werden die VenezolanerInnen wieder einmal zur Wahlurne gerufen. Die Bevölkerung ist dieses Mal aufgefordert, ihre Zustimmung oder Ablehnung zur Reform von insgesamt 69 Verfassungsartikeln kundzutun. Der venezolanische Präsident Hugo Chávez hatte bereits kurz nach seiner Wiederwahl im vergangenen Dezember angekündigt, die Verfassung reformieren zu wollen.
Dazu schlug er im August 33 Artikel zur Änderung vor, um den Weg zum angestrebten bolivarianischen Sozialismus zu ebnen (siehe LN 399/400). Die Nationalversammlung fügte anschließend weitere 36 Artikel hinzu. Da das Parlament aufgrund des Wahlboykotts der Opposition 2005 ausschließlich mit AnhängerInnen von Staatspräsident Chávez besetzt ist, wurde die Reform beinahe einstimmig durchgewunken. Bei 161 Ja-Stimmen enthielten sich lediglich die sechs Abgeordneten der sozialdemokratischen Partei Podemos, die der Regierung mittlerweile kritisch gegenübersteht. Deren Generalsekretär Ismael García bezeichnete die Reform gar als „Staatsstreich gegen die bestehende Verfassung“. Die Reform enthält sowohl Artikel, die den Präsidenten stärken, als auch solche, die die partizipative Demokratie ausweiten. Es wird in zwei Blöcken abgestimmt werden (siehe Kasten).
Sämtliche Oppositionsparteien, die katholische Kirche, Unternehmerverbände sowie zahlreiche Universitätsrektoren und Studierende laufen Sturm gegen die geplante Verfassungsreform. Sie befürchten vor allem eine Konzentration der Macht beim Präsidenten sowie eine Einschränkung der politischen und unternehmerischen Freiheiten durch die Festschreibung Venezuelas als „sozialistischer Staat“. Mehrere tausend AnhängerInnen der Oppositionsparteien hatten am 3. November mit einer Demonstration ihren Wahlkampf für das „Nein“ beim Referendum begonnen. Der ehemalige Präsidentschaftskandidat Manuel Rosales verkündete: „Ab heute werden wir auf den Straßen sein, weil wir nicht erlauben werden, dass Venezuela kubanisiert wird.“
Laut Umfragen könnte die Opposition zwar das Referendum für sich entscheiden, da die Mehrheit der Bevölkerung die Reform ablehnt. Innerhalb der Opposition gibt es jedoch Stimmen, die nicht explizit zum Urnengang aufrufen. Daher wird sich die Ablehnung der Reform vermutlich in Nein-Stimmen und Enthaltungen aufteilen. Somit könnte trotz der historischen Chance für die Opposition am 2. Dezember dennoch das „Ja“ triumphieren. Wie schon bei den Demonstrationen gegen die Nichtverlängerung der offenen Sendelizenz des oppositionellen Fernsehsenders RCTV vor einem knappen halben Jahr, gehen die Proteste vor allem von oppositionellen Studierenden aus der Mittel- und Oberschicht aus.
Doch auch die RegierungsanhängerInnen betreiben massiv Wahlkampf und veranstalten Kundgebungen und Demonstrationen, um für das „Ja“ beim Referendum zu werben. Der chavistische Wahlkampfauftakt am 4. November begann ebenfalls mit einer Großdemonstration. Über 100.000 Menschen waren dem Aufruf der sich in Gründung befindlichen Vereinigten Sozialistischen Partei (PSUV) gefolgt und zogen durch die Innenstadt der Hauptstadt Caracas. „Ahora Sí“ (Diesmal Ja) lautete die Parole für die RegierungsanhängerInnen in ihren roten T-Shirts, die nahezu die gesamte 1,3 Kilometer lange Avenida Bolívar ausfüllten.
Die Demonstration endete mit einer dreistündigen Ansprache von Hugo Chávez, in der er seine Anhängerschaft auf den bevorstehenden Wahlkampf einschwor. Zudem warnte der Präsident vor Destabilisierungsversuchen seitens der Opposition. „Sie versuchen das Land zu entzünden, sie rufen öffentlich zur Missachtung der Institutionen und Gesetze auf, sie beschwören einen Putsch herauf und füllen die Straßen mit Gewalt“, sagte Chávez. In Richtung der Studierenden wetterte er: „Wir dürfen nicht erlauben, dass diese Muttersöhnchen, diese reich geborenen Kinder, die mit einem Silberlöffel im Mund zur Welt kamen, die Straßen von Caracas zerstören”.
Mit dieser Diffamierung spielte er auf eine Demonstration drei Tage zuvor an. Einige tausend Studierende waren zum Nationalen Wahlrat (CNE) gezogen, wo es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei kam. Von Chávez‘ Verbalattacke zeigten sie sich wenig beeindruckt. „Wir Studierenden handeln, wie es sich gebührt, um unsere Zukunft und unsere Würde zu retten. Aber der Rest der VenezolanerInnen muss dasselbe tun“, sagt Yon Goicochea, einer der Studierendensprecher, der an der Katholischen Universität Andrés Bello (UCAB) studiert.
In allen Universitätsstädten finden fast täglich Proteste statt. Dabei stoßen oppositionelle Studierende nicht nur mit der Polizei, sondern auch mit chavistischen KommilitonInnen zusammen. Den traurigen Höhepunkt der Gewalt stellten die bisher unaufgeklärten Ereignisse im Anschluss an eine oppositionelle Studierendendemo zum Obersten Gericht am 7. November dar, die mit insgesamt neun Verletzten endete. Ersten Medienberichten zufolge seien von der Demo zurückkehrende Studierende auf dem Gelände der Zentraluniversität Venezuelas (UCV) in Caracas von bewaffneten chavistas auf Motorrädern attackiert worden. Die Angreifer hätten sich schließlich in der als chavistischen Hochburg innerhalb der UCV bekannten Schule für Sozialarbeit verschanzt.
Dieser Version der Geschehnisse wurde allerdings von zahlreichen ZeugInnen widersprochen. Die chavistische UCV-Studentin Andreína Tarazón berichtete: „Wir hängten gerade Poster zur Unterstützung des ‚Sí‘ auf, als sie uns mit Tränengasbomben attackierten“. Oppositionelle Studierende hätten die Schule für Sozialarbeit umstellt und versucht, diese anzuzünden. Zu diesem Zeitpunkt hätten sich 123 Menschen innerhalb des Gebäudes befunden, zu deren Befreiung dann Motorradfahrer mobilisiert worden seien.
Die starke Polarisierung der Gesellschaft zeigt sich wieder einmal vor allem dadurch, dass Grautönen in der politischen Schwarz-Weiß-Malerei kein Platz eingeräumt wird. Wer sich innerhalb des Chavismus gegen die Reform ausspricht, muss mit harscher Kritik rechnen. Die Partei Podemos, welche die Verfassungsreform als einzige Partei der Chávez-Koalition nicht mittragen will, gibt zwar an, die Revolution weiterhin unterstützen zu wollen, wird von Chávez aber öffentlich als Oppositionspartei beschimpft.
Selbst Raúl Isaías Baduel, ehemaliger Verteidigungsminister und jahrzehntelanger enger Weggefährte von Chávez, musste für seine Kritik an der Reform scharfe Anfeindungen einstecken. Er hatte zu Beginn des Wahlkampfes eine Pressekonferenz gegeben, in der er die Reform ebenfalls als „Staatsstreich” bezeichnete und sich für ein Nein an der Wahlurne aussprach. Viele chavistas sehen darin einen taktischen Zug, um eine eigene politische Karriere vorzubereiten, da Baduel 18 Tage vorher noch öffentlich für das „Sí“ geworben hatte. Chávez bezeichnete Baduels Rede als „Verrat an sich selbst“, erkannte aber dessen Leistungen für den „Revolutions“-Prozess an. Bei dem Putsch gegen Chávez im April 2002 war Baduel die militärische Schlüsselfigur bei der Wiederherstellung der verfassungsmäßige Ordnung und Befreiung Chávez‘ aus der Gefangenschaft. 1983 gehörte Baduel zusammen mit Chávez zu den Gründungsmitgliedern der MBR-200, jener klandestinen Gruppe innerhalb des Militärs, aus der später die chavistische Massenbewegung hervorging.
Während einer Wahlkampfrede im Bundesstaat Anzoátegui machte Chávez indes klar, wie er das Wahlergebnis zu interpretieren gedenkt. Wer gegen die Reform stimme, tue das „gegen die Fortsetzung der Revolution, und wer mit Ja stimmt, der tut das für Chávez“. Dass in diesem polarisierten Klima keine Debatte über die Vor- und Nachteile der Reform stattfinden kann, verwundert nicht. Auch die vom Nationalen Wahlrat (CNE) geplanten Fernsehdebatten wurden abgesagt. Von der Sozialistischen Partei PSUV war zu den Vorgesprächen niemand erschienen.

Kasten:
Die wichtigsten Vorschläge der Verfassungsreform

Block A:
Aufhebung der Wiederwahlbeschränkung und Verlängerung der Amtsperiode des Präsidenten auf sieben Jahre, Möglichkeit des Präsidenten zur territorialen Neugliederung, Festschreibung der Wochenarbeitszeit auf 36 Stunden, Verfassungsrang für Kommunale Räte und Sozialmissionen, Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre, Abschaffung der Unabhängigkeit der Zentralbank, Einführung neuer Formen kollektiven und sozialen Besitzes, Sozialversicherungsschutz für Beschäftigte im informellen Sektor, Verbot von Latifundien und Monopolen.

Block B:
Einschränkung der Informationsfreiheit bei Ausrufung eines nationalen Notstands, Verbot von Diskriminierung auf Grund sexueller Orientierung, Anhebung der Mindestzahl von Unterschriften für die Initiierung eines Referendums durch die Bevölkerung, paritätische Wahl universitärer Ämter durch Studierende, Lehrende und MitarbeiterInnen, Möglichkeit der Absetzung der Obersten RichterInnen durch einfachen Mehrheitsentscheid des Parlaments.


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