„Das Regime hat sein Machtmonopol weit konsolidiert“

Herr Simon, die Menschenrechtssituation in Nicaragua ist in den deutschen Medien kaum ein Thema. Sie haben als UN-Experte tiefere Einblicke. Wie ist die Entwicklung?
Die Menschenrechtssituation in Nicaragua hat sich weiter massiv verschlechtert. Das Regime hat sein Machtmonopol so weit konsolidiert, dass es heute mit subtileren Methoden als dem Verschwindenlassen von Aktivistinnen, der Ermordung von Studierenden und Menschenrechts­aktivistinnen wie 2018 und 2019 agiert. Die heutigen Methoden haben einen viel breiteten Grad an Wirksamkeit: Es werden Exempel statuiert an Personen, die sich kritisch äußern. Das letzte Beispiel ist das von Humberto Ortega, dem Bruder von Daniel Ortega, der unter Hausarrest gestellt wurde, weil er sich kritisch geäußert hatte.

Hat das Signalcharakter?
Ja, die Botschaft an das ganze Land und darüber hinaus ist deutlich: Auch Mitglieder der Familie Ortega, die sich kritisch äußern, können in den Fokus des Sicherheitsapparats geraten. Hintergrund ist, dass sich Humberto Ortega über die zunehmende Macht von Rosario Murillo, der Frau von Daniel Ortega und Vizepräsidentin des Landes geäußert und ihr abgesprochen hatte, Ortegas Nachfolgerin zu werden. Dies ist vor allem deswegen brisant, da es impliziert, dass es um Daniel Ortegas Gesundheitszustand schlecht bestellt ist.

Was sind die Szenarien im Falle des Todes von Ortega? Hat die internationale Gemeinschaft einen Plan B?
Nein, genau den scheint sie nicht zu haben. Niemand weiß, was passiert, wenn Ortega sterben sollte. Es könnte ein Machtvakuum entstehen, denn Nicaragua ist auf der einen Seite charakterisiert von bewaffneten, parastaatlichen Strukturen, auf der anderen steht die Armee und dazwischen die Nationale Polizei. Während die parastaatlichen Strukturen und die Polizei mehr und mehr unter die Kontrolle des Umfeldes von Rosario Murillo geraten sein sollen, gilt dies nicht für das Militär, jedenfalls nicht für die breite Masse. Hinzu kämen dann noch offenbar bewaffnete Gruppierungen aus dem ehemaligen Contra-Spektrum, die an der Grenze zu Honduras aktiv sein sollen.

Woher stammen Ihre Informationen? Stehen Sie und die Expertengruppe auf dem Index der Regierung Ortega?
Ja, wir können das Land nicht betreten. Die Regierung hat sich trotz mehrfacher Gesuche nie entsprechend geäußert. Wir beziehen unsere Informationen von außerhalb Nicaraguas. Mittlerweile befinden sich mehr als 20 Prozent der Bevölkerung, der 6,9 Millionen Menschen, außer Landes. Vor den Protesten von 2018 waren es lediglich zehn Prozent. Viele haben Informationen aus erster Hand. Und dann gibt es auch einige ehemalige Insider, die mit uns sprechen._

Welches sind die wichtigsten Instrumente des Machterhalts des Diktatoren-Ehepaares Murillo/Ortega?
In Nicaragua sind praktisch alle drei Staatsgewalten unter ihrer Kontrolle. Die letzten Rochaden an der Spitze des Obersten Gerichtshofes haben für persönliche Bindungen zur Familie Murillo gesorgt. Hinzu kommt, dass die Presse vollständig unter ihrer Kontrolle ist. Ein weiteres Kontrollinstrument ist die bürgernahe Polizei, die in den letzten 15 Jahren entstanden ist und vor allem lokal kontrolliert wird. Hinzu kommen Las Turbas, wie die parastaatlichen Verbände genannt werden, die für die Repression mitverantwortlich sind, oftmals lokal aus den Parteistrukturen heraus kontrolliert werden und das Regime stützen.

Es macht den Eindruck, dass das Regime in Nicaragua recht fest im Sattel sitzt. Warum greifen die internationalen Sanktionen nicht – wie finanziert sich das Regime?
Wirft man einen Blick auf die ökonomischen Strukturen, springt als erstes der hohe Anteil des Geldtransfers aus dem Ausland ins Auge. Die machen rund ein Drittel des Bruttosozialprodukts von rund 18 bis 20 Milliarden US-Dollar aus. Ein weiteres Drittel fällt auf den landwirtschaftlichen Sektor mit Kaffee, Zucker, Rindfleisch, Tabak und anderen Agrarprodukten. Eine weitere zentrale Einnahmequelle ist die Goldgewinnung: sowohl durch Unternehmen ausländischen Kapitals, als auch durch Unternehmen hinter denen Ortega und sein Umfeld stecken. Wenn man sich diese Daten genauer ansieht, dann stößt man darauf, dass mehr exportiert, als im Land gefördert wird – es wird vermutet, dass es sich unter anderem um Goldverkauf über Nicaragua aus dem venezolanischen Orinoco-Delta handelt. Die Verbindungen zur Regierung von Nicolás Maduro sind eng und auch an der Migration aus Venezuela und Kuba verdient das Regime Ortega mit. Dieser Zufluss von Mitteln lässt sich kaum kontrollieren und findet zumindest verdeckt im halblegalen und illegalen Raum statt.

Welche Rolle spielen Kredite internationaler Banken?
Eine sinkende, aber immer noch wichtige. Bislang deckten diese Kredite einen nicht unerheblichen Teil des Haushalts. Die Tendenz dürfte vor allem deswegen sinkend sein, weil die neue personelle Führung der wichtigen Zentralamerikanischen Bank für Wirtschaftliche Integration sich deutlich gegen eine Weiterfinanzierung ausgesprochen hat (siehe LN 598). Das dürfte sich in Nicaragua – nach Haiti das zweitärmste Land Lateinamerikas– bald bemerkbar machen.

Berücksichtigt die Bundesregierung Ihre Berichte über die Menschenrechtssituation in Nicaragua für ihre Asylverfahren ausreichend?
Auffällig ist, dass unsere Berichte zwar von der Bundesregierung zur Kenntnis genommen, aber scheinbar nicht herangezogen werden, wenn es um die Asylverfahren geht. Die Zahl der Bewilligungen liegt unter zehn Prozent – das ist deutlich weniger als in den USA und Costa Rica, wo sich die Masse der Geflüchteten befindet. Aus meiner Perspektive sind diese Anerkennungszahlen skandalös. Sie sind nicht zu rechtfertigen, denn ich weiß, dass in dem Referenzmaterial, auf dessen Basis die Bescheide erstellt werden, auch unsere Berichte enthalten sind. Ich frage mich, warum die Ablehnungsquote trotzdem so hoch ist.


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Ohne Gerechtigkeit kein Frieden

Allan, du bist ein ehemaliger politischer Gefangener. Kannst du uns etwas über die Umstände deiner Gefangennahme und die Haftbedingungen erzählen?

Ich wurde am 27. Dezember 2018 im Haus meiner Mutter von der Polizei und Paramilitärs verhaftet und ins Gefängnis El Chipote gebracht. Dort verbrachte ich 44 Tage in einer dunklen Zelle ohne Kleidung. Ich wurde gefoltert und war sexueller und körperlicher Gewalt ausgesetzt. Dann wurde ich ins Gefängnis Sistema Penitenciario verlegt. Auch in diesem Gefängnis erlitt ich Gewalt. Am 27. Februar 2019 wurde ich im Rahmen des sogenannten Amnestiegesetzes freigelassen. Zwischen 2019 bis 2021 war ich weiterhin polizeilichen Schikanen ausgesetzt und wurde in meinem Zuhause von Sicherheitskräften belagert.

Als ehemalige politische Gefangene seid ihr in der Vereinigung der politischen Gefangenen Nicaraguas (UPPN) organisiert. Wie kam es zur Gründung der UPPN und welche Ziele verfolgt sie?

Die UPPN wurde am 19. März 2019 in den Gefängnissen La Esperanza und La Modelo von politischen Gefangenen formell gegründet und der nicaraguanischen Öffentlichkeit und anderen Organisationen vorgestellt. Unsere Arbeitsschwerpunkte sind das Streben nach Gerechtigkeit und Wahrheit; die Aufrechterhaltung der Erinnerung, damit sich das nicht wiederholt, und die Wiedergutmachung für alle Opfer.

Als Organisation der unmittelbaren Opfer von Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind wir der Meinung, dass der Wandel in Nicaragua einen wirklichen und beständigen Gerechtigkeitsprozess braucht. Denn es ist notwendig, das historische Gedächtnis zu bewahren, daran müssen wir arbeiten. Dies sind die wichtigsten Arbeitsbereiche unserer Organisation.

Von wie vielen politischen Gefangenen geht ihr derzeit aus?

Es gibt mehr als 100 politische Gefangene. Manche sind nicht in der Liste aufgeführt, weil sie sich nicht im Gefängnis befinden. Aber sie sind de facto Gefangene – nur eben in ihrem eigenen Zuhause. Es gibt mehr als dreißig Personen, die sich jede Woche bei der Polizei melden müssen. Sie werden so kontrolliert, als ob sie Gefangene wären. Andere werden überwacht oder unterliegen Arbeits- und sonstigen Beschäftigungsverboten.

Die Diktatur übt über alle Oppositionsgruppen ein hohes Maß an Kontrolle aus, damit es keine Bewegung mehr gibt, die sie nicht vorhersehen kann. Sie handelt mit Kalkül und spielt auf Zeit, da sie weiß, wie mit der internationalen Diplomatie umzugehen ist.

Ihr lebt alle im Exil. Es ist sicher schwer, unter diesen Bedingungen für eure Organisation zu arbeiten…

Ja, und dabei ist die größte Herausforderung im Exil für soziale Aktivisten oder Menschenrechtsverteidiger der Lebensunterhalt. Außerdem findet eine gewisse Abkopplung von der Realität in unserem Land statt. Daher müssen wir eine kontinuierliche Kommunikation mit den Menschen vor Ort aufrechterhalten, um zu erfahren und zu verstehen, was im Land vor sich geht.

Wenn man sein Land verlässt, ist man einer anderen Realität ausgesetzt, die einen dazu zwingt, sich in einer anderen Zeit und in einer anderen Kultur zurechtzufinden. Das ist die größte Schwierigkeit: den Bezug zum eigenen Land zu verlieren und trotz dieser Abkopplung weiter zu verfolgen, was im Staat passiert. Eine große Herausforderung ist zum Beispiel, mit den Menschen vor Ort zusammenzuarbeiten, ohne sie dabei in Gefahr zu bringen. Hinzu kommt, dass die Diktatur auch Menschen bestraft, die sich außerhalb Nicaraguas sozial engagieren. Das zwingt viele Personen dazu, sich zum Beispiel nicht zu zeigen, oder in den Medien keine Menschenrechtsverletzungen anzuprangern, weil sie Angst haben, dass ihre Familien in Nicaragua Repressalien seitens der Diktatur erleiden. Das ist etwas, das die Bedingungen im Exil natürlich verschärft und die Arbeit zusätzlich erschwert. Trotzdem kann ich nicht aufhören, aktiv zu sein und mich an Initiativen zu beteiligen, um Gerechtigkeit zu fordern. Denn ich habe Freunde, die immer noch im Gefängnis sitzen, und Freunde, die ermordet wurden.

Du bist Teil der LGBTIQ-Gemeinschaft innerhalb der UPPN. Welche sind eure wichtigsten Forderungen an die nicaraguanische Zivilgesellschaft bezüglich der Bürger*innenrechte?

Nicaragua braucht viele Veränderungen, aber die wichtigste Veränderung ist systemisch, es braucht nicht einfach nur einen Regierungswechsel. Ein neues Nicaragua erfordert eine vollständige Umstrukturierung der staatlichen Institutionen sowie der Art und Weise, wie Politik gemacht wird. Es muss ein vollständiger Wandel erfolgen, der auf dem Weg zur Demokratie einen Prozess zur Bewahrung der Erinnerung und der Wahrheitssuche miteinschließt.

Als Person aus der LGBTIQ*-Gemeinschaft denke ich, dass wir ein System der Fairness und Gleichheit anstreben müssen, in dem die Menschenrechte jeder einzelnen Person nie mehr verletzt werden. Als Organisation sind wir der Meinung, dass es keinen politischen Gefangenen, keinen Gewissensgefangenen, keine Person geben darf, die inhaftiert, gefoltert wird oder Gewalt erleidet, weil sie ihre politische Meinung geäußert hat oder weil sie anders über das Regierungssystem oder die Regierungspartei denkt. Und genau dafür werden wir von der UPPN kämpfen.

In der nicaraguanischen Opposition finden sich verschiedene Interessen und politische Strömungen, gemeinsamer Nenner ist die Forderung nach Demokratie. Gibt es denn konkrete Ideen, was nach Ortega kommen soll?

Innerhalb der nicaraguanischen Opposition hat es bisher keinen aufrichtigen Dialog gegeben. Jede Gruppe verteidigt ihre eigene Agenda. Zumindest wir, die Opfer, glauben, dass der Weg zu einem neuen Nicaragua nicht möglich ist, ohne dass wir uns als Opposition zusammensetzen, ehrlich miteinander reden und eine gemeinsame Basis finden, statt immer nur die Unterschiede zu sehen. Es gibt außerdem keine klare Strategie der Abstimmung darüber, wie dieses neue Nicaragua aussehen soll, sondern lediglich verschiedene Vorschläge. Wir als Opferorganisation − und ich als unmittelbares Opfer von Verbrechen gegen die Menschlichkeit − meinen jedoch, dass wir nicht in der Lage sein werden, Demokratie zu erreichen, wenn die Frage der Gerechtigkeit nicht in die Agenda aufgenommen wird. Das ist für uns von grundlegender Bedeutung.

Wie habt ihr euch in diesem politischen Szenario verortet?

Als wir 2019 aus dem Gefängnis kamen, wurde uns klar, dass wir uns in die politische Agenda einmischen müssen. Von daher haben wir uns als Personen und Organisation das Ziel gesetzt, Teil der politischen Debattenräume zu sein, aber nicht mit einem parteipolitischen Ziel, sondern um unsere Gerechtigkeitsagenda zu fördern. Dafür haben wir uns die Aufgabe gestellt, in verschiedenen Organisationen wie dem Oppositionsbündnis UNAB, der Alianza Cívica (Bürgerallianz) oder anderen Plattformen mitzuwirken, die damals in der Opposition noch stärker waren. Wir stellten jedoch fest, dass viele dieser Organisationen weder eine soziale Basis noch eine klare Strategie für ihr weiteres Vorgehen hatten. Viele waren nur flüchtig, ihre Agenda war vor allem auf den Moment ausgerichtet, nicht auf die Zukunft. Wir haben unseren Vorschlag zum Thema Gerechtigkeit eingebracht, aber viele Organisationen der Opposition sind der Meinung, dass diese Frage erst nach dem Übergang zur Demokratie behandelt werden sollte. Aber das kann nicht sein: Die Übergangsphase muss auch das Thema der Gerechtigkeit auf die Tagesordnung setzen. Dazu muss man sich mit Opferorganisationen zusammensetzen, über ihre Ziele und Wege sprechen. Wir als Organisation haben konkrete Ideen, wie wir unter den rechtlichen Rahmenbedingungen Gerechtigkeit erreichen können, was erarbeitet werden muss und was dazu nötig ist.

Stattdessen handelten viele Oppositionsorganisationen aus ihrer Ohnmachtsposition gegenüber Ortega jedoch Quoten für Straffreiheit aus. Das geht gar nicht. Man kann den Opfern doch nicht sagen: „Diesen lassen wir laufen, jenen nicht”. Diese Entscheidung steht einer Oppositionsorganisation gar nicht zu.

Straffreiheit für wen?

Das war 2019: Es kam zu einer Dialogrunde (zwischen Opposition und Ortega-Regierung, Anm. d. Red.), in der die Opposition über Quoten für Straffreiheit für politische Gefangene verhandelte. Da zog die Diktatur die Amnestie aus dem Ärmel, aber es war keine echte Amnestie. Im Übrigen bedeutet eine Amnestie für die von der Freilassung begünstigten Gefangenen zu vergessen, was ihnen widerfahren ist. Anders gesagt: Bei einer Amnestie ist das Opfer insofern am stärksten betroffen, da die Gesellschaft die Gerechtigkeit, die eigentlich den Opfern zusteht, dem Wohlergehen der Gesellschaft opfert. Wenn ich also von Quoten der Straffreiheit spreche, dann beziehe ich mich genau darauf: Die nicaraguanische Opposition, die machtlos ist, verhandelt mit der Justiz, aber das Verhandeln über Quoten oder Gerechtigkeit ist nicht ihre Aufgabe oder die irgendeiner Gruppe. Denn du kannst einer Mutter nicht sagen, dass sie aufhören soll, Gerechtigkeit zu fordern, weil ihr Kind ermordet wurde. Man kann einem ehemaligen politischen Gefangenen nicht sagen, dass er aufhören soll, Gerechtigkeit für die Folter oder Vergewaltigung zu fordern, die er im Gefängnis erlitten hat. Ohne Gerechtigkeit wird es keinen Frieden im Land geben.


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Die Schöne und die Bestien

Strahlende Propagandashow Bukele bei der Miss Universe-Wahl im November (Fotos: Kellys Portillo für Alharaca)

Die ersten Kandidatinnen trafen am 1. November 2023 in El Salvador ein: Miss Kamerun, Miss Thailand, Miss Norwegen und Miss Panama. Von diesem Tag an beherrschte ihre Anwesenheit die Titelseiten aller salvadorianischen Zeitungen sowie die sozialen Medien. Miss Universe 2023 übernahm die Aufmerksamkeit des ganzen Landes.

Auf diese vier jungen Frauen folgten 84 weitere aus der ganzen Welt. Ihr Besuchsprogramm wurde von der nationalen Presse konstant verfolgt: Die Schönheitsköniginnen besuchten Maya-Ruinen, tanzten Cumbia im historischen Zentrum und feierten das Lieblingsprojekt der Krypto-Enthusiast*innen, das Stranddorf El Zonte, auch „Bitcoin Beach” genannt. Zu den Ausflügen hinzu kamen Abendessen in den teuersten Restaurants des Landes sowie Übernachtungen in verschiedenen Luxushotels. Es wurden Fotos einiger Misses mit „Nayib Bukele 2024“-Kappen in den sozialen Netzwerken sowie über Propagandamedien der Regierung gestreut: illegale Propaganda für den verfassungswidrigen Wiederwahlversuch des Präsidenten. Obwohl die salvadorianische Regierung die genauen Kosten für die Durchführung des Schönheitswettbewerbs nicht bekanntgegeben hat, gab die ehemalige Miss El Salvador, Milena Mayorga, die mittlerweile Botschafterin El Salvadors in den Vereinigten Staaten ist, in einem Interview an, dass sich die Kosten allein für die Durchführung der Veranstaltung auf über 100 Millionen Dollar belaufen.

Während die Miss-Universe-Kandidatinnen an den salvadorianischen Stränden Fotoshootings machten, erreichte eine schockierende Meldung aus den USA die Bevölkerung: Am 7. November wurde Élmer Canales, „Crook“, einer der führenden Köpfe der Mara Salvatrucha-13, an die Vereinigten Staaten ausgeliefert. In den Wochen des Schönheitswettbewerbs stand Canales in New York vor Gericht. Seine Aussage bestätigte, dass es einen Pakt zwischen den Gangs und der Bukele-Regierung gab. Der Zeitpunkt für eine ansonsten schwerwiegende Enthüllung über Korruption in der salvadorianischen Regierung war für Nayib Bukele perfekt: Das Hauptthema in der nationalen Öffentlichkeit blieb weiterhin Miss Universe. Das Finale am 18. November war der Höhepunkt der Euphorie. Die Karten für die Show kosteten 500 bis 2.000 Euro – in einem Land, in dem der Mindestlohn nicht einmal 400 Dollar beträgt. Während sich die Kandidatinnen auf die Show vorbereiteten, waren einige Kilometer entfernt wütende Schreie zu hören. Eine Demonstration war auf dem Weg zum Hotel Intercontinental, in dem die Misses untergebracht waren, um die Scheinwelt von Präsident Bukele zu durchbrechen. Der Protestzug, initiiert durch die Bewegung der Opfer des Regimes (MOVIR), versuchte, die internationale Presse zu erreichen, um auf die Menschenrechtsverletzungen im Land aufmerksam zu machen. Die Demonstrant*innen und sogar die Presse wurden von der Polizei blockiert.

2023 wie 1975: Fotoshootings auf der einen Seite, Repression auf der anderen

Diese Konfrontation wirkt wie ein Déjà-vu. Denn es ist nicht das erste Mal, dass Miss Universe in El Salvador stattfindet und auch nicht das erste Mal, dass dies im autoritären Kontext geschieht. Im Jahr 1975, inmitten der Militärdiktatur, gelang es der Regierung von El Salvador, den Wettbewerb in das Land zu holen. Die Veranstaltung war Teil einer Strategie zur Vermarktung El Salvadors als Reiseziel unter dem Slogan „Das Land des Lächelns“. Doch hinter dem Lächeln verbarg sich ein zutiefst ungleiches Land, das seit Jahrzehnten unter der Herrschaft einer Militärdiktatur mit wechselndem Führungspersonal stand. Die absolute Unterdrückung der Opposition und der sozialen Bewegungen verwandelte das Land in einen Druckkochtopf, der wenige Jahre später zum Bürgerkrieg führen sollte. Zwei Wochen nach dem Finale von Miss Universe 1975 ordnete der damalige Präsident, Oberst Arturo Armando Molina, eine gewaltsame Niederschlagung einer Demonstration von Studierenden an, die auf der Straße die Verwendung öffentlicher Mittel für den Schönheitswettbewerb kritisierten. Es wird geschätzt, dass Hunderte von Menschen starben oder von staatlichen Sicherheitskräften entführt, gefoltert und ermordet wurden. Die genaue Zahl ist jedoch unbekannt, da die Aufklärung des Falls ausblieb.

“Magisches” El Salvador Proteste gegen den Schönheitswettbewerb wurden von bewaffneten Sicherheitskräften blockiert

Wie damals versucht die aktuelle Regierung El Salvadors, die überwältigende Armut und Repression zu vertuschen. Seit März 2022, also seit fast zwei Jahren, herrscht Ausnahmezustand im Land. Der Ausnahmezustand, der eigentlich nur für 30 Tage gelten sollte, wurde bereits 20-mal verlängert. Im Rahmen der Offensive gegen Straßengangs haben die Polizei und das Militär über 70.000 Personen verhaftet: Zwei Prozent der salvadorianischen, erwachsenen Bevölkerung sitzen im Gefängnis. Seit März 2022 sind mindestens 180 Menschen in den überfüllten Gefängnissen gestorben, viele davon, ohne jemals vor Gericht gestellt zu werden. Die Rede von Nayib Bukele beim großen Finale des Schönheitswettbewerbs präsentierte allerdings ein ganz anderes Land: „Für alle, die in Freiheit leben wollen, können wir Botschafter werden und der Welt mitteilen, dass El Salvador der Ort ist, an dem man seine Träume leben kann”, feierte der salvadorianische Präsident.

Überraschende Krönung

Die Verkündung des Ergebnisses der Miss-Wahl am 18. November brachte für viele eine Überraschung: Die Krone ging an Miss Nicaragua, Sheynnis Palacios. Die erste zentralamerikanische Gewinnerin in der Geschichte des Wettbewerbs wurde in ihrer eigenen Region gekrönt. Der Sieg von Miss Nicaragua bedeutete die Rückkehr vieler Nicaraguaner*innen auf die Straßen, nach Jahren der Angst vor der verheerenden Repression durch den Regierungsapparat. Zum ersten Mal seit Jahren waren öffentliche Plätze und Straßen in Managua voll von euphorischen Menschen, die blau-weiße Fahnen schwenkten, welche im Jahr 2018 zum Symbol der Opposition gegen die Regierung Ortega geworden waren.

Das wiederum stellte ein Dilemma für den nicaraguanischen Präsidenten Daniel Ortega und die Vizepräsidentin Rosario Murillo dar: Auf der einen Seite war es vielleicht das erste Mal seit Jahren, dass Nicaragua einen wichtigen Platz in der internationalen Presse einnahm, ohne dass es sich um eine seiner vielen Repressionsmaßnahmen handelte. Allerdings ist Sheynnis Palacios keine genehme Miss-Universe-Gewinnerin für die Ortega-Murillo-Propaganda: In den Medien hat sie sich bei der nicaraguanischen Regierung nicht bedankt. Sie widmete den Preis ihrer Familie und der nicaraguanischen Bevölkerung und erwähnte das Regierungspaar dabei nicht einmal. Bei einer Pressekonferenz machte sie die Andeutung, dass ihr Land sich verändern werde, ohne dabei jedoch konkret auf die politische Situation Nicaraguas einzugehen. Minuten nach ihrer Krönung wurden außerdem in den sozialen Netzwerken Fotos der Schönheitskönigin auf Demonstrationen gegen die nicaraguanische Diktatur bei den Aufständen von 2018 massiv geteilt.

„Nicaragua feiert mit seiner Königin!”, erklärte die Regierung zunächst am Tag nach der Miss-Universe-Wahl in einem Statement, das allerdings weder von Ortega noch von Murillo unterschrieben wurde. Drei Tage später war die Stimmung in der Regierung deutlich weniger festlich. Rosario Murillo schrieb im von der Regierung kontrollierten Nachrichtenportal El 19 Digital, dass die „eitlen, verrückten Menschen”, womit die politische Opposition und die kritische Zivilbevölkerung gemeint waren, aufhören sollten „Schönheit, Freude und Talent” von Palacios zu missbrauchen. Zwei Wochen nach dem Gewinn wurde Karen Celebertti, Leiterin des Miss-Nicaragua-Wettbewerbs, am Flughafen in Managua der Eintritt in das Land verweigert. Das Haus der Familie von Martín Argüello Leiva, dem Ehemann von Celebertti, wurde durchsucht. Seit dem 27. November wird Argüello Leiva dort unter Polizeibewachung in Isolationshaft gehalten.

Wie viele Regierungen in der Vergangenheit haben zwei autoritäre zentralamerikanische Präsidenten versucht, die Miss-Universe-Wahl zu ihrem Vorteil zu nutzen. Für Bukele, der Umfragen zufolge den Rückhalt der Mehrheit der Bevölkerung genießt und dessen Beliebtheit weder durch Korruption noch durch Repression beeinträchtigt wurde, war die Veranstaltung ein Schub medialer Aufmerksamkeit und eine willkommene Ablenkung. Für Ortega bedeutete der Sieg einer nicaraguanischen Frau, die nicht regierungsnah zu sein scheint, ein symbolischer Schlag und ein weiterer Riss im staatlichen Sandinismus, während die Unzufriedenheit immer weiterwächst. Was beide autoritäre Regierungen gemeinsam haben: Eine mutige und widerständige Zivilgesellschaft, die sich trotz der Repression nicht komplett davon abhalten lässt, auf die Straßen zu gehen und für das eigene Land zu kämpfen.


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Der Nicaragua-Kanal dient als Drohkulisse

„Der größte Pirat und Vaterlandsverkäufer – Daniel Ortega“ Protest gegen den interozeanischen Kanal in Nicaragua (Foto: Jorge Mejía Peralta via Flickr, CC BY 2.0)

Es hat lange gedauert: Zwischen 2013 und 2020 hatten die vom interozeanischen Kanal betroffenen afro-indigenen Behörden der Territorialregierung der Rama und Kriol sowie der Comunidad Negra Creole Indígena de Bluefields (Indigenen Gemeinschaft der Schwarzen Kreolen von Bluefields) bereits 19 Schutzanträge gestellt, von denen keiner vom nicaraguanischen Obersten Gerichtshof (CSJ) bearbeitet wurde. Danach wurde der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte (IACHR) aktiv. Bei der ersten Anhörung am 2. Februar 2023 bewies Nicaraguas Regierung durch ihre Abwesenheit abermals, dass die Forderungen der indigenen Gemeinschaften sie nicht interessieren, deren Klage verhandelt wurde. Der nicaraguanische Staat hat auf die Aufforderung des IACHR nicht reagiert und zu der Anhörung nicht einmal eine*n Bevollmächtigte*n entsandt.

Die Klage bezieht sich auf die fehlende Zustimmung seitens der indigenen Gemeinschaften zur Konzessionierung ihres Landes für den Bau eines interozeanischen Schifffahrtskanals (siehe LN 337/338). Obwohl 52 Prozent der Strecke des interozeanischen Kanals durch ihre Gebiete verlaufen würden, habe die Regierung sie nicht konsultiert. Weder zu dem Zeitpunkt, als sie im Juli 2012 das Gesetz 800 über die rechtliche Regelung des Kanals und die Einrichtung einer Kanalbehörde verabschiedete, noch ein Jahr später, als sie die Konzession für den Bau und die Verwaltung des Projekts an den chinesischen Investor Wang Jing für einen Zeitraum von bis zu 100 Jahren vergab, so die Kläger. Den Plänen nach soll der Kanal im Süden des Landes das Karibische Meer mit dem Pazifischen Ozean verbinden.

Der Fall ist ein beredtes Beispiel für die Schwerfälligkeit des interamerikanischen Systems, denn die Klage wurde bereits 2014 bei der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (CIDH) eingereicht, da diese nach der Amerikanischen Konvention für Menschenrechte vor dem IACHR allein klagebefugt ist. Von neun indigenen Rama- und Kriol-Gemeinden sowie der Comunidad Negra Creole Indígena de Bluefields eingereicht, verweist die Klage auf die Verletzung der Eigentumsrechte, der politischen Rechte, des gleichen Schutzes vor dem Gesetz, des Rechtsschutzes und -garantien sowie des Rechts auf eine gesunde Umwelt.

„Die Verantwortlichen der Territorialregierung der Rama-Kriol hatten seinerzeit angezeigt, dass der Staat Nicaragua den Präsidenten der Regionalregierung kooptiert und ihn gezwungen hat, ein vermeintliches Abkommen mit der Kanalbehörde zu unterzeichnen, das ihr unrechtmäßig einen unbefristeten Pachtvertrag über 263 Quadratkilometer Land im Herzen ihres angestammten Territoriums einräumt”, so die Anwältin María Luisa Acosta vom Zentrum für Rechtshilfe für indigene Völker (CALPI), die die Opfer vertritt. Die Comunidad Negra Creole Indígena de Bluefields warf der Regierung unter anderem vor, dass der nicaraguanische Staat eine Parallelregierung zu der von der Gemeinschaft rechtmäßig gebildeten Regierung eingesetzt und den Prozess der Rechtstitelvergabe über ihr angestammtes Territorium abgebrochen hat. Zudem sei Dolene Miller, ihre Vertreterin in der Conadeti (Nationale Kommission für Demarkation und Titulierung), rechtswidrig entlassen und nur sieben Prozent des beanspruchten Landes der Parallelregierung übertragen worden, so dass die restlichen 93 Prozent außen vor blieben.

Miller erklärte vor dem IACHR, dass der nicaraguanische Staat ihrer Gemeinde durch ihre willkürliche Entfernung aus ihrem Amt einen enormen Schaden zugefügt habe, da diese seitdem vom Prozess der Gebietsabgrenzung abgekoppelt sei. Diese Situation habe letztlich zur Abtrennung ihrer angestammten Gebiete geführt. Darüber hinaus beklagte sie sich über Repression: „Bei mehreren Gelegenheiten wurde ich Opfer von Verfolgung und mein Haus war von der Polizei umstellt. Wir mussten uns bei vielen Gelegenheiten mit verschiedenen politischen Stellen auseinandersetzen; in meiner Stadt Bluefields wurde uns auf Anordnung politischer Organe der Zutritt zu einigen öffentlichen Gebäuden untersagt und ehrlich gesagt fühlen wir uns nicht mehr sicher.”

Rupert Allen Clair, Führungspersönlichkeit des Kriol-Volkes von Monkey Point, sagte vor dem Gerichtshof aus, dass er vom nicaraguanischen Staat zum Schweigen gebracht worden sei, weil er die Art und Weise der Durchführung des Kanalprojekts kritisiert habe. Gegenüber der Internetzeitung Confidencial betonte Clair, dass die Kanalbehörden zunächst davon gesprochen hätten, die gesetzlich vorgeschriebene Konsultation durchzuführen. „Ich ging dorthin, und als wir (die städtischen Behörden) ihnen unsere Richtlinien vorlegten, sahen sie sich diese an und sagten: ‘Ok, damit werden wir nicht arbeiten’. Sie haben aus den Richtlinien das herausgenommen, was sie wollten, und neue erstellt. Für mich überraschend war, dass das für uns Wichtigste, nämlich die Einbeziehung eines Beraters und eines internationalen Beobachters, gestrichen wurde. Sie wollten nicht, dass wir einen Berater haben, sondern sagten, wir könnten mit einem Berater aus Bluefields zusammenarbeiten, den sie uns zur Verfügung stellen würden”, so Clair.

Seit der offiziellen Bekanntgabe des Kanalprojekts 2013 sind zehn Jahre ins Land gegangen, ohne dass irgendwelche Fortschritte zum Bau dieses Megaprojekts bekannt geworden wären. Experten*innen haben in Zeitungsartikeln wiederholt die fehlende Anwendung einer Klausel des „Kanal-Rahmenabkommens” von Seiten der Regierung gerügt, wonach die Teilprojekte ab dem Zeitpunkt der offiziellen Bekanntgabe der Bauarbeiten innerhalb von sechs Jahren abgeschlossen sein müssen. Neben dem Kanal handelt es sich bei den Teilprojekten unter anderen um zwei Flughäfen, zwei Tiefseehäfen, zwei künstliche Seen, zwei Schiffsschleusen, eine Freihandelszone, umfangreiche Infrastrukturprojekte und Tourist*innenzentren.

Die hochfliegenden Pläne scheiterten jedoch, da sich das Firmenimperium des inzwischen insolventen chinesischen Investors Wang Jing als ein „Geflecht von 23 in der ganzen Welt registrierten Scheinfirmen” erwies „Diese Unternehmen, die über keinerlei finanzielle oder technische Rückendeckung verfügten, wurden nur wenige Wochen vor der Vergabe der Mega-Konzession gegründet”, heißt es in dem im März in Costa Rica vorgestellten Libro de ruta mafiosa. Obwohl das Kanalprojekt in den ersten sechs Jahren nicht wie geplant realisiert wurde, bleiben die Gesetze 800 und 840, das Sondergesetz für die Entwicklung der nicaraguanischen Infrastruktur, des Verkehrs und der Freihandelszonen in Kraft. Es gibt keinerlei Garantien für die Grundbesitzer*innen entlang der Kanaltrasse, denen weiterhin Enteignung und Umsiedlung droht.

Im Gegenteil, die indigenen Gemeinschaften, die sich dem Projekt widersetzen, leben in einem „belastenden Umfeld”, zitiert Confidencial den Experten Pau Pérez Sale. Die Mitglieder dieser Gemeinschaften seien Opfer der Zerstörung ihres Lebensraums, willkürlicher Entlassungen, Prekarisierung, angstauslösender Maßnahmen, polizeilicher Überwachung und Stigmatisierung wegen der Auswirkungen auf ihre Familien. Es handelt sich um „eine Reihe von kontextuellen Elementen, Bedingungen und Praktiken, die darauf abzielen, den Willen der Opfer oder der Gemeinschaften zu brechen”, so Pérez Sale.

Becky McCray, Vertreterin des Volkes der Rama, erklärte vor dem IACHR: „Wir sind von weit hergekommen, um Gerechtigkeit zu suchen, weil wir sie in Nicaragua nicht haben. Es war ein ständiger Kampf, deshalb bitte ich dieses ehrenwerte Gericht, den Staat Nicaragua aufzufordern, das Regulierungsverfahren (zur Gebietsabgrenzung, Anm. d. Red.) unverzüglich umzusetzen und die Aufhebung des Gesetzes 840 zu fordern, weil die betroffenen Völker nicht konsultiert wurden. Das Gleiche gilt für die Aufhebung der Zustimmungsvereinbarung, durch die sie sich ein Gebiet von 263 Quadratkilometern Land aneignen”.

„Wir sind von weit hergekommen, um Gerechtigkeit zu suchen, weil wir sie in Nicaragua nicht haben“

Anstatt die Annullierung des Projekts geltend zu machen, hat Ortega offensichtlich die sprudelnden Geldquellen im Auge, die sich durch den zunehmenden globalen Rohstoffhunger und sich ausweitenden Handelsverkehr auftun, was dem Projekt noch einmal Auftrieb geben könnte. Er findet daher gute Gründe, die Reanimation des Kanalprojekts in Aussicht zu stellen. Zuletzt im September 2022 versicherte Ortega im Rahmen seiner Rede zum Nationalfeiertag: „Irgendwann wird ein Kanal hier in Nicaragua Wirklichkeit werden.” Zwar räumte er ein, dass „es einen Kanal durch Panama gibt, der erweitert wurde. Aber die Anforderungen des internationalen Verkehrs sind so groß, dass ein Kanal durch Nicaragua notwendig sein wird.” Ortega liegt damit gar nicht so falsch wie es scheint, denn vor dem Hintergrund der steigenden Nachfrage nach kürzeren Transportwegen, neuen Wasserstraßen und zusätzlichen Hafenanlagen für die Beförderung von Rohstoffen kann Ortega die geopolitische Konfrontation zwischen den Großmächten nutzen und den Kanal als alternative Handelsroute ins Spiel bringen. Das hätte nicht nur für die betroffenen bäuerlichen und indigenen Gemeinschaften verheerende Folgen, sondern für die gesamte nicaraguanische Bevölkerung, indem grundlegende Gemeingüter des Staates wie der Große Cocibolca-See und unschätzbare Schutzgebiete privatisiert oder zerstört würden. Riesige Landstriche drohen vernichtet zu werden.

Die Konstruktion eines Schifffahrtskanals lastet wie ein Fluch auf der Geschichte Nicaraguas, schon zu Kolonialzeiten hat er eine große Rolle gespielt und Begehrlichkeiten geweckt. Es waren schließlich die Vereinigten Staaten, die Anfang des 20. Jahrhunderts den Bau eines Kanals verhinderten, da sie kein Konkurrenzprojekt zu dem von ihnen vorangetriebenen Bau des Panamakanals (1904 bis 1914) duldeten.


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„Als wären wir nie dort geboren worden“

Das Colectivo de Derechos Humanos Nicaragua Nunca Más führt in Costa Rica die Arbeit der nicaraguanischen Menschrechtsorganisation CENIDH im Exil fort. Ist das nicht schwierig, ohne vor Ort zu sein?

Wendy Flores: In Costa Rica haben wir schon Überwachungssituationen erlebt und jüngst einen der schwersten Angriffe, den Gonzalo Carrión erlitt, in Form des Entzugs der Staatsangehörigkeit. 2019 haben wir das Menschenrechtskollektiv Nicaragua Nunca Más gegründet. Es ist eine Organisation, deren Arbeit in der Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen besteht, die in Nicaragua innerhalb des Landes sowie an Vertriebenen in Costa Rica und andernorts begangen werden. Wir prangern die Menschenrechtsverletzungen an und sind aufgrund dessen mit Angriffen auf unsere Arbeit konfrontiert.

Gonzalo Carrión: Bereits in Nicaragua waren wir Menschenrechtsverteidiger. Da die Organisation, für die wir in Nicaragua tätig waren, angegriffen wurde, waren wir gezwungen, das Land zu verlassen. Wir beschlossen, zu tun, was wir können, um die Menschenrechte zu verteidigen, in einem offensichtlich äußerst schwierigen Kontext, da die Verfolgung nicht aufhört.

Wie geht es den in Nicaragua verbliebenen Familien von Kollektivmitgliedern?

Wendy: Nachdem wir uns 2019 an einem dringenden Appell an die Interamerikanische Menschenrechtskommission beteiligt haben, um die Morde auf dem Land und die Verfolgung der bäuerlichen Bevölkerung anzuprangern, betrachtet uns die nicaraguanische Armee als Destabilisatoren des Friedens. So wurden im Zuge der jüngsten Überwachungsmaßnahmen die Häuser einiger unserer Kollektivmitglieder in Managua überwacht, die an regierungsnahe Personen übergeben wurden. Sie haben nach unseren Namen gefragt, um herauszufinden, ob wir noch dort leben. Das beweist, dass wir in Nicaragua immer noch überwacht werden und auch unsere Familien in Gefahr sind.

Juan Carlos Arce: Dieses Kollektiv entstand, weil die Kriminalisierung von Menschenrechtsverteidigern in Nicaragua im Jahr 2018 sehr stark war und sich in der Schließung von Organisationen, einschließlich des Nicaraguanischen Zentrums für Menschenrechte, ausdrückte. Damals hat jeder für sich beschlossen, das Land zu verlassen, weil unsere Freiheit und unser Leben in Gefahr waren. Wir sahen die Möglichkeit, uns in Costa Rica niederzulassen, um den Kampf von dort aus zu führen, was in Nicaragua nicht möglich ist. Wenn man Menschenrechtsverletzungen anprangert, dokumentiert, wird man mit Sicherheit verhaftet, seiner Freiheit beraubt, ausgewiesen oder getötet. Aber auch im Exil hat das Konsequenzen für dich und deine Familie: Wenn sie kommen, um dich zu verhaften und du nicht zu Hause bist, nehmen sie jedweden aus deiner Familie mit.

Am 9. Februar wurden 222 politische Gefangene aus den Gefängnissen geholt und ohne Umweg in ein Flugzeug nach Washington D.C. gesetzt. Wie haben Sie den Moment ihrer Freilassung erlebt?

Juan Carlos: Die Freilassung der politischen Gefangenen war definitiv eine Forderung, die wir seit mehr als einem Jahr erhoben haben, weil sie durch die Anwendung verschiedener Folterpraktiken dabei waren, getötet zu werden. Unser Kollektiv hat mehr als 150 Fälle von Folter dokumentiert, mehr als 30 Arten von Folter, und in der letzten Phase hat das Regime eine Art von Folter angewandt, die als weiße Folter bezeichnet wird und darauf abzielt, sensorische Schäden zu verursachen, was dazu geführt hat, dass sich der Gesundheitszustand der meisten Gefangenen erheblich verschlechtert hatte. Deshalb begrüßen wir die Freilassung mit Freude, denn das Leben dieser Menschen war in Gefahr. Die Befreiung wird jedoch von einer Maßnahme begleitet, die in Nicaragua und in Lateinamerika beispiellos ist − der Verbannung. Es gab im vergangenen Jahrhundert kein Regime, das mehr als 222 Personen verbannt und ihnen die Staatsangehörigkeit entzogen hat. Andere, ebenfalls inakzeptable Maßnahmen sind der Entzug sämtlicher bürgerlicher und politischer Rechte sowie die Beschlagnahmung ihres Eigentums, was einer Enteignung gleichkommt.

Es ergeben sich aber noch andere, äußerst komplizierte Situationen: Da ist die Frage der Familienzusammenführung. Was die Dinge verkomp-*liziert, ist, dass sie aus den Zivilstandsregistern gestrichen werden, als wären sie nie geboren worden. Jetzt, da sie in den USA sind, haben sie ihre Familien nicht sehen können, nicht umarmen können, sie können sie nur per Videoanruf sehen; sie sind einer absolut verwundbaren Situation ausgesetzt. Außerdem ihres Eigentums und ihrer Existenzgrundlage beraubt.

Nicht allein den Abgeschobenen wurde die nicaraguanische Staatsbürgerschaft entzogen, sondern weiteren 94 Dissident*innen. Was bedeutet das im Einzelnen für die Betroffenen?

Gonzalo: Die Verurteilung der 222 Gefangenen zur Verbannung und der Entzug ihrer Staatsangehörigkeit betrifft auch uns. 94 Personen, von denen 90 im Exil leben, wurde ebenfalls die Staatsangehörigkeit entzogen. Aber die Grausamkeit besteht darin, dass unsere Namen in den offiziellen Registern gelöscht werden, als ob wir nicht im Land geboren wären. Einige Familienmitglieder hatten für die Familienzusammenführung bereits Reisedokumente beantragt. Hierzu gibt es Berichte, dass sie Pässe für ihre Kinder oder Personen, die reisen wollen, beantragt hatten, aber da sie mit Exilanten in Verbindung stehen, hieß es, dass diese Personen nicht existieren. Diese Maßnahme hat noch weitere Folgen: Mehrere Personen haben mitgeteilt, dass ihre Altersrente blockiert wurde. Dafür haben wir gearbeitet, unser ganzes Arbeitsleben lang Beiträge geleistet. Dieser Machtmissbrauch geht über unseren Tod als Bürger hinaus, er bedroht unser Leben.

Spanien, Argentinien, Chile, Kolumbien und Mexiko haben den jetzt Staatenlosen die Staatsbürgerschaft angeboten. Ein Großteil von ihnen steht jedoch vollkommen mittellos und ohne finanzielle Unterstützung da. Welche Möglichkeiten sehen Sie, auf dieses Problem zu reagieren?

Wendy: Tatsächlich kommt es darauf an, dass die Staaten Druck auf Nicaragua ausüben, damit diese repressiven Maßnahmen eingestellt werden, und dass jeder einzelne Staat eine entsprechende Politik verfolgt. Es müssen UN-Mechanismen wie das UNHCR [Hochkommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge] aktiviert werden, denn jede vertriebene Person kommt mit absolut nichts, braucht Nahrung, braucht Arbeit, braucht eine Bleibe.

Fast zehn Prozent der nicaraguanischen Bevölkerung leben außerhalb des Landes, was wegen der Repression gegen ältere Menschen, die auf ihre Rente angewiesen waren, zur weiteren Verarmung geführt hat. Ihre Renten wurden nicht mehr auf ihre Konten überwiesen, sodass ihre Familien sie nicht mehr abheben können. Menschen, die ihre Häuser vermietet hatten, wurden ihres Eigentums beraubt und haben dieses Einkommen nicht mehr. Es besteht also die Absicht, die Würde derer, die außerhalb Nicaraguas noch ihre Stimme erheben, für nichtig zu erklären, zu verarmen und zu schädigen. Dies muss von der internationalen Gemeinschaft nicht nur verurteilt werden, sondern es müssen auch wirksame Maßnahmen ergriffen werden, um auf alle diese Forderungen zu reagieren.

Juan Carlos: Ich möchte noch eine weitere Dimension hinzufügen: Die Menschen, die aus dem Gefängnis entlassen wurden, sind auch in ihrer psychischen Gesundheit zerstört. Das Regime hat Schäden verursacht, die mit bloßem Auge nicht sichtbar sind, aber nach mehr als einem Jahr – manche zwei, drei Jahre –, in denen sie extrem grausamen Praktiken ausgesetzt waren, sind gesundheitliche Schäden zu verzeichnen.

Ein wirksamer Schutz dieser Staaten muss sich in einer Reihe anderer Maßnahmen niederschlagen, die von der Sicherung des Lebensunterhalts über deren Integration und soziale Prozesse in den Aufnahmeländern bis hin zur körperlichen und seelischen Gesundheit reichen. Wenn man sich nicht dafür einsetzt, wird alles viel schwieriger für diese Menschen, die absolut schutzbedürftig sind.

Wendy: Für jede Person bedeutet das, dass sie von jedem Land eine Staatsangehörigkeitsbescheinigung, die Anerkennung ihrer Diplome, ihres Berufs oder ihres Gewerbes erhalten muss, um sich selbst zu versorgen und ihre Rechte wirklich ausüben zu können. Abgesehen von der Staatsangehörigkeit braucht sie aufgrund der erlittenen Folter dringend psychologische Betreuung.

„Ich höre ein Knacken im Gebälk des Regimes […], wie bei einem Bauwerk, das gut zu stehen scheint und dann zusammenfällt”, sagte Dora María Tellez nach ihrer Freilassung im Interview mit der mexikanischen Tageszeitung La Jornada. Würden Sie dem zustimmen?

Gonzalo: Unbedingt. Die Verbannung von 316 Personen ist eine Aktion, die international die weitere Isolierung des Ortega-Murillo-Regimes, seinen Legitimitätsverlust, anzeigt. In letzter Zeit haben sich der kolumbianische Präsident Gustavo Petro und Präsident Gabriel Boric aus Chile immer wieder für die politischen Gefangenen und für Freiheit in Nicaragua eingesetzt. Mexiko, zwar zögerlich, hat sich ebenfalls zu Wort gemeldet, ebenso wie Brasilien und Argentinien. Es ist eine Tyrannei in der Einsamkeit. Ich bin zuversichtlich, dass sie enden wird.

Wendy: Da es sich um eine Diktatur handelt und niemand garantierte Rechte hat, wurden sogar Beamte des Justizwesens, die an der Repression beteiligt waren, wegen Misstrauens gegen sie inhaftiert. Sie [Ortega-Murillo] haben die eigenen engen Vertrauten, die eigenen Parteikader und Staatsbeamten angegriffen; ihre eigene Basis hat das Land verlassen, weil die Repression sie ebenfalls erreicht hat. Im Moment halten sie sich mit Waffengewalt, mit der Polizei und der Armee aufrecht. Das ist keine Garantie dafür, dass sie an der Macht bleiben, denn sie haben keine interne Unterstützung − die ist minimal. Wir glauben, dass dies ein Ende haben wird.

Juan Carlos: In Nicaragua sagen die Bauern, wenn sie mit schwierigen Situationen konfrontiert werden: „Es wird Tag, es wird immer Tag”. In Nicaragua wird der Tag anbrechen. Ich weiß nicht, ob es bald so weit sein wird, aber es gibt eine starke Erosion innerhalb der Frente Sandinista [Regierungspartei FSLN]. Man wird eine Implosion dessen erleben, was von dieser Partei übrig ist. Das ist unsere Hoffnung.


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AUS DEM GEFÄNGNIS IN DIE VERBANNUNG

Die übergroße Mehrheit der politischen Gefangenen, die in den Gefängnissen der Diktatur Strafen für Verbrechen verbüßten, die sie niemals begangen hatten und die in willkürlich erlassenen Gesetzen erfunden wurden, ist freigelassen, in ein gechartertes Flugzeug gesetzt und bei Nacht und Nebel in die Verbannung geschickt worden − auf dieselbe willkürliche Weise, wie sie festgenommen und Gerichtsverfahren unterworfen wurden, die keinerlei juristischen Wert hatten, und unter unmenschlichen Bedingungen in Einzelhaft gehalten wurden. Einige wenige erhielten Hausarrest.

Gerade habe ich das Video gesehen, in dem ein Richter in seiner Robe − Präsident des Berufungsgerichts von Managua − vor einem leeren Saal des Justizkomplexes mit Grabesstimme das Urteil verliest, mit dem die langen Haftstrafen, zu denen die Gefangenen verurteilt worden waren, in die Strafe der Verbannung umgewandelt werden. Außerdem werden sie wegen Vaterlandsverrats aller Bürgerrechte und politischen Rechte beraubt − eine weitere Willkür, die jeder Grundlage entbehrt.

Kurz darauf hat die Nationalversammlung in einer Dringlichkeitssitzung in gehorsamer Einstimmigkeit ein Dekret verabschiedet, das in Verletzung der Verfassung Vaterlandsverrätern die nicaraguanische Staatsangehörigkeit entzieht, also den noch auf ihrer Flugreise befindlichen Verbannten. Noch mehr Willkür. Sie vergessen, dass allgemein geltenden Prinzipien entsprechend Gesetze nicht rückwirkend angewandt werden können, auch wenn es sich um ein Verfassungsgesetz handelt. Doch in Nicaragua haben allgemein geltende Prinzipien ihre Gültigkeit verloren.

Verbannt, staatenlos, aber frei. Gott schreibt die Verse der Freiheit auf krummen Linien, doch mit gerader Schrift. Und dies ist gerade mal das erste Blatt. Die besten Seiten kommen erst noch. Sie nehmen ihnen die Staatsangehörigkeit, weil sie meinen, damit können sie die wütenden Fanatiker ruhig stellen, die blinden Anhänger, die Paramilitärs, die sich bei der Repression mit Blut besudelt haben und jetzt verwirrt sein müssen, sind sie doch an die Hasstiraden gewöhnt, die ihnen Tag für Tag eingehämmert werden, und denen zufolge diese Vaterlandsverräter, diese Terroristen, die im Jahre 2018 einen Putschversuch unternommen haben, nie wieder das Sonnenlicht erblicken sollten. Das war die offizielle Rhetorik: Verräter, Terroristen, Müll, Vaterlandsverkäufer. Sie haben die Freiheit wiedergesehen, wie das ganze Land sie eines Tages wiedersehen wird.

Alle politischen Gefangenen der Diktatur, sowohl diejenigen, die das Flugzeug bestiegen, das sie in die Verbannung brachte, als auch die 38, die blieben, sind vorbildliche Nicaraguaner*innen, die voller Würde über Monate die Isolation in Einzelzellen ertragen und aus dem Gefängnis den Ort ihres Kampfes gemacht haben, dem Gefängnis, wo sie nie hätten sein dürfen: Politische, Gewerkschafts- und Bauernführer*innen, Menschenrechtsverteidiger*innen, Vertreter*innen der Privatwirtschaft, studentische Aktivist*innen, Jurist*innen, Universitätsdozent*innen, katholische Priester. Und sogar ein Bischof aus der Diözese von Matagalpa und Estelí, Monseñor Rolando Álvarez, eine wahrhaft prophetische Stimme, der sich weigerte, ausgebürgert zu werden und das Gefängnis vorzog: „Sie sollen frei sein, ich übernehme ihre Strafe“, sagte er. Sie alle waren in Haft wegen eines von Winkeladvokaten aus dem Ärmel gezogenen Vergehens: „Untergrabung der nationalen Souveränität“; einer von einem Ehepaar angeeigneten Souveränität, einer Familie an der Macht, einer alten revolutionären Partei, die zur Karikatur eines längst gescheiterten Traums geworden ist.

Es war immer klar, dass die politischen Gefangenen Geiseln waren

Nie hat man sie beugen können. Niemals senkten sie den Kopf vor den erbärmlichen Richtern bei den Orwell’schen Verhandlungen. Sie trugen ihre Gefängniskleidung, ohne dass es ihre Würde verletzte, und gaben einem Land ein Beispiel von Anstand, das mit Gewalt zum Schweigen gebracht worden ist und aus dem inzwischen Tausende über die grüne Grenze geflohen sind, auf der Flucht vor der Repression, vor dem Schweigen, vor der Angst. Ein Land, das noch nicht aus seinem langem Alptraum erwacht − nach einer Diktatur die nächste, noch schlimmere −, das ganz für sich allein heimlich feierte, als das Flugzeug mit den verbannten Gefangenen abhob; eine kleine Freude, auch wenn es weiß, dass es noch weit entfernt ist vom Ziel der Freiheit und Demokratie.

Es war immer klar, dass die politischen Gefangenen Geiseln waren. Angesichts der zunehmenden internationalen Isolierung wollte die Diktatur diese Verhandlungsoption behalten, die einzige, die ihr zur Verfügung stand, die Gefangenen im Tausch gegen etwas: die Aufhebung der wirtschaftlichen Sanktionen der USA, der Europäischen Union, der Schweiz, Kanadas und Großbritanniens. Sanktionen sowohl gegen staatliche Einrichtungen als auch öffentliche Unternehmen und regimetreue private Unternehmen, Funktionäre der Polizei und der Regierung sowie Angehörige der Familie des Diktators. Haben sie etwas davon erreicht? Noch ist nicht klar, was sie im Gegenzug erhalten haben. Der Charterflug mit den Gefangenen hatte den Dulles Airport in Washington zum Ziel, doch in einem Kommuniqué für den Kongress beeilte sich das State Department zu erklären, dass es sich um eine einseitige Entscheidung Ortegas gehandelt habe, „seine eigene Entscheidung“. Und er wird aufgefordert, weitere Schritte für die Wiederherstellung der Demokratie und der Freiheit in Nicaragua zu unternehmen, ohne dass dabei irgendein Handel zugegeben wird.

Ortega sagte in seinem öffentlichen Auftritt, nachdem die ausgebürgerten Gefangenen in Washington angekommen waren, dass es sich um eine einseitige Entscheidung seiner Regierung handele und es keine Verhandlungen gegeben habe. Er habe nur den US-Botschafter gebeten, sie abzuholen und sonst nichts.

Sehr seltsam und paradox. Erst kürzlich hatte er den mexikanischen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador und den argentinischen Präsidenten Alberto Fernández ebenso brüsk zurückgewiesen wie den kolumbianischen Präsidenten Gustavo Petro, als sie ihn um genau dasselbe baten: die Gefangenen freizulassen. Und er beschuldigte sie sogar der Einmischung von außen, trotz der ideologischen Übereinstimmungen, die er mit ihnen zu haben vorgibt. Und jetzt gesteht er das, was er ihnen verweigerte, dem ewigen imperialistischen Feind zu? Wie soll man das verstehen?

Wie auch immer, die Diktatur steht jetzt mit leeren Händen da. Ihre beste Strategie wäre es gewesen, die Freilassung der Geiseln nach und nach auszuhandeln, statt sie alle auf einmal freizulassen, um noch Asse im Ärmel zu behalten. Ein schlechtes Zeichen, was sie anbelangt. Die Geiseln freizulassen ist kein Zeichen von Stärke, sondern von Schwäche. Das zeigt der Diktator, indem er ihnen die Staatsangehörigkeit entzieht, eine letzte Rache, wo sie doch schon außer Reichweite seiner Klauen sind, als ob seine Dekrete und die Gesetze und Urteile seiner Statisten, Richter und Abgeordneten, ewige Gültigkeit hätten und Nicaragua für immer unter seiner Knute stünde. Diese Verbannten sind mehr Nicaraguaner*innen denn je.


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VEREINIGUNGSRECHT UNTER DER GUILLOTINE

Abgesagt Auch das Poesiefestival Granada fiel der Verbotspolitik der Regierung zum Opfer (Foto: Jorge Mejía Peralta via Flickr (CC BY 2.0))

Nicaraguanische digitale Informationsportale veröffentlichen derzeit lange Listen von NGOs, über deren Auflösung im Parlament en bloc abgestimmt wird. Danach wurden seit Dezember 2018 nicht weniger als 452 NGOs liquidiert, nachdem zuletzt am 2. Juni 2022 die Annullierung von 96 weiteren Organisationen das Parlament passiert hat. Darunter finden sich Vereine, Stiftungen, Institute und Körperschaften, mehr als zweihundert allein in diesem Jahr. Sechs ausländischen NGOs, die sich für Menschen mit begrenzten wirtschaftlichen Ressourcen einsetzen, hat die dem Innenministerium (Migob) angegliederte Generaldirektion für die Registrierung und Kontrolle von gemeinnützigen Organisationen am 24. Mai den Rechtsstatus entzogen. Die Löschung der Registrierung betrifft NGOs aus Italien, Costa Rica, den Vereinigten Staaten und Spanien sowie die deutsche NGO medico international. Zur Begründung hieß es, dass sie die „Kontrolle und Überwachung” behinderten, da sie ihre Finanzberichte nicht vorgelegt sowie die Herkunft ihrer Spenden nicht gemeldet hätten und sich auch nicht als „ausländische Agenten” registrieren ließen.

Die Maßnahmen richten sich gegen eine breite, diverse NGO-Landschaft: Unter den betroffenen Organisationen finden sich Unternehmer*innen nahestehende Organisationen wie die Amerikanisch-Nicaraguanische Stiftung, die von Mitgliedern der mächtigen nicaraguanischen Unternehmerfamilie Pellas gegründet wurde und seit 30 Jahren Sozialprogramme in verschiedenen Bereichen zugunsten der am stärksten gefährdeten Gemeinden des Landes fördert. Ferner liberal-demokratische Organisationen und neoliberale Think-Tanks, deren ausländische Partnerorganisationen geopolitische Interessen verfolgen wie zum Beispiel die deutsche FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung. Von Auflösung betroffen sind ebenfalls Berufsverbände, Vereinigungen von Kleinst- und mittleren Unternehmer*innen oder religiöse Organisationen wie die jesuitische Angelo Giuseppe Roncalli-Vereinigung und das Zentralamerikanische Historische Institut. Die ins Visier genommenen NGOs sind jedoch mehrheitlich progressiv bis links zu verorten. Viele haben sich bereits in den 90er Jahren gegründet, um den sozialen Kahlschlag der neoliberalen Vorgängerregierungen abzufedern, indem sie sich für die Forderungen und Bedürfnisse besonders vulnerabler und benachteiligter Bevölkerungsgruppen einsetzten. Schwerpunkte ihrer Arbeit sind Frauenrechte und -emanzipation, Gewaltprävention, Kinderschutz und Jugendprojekte, medizinische Programme, Umweltschutzprojekte, Projekte zur Verteidigung indigener Rechte und sozialer Minderheiten, Menschenrechte sowie die Stärkung von Bürger*innenbeteiligung. Seit Ortegas Machtübernahme 2007 positionierte sich vor allem die Frauenbewegung entschieden gegen das unter seiner Führung installierte politische System. Die Soziologin María Teresa Blandón (s. LN 539), Direktorin der zentralamerikanischen Vereinigung für feministische Programme La Corriente, einer der am 4. Mai aufgelösten NGOs, erklärt dazu, dass der Angriff auf die zivilen Organisationen einer „Politik der Zerstörung und des Schweigens” entspreche. Sie ziele darauf ab, „uns auszuschalten, uns zu demobilisieren und eine einzige Form der Beteiligung, eine einzige Form der Organisation durchzusetzen, die vom Regime kontrolliert wird.” Sie bezeichnete die Entscheidung der Abgeordneten als „illegalen Akt”, da sie gegen das verfassungsmäßige Recht auf Vereinigungsfreiheit verstoße.

Die Generaldirektorin für die Registrierung und Kontrolle gemeinnütziger Organisationen des Migob, Franya Urey Blandón, die ihre Empfehlungen zur Aufhebung des Rechtsstatus an die Nationalversammlung weiterleitet, wirft den betroffenen Organisationen eine Reihe von Gesetzesverstößen vor: gegen das Gesetz gegen Geldwäsche, Terrorismusfinanzierung und Finanzierung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, das Gesetz zur Regulierung ausländischer Agenten und gegen das am 6. Mai in Kraft getretene Allgemeine Gesetz zur Regulierung und Kontrolle gemeinnütziger Organisationen. Angeblich hätten die NGOs es versäumt, Jahresabschlüsse nach Steuerzeiträumen mit detaillierter Aufschlüsselung vorzulegen, ihre Vorstände würden nicht mehr existieren und sie hätten versäumt, über frühere Spenden aus dem Ausland Buch zu führen. Dieser eingespielte Mechanismus zwischen Migob und Parlament funktioniert reibungslos, da die Regierungspartei FSLN nach der Wahlfarce vom 7. November 2021 (s. LN 569/570) über 75 von 90 Sitzen verfügt. Zweifelhaft erscheint indes, wie die Generaldirektion bei einer derart großen Menge an Vorgängen die Berichterstattung der Organisationen auf Herz und Nieren geprüft haben will, um deren Liquidierung zu legitimieren.

Demgegenüber beklagen Dutzende NGOs, dass die Behörden alle möglichen Strategien anwenden, um ihre Begründungen für die sogenannten Unregelmäßigkeiten und Verstöße zu untermauern: Dokumentationen werden nicht angenommen oder Prüfprozesse verschleppt, so dass Fristen verstreichen. Die Feministin Ana Quirós − ehemalige Direktorin des aufgelösten Zentrums für Information und Beratung im Gesundheitswesen − hält die Argumente für die Illegalisierung der NGOs für „Ausreden”, da der erste Schritt darin bestehen müsse, die Organisationen aufzufordern, die Fehler, die sie (angeblich) machen, zu beheben, und nicht, sie endgültig zu schließen. Zu den vermeintlichen Versäumnissen erklärt die Soziologin Blandón gegenüber dem Internetkanal Esta Noche: „La Corriente hat beschlossen, sich nicht als ausländischer Agent registrieren zu lassen, weil wir diese Definition nicht erfüllen. Wir sind ein Kollektiv von Nicaraguaner*innen, die seit fast 30 Jahren auf dem nationalen Territorium tätig sind und aus Staatsangehörigen besteht.” Die Liquidierung der NGOs kann auch den Einzug ihres Vermögens nach sich ziehen. Die Umweltschutzorganisation Fundación del Río war eine der ersten, deren Rechtsstatus im Dezember 2018 annulliert wurde. In der Folge wurden 454 Hektar Wald durch die Generalstaatsanwaltschaft und das Ministerium für Umwelt und natürliche Ressourcen (MARENA) konfisziert. Darunter waren Grundstücke zur Wiederaufforstung und natürlichen Regenerierung des Waldes, die Einrichtung des kommunitären Radio Voz Juvenil sowie die Büros der Organisation, außerdem vier Waldschutzgebiete und die biologische Station Mancarroncito.

„Es handelt sich um eine Säuberung von Organisationen, die das Regime als konträr zu seiner extraktivistischen Politik betrachtet, die die Grundrechte der Bevölkerung verletzt”, sagte Amaru Ruíz, Präsident der Fundación del Río gegenüber dem Portal für unabhängigen Umweltjournalismus in Lateinamerika Mongabay Latam. Wie viele Aktivist*innen lebt Amaru Ruíz inzwischen im Exil. Ihm wird vorgeworfen, sich der „Verbreitung falscher Nachrichten in den Informations- und Kommunikationsmedien” schuldig gemacht zu haben. Insbesondere seine Berichte über die Gewalt gegen die indigenen Gemeinschaften an der nördlichen Karibikküste 2020 (s. LN 557) und 2021 und das Massaker vom 3. September 2021 im Mayangna de Sauni As-Territorium im Biosphärenreservat Bosawás dürften zur Anklageerhebung gegen ihn geführt haben.

Konfiszierte Immobilien werden für Propaganda genutzt

Ein weiteres Beispiel von Enteignung ist die 1990 gegründete Stiftung für kommunale Förderung und Entwicklung Popol Na, deren Direktorin Monica Lòpez Baltodano ebenfalls im Exil lebt. Am 19. März 2021 wurde in den ehemaligen Büros der Stiftung ein Familien- und Gemeindezentrum eingeweiht und damit die endgültige Beschlagnahmung besiegelt. Es gehört zum perfiden Vorgehen dieser Regierung, die konfiszierten Immobilien einem propagandistischen Zweck zuzuführen. Schon am 21. Februar hatte das Gesundheitsministerium in den beschlagnahmten Büros der unabhängigen Medien Confidencial, Esta Semana, Esta Noche und Revista Niú, die dem Journalisten Carlos Fernando Chamorro gehören, eine Entbindungsstation eingeweiht und am Eingang ein Foto zu Ehren von Ortega und Murillo angebracht. Durch die öffentlichkeitswirksame Überführung eines Teils des beschlagnahmten Eigentums in soziale Projekte, erkauft sich die Regierung insbesondere bei der armen Bevölkerung die Akzeptanz ihrer polizeistaatlichen Methoden und verschleiert, in welchen Kanälen der Großteil dieser Vermögen am Ende tatsächlich landet.

Es liegt auf der Hand, dass diese ungeheure Menge an Verlusten zivilgesellschaftlicher nationaler und ausländischer Akteur*innen und Organisationen vor allem im Sozial-, Bildungs-, Umwelt und Kulturbereich nicht nur existentielle Folgen für die Menschen haben wird, denen die Unterstützung entzogen wird, sondern auch einen enormen Arbeitsplatzverlust für alle nationalen Kräfte bedeutet, die in den inkriminierten NGOs tätig waren. Ortega weiß, dass er aus den Wahlen vom 7. November geschwächt hervorgegangen ist. Umso mehr geht es darum, die absolute Kontrolle über das Land zu gewinnen: Jede Form der Bürger*innenbetätigung, die nicht unter Regierungskontrolle steht, wird ausgeschaltet, weil die Existenz unkontrollierter Räume − wie sie die NGOs darstellen − auch eine Chance zur Selbstermächtigung der Bürger*innen bietet oder sich in ihnen Widerstandsnester formieren könnten.

Damit keine Freude mehr aufkomme und Grabesstille herrsche im Land, fiel Mitte Mai dieses Jahres auch die Stiftung Internationales Poesiefestival Granada der Brachialgewalt zum Opfer. „Seit fast 20 Jahren machen wir dieses Festival mit Liebe, mit der ehrenamtlichen Arbeit des Vorstandes, mit Freude und bringen die Poesie zu den Tausenden, die mit Freude in Granada teilgenommen haben”, beklagt die Schriftstellerin Gioconda Belli die Auflösung und fügt hinzu: „Was in unserem Land geschieht, ist ein Trauerspiel, ein täglicher Angriff auf die Bemühungen von Tausenden, Nicaragua von der Zivilgesellschaft aus das zu geben, was die Regierung niemals uneigennützig wird geben können. Die Absage des Festivals ist eine Verweigerung von Freude und Poesie.“


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RACHEFELDZUG MIT RECHTSANSTRICH

Die Frustration der Angehörigen Vor dem Gefängnis in El Chipote (Foto: Jorge Mejía Peralta, CC BY 2.0 via Flickr)

Der juristische Repressionsapparat von Nicaraguas Präsident Daniel Ortega läuft seit dem 1. Februar auf Hochtouren. Seitdem stehen Ex-Guerrilleros*as, linke Aktivist*innen und Feminist*innen, NGO-Mitarbeiter*innen, Student*innen, Bauern und Bäuerinnen, Journalist*innen, ehemalige Diplomat*innen und Ex-Minister*innen, Geschäftsleute und Persönlichkeiten des bürgerlichen Spektrums vor Gericht. Sie eint, ihre (tatsächliche oder behauptete) Gegnerschaft gegen den einstigen Guerillero Ortega, der in seiner nun 15-jährigen zweiten Präsidentschaft Nicaragua in ein äußerst repressives und autoritäres Regime zur persönlichen Machterhaltung und Bereicherung verwandelt hat. Die Gerichtstermine wurden festgelegt, nachdem Ortega am 24. Januar die Reaktivierung der politischen Prozesse angeordnet hatte, die seit dem Oktober 2021 wegen der Präsidentschaftswahlen ausgesetzt worden waren.

Mit Miguel Mora, dem Journalisten und Exdirektor des inzwischen geschlossenen Fernsehkanals 100%Noticias, wurde am 4. Februar der erste Präsidentschaftskandidat zu 13 Jahren Gefängnis verurteilt, außerdem wurde ihm das Recht zur Ausübung öffentlicher Ämter aberkannt. Wie die Internetzeitung Confidencial berichtete, war Mora bei der Urteilsverkündung anwesend, weigerte sich jedoch, das Sitzungsprotokoll zu unterzeichnen. Bei der abgeriegelten Anhörung, der nur seine Frau, die Journalistin Verónica Chávez, beiwohnen durfte, wurde er von der Richterin Nadia Camila Tardencilla, die als besonders systemergeben gilt, der „Verschwörung zur Untergrabung der nationalen Integrität” für schuldig befunden.

Am 7. Februar verurteilte ein Gericht − dem Antrag der Staatsanwaltschaft folgend − Ana Margarita Vijil, Vorsitzende der Partei Demokratische Erneuerungsunion (UNAMOS, ehemals Sandinistische Erneuerungsbewegung, MRS), zu zehn Jahren Gefängnis, wie das Nicaraguanische Zentrum für Menschenrechte (Cenidh) bestätigte. Cenidh bestätigte ebenfalls die Verurteilung der Ex-Guerillera und Mitbegründerin des MRS, Dora María Téllez, zu einer Haftstrafe von acht Jahren wegen „Verschwörung zur Untergrabung der nationalen Integrität”. In ihrem Fall ist das Gericht unter dem von der Staatsanwaltschaft geforderten Strafmaß von 15 Jahren geblieben. Der Studentenführer Lesther Alemán, der nach dem Blutbad während der Proteste 2018 im ersten nationalen Dialog Daniel Ortega zum Rücktritt aufgefordert hatte, wurde zu 13 Jahren Haft verurteilt. Der 26-jährige Yaser Vado, dem außerdem die „Verbreitung falscher Nachrichten” zur Last gelegt wurde, erhielt 13 Jahre und der Psychologiestudent Yader Parajón zehn Jahre. Das Urteil gegen die vier Angeklagten wurde am 10. Februar unter Ausschluss der Öffentlichkeit in einem Polizeiabschnitt des Gefängnisses El nuevo Chipote verkündet.

Dieses Gefängnis, das nach den Massenverhaftungen im Zusammenhang mit der Protestbewegung von 2018 neu errichtet wurde, ist Schauplatz aller gegenwärtigen Gerichtsprozesse gegen die politischen Gefangenen. Die Umstände spotten jeglicher Rechtsstaatlichkeit. So finden die Prozesse hinter verschlossenen Türen statt. In einigen Fällen erhielten die Angeklagten erst beim Betreten des Gerichtssaals davon Kenntnis, dass sie sich im eigenen Strafverfahren befinden. Als Beweismittel dienen der Generalstaatsanwaltschaft Twitter-Posts, Retweets von Nachrichten anderer Personen oder internationaler Organisationen, Medieninterviews, in denen individuelle Sanktionen gefordert werden, sowie die Verbreitung angeblich falscher Nachrichten in den sozialen Medien, Zeugenaussagen von Ermittler*innen und Polizist*innen. Strafverteidiger*innen haben in den Prozessen nur eine Statistenrolle ohne die Möglichkeit auf den Verlauf des Verfahrens zugunsten ihrer Mandant*innen Einfluss zu nehmen. Das Verbot der Ausübung öffentlicher Ämter ergänzt in vielen Fällen das hohe Strafmaß.

Zuletzt löste der Tod des politischen Gefangenen und legendären sandinistischen Ex-Guerilleros Hugo Torres nicht nur in Nicaragua, sondern auch auf internationaler Ebene ein empörtes Echo aus. Am 13. Juni 2021 wurde er wegen „Anstiftung zur ausländischen Einmischung in die inneren Angelegenheiten Nicaraguas” verhaftet und verstarb am 12. Februar 2022 im Alter von 73 Jahren, nachdem er aufgrund seines lebensbedrohlichen Gesundheitszustandes in ein Krankenhaus überstellt worden war. Hugo Torres nahm während der Somoza-Diktatur an zwei Kommandoaktionen der Sandinistischen Befreiungsfront (FSLN) zur Befreiung politischer Gefangener teil: 1974 am Überfall auf die Residenz eines Ministers, der zur Freilassung einer Gruppe politischer Gefangener geführt hatte, darunter Daniel Ortega! 1978 gehörte er zusammen mit Dora María Tellez dem Guerillakommando an, das mit der Erstürmung des Nationalpalastes die Befreiung einer weiteren großen Gruppe erreichte.

Verschiedene oppositionelle Organisationen machen Daniel Ortega und seine Ehefrau Rosario Murillo für den Tod von Torres direkt verantwortlich und sprechen von Mord, da Torres trotz seines unübersehbar bedrohlichen Gesundheitszustandes und zahlreicher Bitten seiner Angehörigen nicht aus der Haft entlassen wurde. Sie fordern eine unabhängige Untersuchung und rückhaltlose Aufklärung der Umstände seines Todes, der nicht ungestraft bleiben dürfe.

Mit einer Erklärung zum Tod von Hugo Torres versucht die Generalstaatsanwaltschaft dem Mordvorwurf entgegenzutreten, indem behauptet wird, dass sie nach Bekanntwerden seiner schweren Erkrankung und „aus humanitären Gründen” die endgültige Aussetzung des Beginns der mündlichen und öffentlichen Verhandlung bei den Justizbehörden beantragt habe und dies genehmigt worden sei. Von einer wirksam gewordenen Verfügung zur Haftentlassung ist darin jedoch nicht die Rede. Stattdessen: „Die Staatsanwaltschaft als Teil des Strafjustizwesens wird weiterhin dazu beitragen, die Sicherheit und die Einhaltung der Regeln des friedlichen Zusammenlebens sowie Ruhe, Toleranz und die Achtung der Gesetze der Republik zu gewährleisten.“

Seit Langem prangern Ärzt*innen, Anwält*innen, Menschenrechtsbeobachter*innen und die Angehörigen der politischen Gefangenen die Haftbedingungen und Folter durch Isolation an und fordern deren sofortige Freilassung. Ihren Berichten zufolge hat die schlechte und unzureichende Ernährung zu gravierendem Gewichtsverlust geführt; tägliche Verhöre, fehlendes Sonnenlicht, das nur eine Stunde pro Woche oder alle vierzehn Tage gewährt wird; künstliches Licht, das entweder 24 Stunden brennt oder ausgeschaltet ist, so dass der*die Gefangene die Tage in Dunkelheit verbringt, hat die Isolation noch verschärft. Plötzlicher Gewichts- verlust, Schwindel und die blasse Haut der meisten politischen Gefangenen sind „Symptome anderer Krankheiten”, die sie entwickeln und die ihrer körperlichen und geistigen Gesundheit irreparablen Schaden zufügen, warnen Fachleute, die die Haftbedingungen und deren körperliche und psychische Folgen untersucht haben. Alarmiert vom zunehmenden gesundheitlichen Verfall vor allem der älteren Gefangenen − darunter einige über 70 Jahre alt − wandten sich vor Kurzem die Angehörigen in einem dringenden Appell an die nationale und internationale Öffentlichkeit: „In El Chipote und im Strafvollzugssystem leiden mehrere unserer Angehörigen an chronischen Krankheiten wie Bluthochdruck, Herzrasen, Parkinson, Diabetes und Krebs.” Die Gefangenen hätten monatelang keine fachärztliche Betreuung erhalten und unter Schwindel, Ohnmacht und Dekompensation gelitten.

Unter den Angeklagten sind auch Max Jeréz und Suyén Barahona, in den LN bekannt durch Interviews (siehe LN 533, 538): Suyen Barahona, Präsidentin der Partei Unamos, wurde zu acht Jahren Gefängnis und dem Entzug der Zulassung zu öffentlichen Ämtern verurteilt. Das Urteil vom 21. Februar gegen Max Jeréz, Student der Politikwissenschaften und Präsident der Universitätenallianz AUN, lautet auf 13 Jahre Gefängnis und ebenfalls dem Entzug des Rechts zur Ausübung öffentlicher Ämter.

Die Urteile stützen sich auf die zwischen 2020 und Anfang 2021 erlassenen Gesetze (siehe LN 558), mit denen die Opposition neutralisiert, der Wettbewerb bei Wahlen ausgeschaltet, die Zusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisationen kriminalisiert und Journalist*innen und Bürger*innen, die sich in den sozialen Medien äußern, verfolgt werden.

Zur Rolle der Richter schreibt der Autor und Journalist Onofre Guevara López in Confidencial: „Der Oberste Gerichtshof ist nicht nur fadenscheinig, weil er das Ergebnis des Willens einer betrügerischen Regierung ist, sondern er erfüllt auch die parteipolitische Verpflichtung, die Richter auszuwählen, die politische Gefangene in aller Rechtswidrigkeit aburteilen und verurteilen, sowie die ungewöhnliche Praxis – die es nicht einmal unter dem Somozismus (Diktatur der Familie Somoza von 1937-1979, Anm. d. Red.) gab -, heimlich eine Art Kriegsgericht in den Gefängnissen abzuhalten.”

Was die Rechtmäßigkeit der Strafverfahren aus juristischer Perspektive angeht, erklärt Silvia Sánchez Barahona, ehemalige Staatsanwältin und Expertin für Strafrecht und Strafverfahren, in einem Beitrag in demselben Medium, dass mit dem Gesetz 1060 aus dem Jahr 2021 Reformen des Strafverfahrens eingeführt wurden, welche ein Vorher und ein Nachher für das Strafrechtssystem bedeuten: „Die unabdingbaren Grundsätze für die Akteure der Justiz, wie die Unschuldsvermutung, die unverzügliche Rechtsprechung, die Einhaltung der gesetzlichen Fristen, die Objektivität und Unparteilichkeit, die Achtung der Verfahrens- und Verfassungsgarantien, scheinen eine Rückentwicklung in Richtung des inquisitorischen Systems erfahren zu haben.“

Für die kommenden Tage und Wochen sind weitere politische Prozesse im Gefängniskomplex El nuevo Chipote anberaumt, wobei schon allein die Wahl dieses Ortes ein Verstoß gegen die Rechtsstaatlichkeit darstellt.

Die Einlassung des einfachen Bauern Santos Camilo Bellorín Lira (56) zu Beginn seines Gerichtsverfahrens wegen „Verbreitung falscher Nachrichten” in den sozialen Netzwerken, wirft ein deutliches Licht auf das Wesen dieser Prozesse: „Es ist traurig, inhaftiert zu sein, ohne zu wissen, warum. Ich bin Bauer und wenn Sie mich nach einem Pflug fragen, kann ich Auskunft geben, in Sachen Politik bin ich unbedarft. Der Technik bin ich nicht gewachsen, ich weiß nicht einmal, wie man eine Telefonnummer abspeichert; ich habe nur die fünfte Klasse beendet und kann nur lesen und schreiben, und meine Vorhaben sind Arbeit und Landwirtschaft.“ Am 15. Februar wurde der Bauer zu elf Jahren Gefängnis verurteilt.


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UND WAS NUN?

Kein Wahlprozess Ortega und Murillo veranstalten schamlose Fiktion (Foto: Privat)

Für diejenigen, die Augen hatten, um zu sehen, war das, was am 7. November in Nicaragua geschah, kein Wahlprozess, sondern eine schamlose Fiktion, die von Ortega und Murillo zum Zweck ihrer „Wiederwahl” inszeniert wurde, ohne sich einem Gegner stellen zu müssen. Das alles, um den Staat weiterhin zu kontrollieren und ausbluten zu lassen, um sich vor den Beweisen ihrer Verbrechen zu schützen und ihre Familienunternehmen und die ihrer Stützen in sämtlichen Machtbereichen − die aufstrebende (…) Partei-Bourgeoisie − weiter zu vergrößern.

Die perverse Simulation stützte sich auf die Gesetze zur Kriminalisierung der Opposition, auf die Gegenreform des Wahlgesetzes und die Komplizenschaft namenloser Kandidat*innen und nur auf dem Papier existierender Organisationen, die mitmachten, um vorzutäuschen, dass es in dieser Operette andere Wahlmöglichkeiten gebe – ein erfolgloser Versuch, das Volk zu verspotten.

Die Simulation war zusätzlich makaber, weil der Klimbim zur Inszenierung dieses Coups die Schließung mehrerer Medien wie La Prensa, die Kriminalisierung von Journalist*innen und die Festnahme von mehr als 30 politischen Aktivist*innen und Persönlichkeiten voraussetzte, darunter sieben Präsidentschaftskandidat*innen. Die Auswirkungen dieser Verfolgung waren neue Flüchtlingswellen.

Die Diktatur verweigerte jede unabhängige Wahlbeobachtung und zum ersten Mal wurde die internationale Presse an der Einreise gehindert. Nie zuvor hat es in der Region ein vergleichbares Ausmaß an Willkür gegeben.

Der gesamte Wahlapparat der FSLN (Sandinistische Nationale Befreiungsfront) wurde in eine reine Ortega-Maschine umgewandelt. Diese war in vollem Einsatz in allen Landesteilen, mit Listen zur Hand, um zu garantieren, dass niemand, der in staatlichen Institutionen arbeitet, Familien eingeschlossen, es unterließ, zur Wahl zu gehen. Der mit nicht löschbarer Tinte beschmierte Finger war einer der Kontrollmechanismen; außerdem wurde verlangt, dass die Staatsangestellten ein Foto des auf ihrem Stimmzettel zugunsten der Diktatur markierten Feldes abgaben.

Der Aufruf zum Paro Electoral Cuidadano (Wahlboykott), der Mitte September von der Articulación de Movimientos Sociales (Organisation der sozialen Bewegungen, Anm. der Red.) gestartet wurde, hat zu einem Konsens unter allen politischen und zivilgesellschaftlichen Kräften, der Bewegung der Bauern und Bäuerinnen, den feministischen Organisationen und den neuen Studierenden- und Jugendbewegungen geführt. Das Nationale Einheitsbündnis Blau-Weiß (UNAB) rief die Bevölkerung auf, nicht zur Wahl zu gehen, die Türen ihrer Häuser zu verschließen und nicht auf die Straße zu gehen, während sich in den Städten im Ausland die Exilant*innen versammelten, um ihre Ablehnung der Verhöhnung der Demokratie zum Ausdruck zu bringen.

Der Aufruf zum Wahlboykott funktionierte. In der Morgendämmerung des 7. November wirkte das ganze Land trostlos. Die Anhänger*innen des Regimes waren schon früh zu den Wahlurnen gezogen und Ortega musste früher als sonst erscheinen, um das Schweigen zu brechen, wobei er gegen seine Gegner*innen wetterte.

Die angebliche Wahl Ortegas steht im Gegensatz zu den Ergebnissen der jüngsten Cid Gallup-Umfrage: 69 Prozent der Nicaraguaner*innen missbilligen Ortegas Amtsführung. Gleichzeitig wären 65 Prozent bereit gewesen, für eine*n der Vorwahlkandidat*in zu stimmen, die Ortega seit Mai gefangen hält, um den Diktator aus dem Amt zu entfernen, der nur 19 Prozent der Stimmen erhalten hätte.

Was kommt als Nächstes? Ortega wird versuchen zu verhindern, dass sich die blau-weiße Bewegung im Landesinneren neu formiert, indem er von verstärkter Repression Gebrauch macht, während er seine rhetorische Verachtung für die mehrheitliche Ablehnung von Regierungen und internationalen Organisationen beibehält.

Er wird zudem versuchen, den internationalen Druck durch einen weiteren Scheindialog zu lockern. Die Schritte, die er in letzter Zeit unternommen hat, deuten darauf hin, dass er den Gegenpart seinen Vorstellungen entsprechend aufbaut. Die Verhaftungen des Präsidenten und des Vizepräsidenten des COSEP (Unternehmer*innenverband, Anm. der Red.), Michael Healy und Álvaro Vargas, haben es, trotz ihres Schweigens in den letzten Monaten, ermöglicht, dass ein zweiter Vizepräsident, César Zamora, übergangsweise die Leitung der Unternehmer*innenorganisation übernimmt. Zamora ist Präsident der Energiekammer (CEN), einer der Sektoren, die am meisten von den Konzessionen und den teuersten Energietarifen in Mittelamerika profitiert haben, welche die Ortega-Regierung gewährte, und war bislang einer der Unternehmer, die sich am deutlichsten für einen Dialog mit dem Diktator ausgesprochen haben.

In einer wütenden Rede vom 8. November rief Ortega aus, dass die inhaftierten prodemokratischen Führungspersonen „Hurensöhne” des Imperialismus seien, dass sie keine Nicaraguaner*innen seien und dass die Vereinigten Staaten sie nehmen sollten. Dies deutete auf einen möglichen Weg der Verbannung für alle Inhaftierten hin, wie es Somoza einst mit Carlos Fonseca, Pedro Joaquín Chamorro und anderen Patriot*innen tat.

Andererseits bleibt abzuwarten, welche Position die Vereinigten Staaten tatsächlich einnehmen werden, die bekanntlich immer ihre eigenen Interessen in den Vordergrund stellen. So wie Ortegas antiimperialistische Rhetorik viele von uns nicht täuscht, ist die Haltung der USA gegenüber dem Regime bisher nicht über persönliche Sanktionen hinausgegangen. Bis heute stellen der Internationale Währungsfonds, die Weltbank, die BID (Interamerikanische Entwicklungsbank) und die BCIE (Zentralamerikanische Bank für Wirtschaftsintegration) der von Ortega geführten Regierung und ihrem Repressionsapparat entscheidende finanzielle Mittel zur Verfügung. Das Freihandelsabkommen (DR-CAFTA) ermöglicht es führenden nicaraguanischen Geschäftsleuten, in den Genuss von Vorteilen zu kommen, und der Regierung, die Arbeitslosigkeit teilweise durch die maquilas zu lösen. Indessen garantiert Ortega den Vereinigten Staaten eine strenge Kontrolle der Migration in den Norden und gute Beziehungen zwischen der ortegistischen Armee und dem US-Südkommando.

Eine weitere Herausforderung für die internationale Gemeinschaft, einschließlich der OAS und der EU, ist, sich nicht auf Erklärungen zur 7N-Simulation (Wahlfarce am 7. November, Anm. der Red.) zu beschränken. Zugleich muss die Position Argentiniens in der letzten OAS- Abstimmung (12.11.21) bekräftigt werden, sodass der mexikanische Präsident López Obrador versteht, dass seine zweideutige Haltung, ähnlich wie die einer rechtsgerichteten militaristischen Regierung wie Honduras, gefährliche Signale für die Demokratien in der Region aussendet. Abzuwarten bleibt auch, ob sich die Haltung des Vatikans ändern wird. Papst Franziskus hat − bisher − Schweigen bewahrt, das Ortega begünstigt, und die lokale katholische Hierarchie dazu drängt, eine gemäßigte Position im Einklang mit der Position des umstrittenen Nuntius des Vatikans beizubehalten.

Was die Linke betrifft, so können einige Sektoren und bekannte Persönlichkeiten, wie Atilio Borón (marxistischer argentinischer Soziologe, Anm. der Red.), die Augen nicht länger vor der Realität in Nicaragua verschließen. Danach scheint, was Ortega macht, das neue Programm des Sozialismus und der neuen Demokratie zu sein: Autoritarismus, Polizeiregime, Verweigerung aller politischen Rechte der Bürger*innen, Wahlfälschungen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit an einem unbewaffneten Volk und Entzug der Meinungs-, Rede- und Organisationsfreiheit. Diese Sektoren bekunden weiter ihre Solidarität mit einem korrupten Regime, das noch neoliberaler, patriarchalischer und extraktivistischer ist als die kapitalistischen Oligarchien. Es ist notwendig, sie aufzufordern, damit aufzuhören sich zum Narren zu machen, wie es kürzlich Lulas PT (Arbeiterpartei) in Brasilien getan hat, die Ortegas „große demokratische Feier” begrüßte, nur um diesen Gruß Stunden später von ihrer Website zu entfernen.

Im Moment scheint die Reaktionsfähigkeit der Nicaraguaner*innen begrenzt zu sein. Das Regime übt eine nie dagewesene Kontrolle über die Bevölkerung aus, indem es die verfassungsmäßigen Garantien de facto außer Kraft setzt, Polizeikräfte und paramilitärische Gruppen einsetzt und die Stadtviertel und Gemeinden territorial überwacht. All dies geht einher mit der Bereitschaft, diejenigen zu töten, zu inhaftieren, zu foltern und ins Exil zu treiben, die auch nur den geringsten Protest wagen.

Das Puzzle der Kräfte des Aufstandes von 2018 muss neu zusammengesetzt werden. Klar ist, dass die Alianza Cívica (AC) (einer der beiden Oppositionsblöcke bürgerlicher Prägung Anm.der Red.) ein Markenzeichen war, das sich das Großkapital schnell angeeignet hat. Die Unternehmer*innen waren in den beiden Phasen des Dialogs (Mai 2018 und März 2019) vorherrschend und zögerlich. Ihre Haltung hat dazu beigetragen, dass Ortega die Kontrolle über das Land zurückgewann und er natürlich keine der getroffenen Vereinbarungen eingehalten hat.

Derzeit sind die verschiedenen Kräfte, gleich welcher Ausrichtung, Opfer einer gewaltigen Repression geworden. Die Möglichkeit, Strategien für Freiheit und Demokratie zu entwickeln, hängt von der Beharrlichkeit beim Aufbau eines nationalen, anti-diktatorischen Bündnisses im Rahmen eines Minimalprogramms ab, das sich auf die Beendigung des Polizeistaats, die Freilassung aller politischen Gefangenen, die Wiederherstellung der Grundfreiheiten und die Beseitigung Ortegas durch einen Bürgeraufstand − diesmal mit mehr Organisation und Nachdruck − konzentriert. Wir müssen uns vernetzen und in eine breite „Demokratiebewegung” verwandeln, anstatt „Opposition” sein zu wollen nach den institutionalisierten Spielregeln von Wahlen, die es heute in diesem Land nicht gibt. Mit Ortega und Murillo an der Macht kann es keine wirklich freien Wahlen geben. Es bedarf einer breiten, horizontalen Bewegung, ohne irgendeine hegemoniale Kraft, die an Strategien des Kampfes arbeitet, die von der Überzeugung ausgehen, dass Ortega ein Paria ist, ein Usurpator der Macht und der Institutionen. Nur mit seinem Abgang kann der Weg zur Demokratie beginnen.

Im Jahr 2021 hat die Diktatur wieder einmal ihr ganzes unheilvolles Potenzial entwickelt und eingesetzt − vor aller Öffentlichkeit. Es liegt nun an uns Nicaraguaner*innen, Wege zu finden, um den Untergang der Diktatur zu beschleunigen.

 


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NICARAGUA HAT KEINE WAHL

Umkämpftes Nicaragua Der Kampf der Wenigen ist die Zukunft der Vielen (Foto: Jorge Mejía Peralta, Flickr CC BY 2.0)

In Nicaragua hat keine demokratische Abstimmung stattgefunden, sondern eine plump inszenierte Scheinwahl. Das Wahlergebnis hat nur bestätigt, was ohnehin schon feststand, nachdem Gegenkandidat*innen verhaftet oder unter Haus-arrest gestellt wurden: eine deutliche Parlamentsmehrheit für die Sandinistische Nationale Befreiungsfront (FSLN) und eine vierte Amtszeit in Folge für Präsident Ortega. Während die unabhängige Beobachtungsstelle Urnas Abiertas davon ausgeht, dass 81,5 Prozent der Bevölkerung den Wahlboykottaufrufen verschiedenster Organisationen gefolgt sind, meldet der Oberste Wahlrat (CSE) eine Wahlbeteiligung von 65,23 Prozent.

Die Regierungsstrategie, durch die Reduzierung der Wahllokale das niedrige Wähler*innenaufkommen optisch zu kaschieren, ging indes nicht auf. Lange Schlangen bildeten sich nirgends. So waren die Stimmen schnell ausgezählt und am Nachmittag des 8. November gab der FSLN-dominierte Oberste Wahlrat das offizielle Wahlergebnis bekannt: Die Regierungspartei FSLN mit ihrem Kandidaten Daniel Ortega gewann 75,92 Prozent der abgegebenen Stimmen, den Rest teilen sich die an der Wahlfarce beteiligten Parteien Allianz für die Republik (Apre), Liberale Nicaraguanische Allianz (ALN), Christlicher Nicaraguanischer Weg (CCN), die Liberale Partei (PLI) sowie die Liberale Konstitutionalistische Partei (PLC). Letzterer wurde mit 14,15 Prozent als einziger Partei neben der FSLN ein zweistelliges Ergebnis zugestanden.

Der CSE hatte mit Verweis auf die Covid-19-Pandemie einen „virtuellen” Wahlkampf ohne Massenveranstaltungen und Parteiumzüge bestimmt. Außer dem Kandidaten der Apre machte jedoch keine der Parteien von den sozialen Netzwerken Gebrauch. Ein Wahlkampf im herkömmlichen Sinne wurde nicht einmal simuliert, was sich auch im öffentlichen Raum widerspiegelte, wo nur vereinzelt Wahlplakate oder Transparente zu sehen waren.
In den letzten Monaten vor dem Wahltermin stellte sich den Nicaraguaner*innen außerhalb der Anhängerschaft der FSLN nicht die Frage wen, sondern ob man wählt. Für viele Menschen ging es dabei nicht um eine freie Willensentscheidung, sondern darum, die Weigerung, sich an dieser Farce zu beteiligen, gegen nachteilige persönliche Konsequenzen abzuwägen. Die Diktatur hat die Bespitzelung und Repression in den letzten Jahren extrem verschärft, umso gefahrvoller war die Entscheidung, nicht zur „Wahl” zu gehen. Doch die Gedanken, die sich Menschen in den Tagen vor dem Urnengang machten, sind es wert, dokumentiert zu werden. Im Folgenden wurden die Namen der Beteiligten geändert oder ganz weggelassen.

Da ist die Geschäftsfrau Doña Serafina mit ihrer Meinung, dass sich kaum jemand Gedanken um die Wahlen mache, obwohl die Menschen sich unsicher fühlen und Angst davor haben, was am Wahltag passieren könnte. „Ich erwarte, dass viele Menschen zu Hause bleiben. Unter denjenigen, die der Wahl nicht fernbleiben können, weil sie für die Regierung arbeiten, wird es viele geben, die ungültig stimmen, indem sie ein großes Kreuz auf dem Wahlzettel machen.“ Was die Menschen mehr beunruhige, seien der Mangel an Arbeit und die ständig steigenden Lebenshaltungskosten. „Die Preise sind in letzter Zeit in die Höhe geschossen, was bedeutet, dass immer mehr Menschen in Schwierigkeiten geraten“, äußert sie weiter.

Ein Taxifahrer bestätigt, dass er kaum noch über die Runden komme, weil die Leute kein Geld haben. Immer weniger Menschen könnten es sich leisten, ein Taxi zu nehmen. Die Regierung mit ihrer anti-imperialistischen Rhetorik nehme alles, was zu haben sei, sie plündere das ganze Land aus und verschlimmere die Lage von Tag zu Tag. „Als unsere Vertreter – von der größten Taxigewerkschaft in Managua! – sich bei der Vizepräsidentin (und Ehefrau von Ortega; Anm. der Red.) Rosario Murillo über ihre prekäre Einkommenssituation beschwerten, sagte sie, die Fahrer sollten sich nicht in den Kopf setzen, Aktionen zu organisieren. Wenn dies der Fall wäre, würde sie nicht zögern, allen Mitgliedern unseres Gremiums die Lizenz zu entziehen.” Drohungen wie diese, um einem Arbeitskampf vorzubeugen, sind im Repertoire der Ortega-Murillo-Regierung notorisch.

Juan, noch Parteimitglied, aber nicht mehr aktiv, sagt, er habe sich aus allem zurückgezogen. „Das Problem ist, dass unser Land keine entwickelte demokratische Kultur hat und wir traditionell daran gewöhnt sind, Konflikte mit Gewalt zu lösen.” Die Situation sei politisch festgefahren, weil die Regierung keine Möglichkeit für einen Dialog biete. Gleichzeitig räumt er ein, dass er keinerlei Vertrauen in das habe, was sich Opposition nennt. Er hält der FSLN zugute, dass sie sich um die sozialen Probleme der Menschen kümmere. Als Beweis dient ihm das mit seiner Familie gerade bezogene Haus, das ihm in einer neu erbauten Wohnsiedlung zugewiesen wurde. „Es mögen zwar auch ein paar Parteimitglieder aus der Mittelschicht darunter sein, aber der Großteil der Nutznießer kommt aus der Arbeiterklasse. Die Menschen hier zahlen 42 Dollar im Monat, und Menschen, die noch ärmer sind als wir, zahlen einen Bruchteil dieses Betrags für ein Stück Land, auf dem sie selbst etwas bauen können. Ich kenne keinen Vertreter der Rechten, der auch nur das geringste Interesse an Menschen unserer Art hat, geschweige denn, dass er jemals etwas für uns tun würde.“

„Es wird viele geben, die ungültig stimmen, indem sie ein großes Kreuz auf dem Wahlzettel machen.“

„Ich bin Mitglied der Frente Sandinista, seit ich 15 Jahre alt bin”, erzählt der Ingenieur Gonzalo. „Ich wurde in eine sandinistische Familie hineingeboren und meine Mutter ist ein Vorbild für mich. Die Revolution, der Kampf gegen die Konterrevolution in den achtziger Jahren, die Selbstlosigkeit, die Aufopferung und die Solidarität, all das hat sich leider in sein Gegenteil verkehrt. Dies hat mich dazu veranlasst, meine eigene Beteiligung an der frente (FSLN, Anm. d. Red.) kritisch zu hinterfragen. Als Student der Sandinistischen Jugendorganisation war ich ein engagierter Aktivist im Kampf gegen die Kürzungen an den Universitäten. Anfang der neunziger Jahre errichtete ich Barrikaden, schlug Fensterscheiben ein und setzte Busse in Brand, alles im Rahmen von Aktionen gegen die neoliberale Regierung von Violeta Chamorro. Ich wurde von der Polizei verprügelt, kurzzeitig inhaftiert und wieder freigelassen.“ Das alles sei geschehen, weil er an das revolutionäre Projekt geglaubt habe. Heute frage er sich, ob er nicht dazu beigetragen habe, dass das Land wichtige Chancen im Hinblick auf Entwicklungsperspektiven verpasst habe. „Ich habe erst das Handtuch geworfen, als die Meinungsfreiheit unterdrückt wurde und friedliche Demonstranten brutal verprügelt und sogar erschossen wurden. Kurzfristig sehe ich keine große Perspektive. Internationale Sanktionen sind eine komplizierte Geschichte, und die Struktur der Unterdrückung ist gut konstruiert. Ich hoffe, dass nach dem Tod des Comandante (Ortega, Anm. d. Red.) die ganze Struktur zusammenbricht. Man mag das für Wunschdenken halten, aber eine Struktur, die auf gegenseitigem Misstrauen, Angst und Unterdrückung aufgebaut ist, ist äußerst anfällig. Und die Anhänger der Diktatur, die an ihre eigene Geschichte glauben, werden von Tag zu Tag weniger.“

„Die Anhänger der Diktatur, die an ihre eigene Geschichte glauben, werden von Tag zu Tag weniger.“

Dass die Beteiligung an den Wahlen für viele eine komplizierte Entscheidung bedeutet, bestätigt die Aussage einer Lehrerin, deren Tochter und Sohn nicht zur Wahl gingen, da es nichts zu wählen gebe und die Ergebnisse bereits feststünden. Sie selbst gehe aber wählen „für die Kinder”, denn wenn ganze Familien auf der Liste der Wahlverweigerer*innen landeten, könnte das möglicherweise schlimme Folgen haben. Die Tochter ist Studentin, was in dem Fall nicht nur die Gefahr birgt, dass sie von der Universität verwiesen wird, sondern auch, dass ihre akademischen Ergebnisse zunichte gemacht werden und damit jegliche akademische Laufbahn. „Es herrscht eine Atmosphäre der Angst, die Menschen sprechen von Krieg und jeder ist überzeugt, dass die Repression nach den Wahlen zunehmen wird.“

Wie dieser Lehrerin geht es vielen Menschen, die in Bereichen der öffentlichen Verwaltung arbeiten oder von staatlichen Zuwendungen profitieren. Vor allem haben sie Angst, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, was in einem armen Land wie Nicaragua der Existenzvernichtung gleich kommt.

„Zynischerweise befindet sich die Diktatur derzeit in einer ausgezeichneten Verfassung“, meint ein ehemaliger Hochschullehrer. „In makroökonomischer Hinsicht geht es Nicaragua mit einem erwarteten Wachstum von drei Prozent in diesem Jahr erstaunlich gut. Das bedeutet nicht, dass alle davon profitieren, denn das ist nicht der Fall, aber die Wirtschaft steht sicher nicht vor dem Zusammenbruch”, sagt er. „Ende Oktober verhaftete die Diktatur zwei führende Vertreter des Unternehmerverbandes COSEP und ein Ortega-freundlicher Geschäftsmann wurde zu dessen neuem Chef ernannt. Dies hat kaum Anlass zu lautstarken Presseerklärungen oder viel Aufsehen gegeben. Für mich ist dies ein Zeichen dafür, dass Gespräche auf höchster Ebene geführt werden, dass die Diktatur einen Vorschuss auf den angekündigten nationalen Dialog leistet und zu verstehen gibt, dass nach den Wahlen alles in Ordnung sein wird, wenn der COSEP nicht allzu viel Aufhebens macht.“

Die Nicaraguaner*innen „haben der Diktatur die Türen verschlossen” und „der Aufruf, zu Hause zu bleiben, war ein durchschlagender Erfolg“, geben sich Alexa Zamora und Marcela Guevara, Mitglieder des Politischen Rates der zivilgesell- schaftlichen Organisation UNAB, zumindest für den Moment optimistisch.

Im Internetprogramm Esta Semana wirft der politische Analyst Eliseo Núñez Morales am Tag nach der Wahl einen Blick in die Zukunft: „Jedem hier, auch vielen Sandinisten, ist klar, dass das Problem Daniel Ortega ist. Die Opposition muss sich neu formieren, sie muss sich noch mehr bewegen, sie muss sich nach möglichen Führungspersönlichkeiten umsehen, insbesondere in den einzelnen Landesteilen. Die Opposition muss mit den spaltenden Themen aufhören und sich auf die Wiederherstellung der Freiheit Nicaraguas konzentrieren. Alles andere wird aufgeschoben.“


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