Editorial | Nummer 451 - Januar 2012

// Nicht nur Symbolik

Editorial Ausgabe 451 – Januar 2012

LN-Redaktion

Der Enthusiasmus war kaum zu bremsen: Kubas Staatschef Raúl Castro sprach vom „größten Ereignis der vergangenen 200 Jahre“, sein uruguayischer Amtskollege, José Mujíca, von einer „zweiten Unabhängigkeit“. Hugo Chávez, Präsident Venezuelas und Gastgeber des Treffens in Caracas, sagte, dies sei „der entscheidende Baustein für Einheit, Unabhängigkeit und Entwicklung“.

Anlass für die Jubelhymnen war die Gründung der Gemeinschaft lateinamerikanischer und karibischer Staaten (CELAC) Anfang Dezember. Erstmals in der Geschichte des Kontinents gibt es nun ein regionales Integrationsbündnis, dem alle 33 lateinamerikanischen und karibischen Staaten angehören, ohne dass die USA und Kanada oder Spanien und Portugal mit am Tisch sitzen. In der Abschlusserklärung heißt es, die CELAC solle „den politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Integrationsprozess vorantreiben“ und ein „Gleichgewicht zwischen Einheit und Vielfalt“ herstellen.

In der Tat ist es nicht übertrieben, bezüglich der Entwicklung der regionalen Integration in den letzten Jahren von historischen Dimensionen zu sprechen. Die Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR), der die zwölf souveränen südamerikanischen Länder angehören, zeigte etwa bei der Beilegung der Tiefland-Unruhen in Bolivien im Jahr 2008 eine institutionelle Reife und Handlungsfähigkeit, wie sie bei deren Gründung im selben Jahr kaum jemand für möglich gehalten hätte. Die für die Zukunft geplanten Integrationsschritte – von einer eigenen Währung bis hin zu eigenen Finanzinstitutionen – sind ambitioniert. Das Selbstbewusstsein, mit dem Lateinamerika heute seine Probleme angeht, schien vor einer guten Dekade noch unvorstellbar. Und absolut undenkbar war es bis vor kurzem, dass sich sämtliche Staaten der Region – auch die konservativ regierten – für die Aufhebung der Kuba-Blockade durch die USA oder für den Anspruch Argentiniens auf die Islas Malvinas (Falkland-Inseln) aussprechen. Dass der übernächste Gipfel (nach Chile) in Kuba stattfinden wird, ist ein klares Zeichen gegen die anmaßende und politisch gescheiterte Isolierung Kubas durch die USA.

Auf der anderen Seite fällt es nicht schwer, der enthusiastischen Lesart der CELAC-Gründung mit einer gehörigen Portion Skepsis zu begegnen. Die Geschichte Lateinamerikas sprießt nur so von Gründungsgipfeln regionaler Organisationen, die stets von hochtrabender Rhetorik begleitet wurden. Nie gelang es jedoch, jenseits politischer Willensbekundungen nachhaltige Strukturen regionaler Integration zu schaffen. Heute ist die Integration auf dem Papier zwar so weit fortgeschritten wie noch nie, aber noch weit entfernt von den hehren selbst formulierten Zielen, wie etwa der Etablierung der geplanten neuen regionalen Finanzarchitektur. Offensichtlich herrscht in der Region in der Frage einer gemeinsamen politischen Vision für das 21. Jahrhundert keine Einigkeit. Solidarischer Handel wird bisher lediglich – von Venezuelas Petrodollars subventioniert – zwischen den Ländern der Bolivarianischen Alternative (ALBA) betrieben, an anderer Stelle agiert etwa Brasiliens Agrarindustrie neoimperialistisch, während konservativ regierte Länder wie Kolumbien und Chile sich trotz ihrer Teilnahme an neuen lateinamerikanischen Bündnissen wie UNASUR und CELAC weiterhin eng an die USA binden. Die dabei in den vergangenen zehn Jahren erzielten Fortschritte können nicht genug gewürdigt werden. Auch wenn die CELAC die von den USA dominierte Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), in der Kuba kein Mitglied ist, nicht zur Bedeutungslosigkeit verdammen wird, steckt mehr als nur Symbolik hinter der Neugründung. Dass über die Probleme Lateinamerikas und der Karibik immer seltener in Washington entschieden wird, ist eine bedeutsame Korrektur historischer Ungerechtigkeiten. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

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