Jeden Monat wird unser Editorial in der gesamten Redaktion diskutiert. Das Thema: fast immer ein aktueller Aufhänger aus Lateinamerika, gerne mit einer steilen These, oft mit einer zurück nach Deutschland geschlagenen Brücke. Alle paar Jahre kommt es jedoch zu derart einschneidenden Ereignissen hier vor unserer Haustür, zu denen wir nicht schweigen können, obwohl uns die Worte fehlen. Chemnitz ist so ein Ereignis.
Das, was sich gerade in Chemnitz entlädt, ist unsäglich, es ist rechter Terror. Es ist schockierend, doch eigentlich wenig überraschend – war der Totschlag eines Chemnitzer Bürgers doch lediglich ein willkommener Anlass für Rechte und Neonazis, um etwas loszulassen, das sich seit Jahren zusammenbraut. Politik und Polizei müssen sich endlich damit auseinandersetzen, wie gefährlich die rechte Szene ist.
Es muss Schluss sein mit den ewigen Verharmlosungen „besorgter Bürger“. Wer mit Neonazis aufmarschiert, ist nicht besorgt, sondern selbst Grund zur Sorge. Der Diskurs und scheinbar die ganze Gesellschaft verschieben sich immer weiter nach rechts. Dieser Entgrenzung müssen Grenzen gesetzt werden, gesellschaftliche und strafrechtliche. Es kann nicht sein, dass immer noch Demonstrationen geschützt werden, in denen zu Gewalttaten und Morden an „Ausländern“ aufgerufen wird, in denen Hitlergrüße gezeigt und rassistische und nationalsozialistische Parolen gerufen werden. Gegen diese Art von Versammlungen sollte sich die staatliche Repression richten, nicht gegen jene Menschen, die sich diesem Hass entgegenstellen und dafür eingekesselt, behindert, kriminalisiert werden.
Die Situation ist gefährlicher denn je. Die Rechten sind organisierter, vernetzter und schaffen es, Tausende zu mobilisieren. Neben hetzenden gewaltbereiten Mobs verfügen sie über organisierte Terrorstrukturen und haben ihre Leute in allen Institutionen, inklusive in Verfassungsschutz, Polizei und Parlamenten. Und die verschiedenen Szenen arbeiten vermehrt zusammen. Für ein „Wehret den Anfängen“ ist es längst zu spät.
Optimist*innen sehen in Chemnitz einen Moment, in dem auch die AfD endlich ihre Maske hat fallen lassen. Spätestens jetzt dürfte allen klar sein, für welche Art Politik Gauland, Weidel und Co. stehen. Das macht sie für viele offenbar jedoch längst nicht unwählbar – im Gegenteil. Auch nach Chemnitz klettern die Umfragewerte für die AfD bundesweit auf bis zu 17 Prozent, in Sachsen liegen sie weiter bei 25 Prozent. Und der Verfassungsschutz sieht auch keinen Grund zum Einschreiten.
Was ist das für eine Zukunft, in die wir da wie paralysiert blicken? Nazitrupps verprügeln Sozialdemokrat*innen, jagen mit dem Ausruf „Kanackenklatschen“ Menschen durch die Stadt und werden von deutschen Parlamentarier*innen auch noch ermuntert. Extremismusforscher*innen warnen, dass es für Journalist*innen mittlerweile lebensgefährlich geworden ist, von rechten Demonstrationen zu berichten.
Die Zukunft zeigt sich in Chemnitz schon als Realität – und Chemnitz ist erst der Anfang, ein Szenario, das als dringende Warnung zu begreifen ist. Viel zu viele haben schon zu lange geschwiegen, ließen sich zu lange beschwichtigen, haben die Lage zu lange unterschätzt.
Eine große Frage in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus war stets: Wie hätte ich damals reagiert? Nun ist wohl der Moment gekommen, in dem sich diese Frage jede*r ehrlich beantworten kann. Noch wichtiger ist jedoch, sich zu fragen: Wie hätte ich reagieren sollen? Die Antwort muss für damals wie heute heißen: Reagieren, Ohnmacht und Angst nicht zulassen, die Sprachlosigkeit durchbrechen, jenen mutig zur Seite stehen, die am meisten zu befürchten haben und der Faschisierung Deutschlands den Kampf ansagen! Dafür muss Chemnitz der Anfang sein. Unser Anfang.