Bewegung | Chile | Editorial | Nummer 546 - Dezember 2019

// AUFGEWACHT

Von Die Redaktion

Nicht zum ersten Mal sagen die Chilen*innen derzeit laut und deutlich, dass das herrschende System sich ändern soll: Im Oktober 1988 stimmte die Mehrheit in einem Plebiszit gegen die Fortführung der Diktatur Pinochets. Das Land bekam danach eine gewählte Regierung, in wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Hinsicht änderte sich jedoch fast nichts. Patricio Bañados, damals Fernsehsprecher der NO-Kampagne, bilanzierte daher im Jahr 2007: „Es haben mehr Leute mit ‚Nein‘ gestimmt, aber gewonnen hat das ‚Ja‘.“ Ähnliches hatten auch die Redakteur*innen der Lateinamerika Nachrichten bereits im Editorial vom Oktober 1988 prognostiziert (siehe hier). Heute fühlen sich viele der seit Wochen in Massen auf der Straße protestierenden Chilen*innen an die Atmosphäre nach dem Sieg des „NO“ erinnert, an das Gefühl, dass der bleierne Ballast vieler Jahre von ihren Schultern abgefallen ist: „Chile Despertó“, Chile ist aufgewacht – endlich!

Abgefallen scheint selbst die Angst vor den Militärs, die bis in Führungspositionen hinein immer noch die Folterknechte der Diktatur schützen und während der Proteste nun erneut im Verdacht stehen, zu foltern. Ganz anders dagegen die Privilegierten. In einem geleakten Audio eines Gesprächs mit einer Freundin sagte die Präsidentengattin nach Beginn der breiten Proteste: „Wir sind total überfordert, es ist wie eine Invasion Außerirdischer (…). Wir werden wohl auf einen Teil unserer Privilegien verzichten und mit den anderen teilen müssen.“

Eine ganze Generation von Reichen und Mächtigen hat sich in Chile daran gewöhnt, dass das Land ihnen gehört. Strom, Wasser, Gesundheit, Rente, Universitäten, Rohstoffe, Presse, Fernsehen und mehr: fast alles ist heute in den Händen weniger superreicher Familien sowie ausländischer Konzerne. Pinochet hatte die meisten Staatsbetriebe nach dem Sieg des „NO“ noch schnell zu einem Bruchteil ihres Wertes verkauft – an Freund*innen seines Regimes. Unter den Profiteur*innen dieses unverfrorenen Diebstahls von Staatsvermögen: der heutige Präsident Piñera, dem lange ein Fernsehkanal und die nationale Fluglinie gehörten. Der heutige Vorstandsvorsitzende und Mehrheitsaktionär der Firma Soquimich, die die umfangreichen Lithiumvorräte Chiles kontrolliert, war sogar Pinochets Schwiegersohn.

Pinochets Verfassung sorgt dafür, dass diese Umverteilung auf Kosten der Chilen*innen bis heute Bestand hat: dass der Staat kaum die Mittel hat, seiner Verpflichtung zur Daseinsfürsorge nachzukommen, selbst wenn er es denn wollte; dass nur der Profit zählt, nicht aber das Wohl der Menschen; dass Unternehmen beispielweise Anwohner*innen vergiften oder ihnen das Trinkwasser zugunsten von Plantagen wegnehmen dürfen, während die Menschen sich verschulden müssen, um U-Bahn-Fahrkarten und Stromrechnung zu bezahlen. Kein Wunder also, dass sich die Protestierenden heute nicht von ein paar Euro mehr Mindestlohn und Rente abspeisen lassen und eine verfassunggebende Versammlung einfordern.

Die rechte Regierung wird trotz geringfügiger Zugeständnisse alles tun, um das neoliberale System zu retten. Protegiert durch die Diktatur, begannen wichtige Politiker*innen der Regierungsparteien ihre Karrieren und haben sich, wie Piñera selbst, durch die Privatisierungen bereichert. Jaime Guzmán, Gründer der ultrarechten Partei Unabhängige Demokratische Union (UDI), galt sogar als Architekt der aus der Diktatur stammenden Verfassung, seine Gefolgsleute sind bis heute einflussreich.

Die Protestierenden werden also noch einen langen Atem brauchen. Dafür verdienen sie alle Unterstützung. Dass Deutschlands öffentlich-rechtliche Medien bisher ähnlich unausgewogen wie die chilenische Presse über die Proteste berichteten, beschämt uns daher. Und die Bundesregierung wäre gut beraten, in Chile nicht wie bisher nur einen Lieferanten für wichtige Rohstoffe und Freihandel zu sehen, sondern sich auch dann für Menschenrechte und Demokratie einzusetzen, wenn es ihren wirtschaftlichen Interessen zuwiderläuft.

 

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