In Deutschland wird gestreikt − an einem Tag! Was wurde für diesen 27. März nicht alles vorausgesagt: „Warnstreik: ver.di und EVG nehmen das Land in Geiselhaft”, titelte die Welt. Der Bundesverband Güterverkehr und Logistik (BGL) warnte vor einem Versorgungschaos. Die Gewerkschaften handelten „gegen den Willen von Millionen Bundesbürgern”, sagte BGL-Präsident Dirk Engelhardt der Bild. Verkehrschaos sei allerorten abzusehen, vor allem wenn Schiene, Flughäfen und Autobahntunnel gleichzeitig bestreikt würden.
Das Gegenteil war der Fall. Auf den Straßen − wo Streikende in Frankreich Barrikaden bauen und Mülltonnen anzünden − war sogar weniger los als sonst. Die Mehrheit der Bundesbürger*innen trug die Warnstreiks mit Fassung und die Forderungen der Gewerkschaften mit: Bei der Befragung im ARD-Deutschlandtrend gaben 44 Prozent an, diese seien genau richtig, 8 Prozent der Befragten fanden, sie gingen nicht weit genug. Und tatsächlich lassen sich die Forderungen von ver.di und EVG sehr leicht nachvollziehen: 2022 gab es mit 3,1 Prozent den höchsten Reallohnverlust seit zehn Jahren sowie den dritten Reallohnverlust in Folge. Und die Prognosen zur Inflationsrate 2023 sind nicht gut.
Der Warnstreik war laut einer Sprecherin von ver.di und der EVG der größte seit drei Jahrzehnten. 350.000 Beschäftigte sind dem Streikaufruf gefolgt. Sichtlich erfolgreich war das Zusammengehen von ver.di und EVG und stellt eine neue Entwicklung dar: Erst durch die Koordination ihrer Streiks konnten sie die Infrastruktur so effizient lahmlegen und trafen die Arbeitgeber dort, wo es ihnen wehtut: Tausende von Flügen mussten gestrichen werden, Waren konnten nicht ausgeliefert oder produziert werden.
Andererseits lassen jahrzehntelanger Mitgliederschwund bei den Gewerkschaften und gedämpfte gesellschaftliche Zukunftsperspektiven eine Annäherung an soziale Bewegungen notwendiger denn je erscheinen. Der gemeinsame bundesweite „Aktionstag” von ver.di mit Fridays for Future am 3. März im Rahmen des globalen Klimastreiktages ist ein Schritt in die richtige Richtung. Ver.di zog dadurch eine gesellschaftliche und ökologische Dimension in den Arbeitskampf mit ein und näherte sich damit dem hierzulande verfemten politischen Streik.
Zu welch starken Mobilisierungen eine breite gesellschaftliche Allianz führen kann, lässt sich aktuell in Frankreich beobachten. Auch die wichtigsten Veränderungsprozesse der vergangenen Jahre in Lateinamerika beruhten meist auf dem Zusammenspiel von Gewerkschaften mit anderen politischen Kräften und Bewegungen. Die entscheidenden Paros Nacionales – die nationalen Streiks – in Kolumbien zwischen 2020 und 2021 gingen nicht von Gewerkschaften aus, sondern von den Stadtteilversammlungen (asambleas populares). Das gilt auch für die Protestbewegungen in Chile, wo die dort cabildo genannten Versammlungen in den Stadtteilen zu den wichtigsten politischen Akteuren wurden. In Ecuador ist die indigene Bewegung treibende Kraft und Gewerkschaften schließen sich ihren Forderungen regelmäßig an.
Indigene und soziale Aktivist*innen haben keine Angst, die Grundsätze des neoliberalen Modells in Frage zu stellen. Andererseits profitieren auch diese Aktivist*innen von der Unterstützung etablierter Gewerkschaften. Je mehr gesellschaftliche Sektoren sich zusammentun, desto größer wird die Akzeptanz für deren Kämpfe und umso mehr wächst der Druck auf die Gegenseite. So bringt es auch Lea Fauth in der taz auf den Punkt: „Der Druck auf die Politik hält sich in Grenzen, solange die Räder der Wirtschaft weiter rattern und Dividenden ausgeschüttet werden”.