Editorial | Nummer 447/448 - Sept./Okt. 2011

// Neue Verfassung jetzt!

Was ist nur los in Chile? Anfang Mai sorgten die Massenproteste gegen das Staudammprojekt HidroAysén für Furore; der massiven Repression durch Polizeigewalt wurde getrotzt. Ende Mai wurde diese Bewegung durch eine neue abgelöst, die dabei ist alle Mobilisierungsrekorde in Chile zu brechen. Die Studierenden und Schüler_innen haben mit ihren Demonstrationen für eine gerechte Bildung Menschenmassen auf die Straße gebracht, wie man sie seit dem Ende der Militärdiktatur nicht mehr gesehen hatte. Mit 400.000 Teilnehmer_innen war die Demonstration am 30. Mai bereits die größte seit 1990. Am 21. August wurde dann die Schallmauer von einer Million Menschen gebrochen. Eine Million von siebzehn Millionen Chilen_innen, die sich auf der Straße ihrem Unmut über die ungerechte Bildungspolitik Luft gemacht haben!

Bei solchen Zahlen kommt selbst die Mainstream-Presse über dem Teich nicht umhin , die Proteste wahrzunehmen. Die telegene Studierendensprecherin Camila Vallejos, die zum Gesicht und zur Stimme des Protests gemacht wurde, schaffte es mit dem Zusatz „die Mächtige“ gar auf das Titelbild der Zeit. Von Puerto Ricos Musikgruppe Calle 13 bis zu getwitterten Grußbotschaften aus dem Kongo – vielerorts schaut man nach Chile. Der einst unfreiwillige Musterschüler autoritärer neoliberaler Politik wird gerade überall zitiert, wo ein Positivbeispiel für gesellschaftliche Reformen von unten gebraucht wird. Chile, da geht was. Der erste Generalstreik seit mehr als 40 Jahren war Ende August dann der vorläufige Höhepunkt dieser stetig wachsenden Protestwelle. Denn plötzlich tauchten neben den Spruchbändern der Studierenden auch Banner auf, die viele Chilen_innen bis dahin nur aus dem Geschichtsbuch kannten: Den Zahnrad-Ährenkranz der Arbeitereinheitszenrale (CUT), dem Gewerkschaftsdachverband. Der Protest hat sich somit auf andere Sektoren der Gesellschaft ausgeweitet.

Der erste konservative Präsident Chiles seit dem Ende der Militärdiktatur, Sebastian Piñera, ist angeknockt. Konnte er vor gut einem Jahr noch wegen der von ihm geschlagenen Propagandaschlacht um die 33 verschütteten Minenarbeiter Zustimmungswerte jenseits der 80 Prozent verzeichnen, siecht er nun bei mageren 26 Prozent. Und das Erstaunliche ist: Um das oppositionelle Parteienbündnis Concertación, das Chile vom Ende der Militärdiktatur bis zur Wahl Piñeras ununterbrochen regierte, steht es noch schlechter. Der Abgesang auf die beiden großen Parteienbündnisse bedeutet nichts weniger als den Abgesang auf das neoliberale chilenische Gesellschaftskonzept, das sowohl von der Concertación als auch von den rechten Parteien getragen wurde. Die Studierenden und Schüler_innen können hingegen bei ihrem Protest laut Umfragen auf die Unterstützung von 80 Prozent der Chilen_innen zählen. Und auf einen faulen Kompromiss, wie im Jahre 2006 nach dem Streik der Schüler_innen, werden sie sich nicht noch einmal einlassen.

Die Frage ist nun nicht mehr, ob sich etwas ändern wird, sondern wie weit die Veränderungen gehen werden sowie wann und wie sie eintreten. Schaffen es die Gewerkschaften von der von ihnen gewünschten exponierten Mittlerrolle zwischen Studierenden und Regierung Abstand zu nehmen und den basisdemokratisch organisierten Bildungsprotesten auf Augenhöhe zu begegnen, wäre noch mehr möglich als eine bloße Neustrukturierung des Bildungswesens. Noch nie war die Chance so groß, dass Pinochets Verfassung von 1980, auf der die chilenische Demokratie und mit ihr das neoliberale Konzept basiert, auf demokratische Weise abgeschafft wird. Denn nun hat auch die Regierung aufgehorcht und sich lieber auf Verhandlungen mit den Studierenden eingelassen. Geholfen hat es ihr nicht. Als klar war, dass sie auf zentrale Forderungen der Studierenden nicht eingehen wird, haben diese die Verhandlungen abgebrochen. Stattdessen wollen sie die Proteste und den Streik fortsetzten. Die Regierung wird sich bewegen müsen.

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