Editorial Ausgabe 384 – Juni 2006
„Ein Rückfall in die Barbarei“, „ein gravierender Rückschritt“, „als würden wir die Zeit 30 Jahre zurückdrehen“, kommentierte die linksliberale Presse in Mexiko. Es sind Bilder des Grauens aus dem Mexiko von heute, die dort Erinnerungen an Szenen aus der Geschichte der „guerra sucia“ und die Niederschlagung der Studierendenbewegung in Tlatelolco im Jahr 1968 wecken. Die Rede ist von Atenco, einem kleinen Ort nahe Mexiko-Stadt, der Anfang Mai diesen Jahres Schauplatz eines gewalttätigen und massiven Polizeieinsatzes wurde.
Am 3. und 4. Mai gingen 3.500 staatliche Sicherheitskräfte brutal gegen die lokale Bevölkerung, Mitglieder einer mit der Regierung im Streit liegenden Kleinbauernorganisation und SympathisantInnen der EZLN vor. Das Ergebnis: ein Toter, zahlreiche Schwerverletzte und einige Vermisste, gravierende Menschenrechtsverletzungen und systematische Massenvergewaltigungen von Frauen. Mehr als 200 Personen wurden verhaftet – einige von ihnen befinden sich noch immer in Haft – und die verhafteten AusländerInnen illegalerweise abgeschoben. Laut der Aussage eines Polizisten hatten die Einsatzkräfte den Befehl „auf alles einzuschlagen, was sich bewegt“. Die Benutzung von Schusswaffen war ausdrücklich erlaubt. Klar ist: Ein derartiger Einsatz bedarf der Autorisation und Planung von höchster politischer Ebene.
Das Geschehene wirft viele Fragen auf. Doch eines lässt sich auch heute schon deutlich sagen: Atenco steht beispielhaft für die politische Situation in Mexiko. Die viel beschworene Demokratisierung mit dem Regierungswechsel im Jahr 2000 hat es nicht gegeben. Und nicht nur das. Der Umgang mit dem Polizeieinsatz in den nachfolgenden Wochen gewährt auch Einblick in einen autoritären Konsens der Herrschenden und zeigt zugleich, wie gering die Möglichkeiten sind, eine alternative Öffentlichkeit herzustellen.
Denn man musste erleben, wie es der herrschenden politischen Klasse zusammen mit den großen Medien in Mexiko möglich war, den Einsatz als legitime „Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit“ darzustellen und zu rechtfertigen. Zwar gab und gibt es landesweit Demonstrationen und Protestaktionen, doch blieb eine allgemeine soziale Entrüstung aus – weil keine breite Öffentlichkeit über die Verbrechen hergestellt werden konnte. Der Präsidentschaftskandidat der PRD, Andrés Manuel López Obrador, konnte sich nicht dazu durchringen, die brutale Repression sozialen Protests klar zu verurteilen. Stattdessen lavierte er irgendetwas davon, dass der Einsatz von Gewalt auf beiden Seiten schlecht sei. Der Kandidat der PAN, Felipe Calderón, bekräftigte dagegen sogar kurz nach dem Einsatz gegenüber den Medien, er hätte noch härter durchgegriffen, und der
PRI-Kandidat Roberto Madrazo, wusste das Ganze noch zu steigern, indem er meinte, mit ihm gäbe es weder Marcos noch Atenco.
Mexikos Präsident Vicente Fox war mit dem symbolträchtigen Versprechen angetreten, die staatlichen Verbrechen des so genannten Schmutzigen Krieges der 70er und 80er Jahre mittels einer Sonderstaatsanwaltschaft aufzuarbeiten. Er hat dieses Versprechen nicht nur nicht gehalten – die Sonderanwaltschaft wird mangels Erfolgen nach vier Jahren nun wieder geschlossen. Die mexikanische Regierung bediente sich darüber hinaus in Atenco mit dem bewaffneten Überfall auf nichtsahnende ZivilistInnen, der systematischen sexuellen Gewalt gegen Frauen und der extralegalen und brutalen Massenverhaftung zentralen Taktiken der Aufstandsbekämpfung jener Zeit, die den Weg für Folter, Verschwindenlassen und Mord bereiteten.
Die Kriminalisierung von Marcos und der Anderen Kampagne der ZapatistInnen ist ein besorgniserregender unterschwelliger Ton in zahlreichen Stellungnahmen zu Atenco. Denn damit wird ihnen der Status eines politischen Akteurs aberkannt und ein militärisches oder polizeiliches Vorgehen denkbar gemacht. War Fox angetreten, den Konflikt in Chiapas politisch zu lösen, geht es heute wohl nur mehr darum, die EZLN zu entwaffnen. Gegenteiliger können sich zwei Aussagen kaum gegenüber stehen.