Moby Dick im Río Magdalena

© Monte & Culebra

In den späten 1970er-Jahren brachte der Drogenbaron Pablo Escobar auf illegale Weise drei Flusspferde aus Namibia nach Kolumbien in seinen Privatzoo. Nach seinem Tod flohen sie aus seiner Finca Nápoles zwischen Bogotá und Medellín in den nahe gelegenen Río Magdalena, wo sie sich unter tropischen Bedingungen seither prächtig vermehren: Aus dem ursprünglichen Trio sind mittlerweile geschätzt 160 Tiere geworden. In einigen Jahren könnten es Tausende sein, was zu unvorhersehbaren Folgen für Mensch und Ökosystem führen würde. Das Erbe von Escobar macht der Region auch so bis heute zu schaffen. Aktuell plant die kolumbianische Regierung, die Tiere entweder zu sterilisieren oder in ein anderes Land umzusiedeln.

Der dominikanische Regisseur Nelson Carlos De Los Santos Arias stolperte als Rucksacktourist in Kolumbien über die Geschichte und beschloss, einen Film darüber zu machen – die Idee zu Pepe war geboren und hat es in den Wettbewerb der Berlinale geschafft. Seinen Titel gibt dem Film dabei das wohl bekannteste Exemplar der Flusspferdherde: Pepe, ein Bulle, der von der Gemeinschaft ausgestoßen wurde und sich deshalb als erster daran machte, das Territorium um den Río Magdalena auf eigene Faust zu erkunden. Da die kolumbianischen Flusspferde schon einige Spuren in der Popkultur hinterlassen haben – es gibt Podcasts und sogar eine Doku-Soap des National Geographic Channel mit dem reißerischen Titel Cocaine Hippos über sie – musste ein frischer Ansatz her. Der vom experimentellen Film kommende De Los Santos Arias entschied sich dafür, ihre Geschichte aus ihrer eigenen Perspektive zu erzählen, mit dezidiert antikolonialer Perspektive.

Den Tieren eine glaubwürdige Stimme zu geben, war dabei eine der wichtigsten Aufgaben. Pepe löst diese auf interessante Weise, indem professionelle Sprecher in verschiedenen Sprachen (Spanisch, Afrikaans, Mbukushu) eingesetzt werden, die ihre von banal bis philosophisch reichenden Monologe häufig mit Tierlauten untermalen. Geschickt zieht der Film so mit antikolonialem Dreh eine Parallele zum hunderte Jahre zuvor erfolgten Sklavenhandel: Wie damals Menschen, so wurden hier Tiere gegen ihren Willen von ihrem Heimatkontinent auf einen neuen verschleppt, an den sie sich anpassen mussten. Die Monologe der Flusspferde sind vor allem in der ersten Hälfte des Films zu hören und drehen sich nur am Rand um die Beteiligung Escobars an ihrer Zwangsumsiedlung. Stattdessen geht es mehr um Rangkämpfe, Beschreibung der Umwelt und die Erinnerung und Bedeutung der eigenen Herkunft.

Doch Pepe belässt es nicht nur bei der Flusspferd-Nabelschau, sondern begibt sich ab etwa der Hälfte der Laufzeit auf das Territorium der menschlichen Bewohner*innen am Río Magdalena. Die Szenen dort sehen dokumentarisch aus, sind aber komplett fiktionalisiert. Dieser Abschnitt des Films beginnt mit einer lustigen Episode über zwei junge Handlanger Escobars, die die undankbare Aufgabe haben, die ersten Flusspferde ihres patrón mit einem Lastwagen zu ihrem Bestimmungsort zu bringen. Im weiteren Verlauf kümmert sich der Film dann vor allem um den Fischer Candelario und seine Familie. Candelario stolpert als erstes über einen der nun frei im Fluss herumstreunenden Dickhäuter und wird nicht müde, allen die es interessiert (oder auch nicht), immer wieder seine Geschichte von dem „Baumstamm, Krokodil oder Ungeheuer“, das ihn fast aus dem Boot geworfen hätte, zu erzählen. In seinem Eifer, die Tiere vertreiben zu wollen, wirkt er fast wie ein kolumbianischer Käpt’n Ahab, der Moby Dick aus seinem Fluss jagen möchte. Die Polizei ist daran jedoch eher weniger interessiert und seine Frau Betania hält ihn gar für einen Spinner, was Candelario natürlich nur noch weiter auf die Palme bringt.

Pepe besteht aus einem bunten Sammelsurium aus Themen und filmischen Stilrichtungen (auch Cartoons werden ab und zu eingespielt), die ihre Höhen und Tiefen haben. Manchmal ist das etwas anstrengend. Denn eine durchgehende Handlung soll der Film gar nicht haben und ohne einiges an Insider*innen-Vorwissen besteht die Gefahr, an einigen Stellen den Faden zu verlieren. Zum Glück wird aber alles durch wunderschöne Naturaufnahmen der Flusslandschaften in Südwestafrika und Kolumbien zusammengehalten, was auch für so manche erzählerische Länge oder Merkwürdigkeit entschädigt.

LN-Bewertung: 3 /5 Lamas

FRIEDEN RÜCKT IN WEITE FERNE

Der Druck auf die Regierung von Präsident Iván Duque wächst. Bäuer*innenverbände, Gewerkschaften und andere zivilgesellschaftliche Organisationen hatten am 25. April zu einem Generalstreik aufgerufen. Die Protestaktionen richten sich gegen den nationalen Entwicklungsplan der Regierung Duque, der Tage später, am 3. Mai, dennoch vom Senat bewilligt wurde. Tausende Menschen versammelten sich auf dem Bolívar-Platz im Herzen Bogotás, wo es zu Zusammenstößen mit der Polizei kam. Elf Menschen wurden verletzt, 33 verhaftet. Die Arbeit von Journalist*innen wurde von Einheiten der mobilen Aufstandsbekämpfungseinheit (ESMAD) behindert. Zwei Fotografen der kolumbia­nischen Presseagenturen Colprensa und Efe wurden von der ESMAD angegriffen.
Während die politischen Vorhaben der rechtskonservativen Regierungspartei CD das Land weiter polarisieren, rückt der Frieden in weite Ferne. Der Nationale Entwicklungsplan, ein Fahrplan der Regierung für die nächsten vier Jahre, hat zum Ziel, soziale Ungleichheiten unternehmerisch zu bekämpfen. Doch der als „Pakt für Kolumbien, Pakt für Gerechtigkeit“ getaufte Plan erinnert an die Politik des Ex-Präsidenten Álvaro Uribe Vélez und sät große Zweifel an der Bereitschaft der jetzigen Regierung, das Friedensabkommen mit den entwaffneten Revolutionären Streitkräften Kolumbiens (FARC) umzusetzen.

Wie kann Frieden hergestellt werden, wenn anstatt in Bildung in Verteidigung investiert wird?

So wie damals unter Uribe werden im Fahrplan der Regierung Duque Probleme wie Auslandsverschuldung, Ankurbelung von Wirtschaftswachstum und Fragen der Sicherheit in den Vorder­grund gestellt. Doch wie kann Frieden hergestellt werden, wenn in die Agrarindustrie anstatt in die kleinbäuerliche Landwirtschaft, wenn anstatt in Bildung in Verteidigung investiert wird?
Mit den Studierendenprotesten Ende vergangenen Jahres wurde die vielschichtige Krise in den Bildungsinstitutionen angeprangert, die jedoch mit dem Entwicklungsplan nicht gelöst wird. Darin werden sieben sehr allgemeine Ziele für Bildung genannt, aber „der Plan vermeidet eine tiefere Diskussion über das Hauptproblem im Bildungssektor – die Unterfinanzierung“ so Politikwissenschaftler Ángel Pérez im Wirtschafts­magazin Dinero. Auch im neuen Entwicklungs­plan sind den Zielen keine Finanzierungen zugeordnet. Es wird befürchtet, dass Schulen und Universitäten privatisiert werden, was die Wut der Studierenden weiter wachsen lässt. Auf den Demonstrationen am 25. April forderten die Studierenden, dass die Regierung sich an Abkommen hält, die im Dezember 2018 nach einem 65-tägigen Streik der Studierenden ausgehandelt worden waren. Vergeblich warten sie noch auf die 1,34 Millarden Pesos, die den öffentlichen Hochschulen zur Verfügung gestellt werden sollten.
Die sogenannte economía naranja, wie Präsident Duque die kolumbianische Kreativindustrie nennt, wird im Entwicklungsplan besonders hervorgehoben und zielt auf einen kulturellen Wandel in Kolumbien. Die „orangene Wirtschaft“ will Projekte von Kreativen und Tourismus fördern. Mit Krediten und Steuervergünstigungen sollen bildende Künste, Musikszene und Filmproduktion gestärkt werden. Auch soll in kulturelle Einrichtungen und in Schulbücher investiert werden. Was sich jedoch als Fortschritt anhört, entpuppt sich als widersprüchlich. Denn vor allem sollte Kunst und Kultur für die Menschen mit niedrigem Einkommen zugänglicher werden, es ist aber, „als ob nur die Leute der höheren Klasse ein Recht auf Unterhaltung hätten“, sagte der Unternehmer und Konzertveranstalter Ricardo Leyva gegenüber dem Kulturmagazin Arcadia im vergangenen November. Denn mit dem Finanzierungsgesetz der Regierung Duque (siehe LN 533) wurde unter anderem die Steuer auf Internet, Bücher und Konzertkarten erhöht.
Der Fokus des nationalen Entwicklungsplans auf die economía naranja bedeutet nicht, dass der Rohstoffsektor seine Stellung als Antriebskraft der kolumbianischen Wirtschaft verlieren wird. Elf Prozent der im Plan vorgesehenen Gelder sollen dem Ministerium für Bergbau und Energie zugute kommen. Auch Fracking wurde durch das Unterhaus in den Entwicklungsplan aufgenommen, noch muss der Senat entscheiden, ob die umstrittene Methode für Gasgewinnung in Kolumbien angewendet wird. Zurzeit laufen drei Fracking-Pilotprojekte in Kolumbien.

Die Regierung verpasst die Chance, die ländliche Entwicklung voranzutreiben

Für Kleinbauern und -bäuerinnen dürfte vor allem der kleine Etat für sie ein Dorn im Auge sein.
Das Budget für den Agrarsektor fällt dagegen klein aus. Zwei Prozent der Gelder sind für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung vorgesehen, was in Zeiten des Post-Konflikts den Kleinbauern und -bäuerinnen ein Dorn im Auge sein dürfte. „Der nationale Entwicklungsplan zeigt, dass der Landverteilung, der Gesundheit, der Bildung in ländlichen Regionen, der Stromversorgung und weiterer nötigen Infrastruktur für die Verbesserung unserer Produktivität die Finanzierung entzogen wird“ schreibt Andrés Gil, Präsident von ANZORC, einer nationalen Vereinigung von Organisationen von Kleinbäuer*innen, in der Zeitung El Espectador.
Für den Landwirtschaftsminister Andrés Valencia sind Kritik und Proteste nicht gerechtfertigt. Im Interview mit dem Online Portal Agronegocios behauptet er, dass die Regierung eng mit Bauern und Bäuerinnen zusammenarbeite, um die Situation im ländlichen Raum zu verbessern. Doch dem widersprechen zivilgesellschaftliche Netzwerke wie ANZORC, die Cumbre Agraria (alternativer Agrargipfel) oder selbst die Minga (gemeinschaftliche indigene Protestorganisation), welche noch darauf warten, dass die Regierung sich an Verhandlungen beteiligt oder bereits ausgehandelte Abkommen aus dem vergangenen Jahr erfüllt. „Es ist inkohärent, dass sich die Regierung über die Proteste auf den Landstraßen wundert, wenn sie weiterhin die Wege für den Dialog versperrt“, erklärt ANZORCs Präsident Gil. Es kommt hinzu, dass es keinen klaren Zusammenhang zwischen dem Entwicklungsplan und der Implementierung des Friedensabkommens mit der FARC gibt. Statt die historische Chance anzunehmen, die der Friedensvertrag bietet, um die landwirtschaftliche Entwicklung voranzutreiben, habe sich die Regierung Duque für den Weg der Polarisierung und Marginalisierung des ländlichen Kolumbiens entschieden, so Gil.
Ein weiteres Anliegen der Protestaktionen in der Hauptstadt war die gravierende Situation für Menschenrechtsaktivist*innen in Kolumbien. Dafür wurde ein humanitärer Zufluchtsort in Bogotá eingerichtet, wo zweitausend Menschenrechtsaktivist*innen die Gefahren sichtbar machen wollen, denen sie in ihrer Arbeit ausgesetzt sind. Letztes Jahr wurden 160 Menschenrechtsaktivist*innen getötet, ein Mord jeden zweiten Tag.

 

„WIR BEKOMMEN DEN FRIEDEN NICHT UMSONST“

Sie haben bis vor kurzem in einer Demobilisierungszone in Mesetas gelebt und arbeiten jetzt als Journalist in Bogotá. Wie haben Sie diesen Übergang erlebt?
Wenn man es von der persönlichen Seite betrachtet, dann war dieser Wechsel von einem militärischen Leben zum zivilen Leben schon sehr extrem, vor allem weil ich sehr jung in die FARC eingetreten bin und in ländlichen Gebieten gewohnt habe. Jetzt zum ersten Mal in einer so großen und komplexen Stadt zu leben, ist eine drastische Veränderung. Man entfernt sich von den Kameraden, man vermisst sie, weil man hier mit seiner Zeit anders umgehen muss. Vorher lebten wir in einer bestimmten Routine, in der jeder seinen Raum hatte, sowohl für die persönliche Weiterentwicklung als auch um ihn mit seinen Kameraden zu teilen. Das ist jetzt schwieriger geworden, weil Arbeit und Studium dazukommen. Im Zuge dieser Reintegration möchte man schnell vorankommen, aber wie man so schön sagt: ‘Wer viel beginnt, zu nichts es bringt.’ Hier in der Stadt musste ich auch lernen, mit den Unterschieden zwischen den sozialen Klassen umzugehen. Zum Beispiel, dass man hier anders mit der Oberschicht spricht, als wir es aus dem ländlichen Kontext gewohnt waren.

Haben Sie im Zusammenhang mit Ihrer Reintegration in die Zivilgesellschaft Zurückweisung erfahren?
In Bogotá wurden FARC-Kämpfer lange als Verbrecher, als Monster stigmatisiert. Trotz des Friedensprozesses glauben viele Menschen immer noch an diese Vorurteile. Wenn wir zum Beispiel irgendwo als NC Noticias auftreten und die Leute dann merken, dass wir Teil der FARC sind, werden wir von einigen abschätzig betrachtet. Manchmal werde ich wütend, wenn wir beschimpft werden, aber ich muss das aushalten, denn so wird es ab jetzt in dieser Gesellschaft sein. Das härteste an dem Übergang in ein ziviles Leben ist für mich die Zurückweisung der Leute und sich dann beruhigen zu müssen und sich immer wieder zu sagen: ‘Es ist nicht die Schuld der Leute, dass sie an diese Vorurteile glauben.’

Im breiteren Kontext des Friedensabkommens wurden Projekte wie NC Noticias realisiert, das „für den Frieden informieren“ will. Wie macht man das?
Wenn wir eine ehrliche Politik wollen, dann brauchen wir ehrliche Medien. Solange es diese nicht gibt, wird es auch keinen Frieden geben. Die Massenmedien zeigen das, was der Staat gerne zeigen möchte. Wenn ein Staat die Medien manipulieren kann, manipuliert er damit auch den Rest der Bevölkerung. Wir verstehen uns nicht als das Propagandaorgan der FARC, auch wenn uns viele so sehen. Viel mehr wollen wir eine neue Perspektive einbringen und, wie auch Gabriel García Márquez schon sagte, die Stimme derer sein, die keine Stimme haben. Wenn die FARC einen Fehler begehen, dann muss darüber auch berichtet werden. Das werden wir tun. Wenn wir mit NC Noticias irgendwohin gehen, wir als Guerillakämpfer, die die Waffen niedergelegt haben, und jetzt stattdessen mit Kameras journalistisch arbeiten, dann stört das sicher manche, vor allem weil wir auch Zugang zu Orten haben, an die andere Medien nicht kommen.

Die Reintegration der ehemaligen Kämpfer*innen birgt viele Herausforderungen, eine davon ist in der Arbeitswelt Fuß zu fassen. Sie haben diesen Schritt mit NC Noticias schon geschafft, was nehmen Sie sich nun für die Zukunft vor?
Meine persönlichen Ziele beschränken sich nicht nur auf NC Noticias. Ich hatte in der FARC eine medizinische Laufbahn, die ich gerne fortsetzen würde. Ich habe mich auf Stipendien für Medizinstudienplätze in Kuba beworben, die extra für Ex-Kämpfer ausgeschrieben wurden, aber leider konnte ich nicht alle Anforderungen erfüllen. Ich konnte meinen Schulabschluss nicht beglaubigen, weil die FARC-Schule, auf der ich war, vom Bildungsministerium nicht anerkannt wird. Diese Hürden erschweren die Integration. Wenn ich mir meine Zukunft ausmale, habe ich viele Ideen. Aber der Übergang ist schwierig, es ist nicht so, dass uns jetzt alle Wege offenstehen. Deshalb denke ich jetzt, dass ich mir diesen persönlichen Luxus vielleicht nicht erlauben kann, ich muss nicht unbedingt Medizin studieren. Ich kann über die Zukunft, ehrlich gesagt, nicht so viel sagen, weil für uns nicht einmal sicher ist, was morgen sein wird.

Was ist sonst gerade wichtig für Sie?
Eine Sache, die mir noch fehlt, ist, meine Familie wiederzusehen. Ich telefoniere zwar mit ihnen, aber das ist nicht dasselbe. Vor zwölf Jahren lebte ich mit meiner ganzen Familie in einem Dorf namens Lejanías, seitdem ist ein Großteil von ihnen nach Barcelona ausgewandert und nur mein Vater ist noch in Kolumbien. An erster Stelle steht für mich, hier mit dem politischen Kampf weiterzumachen und dann ist meine Familie dran. Viele fragen mich, warum ich nicht sofort meine Familie aufsuche, aber für mich hieße das, den Kampf aufzugeben, den ich mit der Guerilla solange geführt habe, und einfach nicht mehr dazu beizutragen. Meine Familie würde mich sicher freudig aufnehmen, aber ich könnte mich dort nicht sinnvoll einbringen, sondern wäre nur ein weiteres hungriges Maul. Deshalb ziehe ich es vor, mich bei der Familie einzusetzen, die mich auch aufgezogen hat und das ist die FARC. Später werde ich dann eine Möglichkeit suchen, meine andere Familie zu finden.

Sie waren 15 Jahre lang Teil einer politisch-militärischen Organisation. Ist Ihnen nach der Waffenabgabe je in den Sinn gekommen, aus der Bewegung auszutreten?
Ich wurde gefragt, ob ich in der politischen Bewegung bleiben und weitermachen will. Viele sind gegangen, das kann man nicht verneinen oder verstecken. Viele Guerillakämpfer haben sich entschieden auszusteigen, nicht unbedingt aus der Bewegung an sich, aber aus der Gemeinschaft. Ich glaube aber, wenn wir diese Gemeinschaft verlieren, dann sind wir verloren. Das, was die FARC über all die Jahre erhalten hat, war die Disziplin und dieser Gemeinschaftssinn. Unsere Bewegung wird viele Hürden überwinden müssen, doch wir müssen all diese Erfahrungen gemeinsam machen, um dorthin zu kommen, wo wir sein wollen.

Warum haben sich diese Guerillakämpfer*innen dazu entschieden, aus der FARC auszusteigen?
Wir haben diesen Frieden nicht mit Freunden geschlossen. Dies ist ein Friedensprozess zwischen Feinden. Der Feind, mit dem wir in den Dialog getreten sind, hat eine dunkle und schmutzige Geschichte, wenn es um Abkommen mit anderen politischen Bewegungen geht. Das zeigen die Beispiele früherer Verhandlungen, etwa mit der Patriotischen Union (UP) und der Guerillabewegung des 19. April (M19). Auch mit den FARC gab es bereits vier oder fünf Verhandlungsversuche. Unsere größte Angst ist daher, betrogen zu werden, dass dieser Prozess abbricht. Wir wissen, dass es eine politische Strömung in Kolumbien gibt, die mit diesem Friedensprozess nicht einverstanden ist. Uns muss klar sein, dass es in diesem Prozess viele Tote geben wird, dass wir den Frieden nicht umsonst bekommen. Wir sind darauf vorbereitet, dass wir in jedem Moment sterben könnten. Und sollten wir umgebracht werden, dann wird der Kampf weitergehen und ich hoffe einfach, dass die Toten nicht umsonst gestorben sind.

Sehen Sie Probleme bei der Implementierung des Friedensabkommens?
Wir wissen zum Beispiel, dass der Paramilitarismus noch aktiv ist. Daran kann man sehen, dass das Abkommen nicht eingehalten wurde, weil die paramilitärischen Strukturen und Verbindungen innerhalb des Staates immer noch nicht bekämpft wurden. Ein anderer Aspekt sind die Vereinbarungen bezüglich Lebensmitteln und Unterhalt, die eigentlich jedem Ex-Kämpfer zustehen und die entweder verzögert oder gar nicht ausgezahlt wurden. Es gibt jedoch schon manche Zonen, in denen die FARC-Kämpfer ohne Unterstützung der Regierung umfassende Agrikulturprojekte aufgezogen haben. Leider werden diesen Projekten oft Steine in den Weg gelegt.

Der Friedensprozess hat auch in Deutschland viel Aufmerksamkeit bekommen. Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach die internationale Öffentlichkeit für den Postkonflikt?
Hier in Kolumbien wollen sie einen zum Schweigen bringen, weil sie uns kennen, aber in anderen Ländern kennen sie uns sicherlich nicht, und es wäre gut, wenn sie von unseren Schwierigkeiten erfahren würden. Deshalb lade ich alle, vor allem auch die ausländischen Medien dazu ein, die Implementierung der Verträge in Kolumbien genau zu verfolgen, und wenn die FARC sie nicht erfüllt, dann sollen sie darüber transparent berichten. Wenn wir es sind, die versagt haben, dann soll es die ganze Welt wissen. Aber es wäre eben wichtig, dass sie die Wahrheit sagen und dass sie nicht einfach berichten, dass die Implementierung gut voranschreitet, nur weil die kolumbianische Regierung das so sagt. Wir fürchten uns nicht davor, dass Menschen aus anderen Ländern kommen und erfahren, was wirklich passiert ist mit dem Friedensprozess in Kolumbien. Wir haben unseren Willen bereits bewiesen und wir werden das auch weiterhin tun.

 

 

VERHANDLUNGEN INMITTEN DES KRIEGES

Am Morgen des 19. Februar erschütterte eine Explosion den belebten Stadtteil La Macarena im Herzen der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá. Ziel des Anschlags waren offenbar Polizist*innen der mobilen Spezialeinheit zur Aufstandsbekämpfung (ESMAD). Diese bereitete sich zu diesem Zeitpunkt auf die Überwachung der geplanten Proteste gegen die Wiedereinführung von Stierkämpfen in der angrenzenden Arena vor. Die Bilanz des Anschlags: 30 Verletzte, darunter 26 Polizist*innen. Ein Polizist erlag kurz darauf seinen schweren Verletzungen.

Analyst*innen zählen seit dem 7. Februar mindestens zehn Anschläge von der ELN.

Dies war bereits der vierte Anschlag im laufenden Jahr in Bogotá. Weniger als 24 Stunden zuvor explodierte ein Sprengkörper in einem Restaurant im Stadtviertel La Quesada. Ein ähnlicher Sprengkörper explodierte eine Woche vorher in einem Restaurant in der Nachbarschaft und verletzte sieben Menschen. Mitte Januar wurden bei einem Attentat im Eingangsbereich der staatlichen Zollbehörde (DIAN) zwei Menschen verletzt.

Aus Sicht der Regierung waren die Schuldigen schnell gefunden. Der Verteidigungsminister Luis Carlos Villegas erklärte kurz nach dem Anschlag in La Macarena: „Der Bombenanschlag hängt sehr wahrscheinlich mit den Attentaten der vergangenen Wochen zusammen. Alles deutet darauf hin, dass urbane Zweige der ELN dahinterstecken“.

Nachdem die ELN Anfang Februar den Lokalpolitiker Odin Sánchez freigelassen hatte, begann am 7. Februar die öffentliche Phase der Friedensverhandlungen zwischen Vertreter*innen der Regierung und der Guerilla. Den Gesprächsrunden, die unter internationaler Beobachtung in Quito stattfinden, ging eine dreijährige Erkundungsphase voraus, während der die Themen auf der Friedensagenda definiert wurden (siehe LN 511).

Während die ELN von Anfang an die Notwendigkeit eines beidseitigen Waffenstillstandes als Voraussetzung für den Friedensprozess betonte, hält die kolumbianische Regierung an ihrer Prämisse der Verhandlungen inmitten des Krieges fest. Eduardo Álvarez, Direktor der Abteilung für die Dynamik von Friedensprozessen der kolumbianischen Stiftung Ideen für den Frieden (FIP), begründete diese Politik mit einer Fehleinschätzung der Regierung: „Viele Analysten machen den Fehler, die ELN auf ihre militärische Stärke zu reduzieren: Sie hat 1800 Kämpfer, also ist sie schwach und leicht zu demobilisieren“, erläuterte er gegenüber dem Internetmedium La Silla Vacía. „Allerdings agiert die ELN völlig anders als die Bewaffneten Revolutionären Streitkräfte (FARC). Sie leistet sich weniger offene Gefechte mit den Streitkräften, sondern agiert vielmehr mit gezielten Entführungen und punktuellen terroristischen Attentaten, die nur wenig Aufwand erfordern: Anschläge auf die Infrastruktur, auf militärische Posten oder auf Polizisten wie im Fall des Attentates in La Macarena“. Demnach seien diese Anschläge vielmehr eine symbolische Ansage an die Regierung: „Wenn wir keinen beidseitigen Waffenstillstand schließen, setzen wir die Attentate fort“.

Pablo Beltrán: „Wir sind keine Anhänger einseitiger Zugeständnisse”.

Bereits kurz nach dem Anschlag in La Macarena forderten oppositionelle Politiker*innen ein sofortiges Ende der Friedensverhandlungen. Der ehemalige Präsident und Gegner des Friedensprozesses Álvaro Uribe Vélez beschuldigte die Regierung der Tatenlosigkeit: „Die ELN greift die Zivilbevölkerung Bogotás an, verletzt unzählige Menschen und es passiert gar nichts. Die Gespräche müssen sofort ausgesetzt werden, bis die ELN sämtliche militärischen Aktivitäten einstellt“, äußerte er in einer Fernsehansprache.

Die Forderung nach einem einseitigen Waffenstillstand ist zu diesem Zeitpunkt angesichts der schwachen Position der ELN absolut unrealistisch, und wird der Struktur der Guerilla auch nicht gerecht. Im Gegensatz zu den FARC ist die ELN eher horizontal organisiert: Während die Führungsspitze der FARC ihren Kämpfer*innen vom Verhandlungstisch in Kuba aus Befehle erteilen konnte, agieren die einzelnen Gruppen der ELN mitunter autonom. Die FARC konzentrierten sich in den letzten Jahrzehnten hauptsächlich auf militärische Aktionen in abgelegenen Gebieten Kolumbiens. Große Teile der ELN hingegen verstehen sich eher als sozio-politische Organisation. Seit ihrer Gründung 1964 rekrutierte die Guerilla ihre Unterstützer*innen hauptsächlich aus dem urbanen, intellektuellen Milieu und verfügt somit über eine viel breitere Basis innerhalb der Zivilgesellschaft als etwa die FARC. Ein Ende der Friedensverhandlungen mit der Guerilla würde dabei eher jenen ELN-Kämpfer*innen helfen, die intern gegen die Gespräche revoltieren. Analyst*innen wie der Journalist und Friedensaktivist Moritz Akermann verweisen daher auf die internen Grabenkämpfe der Guerilla: „Es gibt innerhalb der ELN verschiedene Gruppen, die gegen den Friedensprozess sind“, äußerte er gegenüber der Wochenzeitschrift Semana. „Attentate richten sich daher nicht direkt gegen die Bevölkerung, sondern können auch als Kritik an den ELN-Vertretern in Quito gedeutet werden“. Akermann betonte auch, dass die Regierung die ELN grundsätzlich falsch einschätze: „Die Regierung hat sich jahrzehntelang auf den Kampf gegen die FARC konzentriert. Teile der Streitkräfte haben sogar mit der ELN kooperiert, um eine Art Gegengewicht zu den FARC zu konstruieren.“

Ein beidseitiger Waffenstillstand käme der ELN insofern gelegen, als das dieser die militärischen Aktionen beider Parteien untersagen würde – nicht jedoch die Entführungen und Sabotageakte, die einen Großteil der Aktionen der ELN ausmachen. Der unter dem Alias „Pablo Beltrán“ bekannte Anführer der ELN-Verhandlungskommission machte Anfang Februar im Interview mit der Zeitung El Espectador deutlich: „Die Diskussion über den Frieden ist innerhalb der kolumbianischen Linken und auch innerhalb der ELN sehr facettenreich. Wir werden in Quito nichts vereinbaren, was nicht alle Teile unserer Organisation tragen können“, und ergänzte: „Wir sind keine Anhänger einseitiger Zugeständnisse. An diesem Verhandlungstisch gibt es zwei Parteien – also müssen beide Parteien auch bereit sein, Verantwortung zu übernehmen.“

Dass die Entscheidungswege innerhalb der ELN deutlich länger als innerhalb der FARC sind, wird auch an ihren offiziellen Mitteilungen deutlich. Erst eine Woche nach dem Anschlag in La Macarena bekannte sich die Führungsriege der Guerilla zu dem Attentat. Dieses habe sich gegen die Polizeieinheit ESMAD gerichtet. Die Einheit begehe ungestraft Menschenrechtsverletzungen und unternehme nichts, um Menschenrechtsverteidiger*innen und Aktivist*innen zu schützen, lautete die Begründung.
Allein seit Beginn des Jahres wurden mindestens 15 Aktivist*innen in verschiedenen Teilen des Landes ermordet, davon mehrere mit Verweis auf ihre (vermeintliche) Nähe zur ELN. Seit Beginn der Demobilisierung der FARC übernehmen zunehmend kriminelle und paramilitärische Organisationen die Kontrolle über die von den FARC geräumten Gebiete. Doch auch die ELN füllen in einigen Regionen das neu entstandene Machtvakuum und bauen damit ihre politische Position aus.

Während sie die Menschenrechtsverletzungen von staatlicher Seite anprangert, verübt die Guerilla auch parallel weiter Anschläge. So werden der ELN nicht nur die Attentate in Bogotá zugeschrieben. Analyst*innen zählen allein seit Beginn der Verhandlungen am 7. Februar mindestens 10 Anschläge, deren Ausführung die Handschrift der ELN trägt. Zuletzt wurden am 25. März fünf Menschen bei einem Angriff in der Region Chocó getötet, mindestens 50 Personen mussten aus ihren Häusern fliehen. Laut Augenzeugenberichten trugen die Angreifer die Banderole der ELN. Auch die Regierung lässt weiter Stellungen der ELN angreifen.

Angesichts dieser Situation lässt sich an baldigen Fortschritten am Verhandlungstisch in Quito zweifeln. Doch statt die Friedensgespräche abzubrechen oder einen einseitigen Waffenstillstand der Guerilla zu fordern – der schon bei den FARC mehrfach nach Angriffen auf Stellungen der Guerilla scheiterte – sollte die Regierung vielmehr an die Zivilbevölkerung appellieren und den Kampf gegen die elementaren Probleme des Landes angehen: gegen fehlende Bildungs- und Gesundheitsversorgung, fehlende Nahrungsmittel und die Bedrohung durch paramilitärische Verbände. Denn gerade die engen politischen und sozialen Verbindungen der ELN verpflichten die Guerilla zur Rechenschaft gegenüber ihren Unterstützer*innen. Fehlte die politische Legitimation für Anschläge, Sabotageakte und Entführungen, würde die Position der Guerilla somit deutlich effektiver geschwächt als durch Militärschläge und Drohungen. Doch solange die Regierung weiterhin ihre elementaren Aufgaben nicht wahrnimmt und viele Regionen des Landes sich selbst – und damit kriminellen und paramilitärischen Banden – überlassen bleiben, wird die ELN auch weiterhin Legitimation und Unterstützung für ihre Aktionen finden.

 

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