
Man hat das Bild zu viele Male gesehen, um dabei nicht sofort ein übles Gefühl in der Magengrube zu spüren: Ein verlassener, verschlossener Lastwagen mitten in der Wüste ist die erste Einstellung in Michel Francos beeindruckendem mexikanischen Berlinale-Wettbewerbsbeitrag Dreams. Und die Ahnung bestätigt sich: Der Truck ist voll mit lateinamerikanischen Migrant*innen, die die Grenze zu den USA auf der Suche nach einem besseren Leben überquert haben und denen nun langsam Luft und Wasser ausgehen. Erst kurz vor der Katastrophe öffnet sich doch noch die Tür zur Ladefläche. Doch die Retter sind keine Wohltäter, sondern Verbrecher: Das restliche Geld und die wenigen Dinge, die sie noch haben, werden denen, die knapp dem Tod entronnen sind, sofort von einer kriminellen Schieberbande entrissen. Wer noch kann, macht sich danach so schnell wie möglich davon auf den Weg ins Ungewisse.
Diese Auftaktsequenz dauert in Dreams nur wenige Minuten, zeigt aber gerade wegen ihrer Kürze die lebensgefährliche Realität der Migrant*innen in schockierender Klarheit. Es gelingt auch, weil der mexikanische Regisseur Michel Franco (u.a. New Order, Chronic, After Lucia) ein Meister seines Fachs ist und bei der Konstruktion seiner oft in Totalen gefilmten Bilder und Schnitte kein Detail dem Zufall überlässt. Im weiteren Verlauf folgt der Film dem jungen Balletttänzer Fernando (Isaac Hernández, auch in der Realität einer der besten Balletttänzer der Welt). Der erreicht zwar völlig ausgelaugt und mit nicht mehr als der Kleidung, die er am Leib trägt, sein Ziel San Francisco. Schon bald wird aber klar: Fernandos Motive, in die USA zu migrieren, waren nicht Armut und Chancenlosigkeit, sondern Ambition und Liebe. Auch in Mexiko hatte er ein gutes Leben in der Oberschicht – eine Ballettausbildung muss sich eine Familie erst einmal leisten können. Weil er aber exzellent in dem ist, was er tut, will er das auch auf dem höchstmöglichen Niveau weiterverfolgen. Dabei soll ihm seine Mäzenin Jennifer (Jessica Chastain) helfen, die in San Francisco eine Stiftung ihrer reichen Familie leitet und mit ihrem Geld eine Ballettschule in Mexiko-Stadt aufgebaut hat. Die Beziehung zwischen den beiden, auch das ist schnell kein Geheimnis mehr, geht weit über das Professionelle hinaus. Doch während Fernando sich bei Jennifer angekommen am Ziel seiner privaten Träume wähnt, will sie die Beziehung geheim halten. Die Dynamik von Macht und Privilegien, die die Lebensverhältnisse aller illegalen Migrant*innen durchdringt, beginnt sich unaufhaltsam zu entfalten.
Dreams ist ein hochrelevanter Beitrag zur Migrationsdebatte, vor allem weil Fernando nicht als hilfloses Objekt gezeigt wird. Für eine Rolle als Spielzeug im Goldenen Käfig ist er sich zu schade. Er weiß um seine exzellente Qualifikation und behält trotz seiner Rechtlosigkeit immer seine Würde und die Zügel seines eigenen Schicksals in der Hand. Jennifer verkörpert dagegen als seine Partnerin und Gegenspielern in einer Person, je länger der Film dauert, in immer unheimlicherer Weise das Phänomen des White Privilege Bei ihr ist vieles gut gemeint, selbst ihre romantischen Gefühle für Fernando nimmt man ihr ab. Und doch ist sie blind für die Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse, die sie seit ihrer Geburt ausnutzt, ohne sich dessen bewusst zu sein. Bei ihren Reisen per Privatjet nach Mexiko kann sie in ihrem eigenen Haus ein- und ausgehen wann und wie sie will. Die luxuriösen Auszeiten vom Familienclan in ihrer Heimat sprechen im Kontrast zur Lastwagenszene zu Beginn Bände. Spanisch zu lernen hat sie ebenfalls nicht nötig: In den Kreisen, in denen sie in Mexiko verkehrt, ist perfektes Englisch Standard.
Interessant wird es immer dann, wenn Fernando in irgendeiner Form zur Bedrohung für den Status quo der Weißen Mehrheitsgesellschaft wird und deren tolerante Fassade innerhalb von Sekunden in sich zusammenfällt. Sei es durch den offenen Rassismus eines Kollegen in der Ballettgruppe in San Francisco oder die Ressentiments von Jennifers Familie gegen den jüngeren Partner aus Mexiko (hier spielt fast beiläufig auch noch sexistische Diskriminierung mit hinein – bei umgekehrten Geschlechterrollen wäre eine soziale Akzeptanz wahrscheinlicher). Diese toxische Mischung wartet nur darauf, zu explodieren, zumal Michel Franco bekannt dafür ist, mit provokanten oder gar tabubrechenden Plot-Twists sein Publikum zu verstören. Ohne zu viel zu verraten, wird er diesem Ruf auch in Dreams gerecht. Vor allem eine Szene gegen Ende des Films muss dabei als problematisch und gleichzeitig unnötig bezeichnet werden, da sie weder für die Botschaft noch für die Dramaturgie entscheidende Impulse liefert. Davon abgesehen ist Dreams aber eine ästhetisch und inhaltlich exzellente Parabel auf Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse in den Beziehungen USA/Mexiko geworden, die auch auf der Meta-Ebene funktioniert. Bei der Preisvergabe auf der Berlinale dürfte er deshalb und wegen des hochaktuellen Themas eine wichtige Rolle spielen.
Triggerwarnung: Darstellung von Gewalt