Editorial Ausgabe 238 – April 1994
Auf dem Redaktionstisch liegen sie regelmäßig: die Aufrufe und “Urgent Actions” in Sachen Menschenrechtsverletzungen von politischen Aktionsgruppen aller Art. “A wurde verhaftet, B ist verschwunden, bitte richten Sie höflich formulierte Briefe an den Präsidenten von …” – eine Fülle von Einzelschicksalen verlangt nach Öffentlichkeit. Sofort veröffentlichen? Der Zuspruch in der Redaktion hält sich in Grenzen, verdichten sich die vielen Einzelfälle doch immer wieder zur Kernaussage “es ist alles weiterhin so schlimm wie schon seit Jahren”. Und mit der Schlagzeile “Nichts Neues” ist nun einmal keine Leserin zum Weiterlesen zu bewegen.
Obwohl die Fälle mit Namensnennung, Schilderung der persönlichen Geschichte des Betroffenen und mit konkreter Handlungsanweisung geliefert werden, bleiben sie merkwürdig anonym. Die Texte wirken oft, als seien gegenüber früheren Aufrufen nur das Land und der Name des Betroffenen geändert worden. Der Telegrammstil der Schilderungen läßt die Schicksale austauschbar erscheinen.
Nur wenige Fälle von Menschenrechtsverletzungen werden zum nachrichtenrelevanten Thema. So zum Beispiel in Fällen spektakulärer Grausamkeit: Ein Massaker mit 50 Toten in zehn Minuten ist eine Nachricht, 50 tote Straßenkinder im Verlauf mehrerer Monate bleiben im Hintergrund. Oder ein Menschenrechtsfall führt zu politischen Konsequenzen wie jüngst in Peru. Die verkohlten Leichen eines Professors und von neun StudentInnen der Universität “La Cantuta” werden gefunden; die Morde wurden offensichtlich 1992 von Militärs begangen. Spektakulär daran war nicht die Tatsache der Morde, sondern die Art und Weise, wie Präsident Fujimori den Fall der Militärgerichtsbarkeit zuschob und damit den Rücktritt seines Premierministers provozierte.
Aufschlußreicher wird es, wenn Menschenrechtsverletzungen zu gesellschaftlichen Entwicklungen in Bezug gesetzt werden können. In Lateinamerika haben sich Art, Häufigkeit und Zielgruppe von Menschenrechtsverletzungen verändert. Waren es in den achtziger Jahren noch die politischen GegnerInnen der Diktaturen, die zu Opfern wurden, nimmt beispielsweise Brasilien heute eine traurige Spitzenposition bei Menschenrechtsverletzungen neuen Typs ein: “soziale Säuberungen”, das Ausmerzen derer, deren Existenz die Wohlhabenden stört: Straßenkinder, Obdachlose etc..
Amnesty International hat am 15. März eine weltweite Kampagne gegen Menschenrechtsverletzungen in Kolumbien eingeleitet. Eine Mappe mit Einzelfallbeschreibungen gehört zu den Unterlagen, vor allem aber umfangreiches Material über die politische und gesellschaftliche Entwicklung des Landes. Sollte Amnesty es im Rahmen einer solchen Kampagne schaffen, gesellschaftliche Zusammenhänge in bezug auf Menschenrechtsverletzungen auch in der täglichen Kleinarbeit zum Thema zu machen? Die Kampagne könnte zu einem Beispiel werden, wie mit dem Thema der individuellen Menschenrechte jenseits von endlosen EinzelfallListen und von Sensationssuche umgegangen werden kann.
Vielleicht bliebe dann auch noch die Zeit, ein paar Briefe zum einen oder anderen Einzelfall abzuschicken. Auch wenn nicht gleich die ganze Welt rettet, wer einen Menschen rettet, wie Oskar Schindler (der mit der Liste) mit auf den Weg gegeben wird, bleibt doch der eine Mensch. Nicht mehr und nicht weniger.