Berliner Collage

© Distruktur, If You Hold a Stone, 2016

Einsam ist es auf dem Containerschiff, das Melissa und Gustavo über den Atlantik bringt. Die Wellen rauschen, auf dem Deck steht ein Liegestuhl und von der Crew ist kaum etwas zu sehen. Dazu hört man aus dem Off gesprochene Poesie. Fast fühlt es sich an wie eine Kreuzfahrt über den unwirklich blauen Atlantik, von Brasilien nach Deutschland.

Doch so träumerisch-unkompliziert bleibt es nicht die ganze Zeit über in Melissa Dullius’ und Gustavo Jahns experimentellem Film Muito Romântico, der bereits 2016 auf der Berlinale Premiere feierte und 2025 im Rahmen der Reihe Forum Expanded Jubiläum neu aufgelegt wurde. In Berlin angekommen, werden die beiden Filmemacher*innen aus dem Süden Brasiliens mit den Freuden und Leiden der Künstler*innenexistenz konfrontiert: Neben dem Finden neuer Freundschaften sowie unvermeidlichen Partys und Drogentrips steht auch die mühselige Wohnungssuche in der deutschen Hauptstadt an. Dazu stellt sich nach der Anfangseuphorie ein Fremdheitsgefühl ein, das auch anderen Migrant*innen zu schaffen macht. Doch die Zeit hilft, darüber und über andere persönliche Probleme hinwegzukommen und sich in der neuen Realität zurechtzufinden.

Muito Romântico ist ein interessanter Mix aus experimenteller Collage und autobiografischer Mockumentary über das Leben zweier Filmemacher*innen. Oft poetisch verfremdet, lassen sich die episodischen Ausschnitte aus dem Leben von Melissa und Gustavo gut nachvollziehen. Besonders schön ist das am Aussehen der Wohnung zu sehen, die sich im Laufe des Films durch neue Möbel und Dekorationen ständig verändert und so zum Symbol des Lebens und der Beziehung des Paars wird.

Zum Ende hin will der Film allerdings etwas zu viel: Da öffnet sich ein kosmisches Portal in der Wohnung, das angeblich Verbindungen zwischen verschiedenen Dimensionen und Zeitebenen herstellt. Das verwirrt etwas (unter anderem werden die Protagonist*innen nun durch andere Personen dargestellt) und wäre so auch gar nicht nötig gewesen, da der Film auch vorher schon durch andere Symboliken diese Transzendenz spürbar macht. Dennoch ist Muito Romântico eine atmosphärisch-künstlerische Betrachtung migrantischer Erfahrungen in Berlin geworden, in der viele zugezogene Berliner*innen einige Momente ihres eigenen Lebens aus der Anfangszeit in der Stadt wiederentdecken dürften. Der Film erhielt deshalb auch eine Special Mention beim Preis für den besten Kunstfilm auf dem New Horizons Filmfestival in Breslau 2016.


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Durch die Erinnerung neu erzählt

Bajo las banderas, el sol | Under the Flags, the Sun von Juanjo Pereira
PRY, ARG, USA, FRA, DEU 2025, Panorama

Über die Militärdiktaturen in Brasilien (1964-1985), Argentinien (1966-1973) und Chile (1973-1990) ist schon viel gesagt worden. Die 35 Jahre dauernde Diktatur im benachbarten Paraguay steht im Vergleich dazu weniger oft im Blickpunkt. Unter dem Vorwand, la paz y el progreso („Frieden und Fortschritt“) zu garantieren, übernahm General Alfredo Stroessner 1954 die Macht und blieb bis 1989 in der Hauptstadt Asunción im Amt.

Juanjo Pereiras historischer Dokumentarfilm Bajo las banderas, el sol (Under the Flags, the Sun) basiert auf der Wiederherstellung von Bild- und Tonarchiven aus mehr als drei Jahrzehnten, die die Stroessner-Regierung, die Reaktion der Bevölkerung auf die Diktatur und die Kommentare der internationalen Presse aus den Vereinigten Staaten, Frankreich, Deutschland und Brasilien zeigen. Durch kreativen und intelligenten Schnitt konstruiert der Film eine zugängliche Erzählung über den Aufstieg und Fall des paraguayischen Diktators und seiner Regierung. 

General Stroessner wurde ohne Gegenkandidaten zum Präsidenten gewählt und regierte mit der Unterstützung der Armee und der konservativen Colorado-Partei. Wie in anderen südamerikanischen Diktaturen wurde die Figur desAnführers von seinen Anhänger*innen vergöttert: der angebliche Retter des Vaterlands und der Familie, der die Nation von der kommunistischen Bedrohung befreit hatte. Mit Unterstützung der Vereinigten Staaten nahm Paraguay zusammen mit anderen südamerikanischen Ländern an der Operation Condor teil, die offiziell zur Bekämpfung von „Terrorismus und Subversion“ durchgeführt wurde.

Wie Bajo las banderas, el sol  gut dokumentiert, verbündete sich das Regime nicht nur mit anderen Diktaturen der Südhalbkugel bei der Unterdrückung von Gegnern, sondern unterhielt auch zwielichtige Beziehungen zu flüchtigen Nazi-Verbrechern wie Josef Mengele. Der Nazi-Offizier und Arzt im Konzentrationslager Auschwitz pendelte in der Nachkriegszeit straflos zwischen Argentinien, Paraguay und Brasilien hin und her.

Das Stroessner-Regime war verantwortlich für Folter, Verschwindenlassen, Todesfälle und ins Exil getriebene Menschen. Der Film zeigt, was mit Bürger*innen geschah, die eine regierungsfeindliche Haltung einnahmen: Die Ermittlungsbehörden folterten politische Gefangene – wie mutmaßliche Kommunist*innen oder Mitglieder von Gewerkschaften und Arbeitnehmerorganisationen. Die systematischen Menschenrechtsverletzungen führten zu internationalen Beschwerden und mobilisierten Organisationen wie Amnesty International.

Auch auf dem Land gab es Repressionen. Ein kurzes Interview mit einem Bauern spricht diesbezüglich Bände: „Wenn der Bauer vom Polizeichef vorgeladen wird, hat der Polizeichef Recht, und der Bauer hat den Mund zu halten (…) Ich als Bauer habe kein Recht, der Behörde auch nur ein halbes Wort zu sagen“.

Die Gegenüberstellung von offiziellen Reden, Interviews und internationalen Kommentaren ermöglicht in Bajo las banderas, el sol  einen kritischen Blick auf die Vergangenheit. Dabei wird auch eine sehr wichtige Stimme respektiert: das Schweigen. Es hat nicht nur eine ästhetische Funktion, sondern dient auch der Überleitung und Reflexion. Das Schweigen wird von Pereira strategisch eingesetzt, um die Bilder für sich selbst sprechen zu lassen – beispielsweise in den Szenen, die die Zivilbevölkerung zeigen, die sich zur Unterstützung von Stroessners Regierung versammelt hat.

Nicht alle der wiedergefundenen Bilder sind von höchster Qualität: einige weisen Reproduktionsfehler auf. Die Entscheidung, diese Bilder im Film zu belassen, scheint beabsichtigt zu sein, denn sie verweist auf den Verlust des historischen Gedächtnisses und die Herausforderungen bei der Bewahrung der Vergangenheit.

Der Dokumentarfilm von Juanjo Pereira zeichnet sich nicht nur durch sein unglaubliches erzählerisches Können aus, sondern auch durch eine ästhetische Intellektualität, die die didaktische Kraft der Aufarbeitung der tragischen Geschichte eines Landes unterstützt. Und er unterstreicht die politische Rolle des Kinos bei der Bewahrung der Erinnerung und der sozialen Reflexion. 


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Zwischen Erwachen und Erwachsenwerden

Foto: Plan B Entertainment

Eines Nachmittags vertraut Cecilia (Andrea Suárez Paz) ihrem Sohn Olmo an, sich um seinen Vater Néstor (Gustavo Sánchez Parra) zu kümmern. Der ist mit Multipler Sklerose bettlägerig und zum Überleben auf seine Familienmitglieder angewiesen. Auch sonst geht es der Familie nicht wirklich gut: Sie sind drei Monatsmieten schuldig, es gibt weder Zeit noch Geld für selbstgekochtes Essen (außer der Tiefkühl-Lasagne, die der Vater nicht essen will) und die Stereoanlage ist kaputt. All das hält den 14-jährigen Olmo aber nicht davon ab, sich für seine Nachbarin Nina (Melanie Frometa) zu interessieren. Seiner älteren Schwester Ana (Rosa Armendáriz) geht es ähnlich wie ihm: Sie will ihre Jugend abseits von Verpflichtungen erleben. Währenddessen versucht ihre überforderte Mutter, ihren häuslichen und finanziellen Verpflichtungen nachzukommen, indem sie Doppelschichten in einem Restaurant arbeitet.

Fernando Eimbckes Film Olmo wurde in der Sektion Panorama der Internationalen Filmfestspiele Berlin 2025 uraufgeführt. Es ist Eimbckes vierter Film und das zweite Mal, dass der mexikanische Regisseur an der Berlinale teilnimmt. Das erste Mal war er 2008 mit Lake Tahoe vertreten, einem Film, der mit dem Silbernen Bären für den Alfred-Bauer-Preis ausgezeichnet wurde. Sein Regiedebüt gab er 2004 mit Temporada de Patos, der in Cannes uraufgeführt wurde und in seinem Heimatland mehrere Preise gewann. Im Jahr 2013 präsentierte er Club Sandwich, seinen dritten Spielfilm, der beim 61. Internationalen Filmfestival von San Sebastian unter anderem mit dem Preis für die beste Regie ausgezeichnet wurde.

Olmo spielt 1979 in New Mexico und schildert auf humorvolle Weise den komplexen Übergang vom Heranwachsen zum Erwachsenwerden in einem von Unsicherheit geprägten Umfeld. Aivan Uttapa spielt darin den Protagonisten: Olmo ist ein junger Mann, der versucht, den Härten seines Zuhauses zu entkommen, indem er sich in seine Freundschaft mit Miguel (Diego Olmedo) und seine romantischen Träume zurückzieht.Sein Freund nimmt dabei im Laufe des Films die Rolle des treuen Helfers für ihn ein, fast wie Sam Gamdschie für den Helden Frodo in der Fantasy-Saga Herr der Ringe. Unter anderem unterstützt er ihn dabei, seinen Schwarm Nina dazu zu bringen, ihn zu einer Party einzuladen. Aber die Sache hat einen Haken: Die Eintrittskarte dafür ist, sich die Stereoanlage der Familie auszuleihen. So muss sich Olmo zwischen der Verantwortung für seine Angehörigen und dem Wunsch, seine Jugend zu leben, entscheiden. Auf diese Weise zeigt der Film eine unausweichliche Wahrheit: Erwachsenwerden bedeutet, schwierige Entscheidungen zu treffen.

Doch Olmo ist mehr als nur eine Coming-of-Age-Geschichte, sondern auch ein intimes Porträt einer Migrant*innenfamilie, in der die Eltern auf Spanisch kommunizieren und die Kinder auf Englisch antworten. Einer Familie, die durch die Krankheit von Néstor zerbrochen ist, der als Vater, obwohl körperlich eingeschränkt, immer noch versucht, seiner Rolle mit Anekdoten und Ratschlägen gerecht zu werden, auf die seine Kinder nicht immer hören wollen. Das fehlende Gleichgewicht in seiner Familie hinterlässt Olmo in einem großen Dilemma: Inwieweit soll er mit Aufgaben belastet werden, die seinem Alter nicht entsprechen? Während seine Mutter und seine Schwester versuchen, auf ihre Weise zu entkommen, sehnt auch er sich nach einer solchen Pause. So erinnert uns der Film daran, dass das Erwachsenwerden nicht nur ein Prozess der Selbstfindung ist, sondern auch ein Akzeptieren der familiären Bindungen, mit all der Last, die sie mit sich bringen.

Olmo ist kein effekthascherischer Film, aber wenn er erst einmal angefangen hat, überzeugt er mit seinen Charakteren, einer soliden Geschichte und einem sorgfältigen Setting. Er handelt vom Aufwachsen und von Beziehungen in einer unvollkommenen Familie und erinnert uns daran, dass das Leben wie ein Film sein kann. In dieser Geschichte ist die Familie kein idealisierter Zufluchtsort, sondern ein komplexes Band, das von Opfern und kleinen täglichen Kämpfen aufrechterhalten wird. Jede Figur geht auf ihre eigene Weise mit der Realität um, aber alle sind durch eine gemeinsame Wahrheit verbunden: Trotz ihrer Brüche bleiben sie ein Team, in dem Verantwortung und Zuneigung in einem fragilen Gleichgewicht koexistieren.



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Magisch und realistisch

© Aline Arruda

Drei Filme aus Lateinamerika im Wettbewerb der Berlinale – das ist selten. Aber selten war es auch so verdient wie 2025, denn alle drei Beiträge konnten vollends überzeugen. Als Außenseiter ins Rennen gegangen, verließen sowohl O Último Azul (Der Blaue Pfad) aus Brasilien (Großer Preis der Jury) als auch El Mensaje (Die Nachricht) aus Argentinien (Preis der Jury) mit je einem Silbernen Bären das Festival. Die Preise, die auch als zweiter bzw. dritter Platz des Wettbewerbs bezeichnet werden können, gingen an zwei vor allem stilistisch mutige Filme, die ohne große Budgets mit Leichtigkeit und einer gewissen Magie die Geschichten von Aussteiger*innen aus dem vorgezeichneten Leben erzählten. Etwas zugänglicher ist Regisseur Gabriel Mascaros sanfte Dystopie O Último Azul. In dieser gar nicht so unrealistischen Zukunftsvision nimmt der Staat alten Menschen die Selbstbestimmung.

Dagegen rebelliert die 75-jährige Tereza (Denize Weinberg) und flieht in einem Boot ins Herz des Amazonasgebiets (siehe Rezension auf Seite 46). Während hier wunderschöne Bilder fast zu erwarten waren, hat Iván Fund mit El Mensaje das Kunststück geschafft, selbst der rauen und spröden Landschaft Nordargentiniens durch eindrucksvolle und warme Schwarz-Weiß-Bilder einen Zauber zu verleihen. Manche Zuschauer*innen erinnerte das Roadmovie über ein Mädchen, das mit Tieren sprechen kann und damit Geld für seine Familie verdienen soll, sogar an Werke des italienischen Großmeisters Federico Fellini. Durch seine langen Einstellungen und seine eher assoziative als lineare Erzählweise ist der Film aber sperriger, als es zunächst scheint. Mit Michel Francos Dreams (Mexiko) ging der dritte lateinamerikanische Wettbewerbsbeitrag zwar leider ohne Preis nach Hause. Die radikale Abrechnung mit dem mexikanisch-amerikanischen Traum am Beispiel einer toxischen Abhängigkeitsbeziehung von Personen aus beiden Ländern konnte aber trotzdem auf vielen Ebenen überzeugen und bereicherte das Festival.

Der dritte große Erfolg für das Cine Latino war El diablo fuma (y guarda las cabezas de los cerillos quemados en la misma caja) („Der Teufel raucht – und bewahrt die verbrannten Streichholzköpfe in derselben Schachtel auf“) aus Mexiko. Der Film mit dem längsten Titel der Berlinale 2025 gewann den ersten Preis in der neuen Sektion Perspectives, die den besten Debütant*innenfilm auszeichnet. In der kammerspielartig erzählten Geschichte aus den 1990er Jahren werden fünf Kinder von ihren Eltern verlassen und müssen versuchen, zu Hause mit ihrer schizophrenen Großmutter ihr Leben weiterzuführen. Auch hier mischt sich die harte Realität mit magischen Elementen, denn nicht nur die Großmutter hat das Gefühl, dass der Teufel dem Haus regelmäßige Besuche abstattet.

In weiteren Sektionen gab es Lobende Erwähnungen für lateinamerikanische Filme. So wurde die peruanische Dokumentation La memoria de las mariposas („Die Erinnerung an die Schmetterlinge“), die aus dekolonialer Perspektive die brutalen Verbrechen des Kautschukhandels im 20. Jahrhundert aufarbeitet, verdientermaßen von der Jury des Dokumentarfilmpreises gewürdigt. In der Jugendfilmsektion Generation konnten besonders die Kurzfilme überzeugen: Die Internationale Jury erwähnte lobend den Kinderkurzfilm Akababuru: Expresión de asombro („Akababuru: Ausdruck des Erstaunens“, Kolumbien), in der ein Indigenes Mädchen mit magischer Unterstützung lernt, sich zu behaupten. Die Jugendjury belohnte außerdem die poetische chilenische Reflexion Atardecer en América („Dämmerung über Amerika“) über die gefährliche Migrationsroute durch die Anden und Lucia Murats brasilianische Dokumentation Hora do recreio („Playtime“), in der Schüler*innen durch Diskussion und Theaterspiel ihre Diskriminierungserfahrungen austauschen, mit einer Würdigung.

Erfreulicherweise bleibt das Niveau im lateinamerikanischen Film also weiter erstaunlich hoch, und das über alle Genregrenzen hinweg. Denn auch andere Beiträge wie zum Beispiel der wilde peruanische Horror-Stilmix Punku (das Quechua-Wort für Tor), der einfühlsame Familienfilm A natureza das coisas invisíveis (Das Wesen unsichtbarer Dinge“, Brasilien) oder die persönlich-politische Aktivist*innendoku Colosal aus der Dominikanischen Republik konnten die LN-Redaktion überzeugen. Auf unserer Website gibt es Kritiken dieser und vieler weiterer lateinamerikanischer Filme der 75. Berlinale zu lesen. Viel Spaß dabei!


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Wo ist der Mate?

© Likeliness Increases, LLC

2024 ging eine Tiktok-Abstimmung mit dem Titel „Man vs. Bear“ viral. Darin wurden Frauen gefragt, wem sie lieber allein im Wald begegnen würden: Einem Mann oder einem Bären? Der Bär gewann mit überwältigendem Vorsprung. Als Gründe wurden genannt, Bären seien vorhersehbarer, würden Frauen als Menschen behandeln und zudem sei das Schlimmste, was sie begehen könnten, ein Mord. Was den Schluss zulässt: Männer, die allein durch den Wald streifen, sollte man tunlichst meiden.

Hätte Isabel (Mia Maestro), die Protagonistin des mehr als seltsamen Berlinale Special-Beitrags After this Death diesen Ratschlag nur beherzigt, sie hätte sich und vor allem dem Publikum ihres Films Einiges erspart. Unglücklicherweise sucht sie aber nicht sofort das Weite, als ihr beim Waldspaziergang der nervige mansplainer Elliott (Lee Pace) in einer Höhle auflauert, wo sie unschuldig an ihrem Matebecher nippt (an irgendetwas muss man schließlich erkennen, dass sie Argentinierin ist!). Zunächst geht sie auf seine alles andere als subtilen Avancen noch nicht ein. Doch abends nimmt Isabels Freundin Alice (wie immer ein Lichtblick: Gwendolin Christie) sie mit ins Wunderland eines Indierock-Clubs. Und Sachen gibt’s, am Mikro der offenbar sagenhaft angesagten Band steht tatsächlich Elliott! Auf der Bühne verdreht dieser zur Freude seines sektenartigen Publikums zu kryptischen Lyrics und dünnen Elektrobeats meist seltsam die Finger, warum auch immer. Obwohl es ihm an Groupies nicht mangelt, sucht er sich dann die verheiratete und hochschwangere Isabel als Objekt der Begierde aus. Die ist auch schon bald bereit zur Paarung – wer kann schon einem echten Rockstar widerstehen? An der folgenden Affäre ist dann Isabels plötzlicher Fetisch für seine verschwitzten Füße bei Weitem nicht das Einzige, was Fragen aufwirft. Warum wohnt Elliott, der große Star, allein mit seinem Bruder in einem Bretterverschlag mitten im Nirgendwo? Wieso nennt er einen gigantischen Katzenbaum sein Eigen, obwohl weit und breit keine Katze zu sehen ist? Und warum trinkt Isabel plötzlich keinen Mate mehr?

Die Antworten kennt wohl allein der argentinische Regisseur Lucio Castro (End of the Century). Oder auch nicht, wie er bei der Fragerunde nach der Premiere des Films auf der Berlinale überdeutlich durchscheinen ließ. Er schreibe Drehbücher nach der „Eichhörnchen-Methode“, mal vor, mal zurück, mal zur Seite – deshalb sei es auch gar nicht so wichtig, welche Szene des Films an welcher Stelle komme. Aha. After this Death macht gegen Ende noch eine Reihe weiterer absurder Geheimnisse auf, die aber allesamt nicht aufgelöst werden und deswegen auch nicht groß etwas zur Sache tun. Wer in dem Film wann stirbt oder auch nicht, soll sich sein Publikum offensichtlich selbst zusammenreimen – beliebiger kann man ein Drehbuch nicht schreiben. Für diejenigen, die sich Stress und Eintrittsgeld sparen möchten, hier deshalb eine plausible (wenn auch nicht ganz ernst gemeinte) Erklärung: Isabel hat die Höhle nie verlassen, denn in ihrer Kalebasse befand sich kein Mate sondern Ayahuasca oder ein ähnlich halluzinogenes Getränk. So wäre der Rest des chaotisch-mysteriösen Plots nichts weiter als ein schiefgegangener Drogentrip. Fazit: Von diesem Film sollte man sich besser so weit fern halten wie von einsamen Männern im Wald.


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Toxische Träume

© Teorema

Man hat das Bild zu viele Male gesehen, um dabei nicht sofort ein übles Gefühl in der Magengrube zu spüren: Ein verlassener, verschlossener Lastwagen mitten in der Wüste ist die erste Einstellung in Michel Francos beeindruckendem mexikanischen Berlinale-Wettbewerbsbeitrag Dreams. Und die Ahnung bestätigt sich: Der Truck ist voll mit lateinamerikanischen Migrant*innen, die die Grenze zu den USA auf der Suche nach einem besseren Leben überquert haben und denen nun langsam Luft und Wasser ausgehen. Erst kurz vor der Katastrophe öffnet sich doch noch die Tür zur Ladefläche. Doch die Retter sind keine Wohltäter, sondern Verbrecher: Das restliche Geld und die wenigen Dinge, die sie noch haben, werden denen, die knapp dem Tod entronnen sind, sofort von einer kriminellen Schieberbande entrissen. Wer noch kann, macht sich danach so schnell wie möglich davon auf den Weg ins Ungewisse.

Diese Auftaktsequenz dauert in Dreams nur wenige Minuten, zeigt aber gerade wegen ihrer Kürze die lebensgefährliche Realität der Migrant*innen in schockierender Klarheit. Es gelingt auch, weil der mexikanische Regisseur Michel Franco (u.a. New Order, Chronic, After Lucia) ein Meister seines Fachs ist und bei der Konstruktion seiner oft in Totalen gefilmten Bilder und Schnitte kein Detail dem Zufall überlässt. Im weiteren Verlauf folgt der Film dem jungen Balletttänzer Fernando (Isaac Hernández, auch in der Realität einer der besten Balletttänzer der Welt). Der erreicht zwar völlig ausgelaugt und mit nicht mehr als der Kleidung, die er am Leib trägt, sein Ziel San Francisco. Schon bald wird aber klar: Fernandos Motive, in die USA zu migrieren, waren nicht Armut und Chancenlosigkeit, sondern Ambition und Liebe. Auch in Mexiko hatte er ein gutes Leben in der Oberschicht – eine Ballettausbildung muss sich eine Familie erst einmal leisten können. Weil er aber exzellent in dem ist, was er tut, will er das auch auf dem höchstmöglichen Niveau weiterverfolgen. Dabei soll ihm seine Mäzenin Jennifer (Jessica Chastain) helfen, die in San Francisco eine Stiftung ihrer reichen Familie leitet und mit ihrem Geld eine Ballettschule in Mexiko-Stadt aufgebaut hat. Die Beziehung zwischen den beiden, auch das ist schnell kein Geheimnis mehr, geht weit über das Professionelle hinaus. Doch während Fernando sich bei Jennifer angekommen am Ziel seiner privaten Träume wähnt, will sie die Beziehung geheim halten. Die Dynamik von Macht und Privilegien, die die Lebensverhältnisse aller illegalen Migrant*innen durchdringt, beginnt sich unaufhaltsam zu entfalten.

Dreams ist ein hochrelevanter Beitrag zur Migrationsdebatte, vor allem weil Fernando nicht als hilfloses Objekt gezeigt wird. Für eine Rolle als Spielzeug im Goldenen Käfig ist er sich zu schade. Er weiß um seine exzellente Qualifikation und behält trotz seiner Rechtlosigkeit immer seine Würde und die Zügel seines eigenen Schicksals in der Hand. Jennifer verkörpert dagegen als seine Partnerin und Gegenspielern in einer Person, je länger der Film dauert, in immer unheimlicherer Weise das Phänomen des white privilege Bei ihr ist vieles gut gemeint, selbst ihre romantischen Gefühle für Fernando nimmt man ihr ab. Und doch ist sie blind für die Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse, die sie seit ihrer Geburt ausnutzt, ohne sich dessen bewusst zu sein. Bei ihren Reisen per Privatjet nach Mexiko kann sie in ihrem eigenen Haus ein- und ausgehen wann und wie sie will. Die luxuriösen Auszeiten vom Familienclan in ihrer Heimat sprechen im Kontrast zur Lastwagenszene zu Beginn Bände. Spanisch zu lernen hat sie ebenfalls nicht nötig: In den Kreisen, in denen sie in Mexiko verkehrt, ist perfektes Englisch Standard.

Interessant wird es immer dann, wenn Fernando in irgendeiner Form zur Bedrohung für den Status quo der weißen Mehrheitsgesellschaft wird und deren tolerante Fassade innerhalb von Sekunden in sich zusammenfällt. Sei es durch den offenen Rassismus eines Kollegen in der Ballettgruppe in San Francisco oder die Ressentiments von Jennifers Familie gegen den jüngeren Partner aus Mexiko (hier spielt fast beiläufig auch noch sexistische Diskriminierung mit hinein – bei umgekehrten Geschlechterrollen wäre eine soziale Akzeptanz wahrscheinlicher). Diese toxische Mischung wartet nur darauf, zu explodieren, zumal Michel Franco bekannt dafür ist, mit provokanten oder gar tabubrechenden Plot-Twists sein Publikum zu verstören. Ohne zu viel zu verraten, wird er diesem Ruf auch in Dreams gerecht. Vor allem eine Szene gegen Ende des Films muss dabei als problematisch und gleichzeitig unnötig bezeichnet werden, da sie weder für die Botschaft noch für die Dramaturgie entscheidende Impulse liefert. Davon abgesehen ist Dreams aber eine ästhetisch und inhaltlich exzellente Parabel auf Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse in den Beziehungen USA/Mexiko geworden, die auch auf der Meta-Ebene funktioniert. Bei der Preisvergabe auf der Berlinale dürfte er deshalb und wegen des hochaktuellen Themas eine wichtige Rolle spielen.

Triggerwarnung: Darstellung von Gewalt


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Widerstandsfähige Kindheit unter dem Schutz des Teufels

© Odei Zabaleta

Bei der 75. Ausgabe der Berlinale feiert die mexikanische Filmproduktion El Diablo Fuma (y guarda las cabezas de los cerillos quemados en la misma caja) ihre Weltpremiere. Das Debüt des Regisseurs Ernesto Martínez Bucio ist der einzige lateinamerikanische Beitrag in der Sektion Perspectives, die interessante Erstlingsfilme vorstellt. 

Das Drehbuch, das der Regisseur gemeinsam mit Karen Plata verfasst hat, porträtiert das Leben von fünf mexikanischen Geschwistern, Kindern, die mit der Abwesenheit ihrer Eltern konfrontiert sind: Zuerst durch die plötzliche Flucht der Mutter und später auch durch die des Vaters, der sich auf die Suche nach ihr begibt. Die Kinder bleiben allein zu Hause zurück und übernehmen alle Verantwortlichkeiten, einschließlich der Pflege ihrer Großmutter, die an Schizophrenie leidet. 

El Diablo fuma ist ein hartes, aber gleichzeitig bewegendes Porträt, mit einer fragmentierten Erzählweise, die den Alltag in kleine Episoden unterteilt. Der Film taucht in die Welt der kindlichen Vorstellungskraft ein, was im Zusammenspiel mit der Schizophrenie der Großmutter Spannung erzeugt. Vor allem angesichts der Idee eines ungewöhnlichen Besuchers in diesem Zuhause: dem Teufel. 

Mit einem Stil, der dem des beobachtenden Dokumentarfilms nahekommt, richtet Martínez seinen Blick auf die Intimität des Zusammenlebens. Der Film spielt fast vollständig innerhalb des Hauses, vermittelt jedoch kein Gefühl von Klaustrophobie. Die Geschichte ist in den neunziger Jahren in Mexiko City angesiedelt und scheint von nostalgischen Elementen geprägt zu sein. Die Auswahl historischer Ereignisse ist sehr symbolträchtig. So wie der Besuch von Papst Johannes Paul II., einer umstrittenen Figur in der Geschichte Lateinamerikas aufgrund seiner politischen Einmischung, im Kontrast zu der Begeisterung, die er unter seinen Gläubigen auslöste. Insbesondere in Kulturen wie der mexikanischen, wo die katholische Religion eine starke Präsenz hat.  Auch die Kampagne gegen die Cholera-Epidemie, die in mehreren Szenen durch den eingeschalteten Fernseher zu hören ist, während die Kinder vertieft in ihrer Welt spielen, trägt zur Konstruktion dieser analogen Zeit bei, in der der Klang des Fernsehers ein charakteristisches Element vieler Haushalte war. 

Die visuelle Gestaltung unter der Leitung von Odei Zabaleta kombiniert Elemente wie Archivbilder und Handycam-Aufnahmen. In manchen Momenten scheint sie den Fotografien von Alex Webb und Rebecca Norris Webb Tribut zu zollen, die unter anderem in Mexiko das alltägliche Leben auf poetische Weise durch Schichten von Handlung und inneren Bewegungen innerhalb eines einzigen Bildes einfangen und ein breites Spektrum von Kindheitsdarstellungen aufweisen. Eindrücklich wird das Thema der Vernachlässigung in der Kindheit, dysfunktionaler Familien und Elternschaft in El Diablo Fuma dargestellt.  Mutterschaft und soziale Gewalt ziehen sich als übergreifende Motive durch das Werk von Ernesto Martínez Bucio. Mehrere Kurzfilme des Regisseurs wie Las razones del mundo (2018) und La madre (2012, beide auf Youtube verfügbar) befassen sich mit diesen Themen.

In seiner Gesamtheit ist El Diablo Fuma (y guarda las cabezas de los cerillos quemados en la misma caja) ein Film mit  konstruierten Details und Atmosphären geworden. Das übernatürliche Element, das in der Werbung für den Film beschrieben wird, bleibt fast unbemerkt, ist aber auch nicht unbedingt notwendig.


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Das Sichtbare und Unsichtbare des Todes

Fotoquelle: A natureza das coisas invisíveis

Glória (Laura Brandão) ist es leid. Die meisten ihrer Ferien muss sie im Krankenhaus verbringen, während Antônia (Larissa Mauro), ihre Mutter, lange Schichten als Krankenschwester hat. Sie kennt das Krankenhaus bereits in- und auswendig und ist an die Gesellschaft älterer Menschen gewöhnt, die sich im Zustand der Vorbereitung auf den Tod befinden – ältere Menschen, die ihre Freunde werden, Pseudogroßeltern, die ihr Geschichten erzählen.

In Rafaela Carmelos Film A Natureza das Coisas Invisíveis (Das Wesen der unsichtbaren Dinge) hat die zehnjährige Glória deshalb in ihrer Freizeit wenig Kontakt zu anderen Kindern. Bis sie Sofia  kennenlernt, die mit ihrer Urgroßmutter Francisca im Krankenhaus gelandet ist. Aufgrund von Alzheimer hatte ihre Bisa (kurz für Bisavô, Urgroßmutter) medizinische Komplikationen und musste ins Krankenhaus eingeliefert werden. Glória hilft Sofia, ihre blutverschmierten Kleider zu wechseln und die beiden Mädchen beginnen, ihre Umgebung zu erkunden und über den Tod, die Toten, den Glauben – oder Aberglauben – und das Leben nach dem Tod zu sprechen.

Nach ein paar Tagen, in denen Francisca relativ stabil ist, gelingt es Sofia, ihre Mutter Simone zu überreden, die Bisa zurück zu ihrem sítio (kleiner Bauernhof) zu bringen, dem Ort, an dem sie wirklich glücklich war. Glória und ihre Mutter kommen mit. In einem Dorf, das stellvertretend für jede Kleinstadt auf dem brasilianischen Land stehen könnte, stärken die Mädchen ihre Freundschaft und auch die Beziehung zu ihren Müttern. Und auf einfühlsame Weise tauschen sie sich über ihre unterschiedlichen Bedeutungen des Todes aus. Nicht nur den buchstäblichen Tod, sondern auch einen symbolischen: einen Neuanfang.

A natureza das coisas invisíveis zeigt alltägliche Porträts Brasiliens, die sich aber auch auf andere soziokulturelle und geografische Kontexte übertragen lassen, so wie Glórias Schule zu Beginn, das Krankenhaus und das Leben auf dem sítio. Davon ausgehend gelingt es dem Film, einen Dialog mit einem universellen Publikum zu führen. Nicht nur, weil er vom Tod handelt, sondern auch, weil er die Entwicklung der Familienbeziehungen und der Freundschaft zwischen zwei Mädchen aufzeichnet.

Selbst in spezifischeren und weniger universellen Szenen, wie denjenigen, in denen Gebete und traditionelle religiöse Zeremonien dargestellt werden, könnte es der Film sschaffen, ein eher distanziertes und sogar atheistisches Publikum emotional für sich zu gewinnen.

Das vielleicht Berührendste an Rafaela Carmonas Werk ist gerade die Einfachheit der beiden Kinder, wenn es um ein so komplexes Thema wie den Tod geht. Und trotz der metaphysischen Ansätze, die der Film vorschlägt – wie die Kommunikation mit denjenigen, die nicht mehr von dieser Welt sind  – ist das, was ihn dem Publikum wirklich näher bringt, das alltägliche Leben: die Routine einer Krankenschwester und Mutter, ein Kind im Urlaub, das Leben auf dem sítio.

Einige stilistische Elemente können als Rahmen für den tangentialen Charakter des Todes gedeutet werden. So wie Übergänge, die sich auf Baumblätter mit dem Himmel im Hintergrund konzentrieren, oder der unscharfe Blick aus einem Fenster, bei dem nicht das Bild in der Szene, sondern die Gespräche im Hintergrund wirklich wichtig sind. Szenen, die eine Loslösung von der irdischen Realität suggerieren.

Der 90-minütige Film erforscht das Tabu des Todes durch das Gesagte und das Ungesagte, das Sichtbare und das Unsichtbare sowie das Spirituelle. Der Tod wird sowohl durch eine alte mystisch-religiöse Weisheit als auch durch die Augen eines zehnjährigen Kindes betrachtet. Ein reiner Blick, aber nicht völlig naiv. Diese beiden Perspektiven laden uns ein, den Tod neu zu definieren. „Er ist nicht das Schlimme, von dem sie sprechen“, sagt die Urgroßmutter einmal. „Er ist nicht das Beste. Aber er ist ein Teil des Lebens.“ Es liegt in unserer Natur, einfach zu sterben. Und zu wissen, wie man mit dem Tod lebt.

A natureza das coisas invisíveis ist bewegend, da er ein schweres Thema aus der Sicht von Kindern behandelt, und es durch seine mitfühlende Betrachtung schafft, denjenigen, die sich darauf einlassen, Tränen in die Augen zu treiben. Der Film läuft auf der Berlinale in der Kinderfilmsektion Generation Kplus und dürfte dort gute Chancen auf eine Auszeichnung haben.


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Stranger Things in Quillabamba

© J.D. Fernández Molero

Zu Beginn scheint alles wie eine typische Legende: Ein kleiner Junge mit Namen Iván erzählt in einer Videoaufnahme, im Wald seiner Heimatstadt Quillabamba gäbe es Elfen – magische Wesen mit spitzen Ohren. Was niedlich klingt, erweist sich in der Folge als alles andere als harmlos. Denn das nächste Mal sehen wir den mittlerweile 14-jährigen Iván mit einer klaffenden Wunde an der Stelle seines einst gesunden rechten Auges und erfahren, dass er zwei Jahre im Dschungel verschollen und für tot erklärt worden war. Nach einer so drastischen wie blutigen Operationsszene (nichts für schwache Gemüter) steht fest: Nicht nur Iváns Auge ist verloren, sondern er selbst ist auch psychisch sichtbar verstört. Er hat Alpträume, isst nur wenig und spricht nicht mehr mit den Menschen in seiner Umgebung. Dazu gehört neben seinem Onkel, bei dem er aufwächst, auch die 19-jährige Indigene, junge Frau Mechía, die ihn aus dem Wald zurück nach Quillabamba gebracht hat. Mechía, die mit großen Träumen in die Stadt gekommen ist (unter anderem möchte sie Model für Kim Kardashians Modemarken werden) wird schon bald ebenfalls von teils realen, teils übersinnlichen Schrecken verfolgt.

Punku (Quechua für „Portal“) ist der neueste Film des peruanischen Regisseurs Juan Daniel Fernández Molero. Sein letzter Film, der preisgekrönte Videofilia (and other viral syndroms) nahm die Parallelrealität der jugendlichen Internet-Communities in der Hauptstadt Lima unter die Lupe. Punku behandelt hingegen die mythischen Dimensionen und Fabelwesen in einer Provinz des peruanischen Amazonasgebiets. Doch auch hier spielt die Jugendkultur und das Aufwachsen in einer konservativen und machistischen Umgebung eine große Rolle. Das bekommt vor allem Mechía zu spüren, die im Zuge ihrer Teilnahme an einem Schönheitswettbewerb mit sexistischen Sprüchen und Annäherungen bombardiert wird. Dazu transportiert offenkundig ein geheimes Portal – ähnlich wie in der US-Erfolgsserie Stranger Things – allerhand unheilvolle Wesen aus anderen Dimensionen ins beschauliche Quillabamba.

Regisseur Fernández Molero spart auch ansonsten nicht mit unverhüllten Zitaten verschiedenster Horrorfilme. Die Super-8- und 16mm-Kameraaufnahmen, die er experimentell mit digitalem Material mixt, sind eine Parallele zum Genre-Klassiker Blair Witch Project. Eine Kamerafahrt über Serpentinen erinnert an Stanley Kubricks The Shining, ein mysteriöser Maskenmann an die Scream – Filme. Manche Szenen und Handlungsebenen bleiben dabei im Stile eines David Lynch mysteriös. Das macht Punku neben der fragmentierten und nicht immer linearen Erzählweise vermutlich für einige Kinogänger*innen zu einer Herausforderung. Zudem schafft es der Film auch nicht über die vollen zwei Stunden, einen roten Faden beizubehalten. Dennoch ist Punku durch sein ungewöhnliches, frisches Narrativ und seine originelle Bildsprache ein sehenswerter Berlinale-Beitrag geworden, an dem speziell Freund*innen experimenteller Formate und Horrorfilme auf jeden Fall ihre Freude haben dürften.

Triggerwarnung: Explizite Darstellung von Verletzungen und Operationen am Auge


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Das Öffentliche ist politisch

© Avante Films, Vulcana Cinema

Matias ist sauer. Zusammen mit seinem Mitbewohner Fabio spielt er die Hauptrolle in einem Stück seines Theaterensembles im brasilianischen Porto Alegre. Nun kommt die Produktion einer großen TV-Serie in die Stadt und bietet ausgerechnet Fabio die Chance an, ihn groß herauszubringen: Er soll den Frauenschwarm der Serie spielen. Für den schwulen Matias (Gabriel Faryas) zwar kein zusätzlicher Anreiz. Trotzdem hält er sich für den besseren Schauspieler und wendet sich in der Folge gekränkt seiner Dating-App zu. Dort matcht er den geheimnisvollen Politiker und Bauunternehmer Rafael (Cirillo Luna), der ursprünglich nur auf einen One-Night-Stand aus ist. Doch schon bald wird mehr daraus und als sie beide in der Öffentlichkeit bekannter werden, müssen sie entscheiden, wie und wann sie ihre Beziehung mit ihren Karrieren in Einklang bringen können.

Ato noturno (Night Stage), der neueste Film des queeren Regisseur-Duos Marcio Reolon und Filipe Matzembacher (u.a. Tinta Bruta), bringt satte Farben und eine Handlung im schönsten Telenovela-Stil in die eher spröde Metropole des brasilianischen Südens (wer schon einmal in Porto Alegre war, weiß, dass die Suche nach pittoresken Film-Locations dort nicht einfach ist). Im Zentrum steht dabei die Frage, wie sehr offene Homosexualität für Figuren öffentlichen Interesses – seien es Politiker*innen oder Schauspieler*innen in bestimmten Rollen – auch heute noch mit Tabus belegt ist. Für Rafael und Matias, die eine sehr sexuelle Beziehung führen und die sie zudem gerne an öffentlichen Orten ausleben, wird diese Frage zur Zerreißprobe. Dabei geht es nicht nur darum, im Zeitalter von Social Media durch kompromittierende Fotos und Videos bloßgestellt zu werden, sondern auch um den Verlust von beruflichen und persönlichen Bindungen, die ein Publikmachen ihres Verhältnisses mit sich bringen würde.

Die an und für sich sehr reizvolle Geschichte leidet darunter, dass Reolon und Matzembacher sie etwas arg oberflächlich im Telenovela-Stil inszeniert haben. Den (trotz guter schauspielerischer Leistungen) klischeehaft daherkommenden Figuren hätte angesichts der differenzierten Thematik mehr Nuancierung gut getan. Vor allem der unvermeidliche Bösewicht wirkt, als hätte man die Beta-Version eines KI-Programms mit seiner Charakterisierung beauftragt. Zudem istAto Noturno etwas zu lang geraten – eine Novela-Folge trägt nun mal nicht über zwei Stunden. Und auch das überzogene Ende hilft dem Film nicht wirklich.Wenn man Ato Noturno vor allem als Statement für die Öffentlichkeit queerer Beziehungen sehen möchte und kein Problem mit unterkomplexen Plots und Figurenzeichungen hat, kann man trotzdem durchaus Spaß daran haben. Für Kinogänger*innen mit höheren Ansprüchen an dramaturgische Ambivalenz ist der Film dagegen nur eingeschränkt zu empfehlen.


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Im Hipster-Horrorland

© MUBI

1998 veröffentlichte die ecuadorianische Band Los Conquistadores ein Video zu ihrem Song „Mi conejito“ (Mein Häschen). Zu einer Cumbia mit schlüpfrigem Text (Ein Hase „ohne Unterhose“ hüpft dort des Nachts durch allerhand Betten) tanzt die Gruppe darin in lächerlichen Hasenkostümen vor einem Bergpanorama. Das Video ging viral und ist bis heute ein steter Quell der Heiterkeit vor allem im lateinamerikanischen Teil des Internets.

So weit, so gut. Wäre da nicht die argentinische Künstlerin und Regisseurin Amalia Ulman. Die scheint bis heute von „Mi conejito“ dermaßen fasziniert zu sein, dass sie diese kulturelle Meisterleistung aus den Anden zum Anlass für ihren neuesten Kinofilm Magic Farm nahm. Klingt nach einer Idee, die nur schiefgehen kann? Bingo. Magic Farm ist einer dieser Filme, bei denen man schon nach 10 Minuten weiß: In der Zeit, die nun folgt, könnte ich wahrscheinlich auch meine Steuererklärung machen oder das Bad putzen und der Erkenntnisgewinn wäre größer.  

Der Plot klingt bereits ziemlich verdächtig. Ein Hipster-Team, das Content für einen TV-Trash-Kanal produziert, soll in Lateinamerika nach einem Sänger mit Hasenmaske (na, klingelt’s?) suchen und ihn seinem Publikum als Absurdität der Woche zum Fraß vorwerfen. Stattdessen landet man aber aufgrund einer Fehlbuchung in einem völlig anderen Land (Argentinien), weil dort ein Ort den gleichen Namen hat. Dass die gringos dort über eine Ansammlung billigster und altbackenster Lateinamerika-Klischees stolpern, geschenkt. Noch schlimmer ist, dass die Geschichte nach den ersten 20 Minuten im Prinzip auch schon endet, denn im Film passiert fortan nichts mehr von Belang. Lieblose Love-Stories, vorhersehbare Enthüllungen der Filmcrew-Mitglieder und vor allem extrem unlustige Versuche im Feld Humor (sie Gags zu nennen, würde den ernsthaften Versuchen anderer Filmemacher*innen nicht gerecht) geben sich die Klinke in die Hand. Nur ein Beispiel: Vier oder fünf Mal werden spanisch/englische Missverständnisse und Verwechslungen (auf dem Niveau „My Online Friends – OnlyFans“) als Lacher herangezogen. Und als wäre das noch nicht genug, werden diese meist auch noch von einer dritten Person (zum Beispiel die selbst mitspielende Regisseurin Ulman) übersetzt – irgendwie müssen die gähnenden Lücken in der Handlung schließlich gefüllt werden.

Die „subversive“ Message des Films ist ebenfalls sehr schnell klar: Das Dorf hat ein massives Problem mit giftigen Pestiziden. Was die plan- und kulturlosen Hipster-Gringos natürlich nicht kapieren, obwohl es ihnen buchstäblich ins Gesicht springt. Und so wird der „Witz“ die restliche Laufzeit des Films noch ermüdend ausgewalzt, damit ihn auch wirklich alle Zuschauer*innen verstehen. 

Amalia Ulman kann es viel besser, wie sie mit ihrem Debütfilm El Planeta bereits bewiesen hat. Nach Magic Farm bleibt dagegen als einzige Frage, warum eine eigentlich renommierte Schauspielerin wie Chloë Sevigny sich diese Farce angetan hat. Sollte sie für einen Film mit dem gleichen Namen zugesagt haben und dann unverhofft in dieser Nummer gelandet sein, es würde zumindest thematisch ins Bild passen. Ach ja, und wer noch nach einem Wink mit dem Hasenohr gesucht hat: Im Abspann des Films läuft das Lied „Mi conejito“ von Los Conquistadores…


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Im Kampf gegen die Trockenheit

Einkommen für die Gemeinde Die Frauen stellen mochilas her (Foto: Carmela Daz)

Im Dokumentarfilm Territorio Puloui – Im heiligen Land des Wassers,produziert von Maik Gleitsmann-Frohriep und Carmela Daza, berichten Wayuu-Frauen von ihren erschwerten Lebensbedingungen und wie sie gegen Trockenheit und Armut kämpfen. Doch die größte Bedrohung scheint nicht vom sagenumwobenen weiblichen Wasserwesen Puloui auszugehen, sondern vom Kohleabbau im Steinkohlebergwerk El Cerrejón.

Regisseurin Carmela Daza begibt sich in die Heimat ihres Vaters, nach La Guajira. Die im Nordosten von Kolumbien liegende Region leidet unter extremer Trockenheit, umso mehr, seit der Kohletagebau El Cerrejón zur Austrocknung von Gewässern beiträgt. Besonders schwer davon betroffen sind die Wayuu, ein Indigenes Volk, das auch „Volk der Sonne und des Sandes“ genannt wird.

In enger Zusammenarbeit Die Wayuu Frauen als Protagonistinnen (Foto: Carmela Daz)

Seit mehr als 40 Jahren wird in El Cerrejón auf einer Fläche so groß wie Hamburg ununterbrochen Kohle abgebaut. In der Region um den Tagebau leben mehrere Indigene Gemeinden der Wayuu in rancherías (kleine landwirtschaftliche Dörfer), die Carmela Daza im Laufe der Dokumentation besucht. Dabei spricht sie mit Vertreterinnen der einzelnen Gemeinden, die ihr eindrücklich von den Auswirkungen des Kohleabbaus berichten. Zwischen den Berichten der Wayuu-Frauen sind Sequenzen mit mystisch-animierten Zeichnungen des spirituellen Universums der Wayuu-Kultur eingefügt. Sie erklären auf Wayuu das Zusammenspiel von Wasser, Erde, Sonne und Wind sowie die Entstehung des Volkes.

El Cerrejón bedroht die Lebensgrundlage der Wayuu: In den Flüssen fließt weniger Wasser und es gibt weniger Fische. “Eine Sache ist, als Volk auszusterben. Eine andere, dass multinationale Konzerne und lokale Machthaber Hand in Hand versuchen, uns auszulöschen”, prangert Aleida aus der ranchería Patsuaralii an. “Wir bleiben durstig”, sagt Doña Susana aus der ranchería Iparu. Es wächst kaum noch Gemüse, Tiere verdursten. “Es macht mich traurig, wenn ich heimkomme, und kein Feuer im Ofen brennt. Dann weiß ich, es gibt kein Mittagessen”, erzählt Yorlei unter Tränen. Aber die Wayuu kämpfen, wie beispielsweise der Bericht der ranchería Iparu zeigt. Die Gemeinde engagiert einen Geologen, der ihre Böden auf Wasservorkommen untersucht, um herauszufinden, ob ein Brunnen gegraben werden kann.

Hier verfehlt der Film die Möglichkeit, die Auswirkungen des Extraktivismus und den Kohleabbau erneut anzuprangern, denn er verschlimmert nicht nur die Dürre, sondern steht auch im Widerspruch mit dem Glauben der Wayuu. Sie betonen, dass der Mensch der Natur nur so viele Rohstoffe entnehmen sollte, wie sie abgeben kann, ohne aus dem Gleichgewicht zu geraten. Absehbar ist somit auch, dass ein Brunnen die fortschreitende Austrocknung der Region nicht verhindern kann, sondern eine Einzellösung darstellt.

Drohnenaufnahmen von La Guajira mit ihren eintönigen und sandigen Flächen stehen im Kontrast zu den bunten mochilas (Taschen), die die Wayuu-Frauen herstellen, um Geld für ihre Gemeinde zu verdienen. Sowohl visuell als auch auditiv und emotional zeichnen Carmela Daza und Maik Gleitsmann-Frohriep in der rund 90-minütigen Dokumentation über das Wasser im Nordosten Kolumbiens ein beeindruckendes und zugleich verheerendes Bild eines Indigenen Volkes, das mit dieser Art von Bedrohung auf der Welt nicht alleine dasteht.

“Das Monster” wird der Tagebau im Film immer wieder genannt eine Metapher, die angesichts der bewegenden Erzählungen der Wayuu-Frauen die Bedrohung deutlich macht. Dramaturgisch führt die Dokumentation von einer ranchería zur nächsten und stellt dabei den Kontrast zwischen dem jetzt erschwerten Leben der Indigenen, die tief spirituell verwurzelt sind, und dem industriellen Abbau von Ressourcen durch den schweizer Konzern Glencore im großen Maßstab dar. So hält die Dokumentation bildhaft eine jahrhundertealte Kultur fest, die im Begriff ist, wegen 40 Jahren Extraktivismus auszusterben.

Es ist kaum möglich, als Zuschauer*in neutral zu bleiben und keine Sympathie für die Frauen der Wayuu zu entwickeln, die ihre Situation nicht hinnehmen, sondern sich aktiv für ihre Gemeinschaft einsetzen. Wie eine Märchenerzählerin schaffen es Carmen Daza und Maik Gleitsmann-Frohriep unterhaltsam Spannung in einer Geschichte aufzubauen, deren trauriges Ende bereits erzählt scheint. Während sich die Wayuu als düstere Vorboten einer sich zuspitzenden Entwicklung bereits heute mit Wassermangel beschäftigen müssen, erahnt das Publikum, was der Menschheit früher oder später in noch viel größerem Maßstab drohen könnte. Dennoch leistet die Doku einen konstruktiven Beitrag zur Darstellung der fatalen Realität der Wayuu und lässt die Zuschauer*innen nicht nur mit einem Kloß im Hals vor dem Bildschirm zurück.


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Ein sinnlicher Ort zum untertauchen

„Heute habe ich es wieder gewagt, mich gegen mein Schicksal zu wehren“. So fasst Heraldo den Tag zusammen, an dem kaum etwas nach Plan verläuft und sich doch alles zu fügen scheint. Der Tag, an dem sein Alltag im Motel Destino völlig durcheinander gerät.

Eigentlich möchte Heraldo vom nordbrasilianischen Bundesstaat Ceará nach São Paulo aufbrechen, um sich dort ein Geschäft aufzubauen und sein von Schicksalsschlägen geprägtes Leben hinter sich lassen. Doch dann muss er aufgrund eines missglückten Raubüberfalls einen Zwischenstopp im Motel Destino einlegen und taucht dort unter. Die meisten Motelgäste bleiben nur für eine Nacht in der abgelegenen Erotikinsel am Straßenrand. Doch Elias, der Besitzer des Motels, und seine Frau Dayana nehmen Heraldo ohne Fragen auf und stellen ihn als Aushilfe ein.

Heraldo verkörpert in seiner Rolle als neue Arbeitskraft eine junge, leicht naive Generation, die vermeintlich alles kann und motiviert ist anzupacken, um etwas zu verändern – sei es im Motel oder im eigenen Leben. Die undurchdringliche Dynamik zwischen den Hauptcharakteren ist gezeichnet von verführerischen Anspielungen und den ständigen Versuchen, das Gegenüber zu verstehen. Die gegenseitige Unterstützung wird mit der Zeit fast schon selbstverständlich, persönliche Grenzen werden dennoch kompromisslos ausgetestet. Sie lernen, sich gegenseitig zu vertrauen und gewöhnen sich so sehr aneinander, dass Heraldos Abreise zeitweise in den Hintergrund rückt und es so wirkt, als könne er sich an einen Alltag im Motel Destino gewöhnen. „Hier bist du sicher. Niemand wird dich hier im Motel suchen“, versichert Dayana.

Doch dann wächst der Druck. Heraldo fühlt sich immer stärker in die Ecke gedrängt und verspürt den Drang aufzubrechen immer mehr. Mit der steigenden Unsicherheit und den sich verdichtenden Intrigen im Motel werden auch die Bilder des Films schriller, schneller und kurioser, so dass er die Züge eines Psychothrillers annimmt. Zwischen den teils harten Szenen erlauben bildliche Eindrücke von bilderbuchschönen, paradiesischen Landschaften eine Pause vom erbarmungslosen Alltag. Die Gegensätze zwischen brutalen Geschehnissen, körperlichem Begehren und ruhiger, ländlicher Szenerie wechseln sich immer wieder ab, bis Heraldo von seiner Vergangenheit eingeholt wird.

Der Wahlberliner Karim Aïnouz schafft in seinem erotischen Tropical Noir, einen Ort, der getrennt von der Außenwelt vor sich hin existiert und dennoch immer wieder von ihr heimgesucht wird. Ein vollständiges Entkommen ist auch dort nicht möglich, so sehr es sich die Charaktere versuchen einzureden. I Motel Destino gerät Heraldo zwischen mal mehr, mal weniger vorhersehbare Liebesaffären, Mordfälle und andere Intrigen, die einen Kontrast zu den schönen Bildern der nordbrasilianischen Küstenlandschaft bilden. Der Wettlauf, der sich im Laufe des Films gegen die Fallen der Außenwelt und die eigene Lebensplanung aufbaut, packt einen schließlich doch und vermittelt am Ende, dass ein Weglaufen vor dem eigenen Schicksal nur bedingt möglich ist.


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Zwischen Kürzungen und kollektivem Widerstand

Kunstproduktion unter schwierigen Bedingungen Das Kunstkollektiv der Casa Junín bei der Arbeit (Foto: Casa Junín)

In der Casa Junín arbeiten fünf Menschen, die ihr Kunstprojekt als offenes, mediales Produktionshaus verstehen. Denn auch wenn Agustín Pecile, Nahuel Raiman, Boris Lawler, Octavio Pandolfo und Lucía González de Azcuénaga den Kern des Kollektivs bilden, sind weitaus mehr Menschen an den Projekten beteiligt. In der Casa Junín entstehen kreative Werke; darunter Musik, aber auch Videos und Fotos. Die Leidenschaft für die Kunst hat die Mitglieder an unterschiedlichen Orten und Zeitpunkten zusammengebracht: Teilweise kennen sie sich schon aus der Kindheit, teilweise erst seit wenigen Monaten.

Die Zukunft der Kunst- und Kulturwelt ist unter der Regierung von Milei ungewiss. Klar ist, dass drastische Veränderungen bevorstehen. Mit der Begründung, die extrem hohe Inflation des Landes zu bekämpfen, hat Milei auf seinem Sparkurs unter anderem die Schließung staatlicher Behörden in allen Provinzen Argentiniens und den Rückzug des Staates aus der Finanzierung des Bildungs- und Gesundheitswesens angeordnet. Auch staatliche Universitäten wie die Nationale Universität für Kunst oder die Universität Buenos Aires sollen in Zukunft weniger Fördergelder bekommen. So werden immer weniger junge Menschen ihre Abschlüsse machen können, da sie sich das Studium nicht mehr leisten können. Diese Aussichten beunruhigen die Mitglieder der Casa Junín sehr, denn selbst vor Milei konnten einige von ihnen ihre Abschlüsse wegen fehlender finanzieller Mittel nicht machen. „Wie wird Argentinien sich verändern, wenn es nur noch wenigen wohlhabenden Menschen vorbehalten ist, zu studieren?“, fragt sich beispielsweise Lucía González de Azcuénaga.

Auch verschiedene Kunstinstitutionen stehen auf Mileis Abschussliste, darunter der argentinische Kulturfond, das nationale Theaterinstitut und das INCAA, Institut für Film und audiovisuelle Kunst. Das staatliche Ministerium für Kultur wurde bereits mit Amtsantritt der neuen Regierung am 10. Dezember 2023 auf den Rang eines Sekretariats degradiert. Der Theaterproduzent Leo Cifelli, der das neue Sekretariat anleitet, hat bereits angekündigt, dass das Budget für den Bereich nicht sehr groß sei. Darüber hinaus wurde die Verwendung von gendergerechter Sprache im öffentlichen Dienst verboten. Auch das INADI, Argentiniens Institut gegen Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus, wurde aufgelöst. Milei rechtfertigt die Maßnahmen mit anderen Prioritäten: „Wir können nicht so ein Institut betreiben, während Kinder auf der Straße hungern müssen“, so Argentiniens Präsident. Das mag logisch klingen, wäre da nicht Mileis Doppelmoral. So unterschrieb er zur gleichen Zeit ein Dekret, das sein Gehalt um 48 Prozent erhöht. Bei Nahuel Raiman der Casa Junín stoßen Entwicklungen wie diese auf Entsetzen: „Es ist ja verständlich, dass irgendwo gekürzt werden muss. Aber gerade in den Bereichen, die als Sprachrohre für die breite Gesellschaft fungieren? Es sagt doch schon alles, dass er sich trotz Argentiniens prekärer wirtschaftlicher Lage die eigenen Taschen vollmacht.“

Neben den Streichungen für die Universitäten und den Kulturbereich sollen künftig auch öffentliche Fernsehkanäle wie Pakapaka wegfallen. Pakapaka ist ein Kanal für Kinder, der nicht nur Unterhaltung, sondern auch Bildungsinhalte anbietet. In dem Programm gibt es beispielsweise eine Serie, die historische Persönlichkeiten Argentiniens vorstellt. Noch steht der Kanal kostenfrei für alle Bürger*innen zur Verfügung. Doch sollten Fernsehkanäle wie dieser bald wegfallen, dann geht Argentiniens Medienvielfalt auch im TV-Bereich verloren. Übrig bleiben Kanäle im Besitz privater Unternehmen und damit einer kleinen Gruppe von Menschen, die ähnliche Ansichten teilen und zu den Privilegiertesten des Landes gehören. Eine unabhängige Fernsehlandschaft wird damit unwahrscheinlicher.

Wenig Raum für Optimismus

Doch es werden nicht nur Menschen aus dem Kunst- und Kulturbereich den Preis für Mileis Maßnahmen zahlen müssen. Am Ende leiden alle Argentinier*innen unter den Kürzungen im Namen der Sparpolitik. Denn sobald kein Geld mehr in Kultur und öffentliche Bildungsarbeit investiert wird, fällt diese kulturelle Bildung in die Eigenverantwortung der Menschen. Die Kürzungen werden zwar auch den kulturellen Betrieb in der Metropole Buenos Aires stark verändern und beeinträchtigen, jedoch bleiben dort zahlreiche Möglichkeiten für die Stadtbewohner*innen, sich miteinander auszutauschen und zu vernetzen. Ganz anders sieht es in den ländlichen Regionen aus. Dort gibt es von vornherein deutlich weniger Angebote. Dazu kommt die erschwerte Vernetzung über weite Distanzen, die eine Kollektivierung, zumindest außerhalb der virtuellen Welt nicht leicht macht. „Solche Ausblicke lassen wenig Raum für Optimismus“, meint Agustín Pecile, denn „Kultur ist Geschichte und Identität; jene Dinge, die ein Land ausmachen, die es einzigartig machen. Ohne all das ist die ganze nationale Identität in Gefahr.“

Auf den Straßen von Buenos Aíres Bisher noch Raum für Austausch zwischen Kulturschaffenden und Stadtbewohner*innen (Foto: Casa Junín)

Gefahr ist auch auf den Straßen Argentiniens deutlich zu spüren. Bei vielen friedlichen Demonstrationen und Kundgebungen kommt es immer öfter auch zu gewaltvollen Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und den Demonstrant*innen. Wie auch bei einem Protest vor wenigen Wochen, der vor dem Kino Gaumont in Buenos Aires stattfand. Er richtete sich gegen die Definanzierung des Instituts für audiovisuelle Kunst und Kino, das das Kino betreibt. Die Polizei setzte Tränengas gegen die protestierenden Kulturschaffenden und Studierenden ein, um den Protest aufzulösen. Wie schon so oft drohte das Sicherheitsministerium zudem damit, denjenigen, die an den Protesten teilnehmen, die Sozialleistungen zu streichen. Die Protestierenden sehen das als Form der Erpressung und des Missbrauchs.

Was dem Kollektiv der Casa Junín jedoch am meisten Angst macht, ist nicht der Präsident selbst, sondern die Menge an Menschen, die hinter seinen Maßnahmen stehen und ihn in seinen Vorhaben unterstützen. Bei Lucía González macht sich das Gefühl breit, dass „viele der Bürger*innen Argentiniens genug davon haben, Bürger*innen Argentiniens zu sein. Wenn sie lieber Milei zujubeln, während er stolz herumposaunt, wie er die Kultur unseres Landes zerstören wird, und damit prahlt, Argentinien zu den nächsten USA oder dem nächsten Deutschland machen zu wollen, dann stimmt das einen schon sehr nachdenklich.“

Wie die Zukunft der Kultur in Argentinien aussieht, bleibt ungewiss. Für die Filmwelt ist weiterhin mit Bewegtbild aus Argentinien zu rechnen – jedoch nicht immer aus eigener Produktion, meinen die Künstler*innen von der Casa Junín. Oft kämen ausländische Filmproduktionen aus der ganzen Welt nach Argentinien, um dort in der Natur zu drehen. Denn das Land bietet mit mehreren Klimazonen und diversen Landschaften – von subtropischen Wäldern und Graslandschaften bis hin zu Gletschern – viele verschiedenen Kulissen. Dies sei nicht nur attraktiv für großen Filmproduktionen. Auch der Staat verdient daran mit. Um die eigenen Filme steht es jedoch kritischer. Viele Argentinier*innen konnten sich vor Mileis Regierungszeit an Instituten wie das INCAA wenden und dort Förderungen für ihre Ideen beantragen. Das wird in Zukunft nicht mehr möglich sein. Die Casa Junín schlussfolgert: „Kino und Kunst werden bald von Leuten bestimmt werden, die die finanziellen Mittel dazu haben. Durch die Kürzungen versucht man, die Menschen, die diese Mittel nicht haben, zum Schweigen zu bringen.“


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Im Sand verlaufen

© Felipe Larozza / Salvatore Filmes

Zauberhaft sieht sie aus, die Region um den Nationalpark Lençois Maranhenses ganz im Nordosten Brasiliens. Riesige weiße Sanddünen erstrecken sich kilometerweit die Küste entlang bis weit ins Landesinnere, unterbrochen von blauen Lagunen, die zum Baden einladen. Die Lençois sind eines der größten Naturwunder Brasiliens und damit auch eine der bekanntesten Tourismusattraktionen des Landes. Ihre Bewohner*innen stellt die geschützte Landschaft aber auch vor Herausforderungen.

Dies ist das Setting von Marcelo Bottas Debütfilm Betânia, der auf der Berlinale 2024 Weltpremiere feierte. Der Film folgt der titelgebenden Großmutter Betânia (Diana Mattos) und ihrer Familie, die in einfachen Verhältnissen am Rande der Dünen lebt. Betânia war ihr Leben lang Hebamme und hat laut eigener Aussage im Laufe ihres Lebens so gut wie jedes Kind der Region zur Welt gebracht. Die männlichen Freunde und Familienmitglieder verdingen sich vor allem als Tourist*innenführer, während die weiteren im Film vorkommenden Frauen meist älteren Semesters sind und Hausarbeit verrichten. Ausnahme: Betânias Enkelin Vitória (Nádia de Cássia), die auf Reggae steht, für den der brasilianische Bundesstaat Maranhão landesweit berühmt ist, und DJ werden möchte. Dies wiederum bringt ihre erzchristliche Mutter Irineusa (Michelle Cabral) an den Rand des Nervenzusammenbruchs.

Eine Kritik über Betânia zu schreiben, ist nicht einfach, weil der Film die wahrscheinlich größte Bild-Text-Schere des Festivaljahrgangs aufweist. Die fantastische Dünen- und Mangrovenlandschaft der Lençois Maranhenses fängt der geübte Dokumentarfilmer Botta in faszinierenden, fast überrealistisch schönen Bildern ein. Vor allem die Drohnenaufnahmen von den sich wellenden, weißen Sandbergen unter blauem Himmel sind spektakulär. Leider belässt es Botta aber nicht bei diesen zauberhaften Eindrücken, sondern möchte dazu noch eine Geschichte erzählen, was ihm gnadenlos misslingt. Banale Dialoge, altbackene Figurenzeichnung und unnütze Nebenhandlungen, die noch dazu meist – pardon – im Sande verlaufen, machen den flunderflachen Plot zu einer schmerzhaften Aneinanderreihung kitschiger Plattitüden. Dazu werden die Szenen derartig oft von Musik-Performances unterbrochen (es sind insgesamt über 60 Einspielungen!), dass sich selbst die größten Liebhaber*innen brasilianischer Folklore irgendwann fragen dürften, was hier eigentlich Mittel und was Zweck sein soll. Der dramatische Höhepunkt des Films nähert sich, als Tonhão (Caçula Rodrigues), Betânias Schwiegersohn und Dorftrottel in Personalunion, ein entnervend überzeichnetes französisches Tourist*innenpärchen in die Wüste führt und dort dann prompt nicht mehr herausfindet. Doch da ist schon so viel honigsüß-konfliktfreies Wasser die Dünen heruntergeflossen, dass sich wirklich niemand mehr vorstellen mag, hier könne noch irgendetwas Böses passieren.

Die seichte Handlung von Betânia, die sich irgendwo zwischen Homevideo und drittklassiger Telenovela einpendelt, stört den visuellen Genuss mit der Zeit dann doch erheblich. Zumal der Film auch noch viel zu lange zwei Stunden läuft. Dabei wäre es auch anders gegangen. Denn die Figur der Großmutter Betânia basiert auf der wahren und erzählenswerten Lebensgeschichte von Maria do Celso, die ihr Leben lang dafür kämpfte, den malerischen Dörfern am Nationalpark Wasser- und Stromanschluss zu ermöglichen. Genau wie die Umweltprobleme, die die Versandung der Mangrovenlandschaft mit sich bringt, geht das aber leider in zu viel rührseligem Gemenschel unter. Vielleicht hätte Marcelo Botta einfach nur einen weiteren Dokumentarfilm drehen sollen. Den Zuschauer*innen von Betânia sei jedenfalls empfohlen, die wunderschönen Bilder in vollen Zügen zu genießen und ansonsten das Hirn auf Durchzug zu stellen.

LN-Bewertung: 2 / 5 Lamas


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