Himmelblau glitzert das Wasser in der Bucht von Acapulco, die Strände sind in den Ferienzeiten und an den Wochenenden gut besucht und in den Restaurants wird der beste Fisch der Stadt angepriesen. Schaut man etwas genauer hin und hebt den Blick zu den unzähligen Bettenburgen, sieht man jedoch, dass der schöne Schein trügt. Vielen Häusern und Hotels fehlen Fenster oder sie sind mit Holz zugenagelt. Ganze Etagen scheinen aus Gebäuden herausgerissen und Klimaanlagen sowie Schilder hängen lose und verrostet in der Luft. Was sich langsam wieder zu einem Urlaubsort für den nationalen Tourismus entwickelt, glich vor gut acht Monaten einer Stadt, wie man sie eigentlich nur aus Kriegsberichterstattungen kennt.
Denn am 24. Oktober 2023 wuchs der Hurrikan Otis innerhalb von 12 Stunden rasend schnell von einem tropischen Wirbelsturm zu einem Kategorie-5-Hurrikan an – die stärkste Kategorie der Hurrikan-Skala. Die Bewohner*innen Acapulcos hatten kaum mehr Zeit sich in Sicherheit zu bringen. Auch wenn der noch amtierende Präsident López Obrador kurz nach der Katastrophe sagte, dass er in der Nacht, bevor Otis auf Acapulco traf, einen Tweet abgesetzt und so die Acapulqueñxs rechtzeitig gewarnt habe. In der Nacht vom 24. auf den 25. Oktober verwüstete Otis binnen weniger Stunden einen der beliebtesten Urlaubsorte Mexikos an der Südpazifikküste.
Krankenhäuser, Wohnhäuser und Hotels, sowie die Strom- und Wasserversorgung und die Kanalisation waren zerstört. Laut Daten von Unicef waren etwa 274.000 Haushalte in ländlichen und städtischen Gebieten betroffen. Es wird geschätzt, dass 2.487 Hektar bebaute Fläche beschädigt wurden – circa dreieinhalb tausend Fußballfelder. Darüber hinaus führte Otis zu Überschwemmungen und Erdrutschen. Nach offiziellen Angaben forderte Otis das Leben von mindestens 50 Menschen. In den Wochen danach befanden sich die Küstenstadt und die umliegenden Gemeinden im Ausnahmezustand. Acapulco war für knapp einen Monat von der Außenwelt nahezu abgeschnitten, da es weder ein Strom- noch Telefonnetz und nur wenige freie Straßen gab, die eine Kommunikation und Grundversorgung gewährleisten konnten. „Viele Menschen mussten Acapulco und somit ihre Häuser verlassen“, sagt Elena Bello Corales, Lehrerin in Acapulco, die in einem Interview mit LN ihre Erlebnisse schildert. Sie selbst sei kurz nach Otis in den weiter nördlich gelegenen Bundesstaat Puebla gereist. „Dort blieben wir etwa einen Monat lang, bis zumindest die Stromversorgung wiederhergestellt war.“
Für die Acapulqueñxs, die nicht aus der Stadt flohen, folgte der Kampf um Trinkwasser und Grundnahrungsmittel. Im ganzen Land wurden sowohl materielle als auch monetäre Spenden gesammelt. Die Regierung und Armee, internationale Organisationen sowie Supermarktketten unterstützen die Bevölkerung mit lebenswichtigen Gütern wie Wasser, Grundnahrungsmitteln und Toilettenpapier. Jedoch gab es bei der Verteilung der Spenden große Probleme. „Bei den Lieferungen von Spenden gab es riesige Schlangen, man musste ganze Tage dort verbringen und schlafen, um die Waren in Empfang nehmen zu können“, erzählt Corales. Aufgrund der langsamen Verteilung von Spenden wurden Supermärkte und Läden geplündert. Es war der Anfang einer humanitären Krise, welche die Acapulqueñxs wochenlang durchleben müssen.
Der Wiederaufbau der zerstörten Häuser begann schleppend und konzentrierte sich auf einige wenige Gebiete der Stadt. „Vorrang hatten natürlich die Hotels, die an der Küste liegen. In den Randbezirken von Acapulco ist heute die Infrastruktur noch nicht wieder hergestellt. Das wissen wir, die wir leben“, so Corales. Die mexikanischen Behörden nahmen in den Wochen nach Otis eine großflächige Erfassung der entstandenen Schäden an Privathäusern und Infrastruktur vor, um den Bewohner*innen Acapulcos Material und Gelder für den Wiederaufbau zur Verfügung zu stellen. Laut Corales sind bei jener Zählung jedoch viele Menschen aus den verschiedensten Gründen nicht berücksichtigt worden. „Es gibt Menschen, die wirklich vergessen wurden. Sie erhalten keine Aufmerksamkeit mehr, es gibt keine Hilfe, es gibt absolut nichts“, sagt sie. Deshalb hätte es Demonstrationen und Straßensperren gegeben, mit denen die Menschen Hilfe von der mexikanischen Regierung einforderten. „Die Regierung hat das Ausmaß der Katastrophe nicht verstanden“, so Corales.
Zuverdienst durch Plünderungen: Marke Otis
Inmitten des chaotischen Wiederaufbaus der Stadt kam es immer wieder zu Plünderungen von Geschäften. Ein Phänomen machte sich breit, welches als „Marke Otis“ bezeichnet wurde. Lebenswichtige Waren wie Nahrungsmittel und Trinkwasser aber auch hochprozentiger Alkohol oder wertvolle Gegenstände wie Fernseher und Autoteile wurden gestohlen, mithilfe von Autos und Motorrädern abtransportiert und dann später unter dem Namen „Marke Otis“ weiterverkauft. In einer Zeit, in der es weder Nahrungsmittel- noch Einkommenssicherheit gab, verdienten viele Menschen durch die „Marke Otis“ etwas dazu, um zu überleben. Die Rolle und Verantwortung der Politik wurden dabei sehr kontrovers diskutiert, wobei von der Opposition vor allem die Umsetzung des Wiederaufbaus kritisiert wurde.
Denn obwohl die mexikanischen Behörden Gelder und Baumaterial für den Wiederaufbau bereitstellten, wurden doch viele Maßnahmen nur inkonsequent umgesetzt. Félix Salgado Macedonio ist seit fast vier Jahrzehnten in der mexikanischen Politik aktiv und gehört wie López Obrador der aktuellen Regierungspartei Nationale Regenerationsbewegung (MORENA) an, die auch ab Oktober die kürzlich gewählte Präsidentin Claudia Sheinbaum stellen wird. Seit drei Jahren ist Macedonio Senator des Bundesstaates Guerrero, in dem sich Acapulco befindet. Zuvor war er von 2005-2008 Bürgermeister der Stadt. Im Interview mit den LN berichtet er, dass sich Acapulco in Anbetracht des Ausmaßes des Hurrikans sehr gut geschlagen habe. „Es gab keinen Verlust von Menschenleben zu beklagen. Wir hätten die Toten gesehen, ich wohne dort, und ich habe keine gesehen“, sagt Macedonio. Es liegen jedoch offizielle Zahlen aus verschiedenen Quellen, die mindestens 50 Toten und zahlreichen Vermisste feststellen.
„Die Preise werden sich langsam von allein erholen“, antwortet Macedonio zudem auf die Frage, wie man mit den immer noch überteuerten Preisen für Grundnahrungsmitteln in Acapulco umgehen will. Durch überschwemmte und zerstörte Felder und Pflanzungen haben die Acapulqueñxs auch fast ein Jahr nach Otis noch mit einer hohen Inflation bei Produkten aus der Landwirtschaft zu kämpfen.
Die Aussage Macedonios reiht sich in eine der vielen Durchhalteparolen ein, die in den Monaten nach Otis aus Politiker*innenkreisen Richtung Acapulco gesendet wurden. Aussagen, dass die Acapulqueñxs zähe Menschen seien, die den Wiederaufbau selbst schaffen würden, der Aufbau der Stadt in einem sehr guten Prozess wäre und der Massentourismus von allein wieder zurückkehren würde, sind nur einige Beispiele. Denn nachdem anfangs Hurrikan Otis die mexikanischen Medien dominierte, hörte man nach wenigen Monaten wenig bis gar nichts mehr aus dem bekannten Urlaubsort an der Südpazifikküste. Das Thema Otis scheint aus der Öffentlichkeit verschwunden zu sein. Wie viele andere hat Corales den Eindruck: „Das Thema Acapulco wurde schnell vergessen“.
Nicht für die Acapulqueñxs: Zu viel im alltäglichen Leben erinnert an die Katastrophe und es ist, als seien die Stadt und ihre Bewohner*innen noch immer gelähmt. Jeder Acapulqueñx hat eine eigene Geschichte zu Otis – ob das eigene Haus betroffen war, eine bekannte Person vermisst wurde oder die Kinder von den monatelangen Schulschließungen betroffen waren. Das Leben ist teurer geworden seit dem Hurrikan. Vor allem in den umliegenden Dörfern Acapulcos beklagen sich die Bewohner*innen über den nach wie vor stagnierenden Tourismus und dem fehlenden Einkommen. Acapulco hängt wirtschaftlich zum Großteil vom Tourismus ab.
Stärkere Hurrikans zu erwarten
Der Hurrikan Otis steht exemplarisch für ein Phänomen, das Mexikos Pazifikküste in der Zukunft immer mehr erwarten wird. Laut Expert*innen wird es zukünftig durch den Klimawandel zwar zahlenmäßig weniger Hurrikans geben, doch dafür sollen sie auf der Skala stärker werden und damit mehr Schaden anrichten. Dies erfordert präventive Maßnahmen seitens der Zivilbevölkerung, vor allem jedoch stellt es Handlungsbedarf für die mexikanischen Behörden und Regierung dar. Eine Maßnahme, um gegen Naturkatastrophen wie Hurrikans, Erdbeben und Überschwemmungen gewappnet zu sein, war der Nationale Fond für Naturkatastrophen (FONDEN). In den 1990er Jahren eingerichtet, sollte er die schnelle Wiederherstellung von Infrastruktur und den Wiederaufbau nach Naturkatastrophen in Mexiko finanzieren. Unter dem amtierenden Präsidenten López Obrador wurde dieser Fond jedoch im Jahr 2021 aufgrund von früheren Korruptionsfällen aufgelöst und konnte so im vergangenen Jahr in Acapulco und bei vielen anderen Naturkatastrophen in der jüngeren Vergangenheit nicht genutzt werden.
Dazu kommt, dass Acapulco bereits seit längerem wirtschaftliche Schwierigkeiten hat. Während die Stadt in den 1970ern und 80ern ein Anziehungspunkt vor allem für reiche Tourist*innen aus den USA war, hat der Urlaubsort längst seinen Zenit überschritten und musste in den letzten Jahrzehnten anderen Touristenmagneten wie Cancún Platz machen. Acapulco ist seit Jahren ein strategischer Standort für die organisierte Kriminalität, Umschlagplatz für Waffen, Drogen und im Menschenhandel bekannt. Laut Corales befand sich Acapulco aufgrund stark wachsender Kriminalität „schon vor langer Zeit in Trümmern“. Die Bewohner*innen fordern einen Plan, der die Stadt von Grund auf neu strukturiert und vor allem eines bewirkt – Acapulco so schnell wie möglich wieder für den Tourismus attraktiv werden zu lassen.
Otis verdeutlicht, welche Konsequenzen unzureichende politische Konzepte und Maßnahmen in der Reaktion auf Naturkatastrophen haben. Das wird insbesondere in einer Zeit, in der solche Ereignisse voraussichtlich extremer auftreten werden, zu einem wachsenden Problem. Auch jetzt ist wieder Hurrikansaison an der Pazifikküste Mexikos.