„Es erfordert Mut, trans zu sein“

Pamela Montaño Díaz, Foto: Lea Rux

Kannst du uns etwas von deiner Organisation Asociación TransMujer erzählen?
Mir kam die Idee damals, als ich begann als Sexarbeiterin zu arbeiten und zum ersten Mal die Probleme und Bedürfnisse der vielen trans Frauen auf der Straße sah. Die meisten hatten keine andere Wahl; die Gesellschaft hatte sie quasi zur Sexarbeit verdonnert. Ich sah wie so viele ins Krankenhaus kamen und dort von Ärzten und Pflegepersonal einfach abgelehnt wurden. Da kam mir die Idee, eine Organisation zu gründen, um ihnen zu helfen. Heute ist TransMujer aber offen für alle. Ich arbeite mit vielen cis Frauen, weil sie genauso viel gesundheitliche Unterstützung brauchen – wenn nicht mehr. Viele sind Mütter, unsichtbare Sexarbeiterinnen, die das Stigma und die Scham besonders trifft. Ich unterstütze sie bei Untersuchungen zur sexuellen Gesundheit und organisiere Bildungs- und Präventionsprogramme. Zum Glück habe ich Zugang zu allen Etablissements in Cali, vom edelsten Bordell bis zur kleinsten Absteige. Ich werde dort sehr geschätzt. Ich habe Verbindungen zu verschiedenen Organisationen, die mir bis zu 15.000 Kondome für diese Frauen stellen: das wichtigste Arbeitsmittel der Sexarbeiter*innen.

Was ist deine Erfahrung mit der wachsenden TERF-Bewegung (eng.: trans-exlusionary radical feminists, dt.: trans-ausschließende Radikalfeministinnen), die sich offen transfeind­lich zeigt?
Sie behaupten, dass trans Frauen cis Frauen parodieren würden, aber das ist Unsinn. Schon vor 20 Jahren habe ich damit Erfahrung gemacht. Damals wollte ich dem Frauentisch in Santiago de Cali beitreten, um dort Sexarbeiterinnen zu vertreten. Angeblich sollte das der beste sein. Aber es ist ein schrecklicher Verein. Sie haben mir das Leben schwer gemacht. „Wie soll eine trans Frau bitte eine cis Frau vertreten?“, haben sie mir gesagt. Ich habe trans und cis Frauen zusammengedacht, weil ich mich für beide einsetze. Wir haben die gleichen Bedürfnisse bezüglich Gesundheit und Sexarbeit. Ich glaube, viele Leute verstehen Feminismus einfach falsch.

Warum glaubst du, dass so viele trans Frauen in der Sexarbeit tätig sind?
Ich glaube, das es aus der Notwendigkeit heraus passiert. Ich bin große Befürworterin der Sexarbeit, weil kein anderer Job mehr Geld einbringt. Die Nachfrage nach trans Sexarbeiterinnen ist groß. Sexarbeit garantiert uns trans Frauen ein Einkommen. Wir geben so viel Geld aus: die Implantate und die Operationen sind teuer. Und je mehr man macht, desto mehr verdient man als Sexarbeiterin. Viele von uns sind außerdem zu der Überzeugung gelangt, dass Geld das Wichtigste ist: So viele von uns wurden von unseren Familien verstoßen. Und einige gehen dann nach Europa, verdienen eine Menge Geld und plötzlich akzeptiert ihre Familie sie wieder.

Was würdest du jungen trans Personen sagen, die mit ihrer Geschlechtsangleichung beginnen wollen?
Naja, das Hauptproblem ist die Familie, die Eltern. In meiner Jugend hatten wir keine familiäre Unterstützung, weil einfach die Bildung zum Thema fehlte. Meine Familie hat mich nie akzeptiert, weshalb ich mit 13 Jahren weggelaufen bin. Zum Glück hat mich dann eine sehr offene, gebildete Frau mit ihren zwei Kindern aufgenommen. Bei ihnen konnte ich mich frei entfalten. Das Wichtigste ist diese Unterstützung, dieser „Familienkern”, der einem die Möglichkeit gibt, sich zu entwickeln, wie man möchte, zu einem Menschen mit eigenen Werten, mit einem richtigen Job. Viele trans Frauen haben ein Leben lang mit dem Trauma der Ablehnung durch ihre Familie zu kämpfen. Man trägt das für immer tief in seiner Seele, dass die eigene Familie einen nicht akzeptiert hat. Und deshalb glaube ich, dass es Mut erfordert, trans zu sein. Nicht jeder hat das Zeug dazu. Ein Mann hätte ironischerweise nicht die Eier, sich ein Kleid anzuziehen, auf die Straße zu gehen und sich der Gesellschaft zu stellen.

Wie kam es damals zu der Klage für deine Namensänderung?
Es war mir sehr unangenehm, einen männlichen Namen im Ausweis zu haben. Immer wenn ich ihn vorzeigen musste, haben Leute das gesehen. Deshalb bin ich irgendwann zum Dritten Notariat in Cali gegangen, um das zu ändern. Und erst hat der Notar mich ganz nett empfangen, aber als er gemerkt hat, dass ich keine cis Frau war, hat er sich schrecklich aufgeregt und meinte nur: „Wie kommen Sie auf die Idee? Sie sind ein Mann!“ Diese Ungerechtigkeit wollte ich nicht akzeptieren. Zu dieser Zeit hat Kolumbien seine Verfassung erneuert und es war grade die Tutela-Klage herausgekommen (Anm. d. Autorin: Ein Rechtsweg, um Menschenrechtsverletzungen anzuklagen). Erst wurde ich von einem Gericht zum anderen geschoben. Außerdem haben mich alle möglichen Anwälte abgewiesen. Gratis war das alles auch nicht. Aber zum Glück hatte ich die finanzielle Unterstützung meines damaligen Partners. Und irgendwann fand ich dann auch eine Anwältin, die vorschlug, eine Tutela-Klage einzureichen. Und das hat tatsächlich funktioniert. Ich habe die erste Tutela-Klage in Kolumbien gewonnen. Aber es war hart für mich. Und als die Medien davon berichtet haben, nannten sie mich auch noch „den ersten Mann, der seinen Namen ändern durfte“. Trotzdem, die Klage hat als Präzedenzfall vielen meiner Schwestern geholfen. Und es war der Grundstein für viele weitere Fortschritte in der LGBTIQ+-Gemeinschaft. Inzwischen haben wir sogar die gleichgeschlechtliche Ehe. Ich fühle mich stolz als Aktivistin, meinen Beitrag dazu geleistet zu haben.


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„Der Kongress ist vom Bürgerwillen abgekoppelt“

“Legale Abtreibung ist soziale Gerechtigkeit” Feministische Demonstrationenen in Chile machen Druck, Fotos: Antonia Soto

Was halten Sie generell von dem neuen Gesetzentwurf, der den Schwangerschafts­abbruch ohne Einschränkung entkriminali­sieren soll?
Zunächst einmal muss man verstehen, dass es bei dieser Debatte um ein Menschenrecht geht. Die Bürger*innen haben sich nachhaltig für die Ausweitung der sexuellen und reproduktiven Rechte ausgesprochen. Alle Studien zeigen seit mindestens zwanzig Jahren, dass die Befürwortung des Schwangerschaftsabbruchs zunimmt. Selbst die konservativsten Umfragen zeigen, dass mehr als 60 Prozent der Bevölkerung die Legalisierung befürworten. Es besteht jedoch eine deutliche Diskrepanz zwischen der gesellschaftlichen Unterstützung und der Haltung der parlamentarischen Fraktionen, die weiterhin Gesetze mit zutiefst konservativer Logik erlassen. Die gleiche Entfremdung haben wir in der Rentendebatte gesehen – eine fehlende Übereinstimmung zwischen denjenigen, die die Entscheidungen treffen, und denjenigen, die in diesem Land leben.

Einer der zentralen Punkte des neuen Gesetzes ist der freiwillige Schwangerschaftsabbruch bis zur 14. Woche. Wie wichtig ist diese Grenze?
Sie ist ein internationaler Standard. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die Internationale Föderation für Gynäkologie und Geburtshilfe (FIGO) befürworten den freiwilligen Schwangerschaftsabbruch bis zur 14. Woche nicht nur als technisches Kriterium, sondern auch als wirksame und sichere staatliche Maßnahme. Ministerin Orellana hat deutlich gemacht, dass der neue Gesetzentwurf dieser Linie folgt. Besorgniserregend ist, dass trotz wissenschaftlicher Argumente politische Fraktionen, die diese Regelung in anderen Zusammenhängen unterstützt haben, dieser nun Hindernisse in den Weg legen. Als Senatorin Yasna Provoste Präsidentschaftskandidatin war, hatte sie zum Beispiel die Idee, in ihrem Programm ein Gesetz über Fristen voranzutreiben. Jetzt agieren viele Parlamen­tarier ihrer Fraktion Democracia Cristiana (Christdemokraten) dagegen. Das zeigt, dass die Diskussion immer noch von Moralismus und nicht von Fakten geprägt ist.

Eines der historischen Hindernisse bei der Umsetzung des derzeit geltenden Gesetzes zum Recht auf Abtreibung in drei Fällen (das Gesetz erlaubt den Schwangerschaftsabbruch im Fall der Gefahr für das Leben der Schwangeren, der lebensgefährlichen Schädigung des Fötus oder infolge einer Vergewaltigung) war die Verweigerung aus Gewissensgründen. Wie wird dieses Problem im neuen Gesetz angegangen?
Die Verweigerung aus Gewissensgründen wurde auf eine Weise genutzt, die eine strukturelle Blockade geschaffen hat. In Chile gibt es eine institutionelle Verweigerung aus Gewissens­gründen, was absurd ist, denn Institutionen haben kein Gewissen, sondern Menschen. Diejenigen, die sich weigern, sind im Grunde die Eigentümer privater Gesundheitsinstitutionen. Hier geht es also um die Überzeugungen derjenigen, die nicht einverstanden sind und die durch ihre wirtschaftliche Macht versuchen, den Zugang der Menschen zu Schwangerschafts­abbrüchen in diesen Gesundheitszentren zu beschränken. Darüber hinaus gibt es einen enormen Mangel an Regulierung: Es gibt Krankenhäuser, in denen medizinisches Fachpersonal per WhatsApp darüber informiert, dass sie die Durchführung der Eingriffe verweigern, was die Rechte von Frauen und schwangeren Frauen verletzt. In diesem Sinne halten wir es für sehr wichtig, die Regelung zur Verweigerung aus Gewissensgründen voranzu­treiben, die derzeit im Rechnungshof bearbeitet wird und von der wir hoffen, dass sie im März genehmigt wird. Der Oberste Rechnungshof prüft, ob ein Dekret oder Beschluss mit der Verfassung und den geltenden Gesetzen übereinstimmt. Dieses neue Projekt muss gewährleisten, dass die Verweigerung aus Gewissensgründen kein Hindernis mehr für den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen dar­stellt, insbeson­dere in Regionen, in denen die Gesundheits­infrastruktur eher begrenzt ist.

Der Zugang in den Regionen ist eine weitere große Herausforderung. Wie kann man verhindern, dass dieses Gesetz nur auf dem Papier steht?
Heute schreibt das Gesetz vor, dass Schwanger­schaftsabbrüche in Hochrisiko-Abteilungen von Krankenhäusern mit komplexen Speziali­sierungen durchgeführt werden müssen, was den Zugang auf Städte beschränkt, die über solche Krankenhäuser verfügen. Die WHO weist jedoch darauf hin, dass ein medizinischer Schwanger­schaftsabbruch nicht unbedingt den Eingriff eines Arztes erfordert. Wenn eine entsprechend geschulte Person eine Ausbildung absolviert hat, ist es möglich und sicher, einen Schwanger­schaftsabbruch auch außerhalb eines Kranken­hauses vorzunehmen, ohne dass ein Kranken­haus­aufenthalt erforderlich ist. Idealerweise sollte der Schwangerschafts-abbruch in der Primärversorgung stattfinden, das heißt in den CESFAM-Gesundheitszentren (Centro de Salud Familiar; Einrichtung der primären Gesund­heits­fürsorge in Chile, die medizinische und präventive Dienste für die Bevölkerung anbietet, Anm. d. Red.), denn dort befinden sich die Hebammen. Wenn eine Frau schwanger wird, geht sie zur Hebamme oder zum Allgemeinmediziner im CESFAM, das ist die Anlaufstelle, die ständige Verbindung für die Frauen im Bereich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit. In Regionen wie Los Rios zum Beispiel, wo es nur ein einziges hochkomplexes Krankenhaus gibt, müssen viele Menschen stundenlang anreisen, um ihr Recht wahrzunehmen. Wir hoffen, dass die neue Gesetzgebung durch Hebammen und geschultes Personal diese Verfahren ohne unnötige Bürokratie gewährleisten wird.

In Lateinamerika haben wir Fortschritte bei der Legalisierung der Abtreibung erlebt, aber auch Rückschläge. Welche Lehren lassen sich aus Erfahrungen wie denen in Argentinien und Kolumbien ziehen?
Zunächst einmal ist eine bereichsübergreifende Unterstützung erforderlich. Abtreibung ist eine Frage der öffentlichen Gesundheit und darf nicht in parteipolitische Auseinandersetzungen verwickelt werden. In Argentinien hat sich beispielsweise eine Koalition gebildet, die es verschiedenen politischen Sektoren ermöglichte, das Gesetz zu unterstützen. In Chile wurde das Gesetz über den Schwangerschaftsabbruch in drei Fällen mit Stimmen von der Rechten bis zur Linken, mit Ausnahme der Ultrarechten, angenommen. Die Gesellschaft hat ein Recht auf eine informierte Debatte, bei der alle möglichen Akteure zu Wort kommen. Die Erfahrung lehrt uns, dass es notwendig ist, im Kongress so transversal wie möglich zu arbeiten. Um ein Gesetz über Fristen voranzubringen, brauchen wir eine ähnliche Strategie. Wir glauben, dass ein einfacher Gesetzentwurf, der den Abbruch bis zu 14 Wochen vorverlegt, erfolgreich sein kann. Und außerhalb des Kongresses liegt der Schlüssel in der Mobilisierung: Ohne den Kampf der feministischen Organisationen gäbe es nicht einmal das Gesetz zum Recht auf Schwanger­schafts­abbruch in drei Fällen. Der soziale Druck war und ist von grundlegender Bedeutung.

Wie sehen Sie in der aktuellen Situation, in der die extreme Rechte in der Region an Boden gewonnen hat, den Fortgang der Diskussion über Abtreibung in Chile?
Wir sind besorgt über das Wachstum von Sektoren, die Desinformation als Strategie einsetzen. Über die Arbeit des ersten Verfassungskonvents wurden Lügen verbreitet, zum Beispiel dass dort „Abtreibung bis zu neun Monaten“ vorgeschlagen wurde. Das ist dieselbe Taktik, die sie in Argentinien und Brasilien angewandt haben: Panik und Verwirrung stiften. Das beste Mittel, um dieser Entwicklung entgegenzutreten, sind daher faktengestützte Informationen. 78 Prozent der Bevölkerung unterstützen das Drei-Fälle-Gesetz und 53 Prozent befürworten das Recht auf Abtreibung ohne Einschränkung. Wenn es uns gelingt, die Unterstützung der Bürger*innen im Kongress zum Ausdruck zu bringen, sind wir der Gewährleistung eines Grundrechts einen Schritt nähergekommen.

Foto: Antonia Soto

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Milei will dem „Nie wieder“ ein Ende setzen

Zum Originaltext hier klicken

Rodolfo Walsh, einer der bedeutendsten Journalisten Argentiniens, der 1976 von der letzten zivil-militärischen Diktatur des Landes entführt und verschleppt wurde, schrieb einst: „Unsere herrschenden Klassen haben immer darauf hingearbeitet, dass die Arbeiter keine Geschichte, keine Doktrin, keine Helden oder Märtyrer haben. Jeder Kampf muss von Neuem beginnen, losgelöst von den vorherigen Kämpfen. Die kollektive Erfahrung geht verloren, die Lektionen werden vergessen.“ Milei entpuppt sich als Musterschüler dieser Maxime. In den letzten Tagen des Jahres 2024 und den ersten Tagen des neuen Jahres startete die Regierung einen erbitterten Angriff auf die Politik, die Institutionen und die Mitarbeiter*innen im Bereich der Menschenrechte.

Genauer gesagt begann der Angriff der libertären Regierung auf das Feld bereits vor ihrem Amtsantritt. Während seines Wahlkampfs leugnete der jetzige Präsident, dass die Zahl der während der Diktatur inhaftierten und verschwundenen Personen 30.000 betrage. Zudem ernannte er Victoria Villarruel, eine Politikerin mit Verbindungen zur Militärfamilie und einer geschichtsrevisionistischen Haltung zu seiner Vizepräsidentin. In den letzten Dezembertagen ging die Regierung jedoch noch weiter: Sie entließ hunderte Beschäftigte verschiedener Erinnerungs- und Gedenkstätten sowie der Menschenrechtssekretariate, die dem Justizministerium unterstehen.

Die Regierung kündigte außerdem an, das Centro Cultural de la Memoria Haroldo Conti zu schließen, ein Kultur- und Bildungszentrum, das seit 2008 auf dem Gelände der ehemaligen Mechanikschule der Marine (ESMA) angesiedelt ist. Die ESMA war einer der wichtigsten geheimen Haftorte der Diktatur und wurde 1998 in einen Ort des Gedenkens und der Menschenrechtsförderung umgewandelt. Das Zentrum trägt den Namen eines der bedeutendsten argentinischen Schriftsteller und Journalisten, der zum Symbol des revolutionären Kampfes der 1970er Jahre wurde. Bis vor wenigen Wochen bot das Zentrum Theater, Literatur, Tanz, Fotografie und Musik an. Es arbeiteten 87 Personen dort. Die Beschäftigten fürchten nun, dass die angekündigte „Umstrukturierung“ in Wirklichkeit eine endgültige Schließung der ESMA bedeutet.

„Seit seiner Gründung ermöglicht das Conti, den Schrecken der Vergangenheit durch Kunst aufzuarbeiten. Es zielt darauf ab, zu erweitern, zu vernetzen, zu improvisieren und neue Wege in der Pädagogik der Erinnerung zu gehen. Ich glaube, die Regierung greift uns an, weil sie generell die Kultur angreift – und weil wir hier organisiert sind und einen kollektiven Widerstandskern bilden“, sagt Nana González, Mitarbeiterin des Conti und stellvertretende Sekretärin der Gewerkschaft Asociación Trabajadores del Estado, die aktivste Gewerkschaft dieses Bereiches, gegenüber den Lateinamerika Nachrichten.

Um gegen die Entlassungen und die Schließung zu kämpfen, organisierten die Beschäftigten des Conti ein großes Festival, das die Unterstützung der Zivilgesellschaft für die Menschenrechtsorganisationen und -institutionen zeigte und das Motto „Nunca Más“ bekräftigte – in Argentinien ein zentraler Ausdruck des Konsenses, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit nie wieder zuzulassen. Im Rahmen ihres Protestplans planen sie weitere Aktionen bis zum 24. März, dem Tag, an dem an den Beginn des Militärputsches erinnert und dieser verurteilt wird.

Doch das Conti ist nicht die einzige Institution auf dem Gelände der ehemaligen ESMA, die von Entlassungen und Kürzungen betroffen ist. Auch das Museo Sitio de Memoria ESMA, das zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört, das Nationale Archiv der Erinnerung und die Menschenrechtssekretariate, die in dem 2004 wiedererlangten Raum zusammen mit anderen Organisationen und Einrichtungen arbeiten, sind von starken Kürzungen betroffen. Ähnliche Maßnahmen gibt es zudem in vielen anderen Menschenrechtsinstitutionen im ganzen Land.

„Es geht nicht nur um die Entlassungswelle der letzten Zeit, sondern auch um die finanzielle Aushöhlung jeglicher Menschenrechtspolitik, die die Arbeit in allen Provinzen erheblich erschwert“, erklärt Guillermo Amarilla Molfino. Er ist Sohn von Marcela Esther Molfino und Guillermo Amarilla, die während der Diktatur verschleppt wurden und bis heute verschwunden sind. Dank der Arbeit der Organisation Abuelas de Plaza de Mayo konnte er 2009 seine Identität zurückerlangen, nachdem er 29 Jahre unter einem anderen Namen und in einer anderen Familie gelebt hatte. Trotz der aktuellen Angriffe des Staates gab die Organisation Ende Dezember bekannt, dass das 138. Enkelkind identifiziert wurde – ein Lichtblick inmitten der feindseligen Atmosphäre.

„Feindseligkeit.“ Amarilla Molfino betont dieses Wort und sagt, dass er nicht erklären könne, warum die Regierung so viel davon gegenüber den Menschenrechtsinstitutionen verspüre. „Oft fragen Besucher des Museums, warum die Diktatur so grausam war. Warum die Täter solche Tyrannen waren. Warum Menschen gefoltert und lebend ins Meer geworfen wurden. Es gibt unzählige Antworten, aber die Schuldigen sollten sie geben. Ähnlich verhält es sich heute mit der Regierung: Wir wissen nicht, warum sie uns so angreift. Vielleicht liegt es daran, dass hier die Interessen der großen wirtschaftlichen Mächte auf dem Spiel stehen, die einst Komplizen der zivil-militärischen Diktatur waren.“

Der Angriff auf die Menschenrechte geht unterdessen weiter. 2024 wurden nur 20 Prozent des für die Menschenrechtssekretariate vorgesehenen Budgets ausgezahlt und im März wird mit einer neuen Entlassungswelle in Institutionen und Orten des Gedenkens gerechnet. Darüber hinaus prangerten die Behörden in den letzten Wochen des Jahres einerseits illegale Spionageaktivitäten der Sicherheitskräfte bei den Protestaktionen der Arbeiter*innen an und andererseits juristische Manöver, die darauf abzielen, wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilte Unterdrücker*innen freizulassen oder zu begünstigen.

„Wir rufen die Welt auf, hinzusehen und entsprechend zu handeln. Es ist entscheidend, jeden Rückschritt zu stoppen und die demokratischen Werte und Menschenrechte zu verteidigen, die wir uns so hart erkämpft haben“, appellierte Estela de Carlotto, Präsidentin der Abuelas de Plaza de Mayo, vor wenigen Wochen. Für 2025 kündigte die Organisation an, die internationalen Allianzen und Unterstützung auszubauen, um den Angriffen des Staates entgegenzuwirken. Dieselbe Leistung, die vor mehr als vierzig Jahren jene „Verrückten“ unternahmen, die verzweifelt nach ihren Söhnen und Töchtern suchten und letztendlich das heute fest verankerte „Nunca Más“ durchsetzten.


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„Jemand muss darüber sprechen“

Railson Guajajara, Die Guajajara sind eines der größten Indigenen Völker Brasiliens und leben in 10 verschiedenen Indigenen Territorien im Bundesstaat Maranhão (Foto: Theresa Utzig)

Warum hast du begonnen, auch internationalen Aktivismus für deine Gemeinschaft zu betreiben?

Wir leben heute in Brasilien in einer sehr schwierigen Realität aufgrund des Vormarsches der Bergbauindustrie, der Abholzung und der Brände, insbesondere im Bundesstaat Maranhão. Das betrifft alle traditionellen Völker, nicht nur die Guajajara. Es muss jemand darüber sprechen. Das kann ich sein, das kann Sônia (Sônia Guajajara, Ministerin für Indigene Völker Brasiliens, Anm. d. Red.) sein, das können andere sein. Es gibt viele Personen in anderen Regionen, die das Gleiche sagen: Wir müssen den Amazonas verteidigen, wir müssen unser Territorium und unsere Lebensweise verteidigen. Ich sehe das nicht als Aktivismus an, sondern als einen Hilferuf: Heute sind viele Kinder und ältere Menschen in ihren Gemeinschaften direkt betroffen. Wir haben die Guarani-Kaiowá im Bundestaat Mato Grosso do Sul, dort werden jeden Tag Menschen getötet. Wir haben die Awá, die freiwillig isoliert leben. Ein Volk, das vom Aussterben bedroht ist; eines der verletzlichsten Völker der Welt heute. Sie sprechen kein Portugiesisch oder eine andere Sprache, nur ihre eigene. Also ist es unsere Verantwortung, für sie zu sprechen.

Welche Folgen hat die Expansion dieser Industrien für die Indigenen Gebiete?

Der Bergbau im Bundesstaat Maranhão, ebenso wie in vielen anderen Regionen Brasiliens, hat erhebliche Auswirkungen: Speziell in Maranhão, meiner Heimat, findet die Bergbauaktivität entlang der Carajás-Eisenbahnlinie statt, eine der wichtigsten Eisenbahnen des Landes (siehe Infokasten). Diese Linie wurde zwischen 2014 und 2017 verdoppelt und mit dem Vormarsch des Bergbaus traten verschiedene Probleme auf wie Drogenhandel und -konsum, Prostitution, Gewalt sowie Morde an unserem Volk. Die direkten Probleme sind die Wasserverschmutzung, der Lärm und die verschmutzte Luft. In manchen Gegenden von Maranhão kann man nicht einmal draußen im Hof sitzen, um sich in Ruhe zu unterhalten, weil ständig Eisenpartikel vom Himmel fallen. Die Verschmutzung beeinflusst das lokale Leben tiefgreifend. Dies führt auch zur Verlandung des Flusses, an dessen Ufer die Carajás-Eisenbahn gebaut ist. Dieser Fluss ist für Tausende von Gemeinschaften, einschließlich uns, von grundlegender Bedeutung, da von ihm unser Überleben abhängt. Die Gier des weißen Mannes bringt uns viel Blut. Das Eisen, das nach Europa kommt, ist in Blut gebadet.

Welche neuen Projekte bedrohen das Indigene Territorium Caru?

Wir haben in den letzten zwei Jahren begonnen, über den Bau einer neuen Eisenbahn namens Grão-Pará zu diskutieren, die vom Hafen in Alcântara bis nach Açailândia im Bundesstaat Maranhão führen soll. Es werden bisher etwa 10 bis 15 Kilometer gebaut, die 22 Gemeinden durchqueren werden. Dieses Projekt wird uns direkt betreffen, da wir zum Überleben in einem bestimmten Gebiet von angrenzenden Regionen abhängig sind, insbesondere von denen in der Nähe von Gewässern. Die Eisenbahn wird eine der wichtigsten Regionen für ganz Maranhão durchqueren: die sogenannte Baixada Maranhense, die jährlich Tausende Tonnen Fisch produziert. Diese Fische wandern in der Regenzeit durch die Flüsse, die das Bundesland durchziehen. Das wird uns direkt beeinträchtigen. Wir leiden bereits jetzt erheblich unter den Folgen des langen Kontakts mit weißen Menschen. Jetzt stell dir die Awá vor, die keinen Kontakt zu Nicht-Indigenen haben und isoliert im Wald leben. Wie sollen sie damit umgehen? Das wäre die dritte Eisenbahn innerhalb von weniger als zehn Jahren, die Maranhão durchschneidet. Wir merken, dass Länder wie Deutschland und andere europäische Staaten viel in diese Art von Entwicklung investieren. Die Werbung, die diese Unternehmen dort machen, lautet: „Hier wird nichts zerstört, es wird die Amazonasregion nicht beeinträchtigen, es wird keine großen Auswirkungen haben.” Aber in Wirklichkeit sind die Auswirkungen immens und unermesslich. Das macht mich zutiefst wütend. Hinzu kommt das Problem der Quilombola-Gemeinschaften. Der Hafen von Alcântara, der erweitert oder neu gebaut werden soll, wird 87 Prozent des Gebiets dieser Gemeinschaft einnehmen. Wohin sollen sie gehen? Werden sie in unsere Gebiete eindringen? Wo werden diese Menschen leben?

Wie sieht es mit der Präsenz der staatlichen Behörden gegenüber den Problemen, die die Gemeinschaften betreffen, aus?

Heute ist die Präsenz des Staates in unserem Gebiet etwas kompliziert. Diese Präsenz zeigt sich nur unter Druck, wenn wir, die Indigenen Völker, uns organisieren und Proteste durchführen, wie das Blockieren der Autobahn BR oder einer Eisenbahn. Nur in diesen Momenten werden wir ein wenig gehört und auch dann nur vorübergehend. In den letzten Jahren haben wir uns stärker organisiert. Auch jetzt, am 30. Oktober 2024, werden wir die BR-316 blockieren, eine der wichtigsten Autobahnen im Maranhão, um gehört zu werden und Themen wie Gesundheit und Bildung zu besprechen. Beides ist in den Gemeinschaften extrem prekär. Darüber hinaus sind heute, insbesondere in Maranhão, führende Politiker direkt mit großen Unternehmen und Industrien verbunden. Während des Wahlkampfes, wie bei den kürzlich stattgefundenen Bürgermeisterwahlen, investieren diese Unternehmen Tausende von Dollar und Millionen brasilianischer Real, um sicherzustellen, dass bestimmte Kandidaten zum Bürgermeister gewählt werden, damit es keine Probleme oder Widerstände gegen ihre Interessen gibt.

Welche Forderungen hast du an die internationale Gemeinschaft und internationale Aktivist*innen?

Vieles der Arbeit, die ihr hier freiwillig oder anders leistet, hat bereits große Auswirkungen in Brasilien, weil die ganze Welt auf die Europäische Union blickt. Wenn ihr etwas kritisiert, halten die Menschen inne, um zuzuhören und zu verstehen, was in Brasilien passiert. Wenn wir dort etwas kritisieren, ist es nur eine Stimme von vielen, die letztendlich ignoriert wird. Dort sind praktisch alle Medien korrupt und viele haben Angst etwas anzuprangern. Hier in Europa ist es einfacher, eine Beschwerde einzureichen, Berichte, Ankündigungen und Enthüllungen zu machen, die dann bedeutende Auswirkungen auf unser Gebiet haben, als dies direkt in Brasilien zu versuchen, wo es fast keine Resonanz gibt. Die abgebauten Ressourcen gehen nach Europa, China, Deutschland, in die Vereinigten Staaten — diese erwerben immer mehr Mineralien und verbrauchen weiterhin mehr. Und wir bleiben zurück mit Hunger, Tod und Durst. Maranhão zum Beispiel ist einer der ärmsten Bundesstaaten Brasiliens und beherbergt eine der Städte, die an der Spitze der extremen Armut steht. Im Bundesstaat Pará gibt es mehr als 100 Tagebaue, darunter einen der größten der Welt. Aber wenn wir durch die Städte gehen, sehen wir Tausende von Menschen, die kein Dach über dem Kopf haben. Gleichzeitig sehen wir Züge mit einer Länge von drei oder vier Kilometern, die 24 Stunden am Tag fahren und Reichtümer transportieren.

Wie arbeitet ihr mit anderen Indigenen Völkern zusammen, die ebenfalls betroffen sind? Ich kann über mein Territorium sprechen, aber mir ist bewusst, dass nicht alle Territorien gleich sind. Wir, die Guajajara, haben eine sehr schwierige Phase in unserer Geschichte durchlebt. In unserem Territorium haben wir beschlossen, uns mit vier nahegelegenen Indigenen Territorien zu vereinen und eine Allianz zu bilden. Wir organisieren uns so, dass ein Territorium für alle spricht und alle für eines sprechen. Wenn wir ein neues Projekt suchen, tun wir das gemeinsam. Dank dieser Zusammenarbeit haben wir in den Territorien große Fortschritte erzielt. Wir konnten die familiäre Landwirtschaft stärken und sind heute in der Lage, Einkommen innerhalb unseres Territoriums zu generieren, ohne Wälder zu roden, Flüsse zu verschmutzen oder die Umwelt zu schädigen. Diese Erfahrung teilen wir nicht nur mit den vier Territorien der Allianz, sondern auch mit 17 weiteren Indigenen Territorien im Bundesstaat Maranhão. Unser Ziel ist es, diese Initiative auf andere Bundesstaaten auszuweiten. Darüber hinaus spielen die Guajajara eine entscheidende Rolle beim Schutz isolierter Indigener Völker. Die große Diskussion, die wir führen, geschieht in ihrem Namen. Im Fall der Awá respektieren wir ihr isoliertes Leben und vermeiden jeglichen Kontakt. Wir haben Wissen über die ungefähre Anzahl der Menschen, die in den Wäldern leben. Im Jahr 2015 wurde geschätzt, dass etwa 60 Personen dort lebten und heute glauben wir, dass diese Zahl deutlich höher ist. Unsere Arbeit hat dazu beigetragen, die Entwaldung in unserem Territorium um mehr als 85 bis 90 Prozent zu reduzieren. Unsere Arbeit dient dem Schutz des Territoriums, der Familien und aller, die vom Wald abhängig sind.


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Jeden Mittwoch am Kongress

Fotos: Alix Arnold

Im ersten Jahr der Regierung Milei haben Rentner*innen in Argentinien laut dem Internationalen Währungsfonds (IWF) mehr als ein Drittel ihrer Kaufkraft verloren. Gegen eine vom Parlament beschlossene Rentenreform, die einen Inflationsausgleich vorsah, legte Milei im August sein Veto ein. Dies war der Anlass für mehrere Demonstrationen von Rentner*innen, die von Polizei und Gendarmerie mit brutaler Gewalt angegriffen wurden.

Der nächste Schlag folgte Anfang Dezember. Die Gratismedikamente, die bisher allen Rentner*innen mit geringem Einkommen zustanden, bekommen nun nur noch diejenigen, deren Einkommen unterhalb der Mindestrente liegt. Sie müssen dafür komplizierte Anträge stellen, die für viele kaum zu bewältigen sind. Die Mindestrente beträgt knapp 300.000 Pesos, etwa 300 Euro, bei einem ähnlichen Preisniveau wie in Deutschland. Die Rentner*innen, die sich jeden Mittwoch am Kongress versammeln, mobilisierten deshalb am 4. Dezember zunächst zum PAMI, der Sozialbehörde, die für die medizinische Versorgung der Rentner*innen zuständig ist. Bei der Kundgebung, die von schwarz gekleideten Robocops auf dem Bürgersteig zusammengedrängt wurde, berichteten Betroffene über die grausamen Auswirkungen der neuen Regel: Sie müssen auf dringend benötigte Medikamente verzichten. Aufgrund dieser Dramatik kam es am nächsten Tag in Córdoba zu einer Verzweiflungstat. Ein Rentner überschüttete sich im PAMI-Büro mit Benzin und versuchte, sich anzuzünden.

In Buenos Aires machten sich die Rentner*innen nach der Kundgebung auf den Weg zum Kongress. Sie kamen durch, trotz vielfacher Behinderung durch die Robocops. Die Sympathie der Bevölkerung ist eindeutig auf ihrer Seite. Anfeuernde Rufe, solidarisches Hupen, Applaus von Angestellten der Cafés und Geschäfte, vorbeifahrende Müllarbeiter grüßten mit erhobener Faust. Die Rentner*innen antworteten mit der guten alten Parole von der Einheit der Arbeiter*innen.

“Die Rentner*innen zu beklauen, ist ein gesellschaftliches Verbrechen” Protest in Buenos Aires vs Robocop-Polizisten (Foto: Alix Arnold)

Bei den Mittwochsaktionen kommen verschiedene Gruppierungen zusammen, die über Parteien, Gewerkschaften oder Stadtteile organisiert sind. Eine der Aktivisten sind die Jubilados/as Insurgentes. Sie betonen ihre Unabhängigkeit von Parteien und Gewerkschaften. „Aufständisch ist ein Synonym für revolutionär“, sagt Ruben Cocurullo, der seit den Anfängen 2017 dabei ist. Eine Handvoll Rentner*innen machte damals die eigene Situation zum politischen Thema. Mit Flugblättern gingen sie jeden Montag zum PAMI, um dort mit den Rentner*innen zu reden. Da sich der landesweite Runde Tisch der Rentner*innen schon seit Jahrzehnten mittwochs am Kongress traf, gingen sie ebenfalls dort hin. Als ihre Gruppe auf 15 Personen angewachsen war, gaben sie sich den Namen Jubilados/as Insurgentes, „aufständische Rentner*innen“.

Die Pandemie war ein Rückschlag für die Organisierung, aber in der Gruppe gab es Leute mit Computerkenntnissen, und so begannen sie sich virtuell per Meet zu treffen. „Wir alle mussten Dinge lernen, von denen wir nichts wussten“, erzählt Ruben. „Aber wir sind auch bald wieder auf die Straße gegangen und zum Kongress.“ Dort schlug eines Tages jemand vor, eine Runde um den Kongress zu drehen, so wie die Madres, die Mütter der Verschwundenen, jede Woche die Pyramide auf der Plaza de Mayo umrunden. Ruben erinnert sich: „Manche fanden das verrückt, denn wir waren nur wenige, 20 oder 25. Aber wir hatten schon unsere selbstgemalte Fahne mit dem Namen und Schilder mit Forderungen. Wir haben es versucht, und es lief gut. Beim nächsten Mal sind wir nach der Runde auf der Straße geblieben und haben sie an der Ampel mit unseren Bannern blockiert. Bei jeder dieser Aktivitäten haben sich uns ein oder zwei Leute angeschlossen.“

Mit der Regierungsübernahme von Milei im Dezember 2023 verschärfte sich die Situation. Demonstrationen wurden zur Straftat erklärt, falls sie den Verkehr beeinträchtigen. Ab Anfang 2024 gab es heftige Auseinandersetzungen um das „Omnibus-Gesetz“, ein Gesetzespaket, mit dem sich Milei weitere Vollmachten sichern wollte (siehe LN 597). Die Jubilados/as Insurgenteswaren mit ihrem Banner für die Journalist*innen ein interessantes Motiv. Ruben berichtet von einer Demo im Februar: „Alle wollten uns fotografieren, da waren mindestens 50 Journalist*innen, die waren mehr als wir. Das wurde live im Fernsehen übertragen. Also sagte die Regierung der Polizei, sie solle die Presse vertreiben. Die sollte nicht mehr filmen, wie sie uns mit ihren Schilden gestoßen und mit Knüppeln geschlagen haben. Ich habe Tränengas abbekommen, eine compañera mit Asthma musste medizinisch versorgt werden. Mit diesen Bildern sind wir berühmt geworden! Darum geht es uns ja nicht, aber danach bekamen wir viele Mails, Leute wollten bei uns mitmachen. Unserem Facebookaccount folgten Mitte Februar schon 400 Leute, doppelt so viele wie Anfang Januar. Wenn sie uns einfach hätten demonstrieren lassen, wäre das nicht passiert.“

“Mit diesem Bildern sind wir berühmt geworden!”

Raúl Roverano kommt zu unserem Gespräch dazu. Er hat eine compañera begleitet, die aus Caleta Olivia im Süden stammt und wegen der Behandlung eines Krebsleidens in Buenos Aires ist. Raúl berichtet von ihrem Kampf gegen die Bürokratie des PAMI, um die Genehmigung der Operation und der Medikamente für die Chemotherapie durchzusetzen. Erst nachdem sie bis zum Chef der Behörde durchgedrungen waren, bekamen sie das Rezept. Raúl kritisiert die teils absurden Verfahren und das ganze System: „Die Rentenbehörden PAMI und ANSES müssten von den Rentner*innen und Arbeiter*innen verwaltet werden, nicht vom Staat, der das Geld für andere Dinge rauszieht.“ Die Medikamente seien schließlich nicht gratis, sondern von ihren Beiträgen bezahlt. Sie fordern, dass das PAMI die Bilanzen offenlegt. Die im Netz zugänglichen Daten seien nicht aktuell.

Auch Raúl gehört zu den ersten Mitgliedern der „Aufständischen“. Er fragt sich, warum sie mittwochs nur etwa 200 sind: „Bei all der Wut sollten wir dort mit Tausenden stehen!“ Aber er hat Verständnis für die Rentner*innen, denen es gesundheitlich und finanziell schlechter geht, und die es nicht auf die Straße schaffen. Raúl und Ruben arbeiten beide als Rentner noch weiter. Raúl war Ingenieur in der Atomindustrie. Ruben hat sich als Metallfacharbeiter nach zehn Fabrikjahren selbständig gemacht, er bekommt nur die Mindestrente. Er hat noch genügend Aufträge, um mit seiner Frau über die Runden zu kommen, aber sie müssen sich sehr einschränken. Kleidung kaufen oder die Kinder zu sich zum Essen einladen ist nicht mehr drin. Eine gemeinsame Forderung der Rentenproteste ist die Erhöhung der Mindestrente auf den Wert des Warenkorbes für einen älteren Erwachsenen. Das wäre fast eine Million Pesos, das Dreifache der jetzigen Mindestrente.

Das Demonstrieren ist schwierig geworden unter Milei. Viele haben im letzten Jahr Verletzungen davongetragen, und auch die vielen willkürlichen Festnahmen sollen einschüchtern. Im Juni 2024 wurden nach einer Demonstration gegen das „Omnibus-Gesetz“ 33 Menschen mit dem absurden Vorwurf des Terrorismus inhaftiert. Danach fanden deutlich weniger Demonstrationen statt.

Die Rentner*innen versuchen jeden Mittwoch, ein Stück Straße zurückzuerobern. Nach der Runde um den Kongress bleiben sie noch eine Zeitlang auf der Kreuzung, bewegen sich langsam von einer roten Ampel zur anderen, und blockieren damit wenigstens ein bisschen den Verkehr. Am 20. Dezember, dem Jahrestag des Aufstands von 2001, mit dem Argentinien damals ein Hoffnungsort der Linken wurde (siehe LN 335), gibt es eine Kundgebung auf der Plaza de Mayo. Das kleine Grüppchen der Aufständischen trifft sich auf der Avenida de Mayo und schafft es, fast einen Kilometer lang auf der Straße zu demonstrieren, bevor sie kurz vor dem Platz brutal auf den Bürgersteig abgedrängt werden.

Nur ein kleiner Landgewinn, aber er macht anderen Mut.

Ruben erzählt, dass sein Vater in den 1930er-Jahren aus Italien nach Argentinien kam, auf der Flucht vor dem Faschismus. Dass sie nun in Argentinien wieder gegen den Faschismus kämpfen müssen, macht ihn traurig und wütend. Aber die Rentner*innen von heute haben in jungen Jahren starke Klassenkämpfe und die Diktatur von 1976 bis 1983 erlebt. Von daher ist Ruben optimistisch: „Wir haben schon anderes gesehen. Wir lassen uns auch von dieser Diktatur nicht einschüchtern.“


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„Del Monte verletzt die Rechte der Bribri“

Vor der Botschaft von Costa Rica In Berlin protestiert CODIAW gegen Ananasplantagen (Foto: Paul Scheytt)

In kurzen Worten – wer sind die Bribri?

Lesner: Die Bribri sind die ursprünglichen Bewohner*innen des heutigen Costa Rica. Unsere Kosmogonie (Theorie zur Entstehung der Welt, Anm. d. Red.) sagt uns, dass unser Ursprung in der Hauptgebirgskette liegt, die heute Cordillera de Talamanca genannt wird. Es gibt heute vier Bribri-Territorien: Kekoldi, Alta Talamanca Bribri, Cabagra und Salitre. Das sind hispanifizierte Namen, in Bribri haben sie ihre eigenen Bezeichnungen. Wir sind ein matrilineares Volk. Das heißt, wir sind in Clans organisiert, die von Bribri-Müttern abstammen. Das ist die jahrtausendealte Art, wie wir uns organisieren. Ich habe zu ganz Costa Rica keine genauen Daten, aber ich weiß, dass wir ungefähr 1.800 Bribri im Territorium von Salitre sind, woher ich komme. Unsere Gemeinden, vor allem die im Süden, verteidigen seit vielen Jahren das Land und alle anderen Menschenrechte.

Bringt die Matrilinearität der Bribi auch heute noch eine besondere Rolle und Bedeutung der Frauen in den Gemeinden mit sich?

Natürlich! Die Erklärung liegt schon in der jahrtausendealten Kultur unserer Vorfahren, in unserer Schöpfungsgeschichte. Zum Beispiel das Mädchen Iríria, so nennen wir die Erde. Sie ist ein weibliches Lebewesen. Es gibt viele verschiedene solcher Wesen.
In unserer kulturellen Tradition hat die Frau wichtige Aufgaben, genauso wie der Mann. Ihre Aufgaben sind lebenswichtig, die meisten Zeremonien können ohne Frauen nicht durchgeführt werden. Auch im Prozess der Rückgewinnung unserer Territorien (siehe Infokasten) hatten die Bribri-Mütter eine Führungsrolle. Unser Land gehört, wenn man das so ausdrücken will, in erster Linie den Bribri-Müttern, also den Frauen. All das rührt von unserer Schöpfungsgeschichte her. Denn als der Schöpfer uns auf diese Welt brachte, hat er das in der Form getan, dass die Clanzugehörigkeit ausschließlich über die Mütter vererbt wird. Und heute versuchen wir unsere Kultur zu erhalten, unsere Existenz als Bribri zu bewahren. Zum Beispiel, indem wir Paare nur unter Bribri bilden.

Jetzt besuchen Sie das Gebiet der Kolonisator*innen, den europäischen Kontinent. Was ist das Ziel dieser Reise?

Vor allem geht es darum, dass wir schon seit langem mit einem Hindernis zu kämpfen haben, das darin besteht, dass Costa Rica international als „Grünes“ Land bekannt ist: als Land, das die Menschenrechte achtet, das unter dem Slogan pura vida („Pures Leben“) berühmt wurde und in dem alles auf dem Glück seiner Einwohner*innen basiert. Wir erleben als Indigene Gemeinschaften die Realität und wissen, dass dieses Image total falsch ist. Es hat uns daran gehindert, unsere Kämpfe, die Verteidigung der Erde, die Verteidigung unserer Rechte, bekannt zu machen. Deswegen ist das Hauptziel dieser Reise, unsere Kämpfe sichtbarer zu machen. Dann gibt es in jedem Land noch spezielle Themen. Im Fall von Deutschland ist das die Problematik, dass unsere Gemeinschaft von einem transnationalen Unternehmen, Del Monte, betroffen ist. Und Del Monte hat wiederum einen Bezug zur deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit. Deswegen hoffen wir, hier Druck aufbauen zu können, um die Invasion von Del Monte in unsere Territorien zu stoppen.

Costa Rica ist mit über zwei Millionen Tonnen jährlich der weltgrößte Exporteur von Ananas. Nahe an Salitre gibt es eine Kleinstadt, Buenos Aires. Auf Satellitenbildern im Internet ist gut zu sehen, dass sich von dort aus enorme Ananasplantagen in Richtung Salitre ausdehnen. Wie wirkt sich dieser massive Anbau auf die Bribri aus?

Die Situation mit Del Monte hat mehrere Auswirkungen auf unser Territorium. Ich denke, die wichtigste ist die Invasion in unser Territorium, die schon seit einigen Jahren andauert. Daraus entstehen weitere Probleme. 2014 haben wir zum Beispiel einen Teil unseres Territoriums, etwa 40 Prozent der geraubten Fläche, zurückerobert. Viele compañeros, die daran beteiligt waren, wurden wegen Landbesetzung angeklagt. Nach einem langen Verfahren stellte das Strafgericht fest, dass kein Delikt vorlag. Wir finden es unlogisch, dass wir Bribri strafrechtlich verfolgt werden, weil wir unser Land verteidigen und das Territorium in Besitz genommen haben, das uns seit jeher gehört.

Aber leider geht die Invasion weiter. Auf einem Teil unseres Territoriums wurden neben einem Wald Ananasplantagen angelegt. Und gleich danach beginnt die Savanne. Das ist eine sehr heikle Sache für uns, denn dort liegen unsere heiligen Stätten und die müssen unbedingt frei bleiben. Für uns ist das ein schwerer Eingriff. Es ist bekannt, dass wir den Wald viele, viele Jahre lang geschützt haben, denn wir Indigenen Völker schützen die Natur, die Erde, unsere Mitwelt. Umso beklagenswerter ist es, dass dort nun ein transnationales Unternehmen, übrigens auch gegen jegliche nationale und internationale Gesetzgebung, die Umwelt verseucht. Das deutlichste Beispiel für diese Verschmutzung sehen wir dort an einem kleinen Fluss. Dieser Bach ist so extrem verseucht, dass wir denken, der Schaden ist nicht mehr zu beheben.

Ein weiteres Problem besteht darin, dass viele Leute für Del Monte arbeiten müssen, weil es in unserem Territorium kaum andere Möglichkeiten für sie gibt. Sie werden ausgebeutet und bekommen Hungerlöhne. Nach Jahren der Schufterei werden die Arbeiter dann einfach entlassen, etliche mit Gesundheitsproblemen. Seit einigen Jahren beobachten wir das. Allem Anschein nach greift der übermäßige Einsatz von Agrochemikalien und Pestiziden die Gesundheit der Arbeiter an. In meiner Gemeinde gibt es mehrere Betroffene.

Wie schafft es das Unternehmen, auf den Bribri-Territorien Ananasplantagen anzulegen? Geht das über Dritte, benutzen sie Strohmänner?

Nein. Es ist so, dass jeder bei uns Del Monte kennt. Und den Leuten bleibt einfach nichts anderes übrig, dort die Arbeit anzunehmen, die es eben gibt. Und dann wird es schwierig. Sie haben keine andere Option und heuern dort an. Das nutzen dann Personen, die zum Unternehmen gehören, aus und sagen den Arbeitern, dass wir Rebellen seien, dass wir Landraub begehen und dass wir das nicht tun dürfen, weil doch Del Monte Arbeitsplätze schafft. Allerdings wissen wir, was für Arbeitsplätze das sind und kennen die Ausbeutung.

Und wie kommt Del Monte an das Land? Besetzen sie es einfach oder haben sie Papiere?

Das ist unterschiedlich. Meiner Auffassung nach hat Del Monte über die Jahre viel Land einfach besetzt, ohne jegliche Dokumente. Später haben sie dann Papiere vorgelegt, die beweisen sollen, dass diese Ländereien außerhalb des Bribri-Territoriums liegen würden. Das ist aber gesetzeswidrig und basiert nur darauf, dass die Regierung absichtlich bestimmte Landstücke außerhalb unseres Territoriums gelassen hat. Das rückgängig zu machen, gehört zu unseren Forderungen an den Staat Costa Rica. Papiere hin oder her, es ist doch bekannt, dass diese Ländereien schon immer zu unserem Territorium gehört haben. Sie lagen in unserem Territorium. Ich muss nicht einmal weit zurückgehen, um festzustellen, dass Buenos Aires in der Vergangenheit ein Ort der Zusammenkunft der in der Umgebung wohnenden Völker war. Aus unserer Sicht ist es total falsch, dass der Staat dieses Gebiet in einem absurden Verwaltungsakt aus unserem Territorium ausgegliedert hat. Und Del Monte nutzt das nun aus und sagt „Das gehört uns.“

Die deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) hat die vergangenen drei Jahre über das Projekt JUNTOS („Gemeinsam“) mit Fresh Del Monte Produce betrieben. Das Unternehmen wurde dafür mit dem Seal Business Sustainability Award für besonders nachhaltiges Wirtschaften ausgezeichnet. In eigenen Veröffentlichungen heißt es, dass Del Monte in Costa Rica die Biodiversität erhalte, dass Naturreservate erhalten würden, Wassereinzugsgebiete geschützt und rund um Bananen- und Ananasplantagen Bildungsprojekte für Gemeinden ins Leben gerufen würden. Was sagen Sie dazu?

Wir gehen von der Realität bei uns vor Ort aus. Im Kanton Buenos Aires, der zur Provinz Puntarenas gehört, sehen wir Hektar um Hektar Ananaspflanzungen, aber keine größeren Wald- oder Urwaldgebiete. Aufforstungen auch nicht. Keine Flächen, auf denen, sagen wir auf zehn Hektar, früher Ananaspflanzungen waren und nun ein neuer Wald wachsen könnte. Das wäre ideal. Aber das ist jahrelang nicht passiert und passiert immer noch nicht. Die Zahlen, die Del Monte angibt, müssen genau untersucht werden. Ich denke, sie könnten manipuliert sein.

Ananas oder anderes in Wassereinzugsgebieten zu pflanzen, ist übrigens gesetzlich verboten. Wir haben den Bach in unserem Territorium inspiziert, den ich zuvor erwähnt habe – die Ananaspflanzungen sind dort nicht weiter als zehn Meter entfernt. Wo bleibt da die Nachhaltigkeit? Wenn man an den Ananasplantagen entlanggeht, ist es dort unerträglich heiß. Außerdem wird auf den Plantagen viel verbrannt, was eine große Umweltverschmutzung verursacht. Ich denke, man muss sich mit der Realität auseinandersetzen und ein bisschen mehr forschen. Genau das haben wir vor.

Del Monte hat sogar in unserer Gemeinde Schilder mit seinem Schriftzug aufgestellt. Welche Beweise braucht es noch, um zu verstehen, dass sie unser Gemeindeland stehlen wollen? Sie verletzen die grundlegenden Menschenrechte der Bribri in Salitre. Wenn es stimmt, was ich sage oder es wenigstens Anlass zu Zweifeln gibt, dann sollte doch keine internationale Institution oder Körperschaft oder irgendwer sonst so ein Unternehmen prämieren.


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„Das Regime hat sein Machtmonopol weit konsolidiert“

Herr Simon, die Menschenrechtssituation in Nicaragua ist in den deutschen Medien kaum ein Thema. Sie haben als UN-Experte tiefere Einblicke. Wie ist die Entwicklung?
Die Menschenrechtssituation in Nicaragua hat sich weiter massiv verschlechtert. Das Regime hat sein Machtmonopol so weit konsolidiert, dass es heute mit subtileren Methoden als dem Verschwindenlassen von Aktivistinnen, der Ermordung von Studierenden und Menschenrechts­aktivistinnen wie 2018 und 2019 agiert. Die heutigen Methoden haben einen viel breiteten Grad an Wirksamkeit: Es werden Exempel statuiert an Personen, die sich kritisch äußern. Das letzte Beispiel ist das von Humberto Ortega, dem Bruder von Daniel Ortega, der unter Hausarrest gestellt wurde, weil er sich kritisch geäußert hatte.

Hat das Signalcharakter?
Ja, die Botschaft an das ganze Land und darüber hinaus ist deutlich: Auch Mitglieder der Familie Ortega, die sich kritisch äußern, können in den Fokus des Sicherheitsapparats geraten. Hintergrund ist, dass sich Humberto Ortega über die zunehmende Macht von Rosario Murillo, der Frau von Daniel Ortega und Vizepräsidentin des Landes geäußert und ihr abgesprochen hatte, Ortegas Nachfolgerin zu werden. Dies ist vor allem deswegen brisant, da es impliziert, dass es um Daniel Ortegas Gesundheitszustand schlecht bestellt ist.

Was sind die Szenarien im Falle des Todes von Ortega? Hat die internationale Gemeinschaft einen Plan B?
Nein, genau den scheint sie nicht zu haben. Niemand weiß, was passiert, wenn Ortega sterben sollte. Es könnte ein Machtvakuum entstehen, denn Nicaragua ist auf der einen Seite charakterisiert von bewaffneten, parastaatlichen Strukturen, auf der anderen steht die Armee und dazwischen die Nationale Polizei. Während die parastaatlichen Strukturen und die Polizei mehr und mehr unter die Kontrolle des Umfeldes von Rosario Murillo geraten sein sollen, gilt dies nicht für das Militär, jedenfalls nicht für die breite Masse. Hinzu kämen dann noch offenbar bewaffnete Gruppierungen aus dem ehemaligen Contra-Spektrum, die an der Grenze zu Honduras aktiv sein sollen.

Woher stammen Ihre Informationen? Stehen Sie und die Expertengruppe auf dem Index der Regierung Ortega?
Ja, wir können das Land nicht betreten. Die Regierung hat sich trotz mehrfacher Gesuche nie entsprechend geäußert. Wir beziehen unsere Informationen von außerhalb Nicaraguas. Mittlerweile befinden sich mehr als 20 Prozent der Bevölkerung, der 6,9 Millionen Menschen, außer Landes. Vor den Protesten von 2018 waren es lediglich zehn Prozent. Viele haben Informationen aus erster Hand. Und dann gibt es auch einige ehemalige Insider, die mit uns sprechen._

Welches sind die wichtigsten Instrumente des Machterhalts des Diktatoren-Ehepaares Murillo/Ortega?
In Nicaragua sind praktisch alle drei Staatsgewalten unter ihrer Kontrolle. Die letzten Rochaden an der Spitze des Obersten Gerichtshofes haben für persönliche Bindungen zur Familie Murillo gesorgt. Hinzu kommt, dass die Presse vollständig unter ihrer Kontrolle ist. Ein weiteres Kontrollinstrument ist die bürgernahe Polizei, die in den letzten 15 Jahren entstanden ist und vor allem lokal kontrolliert wird. Hinzu kommen Las Turbas, wie die parastaatlichen Verbände genannt werden, die für die Repression mitverantwortlich sind, oftmals lokal aus den Parteistrukturen heraus kontrolliert werden und das Regime stützen.

Es macht den Eindruck, dass das Regime in Nicaragua recht fest im Sattel sitzt. Warum greifen die internationalen Sanktionen nicht – wie finanziert sich das Regime?
Wirft man einen Blick auf die ökonomischen Strukturen, springt als erstes der hohe Anteil des Geldtransfers aus dem Ausland ins Auge. Die machen rund ein Drittel des Bruttosozialprodukts von rund 18 bis 20 Milliarden US-Dollar aus. Ein weiteres Drittel fällt auf den landwirtschaftlichen Sektor mit Kaffee, Zucker, Rindfleisch, Tabak und anderen Agrarprodukten. Eine weitere zentrale Einnahmequelle ist die Goldgewinnung: sowohl durch Unternehmen ausländischen Kapitals, als auch durch Unternehmen hinter denen Ortega und sein Umfeld stecken. Wenn man sich diese Daten genauer ansieht, dann stößt man darauf, dass mehr exportiert, als im Land gefördert wird – es wird vermutet, dass es sich unter anderem um Goldverkauf über Nicaragua aus dem venezolanischen Orinoco-Delta handelt. Die Verbindungen zur Regierung von Nicolás Maduro sind eng und auch an der Migration aus Venezuela und Kuba verdient das Regime Ortega mit. Dieser Zufluss von Mitteln lässt sich kaum kontrollieren und findet zumindest verdeckt im halblegalen und illegalen Raum statt.

Welche Rolle spielen Kredite internationaler Banken?
Eine sinkende, aber immer noch wichtige. Bislang deckten diese Kredite einen nicht unerheblichen Teil des Haushalts. Die Tendenz dürfte vor allem deswegen sinkend sein, weil die neue personelle Führung der wichtigen Zentralamerikanischen Bank für Wirtschaftliche Integration sich deutlich gegen eine Weiterfinanzierung ausgesprochen hat (siehe LN 598). Das dürfte sich in Nicaragua – nach Haiti das zweitärmste Land Lateinamerikas– bald bemerkbar machen.

Berücksichtigt die Bundesregierung Ihre Berichte über die Menschenrechtssituation in Nicaragua für ihre Asylverfahren ausreichend?
Auffällig ist, dass unsere Berichte zwar von der Bundesregierung zur Kenntnis genommen, aber scheinbar nicht herangezogen werden, wenn es um die Asylverfahren geht. Die Zahl der Bewilligungen liegt unter zehn Prozent – das ist deutlich weniger als in den USA und Costa Rica, wo sich die Masse der Geflüchteten befindet. Aus meiner Perspektive sind diese Anerkennungszahlen skandalös. Sie sind nicht zu rechtfertigen, denn ich weiß, dass in dem Referenzmaterial, auf dessen Basis die Bescheide erstellt werden, auch unsere Berichte enthalten sind. Ich frage mich, warum die Ablehnungsquote trotzdem so hoch ist.


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Überraschender Schritt nach vorn

Heute noch Tourismusort Nach der Teileinteignung soll in der heutigen Villa Baviera eine Gedenkstätte eingerichtet werden (Foto: Ute Löhning)

Lange schien es, als verliefen die Planungen für eine Gedenkstätte in der ehemaligen Colonia Dignidad im Sande. Doch nun ist Bewegung in die Sache gekommen: Überraschend kündigte Chiles Präsident Gabriel Boric am 1. Juni in seiner Regierungserklärung die geplante Teilent­eignung der ehemaligen deutschen Sektensiedlung an.

Vor dem versammelten Parlament erklärte er, „Menschenrechte und Erinnerungskultur sind eine Herausforderung, die keine Grenzen kennt“, und führte aus, dass die Regierungen von Chile und Deutschland seit vielen Jahren gemeinsam daran arbeiteten, das „frühere Gelände des Terrors und des Todes in einen Ort der Erinnerung und der Zukunft zu verwandeln“. Als Ergebnis dieser Kooperation habe die chilenische Regierung Ende Mai einen Prozess zur Enteignung von Teilen des Geländes der Ex Colonia Dignidad in Gang gesetzt. „Wir machen jetzt einen großen Schritt auf dem Weg zu einem Gedenkort und senden aus Chile und Deutschland gemeinsam die Botschaft des ‚Nie Wieder‘ in die Welt“, so Boric unter lautem Applaus und Nunca Más („Nie wieder“)-Rufen der chilenischen Abgeordneten.

1961 hatte eine Gruppe von Deutschen rund um den pädophilen Laienprediger Paul Schäfer die sektenartige Gemeinschaft in einem entlegenen Andental, 400 Kilometer südlich der chilenischen Hauptstadt Santiago, gegründet. Zwangsarbeit und sexualisierte Gewalt waren dort alltäglich, bundesdeutsche Behörden unterbanden die Verbrechen nicht. Während der chilenischen Diktatur kooperierte die Sektenführung eng mit dem Diktatur-Geheimdienst DINA, der dort ein Gefangenen- und Folterlager errichtete. Etwa hundert politische Gefangene wurden in der Colonia Dignidad ermordet und verscharrt, später ausgegraben und verbrannt – sie gelten noch immer als Verschwundene. Vor der deutschen Justiz blieben die Verbrechen der Colonia Dignidad allesamt straflos. Trotz jahrzehntelanger strafrechtlicher Ermittlungen wurde nie Anklage erhoben, es kam zu keinem einzigen Strafprozess (siehe LN 540).

In der deutschen Siedlung, die inzwischen Villa Baviera heißt und als Firmenholding privater Aktiengesellschaften organisiert ist, leben derzeit rund 130 Personen. Sie betreiben Forstwirtschaft, Hühnerfarmen, Immobilienunternehmen, Landwirtschaft und – für die Angehörigen der Verschwundenen besonders verletzend – einen Hotel-Restaurant-Betrieb in bayerischem Stil auf dem Gelände. Einen Gedenkort gibt es bislang nicht. Angehörige von Verschwundenen und Menschenrechtsgruppen organisieren seit Jahren Gedenkveranstaltungen und Proteste. Sie fordern Aufklärung, einen Ort zum Trauern und den Stopp des Tourismus.

Im Juni war Gabriel Boric auf Deutschlandbesuch. Währenddessen präsentierte Bundeskanzler Olaf Scholz Deutschland in der Angelegenheit der Gedenkstätte als Partner: „Ich habe Präsident Boric meinen vollen Respekt und meine Unterstützung für die chilenische Entscheidung versichert (…). Ich würde mich freuen, wenn dieser Prozess jetzt Fahrt aufnimmt“, erklärte Scholz, denn die Bundesregierung stehe „weiter als Partner bereit, einen Beitrag für ein solches Gedenk- und Dokumentationszentrum zu leisten“.

Der Forscher und Colonia Dignidad-Experte Jan Stehle begrüßt die Enteignungsinitiative als konkreten Schritt hin zu einer Gedenk-, Bildungs- und Dokumentationsstätte. Es dürfe jedoch nicht bei Willensbekundungen bleiben. „Beide Staaten tragen Mitverantwortung für die jahrzehntelange Verbrechensgeschichte und stehen bei der Aufarbeitung gleichermaßen in der Pflicht“, so Stehle.
2016 hatte sich Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier – damals als deutscher Außenminister – selbstkritisch zu einer moralischen Verantwortung Deutschlands bekannt. 2017 beschloss der Bundestag, die Bundesregierung solle die Verbrechen der Colonia Dignidad aufklären. Seit 2017 tagt eine chilenisch-deutsche Regierungskommission mit dem Ziel der Errichtung einer Gedenkstätte und eines Dokumentationszentrums.

Im Auftrag dieser „Gemischten Kommission“ erstellten deutsche und chilenische Expert*innen 2021 ein Konzept für eine Gedenkstätte. Sie wiesen historisch relevante Orten aus, die für die Unterdrückung verschiedener Opfergruppen stehen und an denen Ausstellungen die Geschichte und das Leid der verschiedenen Opfergruppen abbilden sollen. Dazu gehört der sogenannte Kartoffelkeller, wo politische Gefangene gefoltert wurden, sowie das frühere Wohnhaus von Paul Schäfer, wo dieser Kinder vergewaltigte, ebenso das jetzige Restaurant und Hotel, wo Bewohner*innen der Siedlung Prügel und Demütigung ausgesetzt waren und auch das Krankenhaus, wo Menschen mit Psychopharmaka und Elektroschocks misshandelt wurden. Der jetzige Enteignungsprozess umfasst all diese Gebäude.


Die Meinungen der Bewohner*innen sind ambivalent

Die Leiterin der Gedenkstätte Bergen-Belsen, Elke Gryglewski, ist eine der Autor*innen des Gedenkstättenkonzepts. Sie hält die Erklärung von Präsident Boric für „einen sehr wichtigen Schritt, weil er die Entwicklung hin zu einer Gedenkstätte am historischen Ort positiv beeinflussen kann“. Seit zehn Jahren führen sie und andere Expert*innen Dialogseminare mit verschiedenen Betroffenengruppen durch. Die Workshops und Diskussionen haben zur Annäherung der sich früher feindlich gesinnten Gruppen der Angehörigen der Verschwundenen und der Siedlungsbewohner*innen geführt und zu einem weitgehenden Konsens für die Errichtung einer Gedenkstätte beigetragen. „Damit man das Potential der erreichten Arbeit der letzten Jahre auch für diese Entwicklung nutzen kann“, sollten jetzt möglichst bald Gespräche mit den heutigen und den ehemaligen Bewohner*innen der Villa Baviera und auch mit den anderen Opfergruppen geführt werden, so Gryglewski.

In Chile zeigten sich Verbände von Angehörigen von Verschwundenen erfreut. „Zum ersten Mal greift eine Regierung unsere Forderungen auf“, heißt es in einer Erklärung von drei Gruppen aus der Region. Gleichzeitig kündigen sie an, den Prozess aufmerksam zu beobachten und fordern, daran beteiligt zu werden. Es dürfe keine Zeit mehr verloren werden, denn viele Angehörige von Verschwundenen sind bereits verstorben.


Ein Konzept für die Gedenkstätteliegt auf dem Tisch


Die Meinungen der Bewohner*innen der Villa Baviera sind ambivalent. Die Vereinigung für Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und Würde der Ex Colonos (ADEC), in der sich einige frühere und jetzige Bewohner*innen der deutschen Siedlung (auch Colonos genannt) zusammengeschlossen haben, dankt Boric für die Initiative, die sie als einen „symbolischen Akt der immateriellen und moralischen Wiedergutmachung und eine Anerkennung aller Opfer der Ex Colonia Dignidad“ bezeichnet. Manche Bewohner*innen sorgen sich jedoch darum, ob sie oder andere ihre Wohnung verlieren oder das Gelände verlassen müssen. ADEC fordert daher, eine Enteignung dürfe keinesfalls bedeuten, „diejenigen Bewohner zu vertreiben, die heute in Villa Baviera leben und versuchen, ihr beschädigtes Leben wieder aufzubauen“.

Auch der Leiter der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, Jens-Christian Wagner, ist einer der Autor*innen des Gedenkstättenkonzepts. Für ihn kam die Ankündigung der geplanten Enteignung überraschend. „Noch kurz vorher hatte es seitens der chilenischen Regierung geheißen, dass erst einmal ein allgemeines Gedenkstättenkonzept für Chile erarbeitet werden solle“, erklärt er und ergänzt, insgesamt könne er sich „des Eindrucks nicht erwehren, dass die chilenische Regierung etwas erratisch agiert.“

Zwar hatten sich Boric und Scholz schon Anfang 2023 für eine Gedenkstätte ausgesprochen. Dennoch schien die Aufarbeitung auch wegen komplexer Enteignungs- und Entschädigungsfragen lange blockiert. Dahinter steht die Frage, wie verhindert werden kann, dass staatliche Gelder an Personen gezahlt werden, die für Leid und Ausbeutung in der Colonia Dignidad verantwortlich sind. Chile habe die Möglichkeiten für eine Enteignung geprüft, sagte der chilenische Justizminister Luis Cordero, der Boric im Juni auf seiner Deutschlandreise begleitete. Überall auf der Welt werden Entschädigungszahlungen an die früheren Eigentümer gezahlt, ergänzt er. Aber im Fall der Colonia Dignidad handele es sich um ein Geflecht von Aktiengesellschaften. „Die Colonos haben uns den Zugang zu relevanten Informationen bisher verweigert“, erklärt Cordero. „Im Zusammenhang mit der Enteignung müssen wir nun genaueren Einblick in die ökonomische Struktur bekommen. Diese Struktur zu untersuchen und zu verstehen, wer deren Nutznießer sind, ist auch eine Aufgabe der Gemischten Kommission.“

Die Aufklärung und Umstrukturierung der Eigentumsverhältnisse der Villa Baviera ist nicht nur für die Errichtung einer Gedenkstätte relevant, sondern auch für die zukünftige Verfasstheit der Villa Baviera, wo nur wenige Personen leitende Positionen der Aktiengesellschaften halten und Macht und Vermögen besitzen. Im März hatte eine Gruppe, die sich selbst als „empörte Colonos“ bezeichneten, auf der Zufahrtsstraße zur Villa Baviera für die Zuteilung von Land und Nachzahlung von Löhnen demonstriert. Nach Angaben des Rechtsanwalts Winfried Hempel haben Leitungspersonen der Villa Baviera Strafanzeigen gegen die an den Protesten Beteiligten gestellt.

Für Wagner ist Borics Ankündigung einer Enteignung „natürlich eine gute Nachricht, wenngleich ich mir gewünscht hätte, dass man die Bewohnerinnen und Bewohner der Colonia Dignidad und auch die Verbände der chilenischen Folteropfer und auch der Verschwundenen vorher informiert hätte“. Nun komme es darauf an, die weitere Entwicklung in Abstimmung mit den Betroffenen innerhalb und außerhalb der heutigen Villa Baviera zu gestalten. „Ein Konzept liegt ja auf dem Tisch, nämlich das von uns vier chilenischen und deutschen Expert*innen erarbeitete Empfehlungspapier, und das muss nun umgesetzt werden.“

Der Leiter der Menschenrechtsabteilung im chilenischen Außenministerium, Tomás Pascual, erklärt, Chile werde nun eine Trägereinrichtung gründen, die die Umsetzung der Gedenkstätte übernehmen soll. Den Regierungen von Boric und Scholz bleibt nur noch ein gutes Jahr ihrer Regierungszeit, um ihre Ankündigungen tatsächlich umzusetzen.


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Gretchenfrage Goldmine

Menschenrechtsverletzungen registrieren Anhöhrung einer Gemeinde im Gebiet des Xingu-Flusses (Foto: Verena Glass)

Verena, Du bist gerade erst von der Delegationsreise zum Xingu-Fluss zurückge­kehrt. Was hattest Du für einen Eindruck von der Situation in dem Gebiet der geplanten Goldmine?
Die Lage in der Region ist sehr angespannt. Belo Sun will in der Volta Grande do Xingu (Große Schleife des Xingu, Anm. d. Red.) die größte brasilianische Goldmine unter freiem Himmel bauen. Das ist ein 100 Kilometer langer Abschnitt des Flusses Xingu, in dem die brasilianische Regierung bereits das Wasserkraftwerk Belo Monte gebaut hat – mit enormen Auswirkungen auf die traditionellen und indigenen Gemeinden sowie auf die Umwelt. Die indigene Gemeinde São Francisco, die noch nicht juristisch anerkannt ist, soll ihr Land verlieren und die Menschen vertrieben werden. Außerdem will sich Belo Sun das Land von Kleinbauern aneignen, die in der Agrarreformsiedlung PA Ressaca (Projeto de Assentamento Ressaca, Anm. d. Red.) leben. Aus Protest hat eine Gruppe von landlosen Familien ein Camp innerhalb der Siedlung errichtet. Und nicht zuletzt behauptet das Unternehmen, es habe von einem Großgrundbesitzer das Land der Gemeinde Vila Ressaca „gekauft“. Dort leben rund 200 Familien, die aus ihren Häusern vertrieben werden sollen.

Übt Belo Sun Gewalt gegen die Menschen der Region aus, um sie zu vertreiben?
Charakteristisch für die Gemeinde Vila Ressaca ist, dass ein Großteil der Bewohner vom traditionellen Goldschürfen lebt, bei dem das Gold aus der Oberfläche des Bodens gewonnen wird, indem man die Erde mit sehr einfachen Werkzeugen siebt. Als Belo Sun in die Region kam, hat sie den traditionellen Goldschürfern verboten zu arbeiten, was sehr viel Armut und Unfrieden gestiftet hat. Belo Sun hat dann eine Sicherheitsfirma namens Invictus unter Vertrag genommen. Deren Mitarbeiter tragen Waffen, schüchtern die Bewohner von Vila Ressaca ein, dringen in das Camp der Landlosen ein, zerstören Baracken, halten Personen auf der Straße an und überwachen alles. Als wir Ende Mai mit der Nationalen Kommission zur Eindämmung der Gewalt auf dem Land in das Gebiet reisten, um die Aussagen der bedrohten Personen und die Anzeigen gegen Belo Sun wegen Menschenrechtsverletzungen aufzunehmen, hat ein Fahrzeug von Invictus sogar die Arbeit der Regierungsmitglieder überwacht. Bewaffnete haben auch das Camp der Landlosen angegriffen, auf die Familien geschossen und versucht, Feuer in den Baracken zu legen.

Ist das Projekt der Goldmine eine Folge der Politik der Regierung Bolsonaro?
Tatsächlich hat Belo Sun bereits 2013 von der Landesregierung von Pará die erste Umweltgenehmigung erhalten. Der damalige Gouverneur ist heute Mitglied derselben Partei wie Bolsonaro. Die Bundesanwaltschaft, die für den Schutz der indigenen und traditionellen Völker verantwortlich ist, hat diese Genehmigung juristisch angefochten. 2017 wurde sie Belo Sun gerichtlich entzogen, weil das Unternehmen keine einzige Studie zu den Auswirkungen der Mine auf die indigenen Gemeinden der Arara und Juruna in der Volta Grande do Xingu durchgeführt hat. Die Regierung Bolsonaro hat Teile der Agrarreformsiedlung PA Ressaca, deren soziale Funktion die Produktion von Nahrungsmitteln durch Kleinbauern ist, für das Schürfen von Gold hergegeben. Die Goldmine wurde als nationales Projekt von prioritärer Bedeutung betrachtet. Ende 2023, bereits unter der Regierung von Lula, hat die Justiz allerdings entschieden, dass die Umweltgenehmigung für die Mine nicht von der Landesregierung von Pará, sondern vom nationalen Umweltinstitut Ibama ausgestellt werden muss. Das war für die bedrohten Gemeinden eine sehr positive Entscheidung.

Sicherheitsfirma Invictus: Beobachtet die Delegation bis die Bundespolizei sie vertreibt (Foto: Verena Glass)

Wer hat denn heute das größte Interesse daran, dass dieses Projekt durchgesetzt wird?
Der Bürgermeister der Gemeinde, in der die Mine gebaut werden soll, und der Gouverneur des Bundesstaates Pará. Denn sie würden sehr viel Geld aus den Royalties (Gebühren für den Abbau, Anm. der Red.) für die Goldschürfung erhalten. Diese Gebühren werden nicht für Pflichtausgaben eingesetzt und sind auch nicht Teil des städtischen oder des Landeshaushalts. Das Geld könnte ohne genaue Kontrolle ausgeben werden. Allein der Bürgermeister würde umgerechnet rund drei Millionen Euro im Jahr von Belo Sun erhalten.

Wie schätzen die sozialen und ökologischen Bewegungen denn die Umweltschäden durch die Goldmine ein?
Belo Sun möchte die Goldmine in einer Region errichten, die bereits schwer durch das Wasserkraftwerk Belo Monte geschädigt ist. Bis zu 80 Prozent des Flusswassers leitet Belo Monte heute durch die Turbinen. In der Volta Grande do Xingu gibt es fast keine Fische mehr und aus Wassermangel vertrocknen die Pflanzen. Hier will Belo Sun zwei Gruben von 200 Metern Tiefe ausheben, Berge aus Abraum von mehr als 100 Metern Höhe errichten sowie ein großes Staubecken für die teils giftigen Rückstände der Goldgewinnung bauen. Auf 2.428 Hektar soll dafür der Wald abgeholzt werden. Der tägliche Wasserverbrauch der Mine wäre so hoch, dass er ausreichen würde, um eine Stadt mit 45.000 Bewohner*innen zu versorgen. Die Region würde an dieser Mine zugrunde gehen.

Wie groß sind die Chancen, dieses Megaprojekt noch zu stoppen?
In der Region wird der Widerstand der Bevölkerung, mit der wir als Bewegung Xingu Vivo zusammenarbeiten, immer stärker – das ist sehr wichtig. Durch den Regierungswechsel haben wir einen besseren Dialog mit den zuständigen staatlichen Institutionen und es gibt Signale, dass die Ibama keine Umweltgenehmigung für die Goldmine erteilen wird. Wir haben außerdem unsere internationalen Partner mobilisiert und Belo Sun bei verschiedenen internationalen Instanzen angeprangert. Deshalb haben wir Hoffnung, dass wir das Projekt noch verhindern können.

Präsident Lula hat im Wahlkampf betont, dass er seit seiner letzten Amtszeit hinzugelernt habe: über Ökologie, über die Rechte der indigenen Völker. Er hat die Versöhnung von Ökonomie, Ökologie und Sozialen versprochen. Hält er dieses Versprechen?
Das ist eine sehr komplexe Frage. Es gibt ja nicht nur die Regierung, sondern auch das Parlament, in dem die extreme Rechte sehr stark ist. Der Kongress hat verschiedene Gesetze erlassen, die die Rechte der indigenen Völker verletzen. Hinzu kommen die Ministerien, die sich teilweise gegenseitig bekämpfen. Das Ministerium für Landwirtschaftliche Entwicklung oder das Umweltminis­terium zeigen eine gewisse Sensibilität für unsere Anliegen, andere Ministerien sind noch in der Hand der Rechten. Ich glaube aber nicht, dass sich die Einstellungen von Lula sehr geändert haben. Im Mittelpunkt seiner Politik steht immer die Frage der Regierbarkeit. Das bedeutet, dass die Regierung die Zufriedenheit der Agrarindustrie sicherstellen muss. Denn das Bruttoinlandsprodukt wuchs 2023 vor allem durch das Wachstum der Agrarindustrie und des Bergbaus um drei Prozent.

Gibt es auch positive Entwicklungen?
Ja, das Ibama ist deutlich gestärkt worden. Zum Beispiel werden Eindringlinge in indigene Territorien jetzt vom Ibama aus diesen entfernt. In Bezug auf die Agrarreform gab es bisher keine großen Fortschritte. Bei der juristischen Anerkennung indigenen Landes gab es nur minimale Fortschritte. Die soziale Agenda auf dem Land hat für diese Regierung zwar offiziell Priorität, oft aber nur auf dem Papier. So sind die Einschätzungen der Bewegungen sehr ambivalent: Ist es eine bessere Politik als unter Bolsonaro? Ja. Ist es eine gute Politik gemessen an unseren Forderungen? Nein!


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Das Recht zu trauern

Patty, Menschenrechts
verteidigerin, Mutter Patricia Cuéllar mit ihrem Sohn Javier
 Anfang der 1980er Jahre (Foto: privat)

Patricia Cuéllar verließ ihr Haus in San Salvador an einem Mittwochmorgen. Es war der 28. Juli 1982. Sie brachte ihre drei kleinen Kinder Maite, Javier und Gabriela in die Kita. Am Abend erhielt Patricias Vater Mauricio einen Anruf: Die Kinder warteten noch, niemand hatte sie abgeholt. Er wusste sofort, dass etwas nicht stimmte, holte die Kinder ab und ließ sie bei seiner Schwester, Patricias Tante. Einige Stunden später stürmten staatliche Sicherheitskräfte sein Haus, durchsuchten sein Schlafzimmer und nahmen ihn und Julia Orbelina Pérez, eine Hausangestellte, gewaltsam mit. Julia Orbelina hatte nur eineinhalb Monate im Haus der Familie Cuéllar gearbeitet. Niemand hat Patricia, Mauricio oder Julia Orbelina je wieder gesehen.

Patricia, Patty, war meine Tante. Sie ist meine Tante. Sie wäre meine Tante gewesen, wenn der salvadorianische Staat nicht entschieden hätte, sie zu verschleppen, foltern, ermorden und dann ihr Schicksal zu verbergen.

Urteil nach 42 Jahren

Am 16. Mai 2024 verkündete der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte (CIDH) sein Urteil im Fall Cuéllar Sandoval et al. gegen El Salvador. Der salvadorianische Staat wurde für das gewaltsame Verschwindenlassen von Patty, Mauricio und Julia Orbelina verantwortlich gemacht. Das Urteil kam 42 Jahre nach dem Verbrechen und fast 21 Jahre, nachdem unsere Familie Anzeige wegen gewaltsamen Verschwindenlassens erstattet hatte.

Patricia, Mauricio und Julia Orbelina waren drei von circa 8.000 Menschen, die in den brutalen Jahren des salvadorianischen Bürgerkriegs Opfer von Verschwindenlassen wurden. 1982 lief der Konflikt in El Salvador bereits zwei Jahre, das Friedensabkommen zwischen dem salvadorianischen Staat und der Guerilla kam erst zwölf Jahre später. In diesen zwölf Jahren kamen mindestens 75.000 Menschen ums Leben.

Als sie entführt wurde, war Patricia nur 24 Jahre alt, aber schon lange in christlichen Solidaritätsbewegungen aktiv. Durch ihren Aktivismus kam sie 1979 an eine Stelle im Büro des Socorro Jurídico del Arzobispado (Rechtshilfe des Erzbistums), einer an die katholische Kirche angedockten Menschenrechtsorganisation. Der Socorro wurde 1977 vom damaligen Erzbischof von San Salvador – heute Märtyrer und Heiliger – Óscar Arnulfo Romero gegründet, um Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren und juristische Unter­stützung für Opfer von Übergriffen staatlicher Sicherheitskräfte zu leisten.

Die Nähe zu sozialen Bewegungen reichte damals schon aus, um ins Fadenkreuz der Regierung zu geraten. Bereits im Jahr 1978 meldete Patty staatliche Verfolgung: Etwa 50 Polizisten in Zivilkleidung hatten ihr Haus durchsucht. Zwei Jahre später, im Juli 1980, drang die Militärpolizei in die Büros des Socorro ein. Einige Monate zuvor, am 24. März desselben Jahres, war Erzbischof Óscar Romero ermordet worden, weil er sich gegen die zunehmende Repression einsetzte. Bei der Razzia im Juli nahmen die Agenten die Ermittlungsakten zu Romeros Ermordung mit, um die staatliche Verwicklung darin zu vertuschen.

Patty beschloss daraufhin, den Socorro zu verlassen, um ihre Familie zu schützen. Doch die Drohungen hörten nicht auf. 1981 drangen Angehörige der Armee in ihr Haus ein und fragten nach der „Kommunistin“ Patricia Cuéllar. Noch am Tag vor ihrem Verschwinden verfolgten fremde Männer ihr Auto durch die Straßen von San Salvador. Diese Geschehnisse weisen ausreichend klar darauf hin, dass es staatliche Sicherheitskräfte waren, die Patty und später Mauricio und Julia Orbelina entführten, so beschloss es der Interamerikanische Gerichtshof am 16. Mai 2024. Es sei ebenfalls eindeutig, dass die Verfolgung politisch motiviert war. Daher betont das Urteil, dass der Staat Pattys Recht, Menschenrechte zu verteidigen, verletzt habe.

In den vier Jahrzehnten nach ihrem Verschwinden sah Francisco Álvarez, Paco, ehemaliger Partner von Patty, sich gezwungen, den Fall selbst zu untersuchen. Direkt nach den Entführungen ging er zum Socorro, zur Presse und zur Polizei, um herauszufinden, wo Patty, Mauricio und Julia Orbelina festgehalten wurden. Der Staat leugnete seine eigene Beteiligung seit jeher. Ab August 1982 wurde der Fall als „Entführung“ untersucht, 1983 jedoch aus angeblichem Mangel an Beweisen für abgeschlossen erklärt.

Beweissammlung auf eigene Faust

Paco hat damals nicht aufgegeben. Er sammelte Beweise und Namen von Verdächtigen. Zusammen mit weiteren Mitgliedern unserer und Julia Orbelinas Familien sowie dem Menschenrechtsinstitut der Zentralamerikanischen Universität José Simeón Cañas (IDHUCA) erstattete Paco 2003 bei der salvadorianischen Generalstaatsanwaltschaft Anzeige wegen gewaltsamen Verschwindenlassens. Die Untersuchung steckt nach zwei Jahrzehnten noch immer in der Vorphase der Ermittlungen. Mit dieser Nachlässigkeit verletzt der Staat das Recht unserer Familie sowie der Familie von Julia Orbelina darauf, die Wahrheit über das Schicksal unserer Angehörigen zu erfahren.

Im November 2023 erklärte Paco während einer Anhörung des Prozesses vor dem CIDH, Patty und er hätten sich damals getrennt, weil sie schon vorhersehen konnten, dass eine*r der beiden ermordet werden würde. „Manchmal frage ich mich, ob mein Tod einfacher gewesen wäre”, gab er zu. Für seine Kinder sei es unerträglich gewesen, „eine Leere zu haben; eine Mutter zu haben, die physisch nicht existiert.“

Die Ungewissheit bleibt

Familien wie meine werden wahrscheinlich für immer in Ungewissenheit leben müssen. Patty, Mauricio und Julia Orbelina sind nicht tot – doch auch nicht am Leben. Der salvadorianische Staat raubte uns das Recht zu trauern. Wir halten an der Hoffnung fest, die Wahrheit zu erfahren. Was uns dabei begleitet und tröstet, ist der Kampf für die Nicht-Wiederholung: Niemand sollte spurlos verschwinden, weil er*sie an Gerechtigkeit glaubt.


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// Ausnahmezustand als neue Norm

Erst Anfang Mai hat Ecuadors Präsident Daniel Noboa als Antwort auf die herrschende Gewaltkrise im Land einen neuen Ausnahmezustand in mehreren Provinzen erklärt. Auch in Haiti, Argentinien, Honduras und Chile gelten unter Regierungen unterschiedlicher politischer Couleur derzeit Notstandsregelungen, zumindest in Landesteilen. Unrühmlicher Vorreiter dieser neuen Welle von Ausnahmezuständen in Lateinamerika ist der salvadorianische Präsident Nayib Bukele.

Es begann Ende März 2022 mit dem blutigsten Wochenende, das es in El Salvador je zu Friedenszeiten gegeben hat: In nur drei Tagen ermordeten Gangmitglieder mindestens 87 Menschen. Daraufhin ersuchte Präsident Bukele den von seiner Partei Nuevas Ideas kontrollierten Kongress um die Verhängung extremer Maßnahmen, die laut Verfassung lediglich für Fälle von Krieg, Katastrophen und schweren Störungen der öffentlichen Ordnung vorgesehen sind. Der Ausnahmezustand sollte eigentlich nur für dreißig Tage gelten, ist jetzt aber bereits seit über zwei Jahren in Kraft. Bukeles Massengefängnisse sind inzwischen weltweit bekannt. Seit 2022 haben die staatlichen Sicherheitskräfte nach offiziellen Angaben über 75.000 Menschen verhaftet. Mindestens 239 Menschen sind in den überfüllten Gefängnissen gestorben, viele davon ohne jemals vor Gericht gestellt worden zu sein und mit klaren Folterspuren am Körper.

Während ein großer Teil der Bevölkerung Bukele als starken Mann und autoritären Anführer feiert, vermarktet sein Kommunikationsteam den Rückgang der Kriminalität weltweit als „Modell Bukele“. In Ecuador bereits mit Erfolg – weitere Länder könnten nachziehen. Die Folgen einer „Bukele-Welle“ wären fatal, denn Ausnahmezustände sind für punktuelle Krisenüberwindung gedacht. Wenn jedoch ein nicht enden wollender Ausnahmezustand wie in El Salvador von einer autoritären Regierung zur Sicherung und Ausweitung ihrer Macht eingesetzt wird, sind die Folgen für die Rechtsstaatlichkeit und die Menschenrechte der Bürger*innen gravierend.

An dieser Entwicklung ist der Wirtschaftsimperialismus Deutschlands und anderer Länder des globalen Nordens mitverantwortlich: Er befördert die weltweite Durchsetzung kapitalistischer, neoliberaler Strukturen durch Freihandelsabkommen und die Stabilisierung des extraktivistischen Wirtschaftsmodells. Europäische, transnationale Unternehmen setzen ihre Marktmacht hier wie dort ein, um Druck auszuüben und auf Politik in ihrem Interesse hinzuwirken. So wird die in Lateinamerika ohnehin hohe Ungleichheit weiter verstärkt, die folgende Chancenlosigkeit führt zu mehr Kriminalität und entsprechenden Sicherheitsproblemen. Diese dienen dann als Rechtfertigung für den Ausnahmezustand, den autoritäre Regierungen wiederum als Vorwand nutzen, um weitere neoliberale und antidemokratische Reformen voranzutreiben – eine verhängnisvolle Abwärtsspirale.

Beim Thema Ausnahmezustand sollten auch hierzulande Alarmglocken klingeln: Auch in Deutschland wurde in den 1930er Jahren schon einmal durch einen permanenten Ausnahmezustand eine Demokratie abgeschafft. Heute werden Demokratien in ganz Europa immer fragiler, rechtspopulistische und faschistische Parteien vernetzen sich weltweit – darunter die AfD. Sie wollen demokratische Institutionen aushöhlen und autoritäre Regime errichten. Die Linke ist dem gegenüber gefragt, sich selbst stärker zu vernetzen und alternative Strategien gegen die Ursprünge der eskalierenden Gewalt anzubieten. Die wenigen Gemeinden El Salvadors, in denen Ganggewalt konsequent abgewehrt werden konnte, weisen einen besonders ausgeprägten sozialen Zusammenhalt auf. Neben dem grundlegenden Kampf gegen Ungleichheit muss also ein weiterer Fokus darauf liegen, soziale Strukturen zu stärken.


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Eine Fabrik von Schuldigen

Triste Nachbarschaft Julia lebt neben dem Gefängnis El Almate, um ihren Mann zu besuchen (Foto: Anne Haas)

„Immer wenn ich das erzähle, muss ich weinen. Weil ich das wirklich erlebt habe”, sagt Julia Hernández Hernández. Die 48 Jahre alte Frau mit schulterlangen, mit einer Spange nach oben gesteckten Haaren in Leggins und einem geblümten Shirt wischt sich die Tränen weg und versucht sich an einem entschuldigenden Lächeln. Sie sitzt umgeben von circa zwanzig Personen. Sie alle sind Überlebende oder Angehörige von Betroffenen von Folter. Víctimas, Opfer, wie einige mit einem gewissen Selbstbewusstsein sagen. Die Selbstbezeichnung ist für viele zum Kampfbegriff geworden. Als víctimas sind sie auf ewig gezeichnet von der Ungerechtigkeit des Staates und repräsentieren zugleich Widerstandskraft. Denn hier sind sie: Trotz der Gewalt konnten sie nicht zum Schweigen gebracht werden.

Allein im Bundesstaat Chiapas begleitet und dokumentiert das Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de Las Casas (Frayba) aktuell über fünfzig Fälle von willkürlicher Verhaftung und Folter. Regelmäßig organisiert das Zentrum Treffen für Überlebende und deren Familien zum Austausch und gegenseitiger Unterstützung. Aus den Treffen hat sich das lose Netzwerk der Vereinten Familien gegen die Folter und für die Verteidigung der Menschenrechte gegründet. Sie stützen einander nicht nur emotional, sondern auch ganz praktisch beim Gang auf das Amt oder zum Gericht: Termine, die für Personen, die einmal die ungehemmte Gewalt des Polizei- oder Justizaparrates erlebt haben, zu einem schweren Kraftaufwand werden.

Sie alle stehen an verschiedenen Punkten einer sich stets wiederholenden Geschichte. Meistens beginnt sie mit Sätzen wie „Wir sind einfache Leute“ und „Sie haben mich / meinen Mann / meinen Sohn / meinen Bruder einfach festgenommen. Ich wusste tagelang nicht warum und wo ich / er war.“ Darauf folgen in der Regel haarsträubende Berichte von Foltererfahrungen, oftmals im Keller oder Nebenraum einer Staatsan­waltschaft oder direkt im Gefängnis – wie sich später rekonstruieren lässt. Die Folter dauert je nach Laune der Polizist*innen und Widerstandskraft der Betroffenen von einigen Stunden bis zu zehn Tagen und endet mit der erzwungenen Unterschrift eines leeren Blattes. Manchmal ist es auch bedruckt, selten jedoch bekommen es die Gefolterten zu Lesen. „Ich wollte noch ein bisschen leben, also habe ich unterschrieben“, berichtet ein Mann während dem Treffen seine Erfahrung. Nach sieben Jahren Haft ist er seit 2021 wieder frei. Seine Frau hält seinen Arm und presst die Lippen zusammen, einige Anwesende nicken wissend und verständnisvoll.

Willkür mit System

In Mexiko existiert ein System institutionalisierter Folter. Es sollte mit der Justizreform von 2008 eigentlich abgeschafft werden. Bis dahin galt ein sogenanntes inquisitorisches Strafprozessrecht, welchem es an einer klaren Gewaltenteilung mangelte. Urteile wurden vorwiegend auf Basis der Ermittlungsakten entschieden. Anhörungen und Prozesse fanden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt oder nur auf dem Papier. Angeklagte hatten in der Praxis keine Chance auf eine Aussage, geschweige denn eine reale Strafverteidigung oder Unschuldsvermutung. Dies bot ein offenes Tor für systematische Folter, denn erzwungene Geständnisse oder Belastung durch Dritte konnten juristisch kaum widerlegt werden.

Das neue Justizrecht ist ein wichtiger Schritt, um grundlegende Rechte Angeklagter zu wahren. Die praktische Umsetzung dauerte auf Bundesebene knapp zehn Jahre, 2016 implementierte auch Chiapas als einer der letzten Bundesstaaten das neue System. Im Zuge der Reform wurden die Befugnisse von Polizei und der neu geschaffenen unabhängigen Staatsanwaltschaft ausgeweitet. Dies sollte mit einer vertiefenden Aus- und Fortbildung des Beamtenapparates einhergehen. So finanziert unter anderen die deutsche GIZ seit 2015 verschiedene Programme zur Stärkung des Rechtsstaates und zur Prävention von Folter. Im Zuge dieser Projekte arbeitet sie direkt mit den Bundes- und Landesstaatsanwaltschaften zusammen. „So soll eine effektive Tatort- und Ermittlungsarbeit gewährleistet werden. Mitarbeiter werden in Befragungstechniken und Tatortarbeit fortgebildet“, heißt es in der Beschreibung eines Pilotprojektes.

Für so manche mexikanische Menschenrechtsaktivist*innen ist dies ein zweischneidiges Schwert, können doch verbesserte Kenntnisse über Beweissicherung und Forensik auch gegen unschuldig Angeklagte eingesetzt werden. Dazu kommt, dass das Personal der Kriminalpolizei und Justiz trotz Umstrukturierungen überwiegend aus dem alten System übernommen wurde und damit auch aus „der alten Schule“ stammt, wie Frayba im Jahresbericht 2023 vorlegt. Für das Zentrum einer von vielen Gründen, warum sich die menschenverachtenden Praktiken der Folter fortsetzen: „Solange die institutionelle Kultur und informelle Schule weiterexistiert, die auf der Fabrikation von maßgeschneiderten Ermittlungsakten basiert, werden die Behörden (…) weiterhin künstliche Strategien entwickeln, um sich an die [neuen juristischen] Umstände anzupassen.“

Alte Schule trotz der Reformen

Ein besonders eindrückliches Beispiel, wie Geständnisse von Polizei und Justiz versucht werden zu erpressen, liefert die Geschichte von Julia und ihrem Lebensgefährten Carlos Antonio. Julia Hernández berichtet, wie Carlos Antonio am 29. Oktober 2019 im Haus ihrer Tochter in Tuxtla von einem vierzigköpfigen Polizeikommando verschleppt wurde. „Wir schauten gerade eine Telenovela, Carlos hatte sich schon hingelegt. Plötzlich rammten sie die Tür ein“, berichtet sie. „Wo das Geld sei, wo die Drogen seien, wollten sie wissen.“ Carlos wurde verhaftet. Julia zogen sie kurz darauf an den Haaren aus dem verwüsteten kleinen Holzhaus.

Getrennt voneinander wurden sie zur Staatsanwaltschaft gebracht. Julia wurde über Tage misshandelt – durch das Überstülpen von Plastiktüten, Schläge, Waterboarding und die Ansage, dass man ihren Mann weiter quälen würde, wenn sie nicht preisgebe, wo er die vermeintlichen Drogen gelagert habe. Sie schwieg, denn sie hatte keine Antworten darauf. Daraufhin musste sie in den folgenden Tage mitansehen, wie eine Gruppe von Polizist*innen ihren Lebensgefährten immer wieder mit Fäusten und Elektroschocks malträtierten. Beide wurden über Stunden an Händen oder Füßen aufgehängt. Drei nicht enden wollende Tage, in denen die beiden nicht einmal wussten, was ihnen vorgeworfen wurde und die darin mündeten, dass Carlos Antonio mit einer Bauchwunde ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. „Sie haben mich nach Hause geschickt, aber nur weil sie dachten, dass er sterben würde“, erzählt Julia. Sie verließ das Gebäude in nichts als der Kleidung, in der sie hereingeschafft wurde, und nahm sich ein Taxi. Carlos Antonio musste ein Stück Darm entnommen werden, eine zwanzig Zentimeter lange Narbe und tägliche Schmerzen erinnern ihn bis heute an die Verhaftung. Er sitzt nun schon seit fünf Jahren unschuldig im Gefängnis, sie kämpft für seine Freilassung. Mittlerweile wohnt Julia in der Kleinstadt Cintalapa neben dem größten Gefängnis von Chiapas, El Amate. Hier kann sie ihren Partner täglich besuchen und ihm Essen bringen. Die fettige Nahrung der Anstalt verträgt er seit der Verletzung durch Folter nicht mehr. „Meine Tochter, meine Nichten, meine Schwestern, alle suchten mich damals“, erzählt Julia. Erste Anlaufstelle war die Staatsanwaltschaft in Tuxtla, doch die Beamten verleugneten sie. „Aber natürlich waren wir dort! Nur eben im Tunnel. Es gibt den offiziellen Eingang und es gibt den Tunnel. Dort halten sie die Gefangenen.“ Nach ihrer Freilassung kampierte sie mit ihrer Familie im Hungerstreik tagelang vor der Landesregierung von Chiapas und organisierte kleine Pressekonferenzen, die sie auf Facebook übertrug. Seitdem wurden ihre Töchter und sie selbst immer wieder von der Polizei überwacht und eingeschüchtert. Ein weiterer Grund für ihren Umzug.

Trotz allem kämpferisch Julia setzt sich weiter für die Freilassung ihres Lebensgefährten ein (Foto: Anne Haas)

Die Jahre der erlittenen Ungerechtigkeit zehren an ihr, sie wirkt zermürbt. Doch ihre Worte klingen klar und entschlossen. Auch der Richter habe damals versucht, Julia zu erpressen. Vor der Verhandlung bat er sie, ihren Lebensgefährten zu einem Geständnis zu überzeugen. In diesem Fall bekäme er nur fünf Jahre, ansonsten bis zu zwanzig. Als sie Carlos von dem möglichen Deal berichtete, habe er zu ihr gesagt: „Nein, Mamíta. Ich habe die Folter überlebt, diesen Kampf stehen wir auch noch aus.“ Doch nur wenige Menschen haben das Durchhaltevermögen der beiden.

Das Menschenrechtszentrum Frayba und andere Institutionen in Mexiko erkennen in den willkürlichen Verhaftungen ein Muster, das sich bei hunderten Fällen wiederholt. Sie sprechen von einer fábrica de culpables, einer Fabrik von Schuldigen. 44 Prozent der Inhaftierten gaben bei der Umfrage ENPOL (Nationale Umfrage über Menschen unter Freiheitsentzug, LN) von 2021 an, wegen einer falschen Beschuldigung verhaftet worden zu sein, 23 Prozent sogar ohne Haftbefehl. Sie werden für Kleinstdelikte festgenommen, angeblich auf frischer Tat ertappt. Die Konstruktion als „in flagranti“ ermöglicht eine Präventivhaft von bis zu 48 Stunden in der Staatsanwaltschaft, die in der Praxis jedoch oftmals länger ist. Hier findet die Folter in separaten Räumen statt. Laut der Umfrage geben 28 Prozent der festgenommenen Männer an, in dieser Situation geschlagen worden zu sein, etwa 18 Prozent wurden gewürgt, 14 Prozent mit dem Kopf unter Wasser gehalten. Die Angaben der Frauen fallen nur geringfügig anders aus. Insgesamt berichten 64 Prozent aller Inhaftierten von gewaltvollen Akten.

Ungerechtigkeit trifft besonders die Prekarisierten

Nicht immer endet die Folter so gravierend wie bei Carlos Antonio. Die Beschuldigten werden meist innerhalb einer Woche aus der Staatsanwaltschaft oder dem Gefängnis entlassen. Doch direkt vor der Tür wartet bereits ein Polizeikonvoi und die betroffenen Personen werden unmittelbar erneut festgenommen – mit einem Haftbefehl auf Basis des Geständnisses, das in der Präventivhaft unter Folter erpresst wurde.

Auch Carlos Antonio ging für ein Verbrechen ins Gefängnis, das er nie begangen hatte. So war fünf Tage vor seiner und Julias Verhaftung auf einer Landstraße nach Ixtapa ein Geldtransporter überfallen worden. Über drei Millionen Pesos wurden von vier bewaffneten Männern gestohlen, zwei Polizisten angeschossen.

Jorge Luis Llaven Abarca, seinerzeit Oberstaatsanwalt von Chiapas, versprach öffentlich schnelle Aufklärung. Der Druck Ermittlungsergebnisse zu liefern war aufgrund seiner politischen Ambitionen Senatsabgeordneter zu werden hoch. Gemeinsam mit über hundert Organisationen aus ganz Mexiko hat das Menschenrechtszentrum Frayba bereits bei der Ernennung von Llaven Abarca zum Oberstaatsanwalt im Jahr 2018 die Absetzung des „Folter-Anwalts“ gefordert.

Wenn für Straftaten der öffentliche Druck hoch ist, die realen Täter allerdings nicht gefasst werden können, finden die Justizbehörden Hand in Hand mit Politiker*innen selbst kriminelle Lösungen. Opfer dieser Machenschaften werden dabei besonders Prekarisierte und Marginalisierte, deren Lage sich dadurch weiter verschärft und deren Stimme selten gehört wird.

Vor Gericht kaum eine Chance

Neben Carlos wurden vor fünf Jahren noch drei weitere Männer der Tat beschuldigt. Als sie nach wenigen Tagen entlassen wurden, vermutete er, dass sie ein Bestechungsgeld gezahlt haben. „Aber wir, wie sollten wir das bezahlen?“, fragt Julia. Bis zu ihrer Verhaftung arbeitete Julia als Haushaltshilfe, Carlos sammelte Altpapier auf der Straße.

Laut Frayba erfüllt die Folter neben den erzwungenen Geständnissen zudem noch einen anderen Zweck. Sie dient dazu, die Betroffenen derart einzuschüchtern und zu bedrohen, dass sie bei der Anhörung– die nach neuem Prozessrecht öffentlich ist und per Video aufgezeichnet wird – nicht in der Lage sind, sich zu verteidigen. Sie stehen unter Schock und sind aufgrund ihrer sozialen Herkunft oft nicht in der Lage, den juristischen Inhalt der Verhandlung vollständig nachzuvollziehen. In Kombination mit den wenig motivierten Pflichtverteidiger*innen haben sie somit kaum eine Chance.

Nach vier Jahren Untersuchungshaft wurde Carlos Antonio im Oktober 2023 zu 16-einhalb Jahren Haft verurteilt trotz der Tatsache, dass Frayba den Fall vor die Interamerikanische Menschenrechtskommission und die UNO brachte. „Der Richter hat seine Drohung erfüllt“, resümiert Julia. „Ich kämpfe trotzdem weiter. Es ist ungerecht, was sie uns angetan haben. Ich hoffe nur, dass die Leute mich hören!“ Die Erfahrungen der „Vereinten Familien“ verbreiten zumindest eine kafkaeske Hoffnung. Die meisten Gefangenen dieser Gruppe kommen eines Tages und oft vor Absitzen des Urteils frei. Wie lange dieser Kampf dauert, das ist die große Unbekannte.


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“Wir vertrauten auf uns selbst”

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„Wo sind sie?” Die Suche nach gewaltsam Verschwundenen war wichtiger Teil der Arbeit der Vicaría (Foto: Dokumentationszentrum und Archiv Vikariat der Solidarität)

Nach dem gewaltsamen Militärputsch gegen die sozialistische Regierung unter Salvador Allende am 11. September 1973 verkündete die Junta unter General Augusto Pinochet, Chile auf den Weg der Demokratie zurückführen zu wollen. Tatsächlich verschleppten und folterten chilenische Sicherheitskräfte zwischen 1973 und 1990 mehr als 40.000 vermeintliche Oppositionelle, so die Schätzung der Wahrheitskommission. Während die Mehrheit der Chilen*innen in der Diktatur zu ihrem Alltag zurückkehrte, unterstützte ein Kreis aus säkularen und klerikalen Linken die politisch Verfolgten.

„Als Anwälte arbeiteten wir an den Gerichten unter anderem Namen und mit verhülltem Gesicht“, erinnert sich Álvaro Varela, ein Mitarbeiter des im Oktober 1973 gegründeten Friedenskomitees. „Was uns ein relatives Gefühl der Sicherheit gab, war, dass wir die Kirche vertraten und große internationale Unterstützung erfuhren.“ Unter dem Schutz des Kardinals Raúl Silva Henríquez unterstützte Varela mit knapp 150 Kolleg*innen Menschen, die arbeitslos oder verhaftet worden waren. Erst im Laufe der Monate verstanden die Mitarbeiter*innen das, was sie taten, zunehmend als Arbeit für universelle Menschenrechte.

Doch nicht nur in Chile regte sich Widerstand gegen die antikommunistische Repression. Weltweit gründeten sich Solidaritätskomitees, die Fluchtwege für chilenische Exilierte organisierten und die Lage in Chile genau verfolgten. Auch die Lateinamerika Nachrichten (LN), damals noch Chile-Nachrichten, verfolgten jeden Schritt der Junta gegen die chilenische Arbeiter*innenklasse. So einschneidend war der Putsch für die antiimperialistische Linke in Deutschland, dass Lehrkräfte und Schüler*innen angehalten wurden, die Lage in Chile im Unterricht zu thematisieren und Texte für Gewerkschaftszeitungen zu verfassen – so beschreiben die Chile-Nachrichten das „Lehrstück Chile“ im April 1974.

Menschenrechtsarbeit unter dem Schutz der Kirche

Solidaritätsbewegte und Mitarbeiter*innen des Friedenskomitees verband das Gefühl, inmitten eines politischen und sozialen Chaos Nothilfe zu leisten. Schon nach wenigen Wochen waren die Büros des Komitees in Santiago überlaufen. Besonders die Berichte über die Foltermethoden der Sicherheitskräfte seien für Außenstehende schwer zu glauben gewesen, erinnert sich die Sozialarbeiterin Sepúlveda: „Aber wir wussten, dass es wahr war.“ Die damals 26-Jährige arbeitete zunächst in der Erstaufnahme der Zeug*innenaussagen, die als Fallakten dokumentiert und erst im Laufe der Jahre systematisiert wurden. Auch Varela erinnert sich an das Gefühl der Überwältigung, als er die Akten erstmals durchging: „Es war unvorstellbar, dass Menschen anderen Menschen so etwas antun können. Mir wurde klar: Alles, was ich bis dahin wusste, war nichts im Vergleich zu dem, was wirklich los war.“

Berichte über Folter und illegale Verhaftungen gelangten in den ersten Monaten vor allem durch Hörensagen nach Deutschland. Gleichzeitig geisterten in den Anfangsmonaten erschreckende Zahlen durch die international immer besser vernetzte Solidaritätsbewegung. So sprach die Frau des getöteten Präsidenten Allende, Hortensia Bussi, vor der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen im Februar 1974 von 15.000 bis 80.000 getöteten politischen Oppositionellen. Diese weit übertriebene Schätzung gab ausgerechnet der chilenischen Delegation Aufwind, die nun behaupteten konnte, Berichte über Menschenrechts­verletzungen in Chile seien Teil einer internat­ionalen marxistischen Kampagne.

„Die Angehörigen haben uns vor der Hilflosigkeit bewahrt“

„Der Kardinal sagte uns, die Kirche mache keine Fehler, weil sie unfehlbar sei“, erinnert sich der Strafrechtsanwalt Héctor Contreras. Also durften auch wir keine Fehler machen. Denn auch mit nur einem falschen Fall hätten sie gesagt, dass alles eine Lüge ist.“ Auch Contreras wurde mit der Arbeit im Vikariat der Solidarität, der Nachfolgeorganisation des Friedenskomitees, zum Experten für staatliche Repression. Auf der Suche nach den gewaltsam Verschwundenen wurde er während der Diktatur selbst zum Ermittler und Leichengräber. Ihm schien es trotz der Komplizenschaft von Polizei, Gerichten und der Gerichtsmedizin unmöglich, die Suche einzustellen. „Wenn man sagte, das Gerichtsverfahren sei eingestellt worden, fragten die Angehörigen gleich: ‚Und was wirst du jetzt machen?‘ Und willst du dann sagen ‚Nichts‘?“, erklärt Contreras. „Wir haben nichts unversucht gelassen“, erzählt auch María Luisa Sepúlveda. „Wir haben Beschwerden bei den Vereinten Nationen eingereicht, an Gerichten geklagt, Strafanzeigen gestellt … Mit anderen Worten: Die Angehörigen haben uns vor der Hilflosigkeit bewahrt.“

Im April 1974, sechs Monate nach dem Putsch, entschieden sich die Mitglieder des Friedenskomitees, ihre bis dahin weitgehend im Stillen geleistete Arbeit erstmals öffentlich zu machen. Folter im Land zu denunzieren war angesichts der zentralisierten Presse kaum möglich und zudem hochgradig gefährlich. „Unsere einzige Möglichkeit war es, die internationale Öffentlichkeit zu informieren und zu hoffen, dass diese Informationen nach Chile zurückschwappen würden“, so Varela über die Entscheidung, eine Dokumentation von Zeugenaussagen an die mexikanische Zeitung Excélsior durchsickern zu lassen.

Der Bericht, der viele hundert Fälle staatlicher Folter dokumentierte, traf in den Solidaritätsbewegungen für Chile auf offene Ohren. Auch die Chile-Nachrichten berichteten im September 1974 über den im Dokument bezeugten massiven Einsatz von Elektroschocks und Verstümmelungen; von Frauen, die in Haft geschwängert wurden und über „den Fall eines 16-jährigen Jungen, der 15 Tage in einer Kiste eingeschlossen war, die ein Loch hatte, durch welches Essen hereingereicht wurde“. Es waren diese verstörenden Bilder, die durch das Komitee dokumentiert und durch die international vernetzte Solidaritäts- und Menschenrechtsbewegung bis ins hinterletzte Klassenzimmer verbreitet wurden. Diese zunehmend kritische Öffentlichkeit machte Chile im Laufe der 70er Jahre zum Pariastaat und veranlassten frühere Verbündete der Junta wie die US-amerikanische Regierung dazu, Finanzhilfen zeitweilig einzustellen.

Doch nachdem die Informationen an die internationale Öffentlichkeit gelangt waren, erhöhte sich der Druck auf die Mitarbeiter*innen. Der Vorwurf der regimefreundlichen Presse, der Kardinal unterstützte eine Struktur, die durch Marxist*innen vereinnahmt war, säte Misstrauen innerhalb der am Komitee beteiligten Kirchen. „Ich glaube, die Kirchen waren uns dankbar, dass wir uns um die Leute kümmerten“, so Sepúlveda. „Aber gleichzeitig verdächtigten sie uns, der Vorgängerregierung politisch nahezustehen.” Einige Kirchen stellten ihre Unterstützung des Komitees in der Folgezeit ein. Schließlich gab der Kardinal dem Druck Pinochets nach und schloss Ende 1975 die ökumenische Einrichtung, allerdings nur, um sie kurze Zeit später unter dem alleinigen Schutz der katholischen Kirche als Vikariat der Solidarität wiederzueröffnen.

Fortan waren die Mitarbeiter*innen darauf bedacht, öffentlich Distanz zur Solidaritäts- und Menschenrechtsbewegung zu halten. „Es wäre nicht gut gewesen, es zusammen mit der OAS (Organisation Amerikanischer Staaten, Anm. d. Red.) und den Vereinten Nationen zu machen“, erinnert sich Sepúlveda an eine interne Diskussion im Jahr 1978. Als sie erstmals Hinweisen von sterblichen Überresten gewaltsam Verschwundener in einem Ofen der Gemeinde Isla del Maipo nachgingen, hatte das Vikariat hochrangige Vertreter*innen internationaler Menschenrechtskommissionen zu Gast in Santiago. Vor ihnen hielten sie den Fund geheim. „Man hätte gedacht, dass wir es für sie inszeniert hätten”, so Sepúlveda: „Und so vertrauten wir auf uns selbst.“

Zeit schließt nicht alle Wunden

Heute hat Chile eine der weltweit höchsten Quoten an verurteilten Menschenrechtsverbrecher*innen. Dennoch suchen die Angehörigen weiter nach den sterblichen Überresten der gewaltsam Verschwundenen. „Bis heute verfolgt das Militär eine Politik des systematischen Schweigens zu ihren Taten“, so Contreras. Sepúlveda ist der Überzeugung, dass die Zentralisation aller Informationen heute die dringlichste Aufgabe des Staates ist. „Momentan hat jede Einrichtung ihre eigenen Informationen: das Programm für Menschenrechte, die Gerichtsmedizin, die Akten aus den Militärgerichten“, so Sepúlveda. „Es darf nicht den Angehörigen überlassen werden, all die Informationen zusammenzusuchen.“

Auch Contreras blickt heute kritisch auf den ins Stocken geratenen Aufarbeitungsprozess: „Es sind viele weg, die uns früher unterstützt haben, auch weil die Lage nicht mehr so dramatisch scheint. Doch es wurde auch angenommen, dass es keinen Krieg mehr zwischen Großmächten geben könne und plötzlich taucht die Ukraine auf. Das, was sich vermeintlich mit der Zeit schließt, ist eben nicht abgeschlossen.“


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Monokultur vertreibt Milpa

Auf Deutschlandreise Die Menschenrechtsaktivist*innen María Elena Tujil Caal (rechts), Sandra Montejo Caba (Mitte) und José Luis Caal Hub (Foto: Anderson Sandoval)

Wie kam es dazu, dass die Palmölindustrie auf Ihrem Territorium aktiv wurde? Wie haben Sie davon erfahren?
Maria Elena Tujil Caal: Es gab keine Informationen darüber, dass sie sich das Land aneignen wollten. In der Nähe unserer Gemeinden wurden zum Beispiel einfach Verarbeitungsanlagen errichtet, ohne uns vorab dazu zu befragen oder über mögliche Folgen für unsere Gesundheit und Umwelt aufzuklären. Sie haben uns den Zugang zu sauberem Wasser und Land genommen. Die Bauern wurden unter Druck gesetzt, ihr Land zu verkaufen. Die Unternehmen zahlten umgerechnet zwischen 1.200 und 1.550 Euro pro Hektar Land und kauften es über Dritte oder Zwischenhändler. Auf den Parzellen, auf denen früher Mais und Bohnen angebaut wurden, steht heute nur noch ein Haus. Gleichzeitig haben sie uns mit den angeblichen Vorteilen der Anbauprojekte betrogen: Sie boten den Bauern, die sie zum Verkauf ihres Landes gezwungen hatten, Arbeitsplätze an. Diejenigen, die noch auf den Plantagen beschäftigt sind, arbeiten zwölf Stunden am Tag und erhalten einen Lohn von etwa 10 Euro. Sie bekommen keine Versicherung. Andere werden von weit her angeworben, eingesperrt und ihrer Papiere beraubt. Oft ist nicht klar, wer dort kontrolliert und zertifiziert.

Welche Rolle spielt die Palmölindustrie in Guatemala und im internationalen Kontext?
Josè Luis Caal Hub: Palmöl ist das grüne Geschäft zur Versorgung des europäischen Marktes mit Agrotreibstoffen. Seit der Ölkrise ist es zum globalen Modell geworden. In Guatemala wurde im Rahmen des Friedensabkommens von 1996 ein Landfonds geschaffen. Er sollte Hypothekenkredite zur Verfügung stellen, um den Landerwerb zu erleichtern und die individuelle Titelvergabe zu fördern. Faktisch führte er dazu, das Land der indigenen Gemeinschaften in einen unsicheren Marktmechanismus einzubinden. Zu diesem Prozess, in dem die Institutionen Unternehmen unterstützten, gehörten Drohungen, Manipulationsversuche und die Instrumentalisierung der Gemeindebehörden. Es ist ihnen gelungen, die Gemeinschaften zu spalten und unsere traditionelle gemeinschaftliche Verwaltung zu zerstören, so dass wir ohne Ressourcen dastehen.
Sandra Montejo Caba: Im Jahr 2007 führten wir eine Befragung durch, um die negativen Auswirkungen der Rohstoffindustrie anzuprangern. Es kam zu Brüchen im Gemeinschaftsgefüge. Diejenigen, die sich dem Verkauf ihres Landes widersetzten, wurden kriminalisiert, betrogen oder gewaltvoll angegriffen. Die elf Gemeinden, die Land besaßen, hatten keinen Zugang zu Straßen und Grundstücken, wodurch sie nicht frei arbeiten konnten.

Wie ist die Lage aktuell? Wem gehört das Land und wer nutzt es?
Maria Elena Tujil Caal: In Fray Bartolomé de las Casas haben nur wenige Gemeinden Eigentumsrechte. Der Rest der Gemeinde ist in Privatbesitz, ein Teil davon gehört der Firma Naturaceite, die ihre Geschäfte auch entlang der Region Franja Transversal del Norte und im ganzen Departamento Alta Verapaz ausweitet.
Sandra Montejo Caba: Im Dschungel von Ixcán haben sie vor zehn Jahren viel Wald zerstört und zwei Staudämme gebaut. Der Prozess der Landübergabe an die Indigenen und der Kampf um Anerkennung war jedoch langwierig und dauert bis heute an. Während der Präsidentschaft von Morales wurde das Gebiet von Sololá privatisiert, viele haben ihr Land verkauft, damit die jungen Leute in die USA auswandern konnten.
Josè Luis Caal Hub: Diese Enteignungsprozesse sind nichts Neues. Wir beobachten sie in unterschiedlicher Form seit der Kolonialisierung: Zuerst siedelten sich die Spanier und die Kirche im Norden an, am Ende des 19. Jahrhunderts bauten Deutsche wie Dieseldorff ihr Imperium mit dem Kaffeegeschäft in Alta Verapaz auf. Der Profit der deutschen Kaffeebarone beruhte auf der Ausbeutung der jungen Siedler, ein feudales System blieb bestehen. Heute äußert sich die Enteignung materiell, immateriell und systematisch.

Welche Auswirkungen hat die Industrie auf die Umwelt?
Maria Elena Tujil Caal: Der Fluss führte früher reichlich Wasser und hat die Familien ernährt, jetzt gibt es fast kein Wasser mehr und alles ist verschmutzt. Als die Palmölindustrie kam, starben die Fische. Früher haben wir den Fluss überquert, um Holz zu holen, aber jetzt können wir das nicht mehr, weil das Land privatisiert wurde und fast alles abgeholzt ist. Jetzt müssen wir fast zwei Stunden laufen, um Holz zu holen. Das trifft vor allem uns Frauen, weil es viel mehr Anstrengung erfordert. Die ganze Gemeinde hat keine eigene Wasserquelle mehr, und Frauen aus anderen Orten berichten, dass die einzigen Quellen, die es noch gab, verschwunden sind. Die Zukunft ist ungewiss, die Folgen des Klimawandels sind durch die Abholzung der Wälder viel stärker zu spüren, Überschwemmungen werden häufiger. Auch Krankheiten wie Fieber, Durchfall und Hautausschläge haben zugenommen.

Ihre Weltanschauung setzt statt Monokultur auf Agrarökologie. Wie setzen Sie agrarökologische Praktiken ein?
Sandra Montejo Caba:
Wir fördern die Agrarökologie als ganzheitliche und organische Methode zur Wiederherstellung des Landes, das früher für die Viehzucht genutzt wurde. Das ist unsere Art, Armut und Unterernährung zu bekämpfen. Die Aussaat ist für uns eine Form der spirituellen Gemeinschaft und die milpa (traditionelle Anbaumethode mit Mais, Bohnen und Kürbis, Anm. d. Red.) mehr als ein Nahrungsmittelsystem: Wir lassen die Erde ruhen. Wir nutzen den Regenzyklus und passen uns den Veränderungen im Anbauzyklus. Früher wuchs Ayote auf natürliche Weise, heute hat der Boden nicht mehr so viel Kraft. Eine wichtige Rolle spielen auch verschiedene Heilpflanzen. Wir müssen die gemeinschaftliche Landwirtschaft fördern, denn in einigen Regionen gibt es keine Straßen und die Menschen müssen sehr früh zur Arbeit aufbrechen. Wir brauchen einen Wandel und Prozesse, die autonomer sind. Pueblo Nuevo hat zum Beispiel seinen eigenen Markt und eine gemeinschaftliche Organisation und Artikulation.


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„Es gibt keine Sicherheit mehr“

Wichtiger denn je, aber auch schwieriger denn je Die Arbeit des Menschenrechtszentrums Frayba ist stark eingeschränkt (Foto: Anne Haas)

Die Nachrichten aus Chiapas dieser Tage sind erschreckend. Wie interpretiert ihr die aktuelle Welle der Gewalt in eurem Bundesstaat?

Patricia: Es ist ja nicht so, dass wir nicht wussten, was uns erwartet. Es ist bekannt, dass die organisierte Kriminalität in Mexiko operiert. In Chiapas wurde es in den letzten zehn Jahren immer sichtbarer, seit 2018 sehr offensichtlich. Und ab 2021 haben wir eine Situation der offenen Auseinandersetzung um das Territorium. Wenn es uns klar war, dann auch dem Staat. Warum ist nichts passiert?
Der Präsident leugnet die Verbrechen in unserem Bundesstaat bis heute. Das kommt ihm nicht gerade zugute. Daher mussten wir nun diese weite Reise antreten, um hier in Europa unsere Informationen zu verbreiten.

Lázaro: Unser letzter Menschenrechtsbericht 2020 bis 2023 heißt nicht ohne Grund: „Chiapas ein Desaster. Zwischen krimineller Gewalt und der Komplizenschaft des Staates“. Wir beobachten eine Umstrukturierung des Territoriums mit Bruch des sozialen Gefüges in den Gemeinden. Das hat verschiedene Gründe:
Zum einen sind da die bekannten Infrastrukturprojekte wie der Bau der beiden Zugstrecken des Tren Maya und Transístmisco. Ganz zu schweigen von den ökonomischen Vorhaben, wie Minen, Fracking, Entwaldung und so weiter.
Zum anderen sind da die viel zitierten Sozialprogramme wie Sembrando Vida (finanzielle Förderung für das Aufforsten mit Nutzbäumen auf privatem Land, Anm. d. Red.). Sie führen gezielt zu Konflikten in den Gemeinden, Individualisierung, Privatisierung, Landstreitigkeiten und schaffen parallele Verwaltungsstrukturen und Abhängigkeiten. Das ist auch als Angriff auf organisierte indigene Gemeinden und Autonomieprojekte zu werten.
Zu Wirtschaft und Staat kommt nun der dritte Akteur: die organisierte Kriminalität im Kampf um Vorherrschaft im Territorium von Chiapas. Das ist vor allem in den Landkreisen der Grenzregion zu Guatemala sichtbar. Aber das Problem zieht sich auch bis in den Lakandonischen Regenwald hinein. Es gibt gewaltsame Vertreibungen, Zwangsrekrutierung der bäuerlichen Bevölkerung, besonders von Jugendlichen, gewaltsames Verschwindenlassen, sexualisierte Gewalt und Hinrichtungen. Und wir beobachten, dass es zu einer Wiederaufnahme von Extraktivismusprojekten kommt, wo diese eigentlich schon erfolgreich verboten worden waren.

Wen macht ihr für die Situation in Chiapas verantwortlich?

Patricia: Als Menschenrechtszentrum machen wir für diese schweren Menschenrechtsverletzungen stets den Staat verantwortlich, denn es ist seine Aufgabe für Sicherheit, Bewegungsfreiheit und Zugang zu Gesundheitseinrichtungen für die gesamte Bevölkerung zu sorgen. Das passiert nicht. Der Staat ist Komplize durch Unterlassung als auch durch seine Taten. Während die Verbrechen aus der Zeit der Aufstandsbekämpfung und Paramilitarisierung in den 90er Jahren ungestraft bleiben, findet nun eine Remilitarisierung unseres Bundesstaates statt. Das hat aber keinesfalls zu mehr Sicherheit geführt. Im Gegenteil hat sich die Gewalt diversifiziert.
Als Frayba identifizieren wir also ein Dreieck, bestehend aus Staat, Wirtschaft und dem organisierten Verbrechen mit dem Ziel, das übrige Land wirtschaftlich, welches noch in den Händen der lokalen Gemeinden ist, nutzbar zu machen.

Wie wirkt sich das ganz praktisch auf euren Arbeitsalltag mit den Gemeinden aus?

Lázaro: Abgesehen davon, dass unsere Mobilität massiv eingeschränkt ist, können wir im direkten Kontakt vor Ort oft nicht mal offen sprechen. In einem Falle wurden wir zusammen mit der Diözese zu einer Dokumentation in eine Gemeinde gebeten, wo es Fälle sexualisierter Gewalt und Verschwindenlassen gab. Wir fuhren dorthin, hörten den Berichten zu, aber schon kurz nach Beginn des Treffens zeigte sich eine der bekannten ominösen Größen der Region, stellte sich vor und setzte sich dazu. Dies sind Momente, wo du dir sagst: Wenn bei solchen geschlossenen Versammlungen derartige Situationen auftreten, gibt es keine Sicherheit mehr.
Das ist auch für die Menschen in den Krisenregionen ein Problem. Jahrelang haben wir mit den Menschen trainiert, wie man Menschenrechtsverletzungen dokumentiert, Gedächtnisprotokolle anfertigt. Wir geben Sicherheitsworkshops, aber mittlerweile machen die meisten nicht mal Notizen. Denn als Militär verkleidete Mitglieder des organisierten Verbrechens kontrollieren im öffentlichen Transport Rucksäcke, Notizen und sogar Handy-Chats und Fotos. Viele nutzen wieder alte Handys statt Smartphones.

Das Ambiente ist jetzt schon hochgefährlich für Aktivistinnen und Menschenrechtsver-teidigerinnen. Ihr seid diejenigen, die wiederum die betroffenen Menschen vertei-digen. Wie könnt ihr eure Arbeit überhaupt realisieren, ohne selbst in Gefahr zu kommen und gleichzeitig die Betroffenen zu stärken?

Patricia: Bei Frayba arbeiten wir seit Langem mit einem Fünfjahresplan – um eine Vision für die Zukunft zu haben und nicht nur defensiv aktuelle Fälle abzuarbeiten. Dabei sprechen wir von einer sozial-integralen Verteidigung der Menschenrechte – also nicht nur juristisch. Unsere aktuellen Schwerpunkte sind Erinnerungsarbeit und Konstruktion von Frieden. Außerdem bauen wir auf verstärkte Zusammenarbeit mit anderen Organisationen, die vielleicht andere Themenschwerpunkte haben, aber eine ähnliche Vision. Und wir müssen auch die Regionen unterstützen, in welche diese massive Gewalt bis heute noch nicht vorgedrungen ist! Sie sind wichtige Inseln und Schutzräume. Daher haben wir ein Projekt namens corredores de paz (Korridore des Friedens). Hier vernetzten sich Gemeinden bei ihren Aktionen und im Erfahrungsaustausch und bieten auch ganz praktisch Schutzräume für Durchreisende an. Gemeinsam erarbeiten und befähigen wir die Gemeinden dazu, selbstständig Risikoanalysen durchzuführen und Strategien zu entwickeln, sich zu schützen. In den anderen Regionen wird es langfristig darum gehen, das soziale Gefüge wieder aufzubauen. Es gibt einiges zu tun.

Lázaro: Um das zu veranschaulichen: Die Zahlen durch das Organisierte Verbrechen verschwunden gelassener Menschen werden in den nächsten Jahren massiv ansteigen. Aber wie sollen wir in einem solchen Fall mit unserer Arbeit fortfahren, wenn eine Familie – verständlicherweise – Angst hat überhaupt nur eine Vermisstenanzeige aufzugeben? Also suchen wir Wege mit anderen Organisationen, um diese Fälle zu bearbeiten, ohne die Familien in erneute Gefahr zu bringen. Wir erarbeiten Strategien zusammen mit den Menschenrechtsorganisationen Voces Mesoamericanas, SeraPaz, und dem Menschenrechtszentrum Fray Matías aus Tapachula. Die haben beispielsweise viele Erfahrungswerte mit verschwunden gelassenen Migrant*innen. Wir erstatten Anzeige über Organisationen, die nicht in Chiapas sind, um uns vor Repression zu schützen und wir wenden uns vermehrt an internationale Instanzen wie die Interamerikanische Menschenrechtskommission, die UNO und so weiter.
Und wir suchen den Austausch mit anderen lateinamerikanischen Akteuren. Die Entwicklung in Kolumbien ist teilweise vergleichbar mit der unseren. Neulich durften wir die Guardia Indígena del Cauca (Indigene Wache des Cauca) kennenlernen. Sehr beeindruckend deren Arbeit! Wir können viel von ihnen lernen.

Nun seid ihr hier in Frankfurt auf der letzten Station eurer Reise. Haben sich eure Erwartungen erfüllt und mit welchen Eindrücken fahrt ihr nach Hause?

Lázaro: Mexiko wird trotz der Gewalt wirtschaftlich immer attraktiver für die EU. Unser Ziel war es, Politik und Öffentlichkeit für die schwierige Situation zu sensibilisieren. Unsere Hoffnung ist, dass hiesige Akteure aus der Politik bei weiteren gravierenden Menschenrechtsverletzungen Druck auf die mexikanische Regierung aufbauen. Darüber hinaus wollten wir unsere Netzwerke, die wir nach Europa haben, stärken, sowohl mit hiesigen NGOs als auch mit Gruppen der internationalen Solidarität.

Patricia: So haben wir in den letzten fünf Wochen Abgeordnete des EU-Parlaments getroffen, des belgischen, des katalanischen und des deutschen Parlaments sowie den Bürgermeister von Rom. Die meisten zeigten sich sehr offen und besorgt angesichts unseres Berichts. Viele haben uns sehr unterstützt, wie die Deutsche Menschenrechtskoordination Mexiko oder in Katalonien die Taula per Mèxic. Neu war für uns, europäische Menschenrechtsorganisationen und ihre Arbeit kennenzulernen, beispielsweise deren Kampf um soziale Gerechtigkeit oder Frauenrechte oder eine Hochschule für Rechtswissenschaft, mit der wir zukünftig das Thema strategische Prozessführung vertiefen werden.
Und es war beeindruckend, die Solidarität zu sehen. Viele Personen waren ja schon über die Menschenrechtsbeobachtung bei uns, zum Beispiel mit dem Verein Carea. Sie fragten uns ständig: „Was können wir tun? Wie können wir eure Arbeit unterstützen?“. Nun, sie können an der Menschenrechtsbeobachtung teilnehmen oder spenden. Aber vor allem sind da auch unsere Unterschriften-Aktionen, die Urgent Actions, die sehr effektiv sind. Oder sie können auch eigene Stellungnahmen herausgeben. Wir haben auch erkannt, dass wir kontinuierlicher unsere Information mit der Internationalen Solidarität teilen müssen, zum Beispiel über online Treffen. Wir konnten auf dieser Reise sehen: Frayba, das sind nicht nur die 25 Personen des Teams, sondern da sind Hunderte, die mit dem Herzen bei unserer Arbeit sind. Das macht uns glücklich. Ich fahre sehr müde, aber auch sehr glücklich nach Chiapas zurück.


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