VEREINIGUNGSRECHT UNTER DER GUILLOTINE
Die Übernahme der totalen Kontrolle über die nicaraguanische Gesellschaft geht in eine neue Runde
Abgesagt Auch das Poesiefestival Granada fiel der Verbotspolitik der Regierung zum Opfer (Foto: Jorge Mejía Peralta via Flickr (CC BY 2.0))
Nicaraguanische digitale Informationsportale veröffentlichen derzeit lange Listen von NGOs, über deren Auflösung im Parlament en bloc abgestimmt wird. Danach wurden seit Dezember 2018 nicht weniger als 452 NGOs liquidiert, nachdem zuletzt am 2. Juni 2022 die Annullierung von 96 weiteren Organisationen das Parlament passiert hat. Darunter finden sich Vereine, Stiftungen, Institute und Körperschaften, mehr als zweihundert allein in diesem Jahr. Sechs ausländischen NGOs, die sich für Menschen mit begrenzten wirtschaftlichen Ressourcen einsetzen, hat die dem Innenministerium (Migob) angegliederte Generaldirektion für die Registrierung und Kontrolle von gemeinnützigen Organisationen am 24. Mai den Rechtsstatus entzogen. Die Löschung der Registrierung betrifft NGOs aus Italien, Costa Rica, den Vereinigten Staaten und Spanien sowie die deutsche NGO medico international. Zur Begründung hieß es, dass sie die „Kontrolle und Überwachung” behinderten, da sie ihre Finanzberichte nicht vorgelegt sowie die Herkunft ihrer Spenden nicht gemeldet hätten und sich auch nicht als „ausländische Agenten” registrieren ließen.
Die Maßnahmen richten sich gegen eine breite, diverse NGO-Landschaft: Unter den betroffenen Organisationen finden sich Unternehmer*innen nahestehende Organisationen wie die Amerikanisch-Nicaraguanische Stiftung, die von Mitgliedern der mächtigen nicaraguanischen Unternehmerfamilie Pellas gegründet wurde und seit 30 Jahren Sozialprogramme in verschiedenen Bereichen zugunsten der am stärksten gefährdeten Gemeinden des Landes fördert. Ferner liberal-demokratische Organisationen und neoliberale Think-Tanks, deren ausländische Partnerorganisationen geopolitische Interessen verfolgen wie zum Beispiel die deutsche FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung. Von Auflösung betroffen sind ebenfalls Berufsverbände, Vereinigungen von Kleinst- und mittleren Unternehmer*innen oder religiöse Organisationen wie die jesuitische Angelo Giuseppe Roncalli-Vereinigung und das Zentralamerikanische Historische Institut. Die ins Visier genommenen NGOs sind jedoch mehrheitlich progressiv bis links zu verorten. Viele haben sich bereits in den 90er Jahren gegründet, um den sozialen Kahlschlag der neoliberalen Vorgängerregierungen abzufedern, indem sie sich für die Forderungen und Bedürfnisse besonders vulnerabler und benachteiligter Bevölkerungsgruppen einsetzten. Schwerpunkte ihrer Arbeit sind Frauenrechte und -emanzipation, Gewaltprävention, Kinderschutz und Jugendprojekte, medizinische Programme, Umweltschutzprojekte, Projekte zur Verteidigung indigener Rechte und sozialer Minderheiten, Menschenrechte sowie die Stärkung von Bürger*innenbeteiligung. Seit Ortegas Machtübernahme 2007 positionierte sich vor allem die Frauenbewegung entschieden gegen das unter seiner Führung installierte politische System. Die Soziologin María Teresa Blandón (s. LN 539), Direktorin der zentralamerikanischen Vereinigung für feministische Programme La Corriente, einer der am 4. Mai aufgelösten NGOs, erklärt dazu, dass der Angriff auf die zivilen Organisationen einer „Politik der Zerstörung und des Schweigens” entspreche. Sie ziele darauf ab, „uns auszuschalten, uns zu demobilisieren und eine einzige Form der Beteiligung, eine einzige Form der Organisation durchzusetzen, die vom Regime kontrolliert wird.” Sie bezeichnete die Entscheidung der Abgeordneten als „illegalen Akt”, da sie gegen das verfassungsmäßige Recht auf Vereinigungsfreiheit verstoße.
Die Generaldirektorin für die Registrierung und Kontrolle gemeinnütziger Organisationen des Migob, Franya Urey Blandón, die ihre Empfehlungen zur Aufhebung des Rechtsstatus an die Nationalversammlung weiterleitet, wirft den betroffenen Organisationen eine Reihe von Gesetzesverstößen vor: gegen das Gesetz gegen Geldwäsche, Terrorismusfinanzierung und Finanzierung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, das Gesetz zur Regulierung ausländischer Agenten und gegen das am 6. Mai in Kraft getretene Allgemeine Gesetz zur Regulierung und Kontrolle gemeinnütziger Organisationen. Angeblich hätten die NGOs es versäumt, Jahresabschlüsse nach Steuerzeiträumen mit detaillierter Aufschlüsselung vorzulegen, ihre Vorstände würden nicht mehr existieren und sie hätten versäumt, über frühere Spenden aus dem Ausland Buch zu führen. Dieser eingespielte Mechanismus zwischen Migob und Parlament funktioniert reibungslos, da die Regierungspartei FSLN nach der Wahlfarce vom 7. November 2021 (s. LN 569/570) über 75 von 90 Sitzen verfügt. Zweifelhaft erscheint indes, wie die Generaldirektion bei einer derart großen Menge an Vorgängen die Berichterstattung der Organisationen auf Herz und Nieren geprüft haben will, um deren Liquidierung zu legitimieren.
Demgegenüber beklagen Dutzende NGOs, dass die Behörden alle möglichen Strategien anwenden, um ihre Begründungen für die sogenannten Unregelmäßigkeiten und Verstöße zu untermauern: Dokumentationen werden nicht angenommen oder Prüfprozesse verschleppt, so dass Fristen verstreichen. Die Feministin Ana Quirós − ehemalige Direktorin des aufgelösten Zentrums für Information und Beratung im Gesundheitswesen − hält die Argumente für die Illegalisierung der NGOs für „Ausreden”, da der erste Schritt darin bestehen müsse, die Organisationen aufzufordern, die Fehler, die sie (angeblich) machen, zu beheben, und nicht, sie endgültig zu schließen. Zu den vermeintlichen Versäumnissen erklärt die Soziologin Blandón gegenüber dem Internetkanal Esta Noche: „La Corriente hat beschlossen, sich nicht als ausländischer Agent registrieren zu lassen, weil wir diese Definition nicht erfüllen. Wir sind ein Kollektiv von Nicaraguaner*innen, die seit fast 30 Jahren auf dem nationalen Territorium tätig sind und aus Staatsangehörigen besteht.” Die Liquidierung der NGOs kann auch den Einzug ihres Vermögens nach sich ziehen. Die Umweltschutzorganisation Fundación del Río war eine der ersten, deren Rechtsstatus im Dezember 2018 annulliert wurde. In der Folge wurden 454 Hektar Wald durch die Generalstaatsanwaltschaft und das Ministerium für Umwelt und natürliche Ressourcen (MARENA) konfisziert. Darunter waren Grundstücke zur Wiederaufforstung und natürlichen Regenerierung des Waldes, die Einrichtung des kommunitären Radio Voz Juvenil sowie die Büros der Organisation, außerdem vier Waldschutzgebiete und die biologische Station Mancarroncito.
„Es handelt sich um eine Säuberung von Organisationen, die das Regime als konträr zu seiner extraktivistischen Politik betrachtet, die die Grundrechte der Bevölkerung verletzt”, sagte Amaru Ruíz, Präsident der Fundación del Río gegenüber dem Portal für unabhängigen Umweltjournalismus in Lateinamerika Mongabay Latam. Wie viele Aktivist*innen lebt Amaru Ruíz inzwischen im Exil. Ihm wird vorgeworfen, sich der „Verbreitung falscher Nachrichten in den Informations- und Kommunikationsmedien” schuldig gemacht zu haben. Insbesondere seine Berichte über die Gewalt gegen die indigenen Gemeinschaften an der nördlichen Karibikküste 2020 (s. LN 557) und 2021 und das Massaker vom 3. September 2021 im Mayangna de Sauni As-Territorium im Biosphärenreservat Bosawás dürften zur Anklageerhebung gegen ihn geführt haben.
Konfiszierte Immobilien werden für Propaganda genutzt
Ein weiteres Beispiel von Enteignung ist die 1990 gegründete Stiftung für kommunale Förderung und Entwicklung Popol Na, deren Direktorin Monica Lòpez Baltodano ebenfalls im Exil lebt. Am 19. März 2021 wurde in den ehemaligen Büros der Stiftung ein Familien- und Gemeindezentrum eingeweiht und damit die endgültige Beschlagnahmung besiegelt. Es gehört zum perfiden Vorgehen dieser Regierung, die konfiszierten Immobilien einem propagandistischen Zweck zuzuführen. Schon am 21. Februar hatte das Gesundheitsministerium in den beschlagnahmten Büros der unabhängigen Medien Confidencial, Esta Semana, Esta Noche und Revista Niú, die dem Journalisten Carlos Fernando Chamorro gehören, eine Entbindungsstation eingeweiht und am Eingang ein Foto zu Ehren von Ortega und Murillo angebracht. Durch die öffentlichkeitswirksame Überführung eines Teils des beschlagnahmten Eigentums in soziale Projekte, erkauft sich die Regierung insbesondere bei der armen Bevölkerung die Akzeptanz ihrer polizeistaatlichen Methoden und verschleiert, in welchen Kanälen der Großteil dieser Vermögen am Ende tatsächlich landet.
Es liegt auf der Hand, dass diese ungeheure Menge an Verlusten zivilgesellschaftlicher nationaler und ausländischer Akteur*innen und Organisationen vor allem im Sozial-, Bildungs-, Umwelt und Kulturbereich nicht nur existentielle Folgen für die Menschen haben wird, denen die Unterstützung entzogen wird, sondern auch einen enormen Arbeitsplatzverlust für alle nationalen Kräfte bedeutet, die in den inkriminierten NGOs tätig waren. Ortega weiß, dass er aus den Wahlen vom 7. November geschwächt hervorgegangen ist. Umso mehr geht es darum, die absolute Kontrolle über das Land zu gewinnen: Jede Form der Bürger*innenbetätigung, die nicht unter Regierungskontrolle steht, wird ausgeschaltet, weil die Existenz unkontrollierter Räume − wie sie die NGOs darstellen − auch eine Chance zur Selbstermächtigung der Bürger*innen bietet oder sich in ihnen Widerstandsnester formieren könnten.
Damit keine Freude mehr aufkomme und Grabesstille herrsche im Land, fiel Mitte Mai dieses Jahres auch die Stiftung Internationales Poesiefestival Granada der Brachialgewalt zum Opfer. „Seit fast 20 Jahren machen wir dieses Festival mit Liebe, mit der ehrenamtlichen Arbeit des Vorstandes, mit Freude und bringen die Poesie zu den Tausenden, die mit Freude in Granada teilgenommen haben”, beklagt die Schriftstellerin Gioconda Belli die Auflösung und fügt hinzu: „Was in unserem Land geschieht, ist ein Trauerspiel, ein täglicher Angriff auf die Bemühungen von Tausenden, Nicaragua von der Zivilgesellschaft aus das zu geben, was die Regierung niemals uneigennützig wird geben können. Die Absage des Festivals ist eine Verweigerung von Freude und Poesie.“