Medienmärchen Nisman
Eine schweigende Masse für Wahrheit und Gerechtigkeit. Es sind hunderttausende empörte Bürger*innen, die „die Gewalt satt haben“ und am 18. Februar protestierend durch Buenos Aires ziehen, um dem verstorbenen Staatsanwalt Alberto Nisman eine letzte Ehre zu erweisen. Sie fordern die Aufklärung seines zweifelhaften Ablebens und „Gerechtigkeit für einen armen Mann, der sein Leben der Wahrheit geopfert hat“. All dies klingt, als müsste man sich direkt in den Schweigemarsch einreihen – wer ist nicht für Wahrheit und Gerechtigkeit? Eine Regierung, die im Verdacht steht, ihre eigenen Staatsanwält*innen zu ermorden: Wem wird nicht unheimlich bei diesem Gedanken?
Genau dieses Bild beschreibt und bezeugt die deutsche Berichterstattung zu Nisman. Wie so oft wird darin unkritisch die Erzählung der großen Medienmonopole in Lateinamerika übernommen und somit ein verzerrtes Bild der politischen Lage vermittelt. Denn zur Demonstration hat die rechte Opposition aufgerufen.
Tatsächlich haben wir es mit venezolanischen Verhältnissen zu tun: Eine Propagandafeldzug, angeführt von einer Gruppe aus Industriellen, rechten Politiker*innen, Großkapital und Medienmacht, die eine progressive Regierung unter Berufung auf Menschenrechtsverletzungen angreift. Dabei beanspruchen sie die Werte sozialer Bewegungen, während sich ihre Macht und ihr Reichtum gerade auf den Gegensätzen zu diesen Werten begründet. Es entsteht ein absurder, fast ironischer Diskurs, verkauft und propagiert von den großen Medienkonzernen in Lateinamerika. Die Demonstration im Februar erinnert an vergleichbare Szenarien der Geschichte, von den Kochtopfdemonstrationen der wohlgenährten Oberschicht in Chile Anfang der 1970er-Jahre bis hin zu den, in deutschen Medien als „soziale Proteste“ dargestellten, gewaltsamen Demonstrationen des antichavistischen Fanatismus in Venezuela 2014.
Der konkrete Fall Nisman wird von der rechten Opposition instrumentalisiert, nicht nur um die aktuelle Regierung zu torpedieren, sondern vor allem um deren potenzielles Erbe zu diskreditieren. Opposition und Medien destabilisieren den eingeleiteten Demokratisierungsprozess, indem seine Werte von Wahrheit und Gerechtigkeit verdreht, entfremdet und verhöhnt werden. Indes gibt es sehr wohl viele Dinge an der Regierung Kirchner zu kritisieren: das Versäumnis Justiz- und Sicherheitssystem strukturell zu reformieren, die Kriminalisierung sozialer Bewegungen, die Staats- und Polizeigewalt in Argentinien und die damit einhergehende, zum Himmel schreiende Straflosigkeit.
Aber diese Straflosigkeit betrifft nicht die demonstrierenden Menschen aus der Ober- und Mittelschicht der Metropolen, sondern vor allem Familien aus den Armenvierteln. Keine*r derjenigen, die zum Schweigemarsch aufgerufen haben und sich Gerechtigkeit auf die Fahnen schreiben, geht auf die Straße, wenn tagtäglich Menschen aus den Armenvierteln entführt, erschossen, ohne Anklage weggesperrt oder in Gefängnissen gefoltert werden. Nismans Kolleg*innen, die die institutionelle Kriminalisierung sozialer Proteste und die systematische Straflosigkeit garantieren, skandieren jetzt: „Schluss mit der Straflosigkeit!“. Daher verkommt der Protest des 18. Februars zu einer Farce. Die Figur Nisman in ein Flaggschiff der Demokratie verwandeln zu wollen, ist – so bedauerlich sein Fall auch sein mag – im besten Fall unglaubwürdig.
Die berechtigte Kritik an den lateinamerikanischen Linksregierungen müsste von anderer Seite kommen und davon sprechen, dass trotz progressiver Diskurse weiterhin Menschenrechte verletzt und tiefgreifende Veränderungen nicht nachhaltig und vehement genug vorangetrieben werden. Die Kritik aus den Reihen der Mächtigen, die ihre partikularen ökonomischen Interessen beeinflusst oder gefährdet sehen und sich dabei auf die Einhaltung der Menschenrechte berufen, ist nicht nur scheinheilig, sondern zynisch und wird aktiv von den Medienmonopolen unterstützt. Für die Medien hier sollte es eine selbstverständliche Verantwortung sein, diese einseitige Meinungsmache zu hinterfragen, anstatt sie blind zu reproduzieren.