// DIE RÄDER STEHEN NOCH NICHT STILL

Alle zusammen In Lateinamerika haben sich Gewerkschaften mit zahlreichen anderen gesellschaftlichen Akteur*innen verbündet, hier etwa beim landesweiten Streik in Medellín (Kolumbien) im Mai 2021 (Foto: Oxi.Ap via wikimedia commons, CC BY-SA 2.0)

In Deutschland wird gestreikt − an einem Tag! Was wurde für diesen 27. März nicht alles vorausgesagt: „Warnstreik: ver.di und EVG nehmen das Land in Geiselhaft”, titelte die Welt. Der Bundesverband Güterverkehr und Logistik (BGL) warnte vor einem Versorgungschaos. Die Gewerkschaften handelten „gegen den Willen von Millionen Bundesbürgern”, sagte BGL-Präsident Dirk Engelhardt der Bild. Verkehrschaos sei allerorten abzusehen, vor allem wenn Schiene, Flughäfen und Autobahntunnel gleichzeitig bestreikt würden.

Das Gegenteil war der Fall. Auf den Straßen − wo Streikende in Frankreich Barrikaden bauen und Mülltonnen anzünden − war sogar weniger los als sonst. Die Mehrheit der Bundesbürger*innen trug die Warnstreiks mit Fassung und die Forderungen der Gewerkschaften mit: Bei der Befragung im ARD-Deutschlandtrend gaben 44 Prozent an, diese seien genau richtig, 8 Prozent der Befragten fanden, sie gingen nicht weit genug. Und tatsächlich lassen sich die Forderungen von ver.di und EVG sehr leicht nachvollziehen: 2022 gab es mit 3,1 Prozent den höchsten Reallohnverlust seit zehn Jahren sowie den dritten Reallohnverlust in Folge. Und die Prognosen zur Inflationsrate 2023 sind nicht gut.

Der Warnstreik war laut einer Sprecherin von ver.di und der EVG der größte seit drei Jahrzehnten. 350.000 Beschäftigte sind dem Streikaufruf gefolgt. Sichtlich erfolgreich war das Zusammengehen von ver.di und EVG und stellt eine neue Entwicklung dar: Erst durch die Koordination ihrer Streiks konnten sie die Infrastruktur so effizient lahmlegen und trafen die Arbeitgeber dort, wo es ihnen wehtut: Tausende von Flügen mussten gestrichen werden, Waren konnten nicht ausgeliefert oder produziert werden.

Andererseits lassen jahrzehntelanger Mitgliederschwund bei den Gewerkschaften und gedämpfte gesellschaftliche Zukunftsperspektiven eine Annäherung an soziale Bewegungen notwendiger denn je erscheinen. Der gemeinsame bundesweite „Aktionstag” von ver.di mit Fridays for Future am 3. März im Rahmen des globalen Klimastreiktages ist ein Schritt in die richtige Richtung. Ver.di zog dadurch eine gesellschaftliche und ökologische Dimension in den Arbeitskampf mit ein und näherte sich damit dem hierzulande verfemten politischen Streik.

Zu welch starken Mobilisierungen eine breite gesellschaftliche Allianz führen kann, lässt sich aktuell in Frankreich beobachten. Auch die wichtigsten Veränderungsprozesse der vergangenen Jahre in Lateinamerika beruhten meist auf dem Zusammenspiel von Gewerkschaften mit anderen politischen Kräften und Bewegungen. Die entscheidenden Paros Nacionales – die nationalen Streiks – in Kolumbien zwischen 2020 und 2021 gingen nicht von Gewerkschaften aus, sondern von den Stadtteilversammlungen (asambleas populares). Das gilt auch für die Protestbewegungen in Chile, wo die dort cabildo genannten Versammlungen in den Stadtteilen zu den wichtigsten politischen Akteuren wurden. In Ecuador ist die indigene Bewegung treibende Kraft und Gewerkschaften schließen sich ihren Forderungen regelmäßig an.

Indigene und soziale Aktivist*innen haben keine Angst, die Grundsätze des neoliberalen Modells in Frage zu stellen. Andererseits profitieren auch diese Aktivist*innen von der Unterstützung etablierter Gewerkschaften. Je mehr gesellschaftliche Sektoren sich zusammentun, desto größer wird die Akzeptanz für deren Kämpfe und umso mehr wächst der Druck auf die Gegenseite. So bringt es auch Lea Fauth in der taz auf den Punkt: „Der Druck auf die Politik hält sich in Grenzen, solange die Räder der Wirtschaft weiter rattern und Dividenden ausgeschüttet werden”.

// ABGEMEIERTE SICHERHEIT

Von der deutschsprachigen Öffentlichkeit kaum bemerkt, haben die Leaks des Hackerkollektivs Guacamaya im Laufe des vergangenen Monats mehrere lateinamerikanische Länder erschüttert. Zu den sechs Terabyte geleakten Daten gehören unter anderem sensible Militärinformationen aus Mexiko, Chile, El Salvador, Peru und Kolumbien. Sie geben Aufschluss über operative und nachrichtendienstliche Militäraktivitäten der vergangenen zehn Jahre. Das Guacamaya-Kollektiv behauptet, die Sicherheitslücke habe ganze elf Monate lang existiert.

Politiker*innen wie der mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador (AMLO) haben den Hack als Risiko für die nationale Sicherheit bezeichnet. Doch die Leaks zeigen: Dieses Sicherheitsrisiko ist nicht akut, sondern vielmehr strukturell. Während die Entschlüsselung der Dokumente noch läuft, sehen Kritiker*innen bereits jetzt bestätigt, was sie schon lange vermuten – nämlich weit verbreitete Militärspionage gegen vermeintliche innere Feind*innen.

So interessierte sich der Nachrichtendienst des chilenischen Militärs (DINE) brennend für die Privatgespräche einiger Ex-Militärs, die Korruption im Apparat denunziert hatten. Das mexikanische Militär, das auch in das Verschwinden der 43 Studenten in Ayotzinapa verwickelt ist (siehe Seite 21), beobachtete unter anderem die Sängerin Mon Laferte – wohl wegen ihrer feministischen Liedtexte. Auch die Europareise der zapatistischen Delegation im vergangenen Jahr wurde untersucht, wie Dokumente der mexikanischen Botschaft in der Schweiz zeigen. Sogar die LN haben es mit einem Post zum Tren Maya, dem Infrastrukturprojekt mit Unterstützung der Deutschen Bahn, in den Bericht geschafft.

In den Militärapparaten lebt das Feindbild des Kalten Krieges weiter. In Chile wurde der militärische Sicherheitsdienst maßgeblich von der Pinochet-Diktatur geprägt. Der interne bewaffnete Konflikt in Peru trimmte das Militär ebenso darauf, gegen alles Linke rabiat vorzugehen. Menschenrechtsaktivist*innen, die vermitteln wollten, wurden zum Feind erklärt. Heute steht in militärischen Berichten, dass Amnesty International und andere NGOs die Bevölkerung gegen den Bergbau indoktrinieren und linke Parteien werden verdächtigt, Fassade der Guerilla Leuchtender Pfad zu sein.

Die schiere Zahl der zivilgesellschaftlichen Organisationen und Parteien, die heute Gegenstand von Militärspionage sind, steht in Chile und Peru sinkenden Militärausgaben gegenüber. Dagegen nehmen die für Verteidigung zur Verfügung gestellten Mittel in Mexiko stetig zu. Die Leaks enthüllten nun, dass sogar die Gründung einer eigenen Tourismusagentur inklusive Fluglinie und Hotelkette vorgesehen ist – für die Altersversorgung der Streitkräfte, so AMLO. Mexikos Militär scheint in den vergangenen Jahren in alles außer die eigene Cybersicherheit investiert zu haben – eine billige Software im Verteidigungsministerium war nun scheinbar Einfallstor für das Hackerkollektiv. Das Beispiel zeigt, dass mehr Geld für Militär und Sicherheitsbehörden kein Garant für mehr Sicherheit ist. Und die Leaks beweisen: Wenn die finanzielle Aufstockung der Streitkräfte nicht an zivile Kontrollmechanismen gebunden wird, werden kalte Krieger*innen fortan noch besser ausgestattet vermeintliche Staatsfeind*innen zu beobachten.

Auch in Deutschland standen letztere lange links. Nun soll zwar der Verfassungsschutz reformiert und Soldaten des KSK der Rechtsextremismus wegtherapiert werden. Doch der verharmlosende Umgang mit rechten Strukturen in deutschen Sicherheitsbehörden zeigt ebenso wie die Guacamaya Leaks, dass Geheimdienste weniger zum Schutz der Demokratie agieren, sondern politische Gegner*innen überwachen und am Ausbau des eigenen Einflusses arbeiten. Wenn die Bundeswehr jetzt mit 100 Milliarden Euro Sondervermögen aufgestockt wird, um „den sicherheitspolitischen Herausforderungen gewachsen zu sein“, stellen sich also für die gesellschaftliche Linke wichtige Fragen. Etwa, wie viel von den 20,8 Millionen Euro für „Führungsfähigkeit und Digitalisierung“ für neue Überwachungstechnik ausgegeben wird. Und, wer dann zum Ziel dieser Überwachung wird. Es bleibt zu hoffen und dafür zu sorgen, dass diese Fragen nicht erst mit dem nächsten Leak beantwortet werden.

// ZAUBERLAND IST ABGEBRANNT

In Chile schien in den letzten Jahren vieles richtig gelaufen zu sein. Soziale Bewegungen und linke Parteien schafften es, ein soziales Begehren in ein politisches Projekt zu kanalisieren: Die Verfassung versprach, die progressivste der Welt zu werden. Sie hätte einen fortschrittlichen Sozialstaat mit einer deutlich stärkeren Rolle bei der Daseinsfürsorge in Gesundheit, Bildung oder Rente eingeführt, der Gleichberechtigung von FLINTA* sowie dem Schutz der Umwelt einen hohen Stellenwert eingeräumt und den indigenen Gruppen mehr Anerkennung und Autonomie gewährt. Doch vergangenen Sonntag stimmten 62 Prozent der Wähler*innen, knapp 7,9 Millionen Chilen*innen, gegen sie. Der Traum vom progressiven Chile scheint zerplatzt. Wie konnte das nur passieren?

Im Oktober 2020 hatten sich (bei einer niedrigeren Wahlbeteiligung) noch 78 Prozent der Wähler*innen für eine neue Verfassung ausgesprochen. Doch das Chile von 2022 stellte sich als komplexer heraus als gedacht. Seit dem Wahlsieg des ultrarechten Kandidaten Kast in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl im November 2021 war ein linkes Verfassungsprojekt (wieder) ein Risikoprojekt. Eine von langer Hand organisierte Desinformationskampagne der chilenische Rechten verfing stärker als die Mobilisierung der Verfassungsbefürworter*innen, die noch am Donnerstag vor der Wahl eine halbe Millionen Teilnehmer*innen zu einem Massenevent in Santiago mobilisiert hatte. Bei der Abstimmung zeigte sich aber: Die Mehrheit des Landes konnten sie nicht von ihren Anliegen überzeugen.

Die ersten Auswertungen deuten darauf hin, dass gerade in sozial schwachen Kommunen die Wahl des Rechazo (Ablehnung) mehrheitlich auf in Umlauf gebrachte Fake News zurückzuführen ist. Zentrale Informationskanäle waren private Fernsehsender und soziale Medien – nicht nur in Chile eine Domäne rechter Lobbyist*innen, die diese aufgrund massiver finanzieller Ausstattung mit ihrer oft wahrheitsverdrehenden Meinungsmache fluten konnten. Außerhalb der gesellschaftlichen Sektoren, die die neue Verfassung ohnehin von Anfang an unterstützt hatten, bestimmten bald klassische rechte Themen wie Angst vor Enteignung, Kriminalität und Wohlstandsverlust die Agenda. So musste die Kampagne des Apruebo (Zustimmung), die erst im Juni 2022 aktiv wurde, vor allem versuchen, die in Umlauf gebrachte Desinformation der Gegenseite aufzuklären. Diese hatte bereits im März dieses Jahres das Campaigning für die Ablehnung in den Sozialen Medien aufgenommen und dadurch einen monatelangen Vorsprung, der sich durch enorme Unterstützung durch Wahlspenden, auch aus dem Ausland, weiter vergrößerte. In den einkommensschwachen Kommunen war die Zustimmungskampagne zwar mit Tür-zu-Tür-Gesprächen und auf der Straße aktiv. Wie viele Wähler*innen auf diese Weise überzeugt werden konnten, bleibt aber ungewiss. Denn besonders in diesen Bezirken werden Haustürkampagnen mit etablierter Parteipolitik verbunden. Das trug bei der Abstimmung über eine Verfassung mit überparteilichem Anspruch nicht zur Vertrauensbildung bei.

Mit einem Vertrauensproblem hatte bereits der Verfassungskonvent gekämpft. Die Delegierten hatten durch Skandale und Skandälchen massiv an Legitimität verloren und einen zerstrittenen Eindruck hinterlassen. Die krachende Abstimmungsniederlage nur darauf und auf die Kampagnenstrategie der Verfassungsbefürworter*innen zurückzuführen, ist aber zu kurz gegriffen. Einige Vorschläge erschienen vielen Bürger*innen als zu radikal. Wahrscheinlich ist die chilenische Gesellschaft eine Generation nach dem Ende der Diktatur einfach noch nicht bereit für eine so progressive Verfassung. Das sollte ihre Befürworter*innen aber nicht entmutigen, denn der verfassunggebende Prozess wird vorausichtlich schon bald in die nächste Runde gehen. Es wird dann darauf ankommen, im Konvent und in der Bevölkerung besser für die Vorstellungen einer gerechteren Gesellschaft zu werben, damit möglichst viele von ihnen doch noch Eingang in eine zukünftige neue Verfassung Chiles finden.

// GANZ EHRLICH

„Ich sage mal ganz ehrlich, diese schwarz gekleideten Inszenierungen bei verschiedenen Veranstaltungen von immer den gleichen Leuten erinnern mich an eine Zeit, die lange zurückliegt und Gott sei Dank,” erklärte Olaf Scholz von der Bühne des Kirchtages Ende Mai, nachdem zwei Umweltaktivist*innen es gewagt hatten, seine Rede zum Ausstieg aus der Kohleverstromung zu stören.

Nicht erst damit wird klar, wie leer und heuchlerisch seine Versprechungen und Inszenierung als „Klimakanzler” waren und sind, das zeigt die miserable Klimabilanz der Regierung. Nun aber diskreditiert derselbe Kanzler auch die Klimakrise als Ideologie und diejenigen, die sich für Klimagerechtigkeit einsetzen, als von Eigeninteressen geleitete Extremist*innen. Nicht verwunderlich daher, dass auch in Deutschland die Repression gegen Klimaaktivist*innen und deren Kriminalisierung steigt, das haben zuletzt die Verhaftungen im Zusammenhang mit der Räumung des Dannenröder Forsts und die Millionenklagen von RWE gegen Anti-Kohle-Aktivist*innen gezeigt.

In Lateinamerika sieht die Repression gegen Umweltaktivist*innen noch viel düsterer aus. Dort ist Umweltschutz buchstäblich lebensgefährlich und endet für viel zu viele Aktivist*innen tödlich. Fast drei Viertel der Morde an Umweltaktivist*innen weltweit finden in Lateinamerika statt, die meisten in Kolumbien, darauf folgen – mit großem Abstand – Mexiko, Brasilien und Honduras. Die NGO Global Witness berichtet von 227 ermordeten Umweltaktivist*innen im Jahr 2020, 65 davon allein in Kolumbien. Die meisten der ermordeten Aktivist*innen hatten sich gegen Abholzung durch Forstunternehmen zur Wehr gesetzt, ein Drittel der Opfer waren Indigene. Die Zahl derer, die aufgrund ihres Engagements schikaniert, bedroht, verhaftet oder entlassen wurden, ist weitaus höher. Und nicht nur das Leben der Umweltaktivist*innen steht auf dem Spiel, sondern das ganzer Communities und Ökosysteme. Internationale Unternehmen, auch aus Deutschland, zerstören aus Profitgier in Lateinamerika komplette Regionen – mit fatalen Folgen für das Klima. Sie betreiben Tagebaue, holzen Wälder ab, vertreiben Menschen oder beuten sie als billige Arbeitskräfte aus, verseuchen Grundwasser, tragen zur Versandung, Verwüstung, fehlenden CO2-Speichern und Dezimierung der Artenvielfalt bei.

Gleichzeitig werden diejenigen, die sich vor Ort gegen diese Zerstörung wehren, als „Feind*innen der Entwicklung” dargestellt, wie es der honduranische Umweltaktivist Joaquín A. Mejía ausdrückt, und damit als störende Elemente eines „Fortschritts”, der auf extraktivistischen und neokolonialen Strukturen beruht. Von dieser Art des Fortschritts, der von vielen lateinamerikanischen Regierungen propagiert wird, profitieren neben den internationalen Konzernen auch die Politiker*innen des Globalen Nordens, die die schmutzige Ressourcenausbeutung für die Energiewende in weit entfernte Regionen auslagern können. Auf diese Weise müssen sie sich mit Lösungen für die Klimakrise, die eine Abkehr vom ewigen Wirtschaftswachstums erfordern würde, gar nicht erst beschäftigen. Doch gerade indigene Umweltaktivist*innen sind es, die bereits jetzt vorleben, dass es auch anders geht.

Nicht nur deswegen ist der notwendige und legitime Protest von Umwelt- und Klimaaktivist*innen weltweit gegen die Zerstörung unserer aller Lebensgrundlagen ebenso unbeliebt bei Politik und Wirtschaft wie die Fakten über die Klimakrise selbst. Die peinliche Diskreditierung und Einschüchterung der Aktivist*innen im Falle von Scholz soll dazu dienen, von deren Botschaft abzulenken, die klar macht, dass mit den bisher geplanten Maßnahmen der Bundesregierung die selbst gesteckten Klimaziele nicht erreicht werden. Ganz ehrlich, so lässt sich die Klimakatastrophe nicht aufhalten.

// STAATSFEINDIN PRESSE

Diese Ausgabe der LN beginnt mit einer außergewöhnlichen, weil positiven Nachricht für Journalist*innen in Lateinamerika. Mehr als zwei Jahrzehnte nach der Entführung, Folter und sexualisierten Gewalt gegen die kolumbianische Journalistin Jineth Bedoya hat der Interamerikanische Gerichtshof am 18. Oktober 2021 ein unmissverständliches Urteil gefällt: „Seriöse, präzise und kohärente Indizien“ sprächen für die direkte Beteiligung von staatlichen Akteuren an der Entführung von Bedoya. Der kolumbianische Staat sei, laut Gericht, nicht nur verantwortlich für die an ihr begangenen Verbrechen, er habe auch das Recht des Opfers auf eine angemessene juristische Aufarbeitung des Falles missachtet und sie geschlechtsspezifisch diskriminiert. Jineth Bedoya wurde im April 2000 vor einem Gefängnis in Bogotá entführt, als sie dort einen ranghohen Paramilitär interviewen wollte.

Die symbolische Bedeutung dieses Urteils ist aus vielen Gründen kaum zu unterschätzen. Vor dem Interamerikanischen Gerichtshof hat Bedoya Gerechtigkeit erfahren, was ihr in Kolumbien trotz jahrelanger Prozesse und akribischer eigener Aufklärungsarbeit systematisch verwehrt wurde. Sie wurde ihr verwehrt, weil ihre Recherchen in den Gefängnissen sowie die Aufklärung ihrer eigenen Entführung die systematische Verstrickung von paramilitärischen und staatlichen Strukturen offenlegt. Doch so groß die symbolische Bedeutung des Urteils auch sein mag, für die meisten Medienschaffenden in Lateinamerika wird sich dadurch leider wenig ändern. Wenn sogar eine der Top-Journalist*innen Kolumbiens 20 Jahre um Gerechtigkeit kämpfen muss, sind die Aussichten für weniger renommierte, vernetzte und finanziell ausgestattete Medienschaffende düster.

Schon seit Jahren ist die Situation für Journalist*innen in vielen Teilen Lateinamerikas katastrophal. Die von Reporter ohne Grenzen herausgegebene Karte zeigt auch dieses Jahr wieder den desaströsen Zustand der Pressefreiheit. Ein tiefroter, großer Fleck zieht sich über die Landkarte Lateinamerikas – von Bolivien bis nach Mexiko. Das Fazit ist – mal wieder – besorgniserregend: In keiner anderen Region haben die Verletzungen der Pressefreiheit so stark zugenommen wie in Lateinamerika. Laut eines UNESCO-Berichtes wurden mehr als ein Viertel aller zwischen 2016 und 2020 weltweit dokumentierten Fälle getöteter Journalist*innen in Lateinamerika und der Karibik verzeichnet. Wer über Korruption, Drogenhandel oder Waffengeschäfte schreibt, muss damit rechnen, zum Staatsfeind und zur Zielscheibe (para-)staatlicher Gewalt zu werden.

Das Urteil im Fall Bedoya wird an dieser Situation so schnell nichts ändern, aber immerhin ist es ein bedeutender Schritt nach vorn. Auch deshalb, weil es sexualisierte Gewalt gegen Journalist*innen sichtbar macht. Es verpflichtete den kolumbianischen Staat unter anderem dazu, Daten zu geschlechtsspezifischer Gewalt sowie Bedrohungen und Gewalt gegen Pressevertreter*innen in Zukunft zu registrieren und öffentlich zugänglich zu machen. Dass das Gericht geschlechtsspezifische sexualisierte Gewalt als Verbrechen betrachtet, ist ein Novum und könnte künftigen Verfahren als Präzedenzfall dienen. Auch für die Aufarbeitung des rund 50-jährigen bewaffneten Konflikts in Kolumbien könnte das Urteil eine wichtige Strahlkraft entwickeln. Die Vize-Chefredakteurin der größten kolumbianischen Tageszeitung El Tiempo appellierte bereits am Tag nach der Urteilsverkündung an die Sonderjustiz für den Frieden, einen Prozess zur Ahndung sexualisierter Gewalt im bewaffneten Konflikt zu initiieren.

// DIE HOFFNUNG STIRBT ZULETZT

Javier Ordoñez (43) wurde von Polizisten angehalten, als er um Mitternacht zum Kiosk lief. Der angehende Anwalt wurde von Polizeibeamten auf der Straße verprügelt, mit einer Elektroschockpistole gelähmt und in einer nahegelegenen Polizeiwache gefoltert. Er starb an inneren Blutungen sowie mehrfachem Schädelbruch. Seine Ermordung am 9. September, kurz nachdem die strikten Isolationsmaßnahmen aufgehoben wurden, löste landesweite Proteste aus, die in Kolumbiens Hauptstadt Bogotá in einem Blutbad endeten.

Es sind unfassbare Bilder, die Zeug*innen filmten und ins Internet hochluden. Polizisten bewaffnen Zivilisten und stiften Chaos. Protestierende werden brutal niedergeschlagen, auf sie wird scharf geschossen. In den folgenden Tagen töteten Polizeibeamte 13 Menschen, 400 wurden verletzt. Internationale Empörung angesichts der brutalen Polizeigewalt in Kolumbien bleibt aus.

Es ist nichts Neues: Die kolumbianische Geschichte ist voll von staatlichen Verbrechen. Wer diese Tatsache leugnet, will den kolumbianischen Konflikt weder lösen noch verstehen – so wie Präsident Iván Duque und seine Regierung. Die Ermordung 14 unschuldiger Menschen innerhalb von zwei Tagen auf den Straßen der Hauptstadt, die unfassbare Zahl von 220 Menschenrechtsaktivist*innen, die allein in diesem Jahr umgebracht wurden, und der dramatische Anstieg von Massakern an jungen Menschen durch oft unbekannte Täter sind beispielhaft für die schonungslose Gewalt, welche die Rückkehr des Uribismus an die Regierung im ganzen Land entfesselt hat.

Duque hat die trügerische Politik der „demokratischen Sicherheit“ seines Mentors Álvaro Uribe Vélez (siehe LN 547) wieder zum Gesetz gemacht und das Land remilitarisiert, mit einer Armee, die den Befehl hat, im Zweifel noch schneller zu schießen. Die brutale und korrupte Polizei besteht seit Jahrzehnten und wurde vor 20 Jahren mit der Gründung der Aufstandsbekämpfungseinheit ESMAD noch stärker aufgerüstet. Die Polizei verwandelt sich immer mehr zu einer Art paramilitärischem Arm des Verteidigungsministeriums, der straffrei das Recht auf Protest in den Städten niederprügelt.

Aufgrund der nicht endenden Skandale um staatliche Gewalt und der ausbleibenden Reformen der Sicherheitsbehörden, sind die Zustimmungswerte für die einst angesehen Streitkräfte in den Keller gesunken. Die Pandemie hat die Wut noch einmal verstärkt. Die strikten landesweiten Isolationsmaßnahmen wurden von Polizist*innen und Beamten der ESMAD brutal durchgesetzt – in einem Land, in dem 45 Prozent der Erwerbstätigen informell arbeiten. Mittlerweile wird die Polizei laut dem Umfrageinstitut INVAMER von 57 Prozent der Kolumbianer*innen abgelehnt. Die Zustimmung für Präsident Duque ist seit seiner Wahl deutlich gesunken, seine Partei Centro Democrático könnte nach aktuellen Umfragen nicht damit rechnen, erneut den Präsidenten zu stellen.

Allein mit einer Politik der Militarisierung lässt sich die Zustimmung der kolumbianischen Bevölkerung also nicht mehr gewinnen. Darauf zu hoffen, dass die aktuelle Regierung deswegen von ihrem Kurs abweicht, ist aber illusorisch. Die zentrale Stellung (para-)militärischer Kräfte ist aus dem Uribismus nicht wegzudenken. Jedoch gibt die zunehmende Opposition gegen den vorherrschenden Politikstil Grund zur Hoffnung, dass es spätestens bei der nächsten Wahl damit vorbei ist.

 

// MIT DER AXT DES JAIR BOLSONARO

Ein Jahr ist der Hauptmann außer Dienst Jair Bolsonaro Präsident Brasiliens – und seine Regierung setzt die neoliberale Axt an. Privatisierungen stehen wieder groß auf der Agenda, unternehmerfreundliche Gesetzesänderungen beim Arbeitsrecht wurden ergänzt durch eine Rentenreform, die zukünftig vor allem Menschen mit geringem Einkommen zu erheblich längerer Arbeit zwingt. Um sich die Opposition vom Hals zu halten, wurde die bisherige Finanzierung der Gewerkschaften durch den automatischen Einzug der Beiträge von der Lohnabrechnung abgeschafft. Dies bildet das Fundament des radikalen Umbaus des brasilianischen Staates, ganz im Sinne einer massiven Umverteilung von unten nach oben. Der staatlich fixierte Mindestlohn wird nur unter der Inflation angehoben, den Armen wird die Basis auf ein Leben in Würde mehr und mehr genommen.

Radikaler Umbau des brasilianischen Staates

Gleichzeitig verlieren staatliche Schutzinstitutionen atemberaubend an Struktur und werden personell und finanziell ausgedünnt oder geraten unter Beschuss: Die Bolsonaro-Regierung vollzieht gezielt eine schleichende Entmachtung der Indigenenbehörde Funai und der Umweltbehörde IBAMA durch den Austausch von Mitarbeiter*innen sowie durch Kürzung der Gelder und Verlagerung von Kompetenzen auf andere Staatsorgane. Beim Arbeitsministerium gibt es kaum noch Mittel für Vor-Ort-Kontrollen in den Betrieben, um der immer noch grassierenden Sklavenarbeit auf dem Land Herr zu werden. Wo keine Kontrolle, da keine Klagen.

Währenddessen intensivieren illegale Holzfäller*innen und Goldsucher*innen in Amazonien, animiert durch den präsidialen Diskurs des „Jetzt dürfen wir das!“, ihren Raubzug durch indigene Territorien. Die Rodungsraten explodieren und der Präsident will den Bergbaufirmen indigene Territorien zur Erkundung aushändigen. Die Agrarreform ist zum Stillstand gekommen, kollektive Landtitel werden gar nicht mehr vergeben, direkte Individualtitel sollen stattdessen diese Ländereien den Marktgesetzen ausliefern. Das Agrobusiness reibt sich die Hände. Währenddessen werden die Polizei- und Repressionstrukturen immer umfassender und unter weitestgehender Straflosigkeit erschießt die Polizei gezielt arme, Schwarze Jugendliche.

Wo Kritik entstehen könnte, wird auch vorsorglich die Axt angesetzt. Wissenschaft und Kultur werden die Mittel gekürzt, wer seine Stimme erhebt, dem droht ein Disziplinarverfahren. Oder ein hasserfüllter Shitstorm in den noch immer von fanatischen Bolsonaristas dominierten sozialen Medien. Morddrohungen als Zweck der Einschüchterung sind gang und gäbe geworden in diesem neuen Brasilien des 21. Jahrhundert. Dazu ein Präsident, der täglich einen neuen verbalen Skandal herbeitwittert, damit die Menschen möglichst wenig vom Raub an der Gesellschaft mitbekommen. An die 30 Prozent Zustimmung für seine Regierung sind ein trauriges Beispiel für Bolsonaros Effektivität beim Ablenken vom Wesentlichen. Twitter und Whatsapp machen es möglich.

„Sie haben sich verabredet, uns zu töten. Wir aber haben uns verabredet, nicht zu sterben.“

All dies stört die Wirtschaftselite wenig. Auch die vor Ort ansässigen deutschen Firmen äußern sich lobend über die Bolsonaro-Regierung. André Clark, CEO von Siemens Brasilien, sieht Bolsonaro als „Teamplayer“ und ergänzt: „Die drei entscheidenden Ministerien Wirtschaft, Infrastruktur und Energie sind gut aufgestellt, alle arbeiten an den gleichen Zielen.“ Profit geht ihnen doch über alles.

Ein Jahr nach der Machtübernahme scheint es, als ob der tägliche Dauerbeschuss mit Horrornachrichten die sehr viel effektivere Strategie der Rechten war. Effektive Opposition ist nur aus sozialen Kämpfen zu erwarten, von dort, wo die Territorien bedroht sind: Sei es aus den indigenen Territorien oder aus den Peripherien der Städte und Favelas, überall dort, wo diese Nekropolitik der nun an der Macht befindlichen extremen Rechten Widerstand provoziert. Von der Schwarzen Schriftstellerin Conceição Evaristo stammt der in diesen Territorien dieser Tage oft zitierte Satz: „Sie haben sich verabredet, uns zu töten. Wir aber haben uns verabredet, nicht zu sterben.“

// PFLEGE IN DER MANGEL

Höchstpersönlich reiste Bundesgesundheitsminister Jens Spahn im September nach Mexiko, um vor Ort Pflegefachkräfte anzuwerben. Das Geld für 13.000 neue Stellen in der Altenpflege sei da, aber der Arbeitsmarkt für Fachkräfte in Deutschland leer gefegt. Daher setzt die Bundesregierung nun vermehrt auf Anwerbung: Pflegepersonal aus den Philippinen, dem Kosovo und nun auch Mexiko sollen helfen, den deutschen Pflegenotstand zu beheben. Auf seiner Reise betonte Spahn, dass er keinesfalls anderen Ländern die Pflegekräfte klauen wolle, nur herbei zaubern könne er sie auch nicht. Also versucht er sein Glück in Ländern, die laut der Bundesregierung nicht zu denen gehören, die selbst einen kritischen Mangel an Gesundheitsfachkräften aufweisen.
In Deutschland kommen 180 medizinische Fachkräfte auf 10.000 Einwohner*innen, in Mexiko knapp ein Viertel davon. Deutschland wirbt also einem selbst unterversorgten Land ausgebildete Pflegearbeiter*innen ab._Im öffentlichen Sektor wird diese Entwicklung als Care Drain bezeichnet: Das Entsendeland leidet aufgrund des Verlusts ausgebildeter Fachkräfte unter den wirtschaftlichen und humanitären Folgen.
„In den Herkunftsländern werden Zuneigung und Fürsorge auf die gleiche Weise geplündert wie früher Rohmaterialien oder Arbeitskraft“, schreibt die spanische Ökonomin Amaia Pérez Orozco über grenzüberschreitende Pflegeketten, entlang derer weltweit Migrantinnen in Privathaushalten, bei Dienstleistern und im öffentlichen Gesundheitssektor Pflegetätigkeiten ausführen. So helfen die Migrantinnen so manchen Müttern, ihre Karriere zu verfolgen, manchen Haushalten, nicht unter der Doppelbelastung von Arbeit und Haushalt unterzugehen, und marode Gesundheitssysteme in den Ländern des Nordens zu „sanieren“. Dabei sind sie selbst oft entrechtet und ihr Aufenthaltsstatus oder die Bleibeperspektive sind unsicher.
Weltweit leisten Frauen drei Viertel der unbezahlten Pflegearbeit, in Nicaragua werden 97 Prozent der unbezahlten Arbeit in den Haushalten von Frauen übernommen. Auch der Großteil aller bezahlten pflegenden Tätigkeiten wird von Frauen und immer öfter von Migrantinnen geleistet.
Care-Arbeit, Sorge und Fürsorge im weitesten Sinn, gehört weltweit zu den am stärksten wachsenden Arbeitsbereichen. Die Lücke zwischen zu versorgenden Menschen und fürsorgenden Menschen wächst, im Jahr 2030 werden laut Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) 400 Millionen ältere Menschen auf Pflege angewiesen sein. Die Pflegekrise bekommt nun mehr Aufmerksamkeit, die Debatte darum berücksichtigt jedoch nur selten, dass die Doppelbelastung für Arbeiterinnen schon lange Realität ist. Die geschlechtliche Arbeitsteilung führt dazu, dass Emanzipation von reichen Frauen auch auf Kosten anderer Frauen geht. Die Eingliederung vieler Frauen in den Arbeitsmarkt führt also nicht zu einer gesamtgesellschaftlich gerechter verteilten Sorgeverantwortung, sondern gibt diese einfach an andere, ärmere Frauen weiter. So hüten Ecuadorianerinnen schon lange Kinder in Spanien und nun sollen auch Mexikanerinnen alte Menschen in Deutschland pflegen.
Bei alldem muss klar bleiben: Die Pflegekrise lösen zu wollen, indem man sie exportiert, ist inakzeptabel. Es geht darum, Sorge und Pflege einen anderen Wert zu geben, nicht den einer Ware, sondern den einer sozialen und gesellschaftlichen Aufgabe. Das heißt: Verantwortung für die Sorge gerechter verteilen; verhindern, dass Profitinteressen die Gesundheitssysteme leiten; dafür sorgen, dass der Staat, Arbeitgeber*innen und Männer ihrer Sorgeverantwortung gerecht werden. Nur so können wir gemeinsam verhindern, dass Frauen weiterhin die Lücken des Systems durch unbezahlte oder schlecht bezahlte Sorgearbeit ausgleichen müssen.

// MÄRKTE STATT MENSCHENRECHTE

Die Welt schaut betroffen nach Brasilien. Der rechtsradikale Jair Messias Bolsonaro wird Präsident. Wieder einmal wird mit Entsetzen gefragt, wie das bloß alles geschehen konnte. Gerade im Fall Brasiliens sind die Gründe für diese Entwicklung komplex und vielfältig. Es gibt eine breite und historisch völlig neue rechte Allianz, welche die Krisen und damit verbundene Diskurse geschickt nutzt und zahlreiche Paradigmenwechsel einleiten konnte. Anstatt die Ursachen aber ausschließlich in den Krisen und Entwicklungen innerhalb Brasiliens während der vergangenen Jahre zu suchen, macht es – insbesondere mit Blick auf die Mitwirkung deutscher Unternehmen in der vergangenen brasilianischen Militärdiktatur (1964-1985) – Sinn, auch nach der Unterstützung der deutschen Politik und Wirtschaft zu fragen.

Die Ankündigung, den marktradikalen, zeitweise in Chicago zum Ökonomen ausgebildeten Paulo Guedes zum Superminister für Wirtschaft und Finanzen zu machen, sorgte für Vorfreude. Für Akteur*innen aus der Wirtschaft wird die Unterstützung des ultrarechten Bolsonaro zu einer für sie vernünftigen Option. Das Duo Bolsonaro/Guedes steht für einen deregulierten Markt, der durch ein repressives, totalitäres System geschützt wird und indem alle Unternehmen privatisiert werden sollen. Die Deutsche Bank ließ sich zu der Aussage hinreißen, Bolsonaro sei der „Wunschkandidat der Märkte“. Das sah die FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung offensichtlich ganz ähnlich, denn bis einige Tage nach dem ersten Wahldurchgang berichtete sie noch auf ihrer Internetseite, Bolsonaros Partei durch Kurse für Führungskräfte auf die Wahlen vorbereitet zu haben. Was sie nach laut werdender Kritik jedoch wieder dementierte und versicherte, die Unterstützung nach dem Bekanntwerden von Bolsonaros Kandidatur eingestellt zu haben und lediglich die Webseite nicht aktualisiert zu haben. Bei all den Sorgen um die brasilianische Demokratie wurde das wohl ganz einfach vergessen. Die Börse in São Paulo jedenfalls legte zeitweise acht Prozent zu, als sich Bolsonaros Wahlsieg abzeichnete. Das war der höchste Anstieg der vergangenen zwei Jahre. Die steigenden Kurse sind für Bolsonaro ein Vertrauensvorschuss. Sie stärken aber auch Industrien in Brasilien, die ihn wiederum strukturell, politisch und teilweise auch finanziell unterstützen. Die Agrarindustie beispielsweise ist eine enge Verbündete Bolsonaros.

Bolsonaro erhält auch Legitimität durch die diplomatische Zurückhaltung der Bundesregierung, die ihm zum Sieg gratulierte. Das dürfte der Bedeutung Brasiliens für Deutschland geschuldet sein – immerhin ist Brasilien nur eines von fünf Ländern außerhalb der Europäischen Union, mit denen die Bundesrepublik eine sogenannte strategische Partnerschaft führt. Deutsche Wirtschaftsunternehmen machen etwa zehn bis zwölf Prozent der brasilianischen Industrie aus. Brasilien seinerseits ist Deutschlands größter Handelspartner in Lateinamerika.

Noch weiter als die Bundesregierung gingen deutsche Firmenchefs. Sie offenbarten schon vor der Wahl wenig Vorbehalte gegen Bolsonaro. Einem Bericht der Deutschen Welle zufolge erklärten sechs namentlich nicht genannte Firmenchefs von deutschen Unternehmen, sie erwarteten nach einer Wahl Bolsonaros die Rückkehr von Stabilität und Wirtschaftswachstum. Die Führungsetagen deutscher Firmen treten so in die Fußstapfen ihrer Vorgänger*innen aus den 1970er Jahren. Im Namen des Neoliberalismus und des ungezügelten Wachstums werden die schon vor Bolsonaros Amtsantritt beginnende Verfolgung und Ermordung an Oppositionellen und erklärten Feind*innen durch Bolsonaros Anhänger*innen stillschweigend hingenommen. Anstatt nur entsetzt die Einhaltung von Menschenrechten zu fordern, sollten wir uns fragen, was die wirtschaftsliberalen Werte, die gemeinhin mit Freiheit verbunden werden, eigentlich in ihrer konkreten Umsetzung alles anrichten können.

// BOXENSTOPP BECHSTEINFLEDERMAUS

„Wir verlangen von den Behörden, dass sie das Leben der Menschenrechts- und Umweltaktivist*innen und der Journalist*innen garantieren und respektieren, ebenso die Sicherheit und die Rechte der Bevölkerung“, steht in einer Solidaritätserklärung von Ende September. Nein, diesmal nicht aus Deutschland mit Menschen in Mexiko. Sondern aus Oaxaca mit den Aktivist*innen, die sich für den Erhalt des Hambacher Forstes einsetzen. Die Umweltzerstörung, die deutsche Firmen wie RWE in Lateinamerika und andernorts auf der Welt anrichten, wird diesmal vor deren eigener Haustür sichtbar. Und Solidarität funktioniert auch in die andere Richtung.

Beim Kampf um den Hambacher Forst geht es längst nicht mehr um die niedliche Haselmaus. Oder um die laut Gerichtsentscheid schützenswerte Bechsteinfledermaus. Es geht auch nicht nur um den deutschen Kohleausstieg als Kristallisationspunkt der Debatte. Spätestens seit der Räumung der Waldbesetzung im September geht es darum, wie die Landesregierung von NRW mithilfe der Polizei und schwerem Gerät die Profitinteressen von RWE durchknüppelt. Armin Laschet und Herbert Reul stellen nach den ersten Regenschauern, die den Hitzesommer abkühlten, und just vor Beginn der Rodungssaison am 1. Oktober fest, dass die Baumhäuser die Brandschutzbestimmungen nicht erfüllen. Was fast am meisten empört, ist die Dreistigkeit, mit der der Staat die Interessen eines Konzerns skrupellos durchsetzt.

Den letzten Funken Anstand verlor Reul, als er selbst nach dem tödlichen Unfall des Journalisten Steffen Meyn den Menschen im Wald nicht mal eine Nacht Ruhe zum Trauern ließ. Steffen Meyn ging auf die Bäume, um „die Menschen zu informieren, was denn hier passiert“, wie er in einem Twitter-Video mitteilte. Der Deutsche Journalisten-Verband kritisierte Mitte September Einschränkungen durch die Polizei. Als Zeitschrift, die über soziale Bewegungen und ihre Kämpfe berichtet, fühlen auch wir uns davon betroffen.

Diesen Herbst richten sich unsere Blicke auf ein Stück Wald im Westen Deutschlands, doch die Bewegung für Klimagerechtigkeit ist global.

Diesen Herbst richten sich unsere Blicke auf ein Stück Wald im Westen Deutschlands. Doch die Bewegung für Klimagerechtigkeit ist global und hat deshalb auch Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung andernorts im Blick, zum Beispiel im Norden Kolumbiens. Ein sofortiger Ausstieg aus der Braunkohle darf nicht dazu führen, dass stattdessen mehr Steinkohle aus Kolumbien, Südafrika oder Russland importiert wird. „One Struggle, one Fight!“ schallt es durch den Hambacher Forst. Damit sind nicht nur die verschiedenen Gruppen in Deutschland gemeint, die sich gemeinsam für den Wald einsetzen. Genauso wie uns Solidaritätserklärungen aus Kolumbien und Mexiko erreichen, gilt es, hier keine Steinkohle zu verfeuern, gegen deren Abbau die Menschen dort kämpfen.

Solidarität mit Menschen in Lateinamerika heißt auch, hierzulande die Ursachen von sozialer Ungleichheit und Konflikten zu bekämpfen. Die Auswirkungen der Klimakrise zerstören schon heute die Lebensgrundlage von Menschen in Bolivien oder Nicaragua, von Menschen, die zu dieser sozialen Krise mit am wenigsten beigetragen haben. Ob Pödelwitz oder der Hambacher Forst – kein Dorf und kein Wald darf mehr der dreckigen Braunkohle weichen, mit der die Klimakrise tagtäglich befeuert wird. Der Kohleausstieg ist jetzt notwendig und kann nicht warten. Denn auch die Gletscher in Bolivien und die Umweltkatastrophen in Nicaragua warten nicht noch ein paar Jahre.
Die aktuelle LN liest sich bestens zur Unterhaltung auf langen Blockaden, ist aber auch multifunktional: Wer besonders lange auf Schienen oder Baggern ausharrt, darf sich ausnahmsweise auch mal auf das Heft setzen. Durch unser Dossier zum Thema Biodiversität ist es sogar besonders dick.

// CHEMNITZ IST ERST DER ANFANG

Jeden Monat wird unser Editorial in der gesamten Redaktion diskutiert. Das Thema: fast immer ein aktueller Aufhänger aus Lateinamerika, gerne mit einer steilen These, oft mit einer zurück nach Deutschland geschlagenen Brücke. Alle paar Jahre kommt es jedoch zu derart einschneidenden Ereignissen hier vor unserer Haustür, zu denen wir nicht schweigen können, obwohl uns die Worte fehlen. Chemnitz ist so ein Ereignis.
Das, was sich gerade in Chemnitz entlädt, ist unsäglich, es ist rechter Terror. Es ist schockierend, doch eigentlich wenig überraschend – war der Totschlag eines Chemnitzer Bürgers doch lediglich ein willkommener Anlass für Rechte und Neonazis, um etwas loszulassen, das sich seit Jahren zusammenbraut. Politik und Polizei müssen sich endlich damit auseinandersetzen, wie gefährlich die rechte Szene ist.
Es muss Schluss sein mit den ewigen Verharmlosungen „besorgter Bürger“. Wer mit Neonazis aufmarschiert, ist nicht besorgt, sondern selbst Grund zur Sorge. Der Diskurs und scheinbar die ganze Gesellschaft verschieben sich immer weiter nach rechts. Dieser Entgrenzung müssen Grenzen gesetzt werden, gesellschaftliche und strafrechtliche. Es kann nicht sein, dass immer noch Demonstrationen geschützt werden, in denen zu Gewalttaten und Morden an „Ausländern“ aufgerufen wird, in denen Hitlergrüße gezeigt und rassistische und nationalsozialistische Parolen gerufen werden. Gegen diese Art von Versammlungen sollte sich die staatliche Repression richten, nicht gegen jene Menschen, die sich diesem Hass entgegenstellen und dafür eingekesselt, behindert, kriminalisiert werden.
Die Situation ist gefährlicher denn je. Die Rechten sind organisierter, vernetzter und schaffen es, Tausende zu mobilisieren. Neben hetzenden gewaltbereiten Mobs verfügen sie über organisierte Terrorstrukturen und haben ihre Leute in allen Institutionen, inklusive in Verfassungsschutz, Polizei und Parlamenten. Und die verschiedenen Szenen arbeiten vermehrt zusammen. Für ein „Wehret den Anfängen“ ist es längst zu spät.
Optimist*innen sehen in Chemnitz einen Moment, in dem auch die AfD endlich ihre Maske hat fallen lassen. Spätestens jetzt dürfte allen klar sein, für welche Art Politik Gauland, Weidel und Co. stehen. Das macht sie für viele offenbar jedoch längst nicht unwählbar – im Gegenteil. Auch nach Chemnitz klettern die Umfragewerte für die AfD bundesweit auf bis zu 17 Prozent, in Sachsen liegen sie weiter bei 25 Prozent. Und der Verfassungsschutz sieht auch keinen Grund zum Einschreiten.
Was ist das für eine Zukunft, in die wir da wie paralysiert blicken? Nazitrupps verprügeln Sozialdemokrat*innen, jagen mit dem Ausruf „Kanackenklatschen“ Menschen durch die Stadt und werden von deutschen Parlamentarier*innen auch noch ermuntert. Extremismusforscher*innen warnen, dass es für Journalist*innen mittlerweile lebensgefährlich geworden ist, von rechten Demonstrationen zu berichten.
Die Zukunft zeigt sich in Chemnitz schon als Realität – und Chemnitz ist erst der Anfang, ein Szenario, das als dringende Warnung zu begreifen ist. Viel zu viele haben schon zu lange geschwiegen, ließen sich zu lange beschwichtigen, haben die Lage zu lange unterschätzt.
Eine große Frage in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus war stets: Wie hätte ich damals reagiert? Nun ist wohl der Moment gekommen, in dem sich diese Frage jede*r ehrlich beantworten kann. Noch wichtiger ist jedoch, sich zu fragen: Wie hätte ich reagieren sollen? Die Antwort muss für damals wie heute heißen: Reagieren, Ohnmacht und Angst nicht zulassen, die Sprachlosigkeit durchbrechen, jenen mutig zur Seite stehen, die am meisten zu befürchten haben und der Faschisierung Deutschlands den Kampf ansagen! Dafür muss Chemnitz der Anfang sein. Unser Anfang.

// EIN SKANDAL

Nach jahrzehntelangem Schweigen, Wegducken und Herumlavieren kam vor einem Jahr die Überraschung: Der Bundestag beschloss einstimmig einen Antrag mit dem Titel „Aufarbeitung der Verbrechen der Colonia Dignidad“. Dies erweckte zumindest den Anschein, Deutschland würde sich endlich der Verantwortung für die von deutschen Siedler*innen begangenen Verbrechen in Chile stellen: systematischer Kindesmissbrauch, Zwangsarbeit, zwangsweise Verabreichung von Psychopharmaka, Mord und Folter von Oppositionellen während der Militärdiktatur.

Spätestens seit 1966 wusste die deutsche Botschaft in Santiago von den Grausamkeiten – unternommen wurde nichts. Selbst der damalige Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier meinte 2016, deutsche Diplomaten hätten „bestenfalls weggeschaut“. In einigen Fällen wurden aus der Colonia Geflüchtete von der deutschen Botschaft in Santiago gar wieder in die Sekte zurückgeschickt. Um das alles aufzuarbeiten, verpflichtete der Bundestag die Regierung, bis zum 30. Juni 2018 ein „Konzept für Hilfsleistungen zur Beratung vorzulegen und dessen Finanzierung zu prüfen.“

Auf den letzten Drücker hat das Auswärtige Amt nun ein solches Konzept vorgelegt. Der Hammer kommt schon in der Einleitung: „Die Bundesregierung ist der Auffassung, dass aus den Geschehnissen in der Colonia Dignidad keine rechtlichen Ansprüche gegen die Bundesrepublik Deutschland entstanden sind. Vor diesem Hintergrund enthält der nachfolgende Entwurf für ein Hilfskonzept ausschließlich Vorschläge für freiwillige Unterstützungsmaßnahmen.“ Und: „Individualmaßnahmen, insbe­sondere Geldzahlungen an Einzelpersonen, sind dagegen nicht vorgesehen.“

Die geplanten Maßnahmen sind dann auch nicht mehr als ein Potpourri an unverbindlichen Bildungs- und Unterstützungsmaßnahmen für die deutschen Opfer der Sekte, die ohne jeglichen Rentenanspruch nach jahrzehntelanger Zwangsarbeit in der Colonia auf finanzielle Hilfeleistungen gehofft hatten. Von Unterstützung für die Angehörigen der chilenischen Opfer ist in dem Konzept gar zu keinem Zeitpunkt die Rede. Dabei hatten sie nicht einmal Entschädigung gefordert, sondern lediglich wissenschaftliche und technische Unterstützung bei der Suche nach Massengräbern und der Exhumierung und Identifizierung dort begrabener Häftlinge. Enttäuscht wurden sie dennoch: „Was das Konzept der Bundesregierung als ‚Zusammenarbeit‘ vorschlägt, ist die Delegierung dieser wissen­schaft­lichen Arbeiten an ein undurch­schaubares, bürokratisches Netz von Zuständigkeiten, die – wir kennen es leider – letztlich in der Straflosigkeit versanden“, kommentierte Myrna Troncoso, Präsidentin der Angehörigen­­­organisation der Verschwundenen der Colonia Dignidad in der Región del Maule.

Auch Vertreter*innen von verschiedenen Parteien äußerten sich fassungslos über das Konzept. Ein „Affront“, so Renate Künast, ein „Skandal“ und „beschämend für Deutschland“ sei das Papier, so der CDU-Abgeordnete Michael Brand. Aber warum eigentlich? Hätte man wirklich erwarten können, dass eine deutsche Regierung Menschenrechte und historische Verantwortung für wichtiger erachtet als fiskalpolitische Peanuts? Hat sie das jemals? Denn dann könnte ja schließlich jeder kommen: Die Nachfahren der Opfer des Völkermordes an den Herero und Nama in Namibia oder der Brandschatzung Griechenlands während des Zweiten Weltkriegs, oder die Opfer der Bombardierung eines von Zivilist*innen umringten Tanklasters im afghanischen Kundus 2009 und ihre Angehörigen. Ganz zu schweigen von der menschenverachtenden Flüchtlingspolitik der deutschen Regierung: Dank Dublin-Verordnung kann mit ruhigem Gewissen auf Länder an den EU-Außengrenzen gezeigt werden. Verantwortung abgeschoben, Hände in Unschuld gewaschen. Bereits mehr als tausend ertrunkene Migrant*innen im Mittelmeer 2018 spielen keine Rolle. Nur Teile der Zivilgesellschaft setzen sich für sie ein, wie zuletzt auf den Seebrücke-Demos in mehreren deutschen Städten.
Diese menschenverachtende Außenpolitik Deutschlands ist ein Skandal, ein Affront, aber leider eben wie immer und wenig überraschend. Da ist das Konzept zur Colonia Dignidad keine Ausnahme.

// NICARAGUA SCHMERZT

Die Bilder in Nicaragua gleichen sich auf den ersten Blick, und doch ist dieses Mal alles anders. Wer heute durch den indigen geprägten Bezirk Monimbó in der nicaraguanischen Stadt Masaya geht, fühlt sich zunächst an 1979 erinnert, als der Volksaufstand gegen die Somoza-Diktatur in vollem Gang war: Barrikaden aus Pflastersteinen, junge Menschen mit Gesichtsmasken und revolutionäre Parolen an den Wänden. Der entscheidende Unterschied: Heute weht die blau-weiß-blaue Nationalflagge über den Barrikaden. Das rot-schwarze Banner der Sandinist*innen ist zum Hassobjekt geworden. Immer öfter hört man den Spruch: „Daniel y Somoza – la misma cosa“.
Für alle, die die Sandinistische Revolution vor 40 Jahren sympathisierend begleitet, unterstützt oder nur via Medien beobachtet haben, ist es schmerzhaft zu sehen, wie der Nimbus der Revolutionär*innen verflogen ist. Längst wusste man auch in den treuesten Solidaritätszirkeln hierzulande, dass die Comandantxs nicht unfehlbar sind.
Aber nach mehr als elf Regierungsjahren von Daniel Ortega steht der Sandinismus für eine religiös verbrämte autoritäre Herrschaft, die spätestens seit Beginn der Demonstrationen im April von vielen als Mörder-Regime gesehen wird. Amnesty International hat bestätigt, was zahllose Augenzeug*innen und das medizinische Personal in den Krankenhäusern aufgezeigt hatten: Die Antiaufruhrpolizei schießt, um zu töten – in den Kopf, in den Hals oder in die Brust. Kritische Stimmen innerhalb des Sandinismus, die über diese Brutalität bestürzt sind, dringen nicht an die Öffentlichkeit.
Immer mehr Menschen, die die autoritäre Politik jahrelang schweigsam erduldet haben, weil sie vielleicht selbst profitiert hatten oder zumindest wirtschaftliche Stabilität erlebten, steigen aus Entrüstung buchstäblich auf die Barrikaden. Von offizieller Seite der „Regierung der Einheit und Versöhnung“ wird standhaft geleugnet, dass diese Verbrechen überhaupt stattfinden oder sie werden „von außen gesteuerten Vandalen“ zugeschrieben.
Aber dank der Revolution der sozialen Medien kann auch die weitgehende Kontrolle von Fernsehen und Rundfunk nicht mehr verschleiern, dass täglich Blut fließt. Es ist kein Zufall, dass der Aufstand von Student*innen angeführt wird, die ihr Smartphone zu nutzen wissen und imstande sind, sich ein unabhängiges Bild der Welt und ihres eigenen Landes zu verschaffen. Obwohl Vizepräsidentin und Ortega-Ehefrau Rosario Murillo als erste Reaktion auf die Protestbewegung die öffentlichen WLAN-Hotspots abstellen ließ, verbreiten sich Fotos und Videos von Repressionsakten oder Aufrufe zu Demonstrationen.
Das einzige handfeste Druckmittel der Demonstrierenden gegen den Ortega-Clan sind neben der moralischen Kraft einer wachsenden Aufstandsbewegung die errichteten Straßensperren. Sie führen inzwischen aber nicht mehr nur bei den Ortegas mit ihren zahlreichen Unternehmen zu wirtschaftlichen Einbußen. Der Tourismus, für viele Kleinstunternehmer*innen die wichtigste Lebensgrundlage, ist zum Erliegen gekommen. In abgelegenen Landesteilen herrscht bereits Hunger. Eine rasche Lösung ist daher unumgänglich, soll das Land nicht nachhaltigen Schaden erleiden.
Die heterogene Protestbewegung – die autoconvocados – hat weder eine rechte noch eine linke Agenda. Sie hat auch keine sichtbaren Anführer*innen, die Ortega an der Staatsspitze ablösen wollen. Sie will lediglich die bleierne Zeit beenden, in der kein Bürgermeister und keine Bürgermeisterin ohne Erlaubnis der Vizepräsidentin eine Unterschrift leisten darf und Staatsangestellte für Parteiveranstaltungen abkommandiert werden. Es bleibt zu hoffen, dass sich die Ortegas, anders als damals Somoza, mit friedlichen Mitteln zum Rückzug bewegen lassen – sonst droht eine Militarisierung des Konflikts.
Spätestens bei Erreichen ihres unmittelbaren Ziels müsste sich die Bewegung dann einer nicht minder großen Herausforderung stellen: eine tragfähige, konstruktive politische Alternative zu entwickeln, die sich an einer solidarischen und gerechten Gesellschaft orientiert. So wie es vor langer Zeit einmal auch Ortegas Anspruch war.

// ZUM SCHEITERN VERURTEILT

Die Idee an sich klingt gut. Mittels einer Verfassunggebenden Versammlung (VV) will der venezolanische Präsident Nicolás Maduro den politischen Machtkampf in Venezuela beenden. „Heute gebe ich die Macht in die Hände der Bevölkerung“, sagte er bei der Übergabe des entsprechenden Dekretes an den Nationalen Wahlrat (CNE). Dass damit die nach Hugo Chávez’ Amtsantritt als Präsident erarbeitete „beste Verfassung der Welt“ von 1999 abgeschafft werden soll, sehen die Chavist*innen keineswegs als Widerspruch an. Vielmehr solle diese der gesellschaftlichen Realität angepasst werden, indem etwa die vielfältigen Sozialprogramme und Selbstverwaltungsstrukturen Verfassungsrang bekommen.
Doch hinterlässt Maduros Ankündigung jede Menge Fragezeichen. Sie erfolgt mitten in einer tief greifenden politischen und wirtschaftlichen Krise, in der die gesellschaftliche Polarisierung vollends in Gewalt umzuschlagen droht. Gewissheit gibt es nicht, doch spricht einiges dafür, dass die Regierung momentan kaum eine Chance hätte, eine demokratische Wahl zu gewinnen. Die Zusammensetzung einer VV kann in diesem Kontext nur zugunsten der chavistischen Kräfte ausfallen, wenn einzelne Gruppen Sonderrechte erhalten oder die Opposition den Prozess boykottiert. In beiden Fällen würde einer neuen Verfassung bereits vor ihrer Verabschiedung ein Makel anhaften. Denn eine Magna Charta braucht vor allem eines: Legitimität.
Die Krise, in der sich Venezuela befindet, lässt sich auf diese Art und Weise nicht lösen. Die rechte Opposition, für die demokratische Regeln immer schon eine allenfalls taktische Rolle gespielt haben, bezeichnet Maduro mittlerweile offen als Diktator. Sie will nur dann an den Verhandlungstisch treten, wenn sie zuvor die Zusage zu sofortigen Neuwahlen erhalten hat. Die venezolanische Regierung warnt ihrerseits vor Umsturzplänen, agiert immer autoritärer und interpretiert die bestehende Verfassung nach ihrem Gusto. Dass unter diesen Bedingungen ein fruchtbarer gesellschaftlicher Dialog erwächst, ist mehr als fraglich. Eher vertieft der Vorstoß die ohnehin schon kaum mehr zu kontrollierende Polarisierung.
Dass die Regierung derart diskreditiert ist, liegt nicht zuletzt an eigenen Fehlern. Die Schuld an der gravierenden Wirtschafts- und Versorgungskrise lastet Maduro einseitig dem niedrigen Erdölpreis und einer Sabotage seitens der Privatwirtschaft an, ohne jedoch die strukturellen Ursachen anzugehen. Kritik ist auch aus den eigenen Reihen unerwünscht, eine offene Debatte gibt es schon lange nicht mehr. Letztlich hat Maduros Regierungspolitik nur noch wenig mit mit dem unter Chávez begonnenen „bolivarianischen Prozess“ zu tun, in dem es vor allem um politische Teilhabe und soziale Gerechtigkeit ging.
Es scheint kaum mehr möglich, dass die Regierung von innen heraus zu einer progressiven Ausrichtung des Chavismus zurückfindet. Eine Machtübernahme durch die rechte Opposition hätte für die politische Stabilität des Landes und die Situation der ärmeren Bevölkerungsmehrheit indes fatale Konsequenzen. Hoffnung böte alleine das Emporkommen einer linken Alternative, die in Verbindung mit sozialen Bewegungen als dritter politischer Akteur die lähmende Polarisierung aufbricht. Bisher gibt es dafür nur vereinzelte Ansätze wie etwa den so genannten kritischen Chavismus, zu dem sich die PSUV-Abspaltung Marea Socialista („Sozialistische Flut“), einige von Chávez’ Ex-Minister*innen und eine Reihe prominenter Intellektueller zählen. Obwohl sich laut Umfragen mittlerweile die Mehrheit der Bevölkerung keinem der beiden großen Lager mehr zurechnet, werden bisher jegliche Ansätze jenseits der beiden großen Blöcke durch die Polarisierung zerrieben. Kurzfristig scheint ein Bündnis aus kritischen Chavist*innen und konstruktiven Oppositionellen, die es durchaus auch gibt, unrealistisch. Mittelfristig ist dies die einzige Möglichkeit, die positiven Seiten des chavistischen Erbes zu retten.

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