Editorial Ausgabe 359 – Mai 2004
Vor zwei Jahren schien das bolivarianische Projekt in Venezuela am Ende. Am 11. April 2002 versuchte die Opposition, die Regierung Chávez mit einem Putsch zu beseitigen. Der Versuch schlug fehl, Hunderttausende von VenezolanerInnen, vor allem BewohnerInnen der Armenviertel, verteidigten ihren Präsidenten. Die Bemühungen, Chávez mit internationaler Unterstützung aus dem Amt zu jagen, reißen seitdem nicht ab. Im Zweimonats-Rhythmus hört man auch in europäischen Medien von Demonstrationen und Protesten.
Das Entscheidende bleibt bei dieser Berichterstattung jedoch ausgeblendet: In dem Land findet ein Transformationsprozess statt, der in mancher Hinsicht über das sandinistische Nicaragua hinausgeht. Denn die Veränderungen in Venezuela werden nicht in erster Linie von der Regierung initiiert. Stadtteile organisieren sich selbst und entwickeln Strukturprojekte. Landlose Kleinbauern- und bäuerinnen erzwingen die Realisierung der Agrarreform. Neue Gesetzesinitiativen werden von den vom Vorhaben betroffenen Gruppen mitentwickelt. Und in Barrio-Versammlungen diskutiert die Bevölkerung über die einzige nennenswerte venezolanische Industrie: das staatliche Erdölunternehmen PDVSA.
Die venezolanische Gesellschaft ist von einer massenhaften Aneignungsbewegung von unten ergriffen. Diejenigen, die als „Ungebildete“, „negros“, „indios“ oder einfach „der Mob“ über Jahrhunderte von Entscheidungsprozessen und Ressourcen ausgeschlossen waren, verwandeln sich in gesellschaftliche Subjekte mit eigener Stimme und Selbstbewusstsein.
Der Charakter der „bolivarianischen Revolution“, wie die Veränderungen in Venezuela emphatisch genannt werden, ist dabei durch und durch widersprüchlich. Anders als sich StaatssozialistInnen wie Sahra Wagenknecht es sich erträumen, gab es in Venezuela keine intellektuelle Avantgarde, keine politische Partei oder Führung, die diesen Prozess entworfen hätten. Die Transformationen sind Ergebnisse einer tiefen Krise der Repräsentation. Wie 2001/02 durch Argentinien schallte auch durch das Venezuela der 1990er Jahre das Motto „Que se vayan todos“, sie sollen alle abhauen. Die PolitikerInnen und JournalistInnen, die Avantgarde-Organisationen und Intellektuellen. Man wollte nicht mehr vertreten werden, sondern selber reden.
Interessanterweise brachte diese Basisbewegung sowohl die Verfassung als auch den Caudillo hervor, zwei klassische Motive repräsentativer Politik. Die Verfassung, die massenhaft diskutiert und mitgeformt wurde, ist ihr kollektives Programm und der Caudillo Chávez ihre Projektionsfläche. Der Mann hat es geschafft, das unsichtbar gemachte Venezuela sichtbar zu machen und die einfachen Leute zur Selbstorganisierung zu ermuntern. Dass er in seiner Rolle als Messias wie Fidel Castro eines Tages zum größten Hindernis einer Emanzipation werden kann, steht außer Frage. Bisher jedoch ist er das Gegenteil eines Despoten. Selten gab es in Lateinamerika in einem Land so viel Beteiligung und Basisdemokratie.
Überraschenderweise hat das venezolanische Projekt sogar ökonomisch vergleichsweise gute Karten. Die Mischung aus lateinamerikanischem Keynesianismus, der Förderung von Kooperativen und Mikro-Unternehmen sowie entwicklungskritische Ansätze (Stichwort: alternative Medizin, Selbstversorgung, lokale Produzenten-Konsumenten-Ringe…) ist zwar nicht besonders kohärent und wird auch nicht gerade professionell umgesetzt, doch allein die Umverteilung der Erdöleinnahmen ermöglicht vieles, was sonst in den Staaten des „Südens“ undenkbar wäre. Vor diesem Hintergrund ist denn auch der zunehmende Druck von USA und EU gegen die Regierung Chávez zu sehen: Venezuela ist ein Beweis, dass es sehr wohl politische und wirtschaftliche Alternativen gibt.