Ohne Gerechtigkeit kein Frieden

Allan, du bist ein ehemaliger politischer Gefangener. Kannst du uns etwas über die Umstände deiner Gefangennahme und die Haftbedingungen erzählen?

Ich wurde am 27. Dezember 2018 im Haus meiner Mutter von der Polizei und Paramilitärs verhaftet und ins Gefängnis El Chipote gebracht. Dort verbrachte ich 44 Tage in einer dunklen Zelle ohne Kleidung. Ich wurde gefoltert und war sexueller und körperlicher Gewalt ausgesetzt. Dann wurde ich ins Gefängnis Sistema Penitenciario verlegt. Auch in diesem Gefängnis erlitt ich Gewalt. Am 27. Februar 2019 wurde ich im Rahmen des sogenannten Amnestiegesetzes freigelassen. Zwischen 2019 bis 2021 war ich weiterhin polizeilichen Schikanen ausgesetzt und wurde in meinem Zuhause von Sicherheitskräften belagert.

Als ehemalige politische Gefangene seid ihr in der Vereinigung der politischen Gefangenen Nicaraguas (UPPN) organisiert. Wie kam es zur Gründung der UPPN und welche Ziele verfolgt sie?

Die UPPN wurde am 19. März 2019 in den Gefängnissen La Esperanza und La Modelo von politischen Gefangenen formell gegründet und der nicaraguanischen Öffentlichkeit und anderen Organisationen vorgestellt. Unsere Arbeitsschwerpunkte sind das Streben nach Gerechtigkeit und Wahrheit; die Aufrechterhaltung der Erinnerung, damit sich das nicht wiederholt, und die Wiedergutmachung für alle Opfer.

Als Organisation der unmittelbaren Opfer von Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind wir der Meinung, dass der Wandel in Nicaragua einen wirklichen und beständigen Gerechtigkeitsprozess braucht. Denn es ist notwendig, das historische Gedächtnis zu bewahren, daran müssen wir arbeiten. Dies sind die wichtigsten Arbeitsbereiche unserer Organisation.

Von wie vielen politischen Gefangenen geht ihr derzeit aus?

Es gibt mehr als 100 politische Gefangene. Manche sind nicht in der Liste aufgeführt, weil sie sich nicht im Gefängnis befinden. Aber sie sind de facto Gefangene – nur eben in ihrem eigenen Zuhause. Es gibt mehr als dreißig Personen, die sich jede Woche bei der Polizei melden müssen. Sie werden so kontrolliert, als ob sie Gefangene wären. Andere werden überwacht oder unterliegen Arbeits- und sonstigen Beschäftigungsverboten.

Die Diktatur übt über alle Oppositionsgruppen ein hohes Maß an Kontrolle aus, damit es keine Bewegung mehr gibt, die sie nicht vorhersehen kann. Sie handelt mit Kalkül und spielt auf Zeit, da sie weiß, wie mit der internationalen Diplomatie umzugehen ist.

Ihr lebt alle im Exil. Es ist sicher schwer, unter diesen Bedingungen für eure Organisation zu arbeiten…

Ja, und dabei ist die größte Herausforderung im Exil für soziale Aktivisten oder Menschenrechtsverteidiger der Lebensunterhalt. Außerdem findet eine gewisse Abkopplung von der Realität in unserem Land statt. Daher müssen wir eine kontinuierliche Kommunikation mit den Menschen vor Ort aufrechterhalten, um zu erfahren und zu verstehen, was im Land vor sich geht.

Wenn man sein Land verlässt, ist man einer anderen Realität ausgesetzt, die einen dazu zwingt, sich in einer anderen Zeit und in einer anderen Kultur zurechtzufinden. Das ist die größte Schwierigkeit: den Bezug zum eigenen Land zu verlieren und trotz dieser Abkopplung weiter zu verfolgen, was im Staat passiert. Eine große Herausforderung ist zum Beispiel, mit den Menschen vor Ort zusammenzuarbeiten, ohne sie dabei in Gefahr zu bringen. Hinzu kommt, dass die Diktatur auch Menschen bestraft, die sich außerhalb Nicaraguas sozial engagieren. Das zwingt viele Personen dazu, sich zum Beispiel nicht zu zeigen, oder in den Medien keine Menschenrechtsverletzungen anzuprangern, weil sie Angst haben, dass ihre Familien in Nicaragua Repressalien seitens der Diktatur erleiden. Das ist etwas, das die Bedingungen im Exil natürlich verschärft und die Arbeit zusätzlich erschwert. Trotzdem kann ich nicht aufhören, aktiv zu sein und mich an Initiativen zu beteiligen, um Gerechtigkeit zu fordern. Denn ich habe Freunde, die immer noch im Gefängnis sitzen, und Freunde, die ermordet wurden.

Du bist Teil der LGBTIQ-Gemeinschaft innerhalb der UPPN. Welche sind eure wichtigsten Forderungen an die nicaraguanische Zivilgesellschaft bezüglich der Bürger*innenrechte?

Nicaragua braucht viele Veränderungen, aber die wichtigste Veränderung ist systemisch, es braucht nicht einfach nur einen Regierungswechsel. Ein neues Nicaragua erfordert eine vollständige Umstrukturierung der staatlichen Institutionen sowie der Art und Weise, wie Politik gemacht wird. Es muss ein vollständiger Wandel erfolgen, der auf dem Weg zur Demokratie einen Prozess zur Bewahrung der Erinnerung und der Wahrheitssuche miteinschließt.

Als Person aus der LGBTIQ*-Gemeinschaft denke ich, dass wir ein System der Fairness und Gleichheit anstreben müssen, in dem die Menschenrechte jeder einzelnen Person nie mehr verletzt werden. Als Organisation sind wir der Meinung, dass es keinen politischen Gefangenen, keinen Gewissensgefangenen, keine Person geben darf, die inhaftiert, gefoltert wird oder Gewalt erleidet, weil sie ihre politische Meinung geäußert hat oder weil sie anders über das Regierungssystem oder die Regierungspartei denkt. Und genau dafür werden wir von der UPPN kämpfen.

In der nicaraguanischen Opposition finden sich verschiedene Interessen und politische Strömungen, gemeinsamer Nenner ist die Forderung nach Demokratie. Gibt es denn konkrete Ideen, was nach Ortega kommen soll?

Innerhalb der nicaraguanischen Opposition hat es bisher keinen aufrichtigen Dialog gegeben. Jede Gruppe verteidigt ihre eigene Agenda. Zumindest wir, die Opfer, glauben, dass der Weg zu einem neuen Nicaragua nicht möglich ist, ohne dass wir uns als Opposition zusammensetzen, ehrlich miteinander reden und eine gemeinsame Basis finden, statt immer nur die Unterschiede zu sehen. Es gibt außerdem keine klare Strategie der Abstimmung darüber, wie dieses neue Nicaragua aussehen soll, sondern lediglich verschiedene Vorschläge. Wir als Opferorganisation − und ich als unmittelbares Opfer von Verbrechen gegen die Menschlichkeit − meinen jedoch, dass wir nicht in der Lage sein werden, Demokratie zu erreichen, wenn die Frage der Gerechtigkeit nicht in die Agenda aufgenommen wird. Das ist für uns von grundlegender Bedeutung.

Wie habt ihr euch in diesem politischen Szenario verortet?

Als wir 2019 aus dem Gefängnis kamen, wurde uns klar, dass wir uns in die politische Agenda einmischen müssen. Von daher haben wir uns als Personen und Organisation das Ziel gesetzt, Teil der politischen Debattenräume zu sein, aber nicht mit einem parteipolitischen Ziel, sondern um unsere Gerechtigkeitsagenda zu fördern. Dafür haben wir uns die Aufgabe gestellt, in verschiedenen Organisationen wie dem Oppositionsbündnis UNAB, der Alianza Cívica (Bürgerallianz) oder anderen Plattformen mitzuwirken, die damals in der Opposition noch stärker waren. Wir stellten jedoch fest, dass viele dieser Organisationen weder eine soziale Basis noch eine klare Strategie für ihr weiteres Vorgehen hatten. Viele waren nur flüchtig, ihre Agenda war vor allem auf den Moment ausgerichtet, nicht auf die Zukunft. Wir haben unseren Vorschlag zum Thema Gerechtigkeit eingebracht, aber viele Organisationen der Opposition sind der Meinung, dass diese Frage erst nach dem Übergang zur Demokratie behandelt werden sollte. Aber das kann nicht sein: Die Übergangsphase muss auch das Thema der Gerechtigkeit auf die Tagesordnung setzen. Dazu muss man sich mit Opferorganisationen zusammensetzen, über ihre Ziele und Wege sprechen. Wir als Organisation haben konkrete Ideen, wie wir unter den rechtlichen Rahmenbedingungen Gerechtigkeit erreichen können, was erarbeitet werden muss und was dazu nötig ist.

Stattdessen handelten viele Oppositionsorganisationen aus ihrer Ohnmachtsposition gegenüber Ortega jedoch Quoten für Straffreiheit aus. Das geht gar nicht. Man kann den Opfern doch nicht sagen: „Diesen lassen wir laufen, jenen nicht”. Diese Entscheidung steht einer Oppositionsorganisation gar nicht zu.

Straffreiheit für wen?

Das war 2019: Es kam zu einer Dialogrunde (zwischen Opposition und Ortega-Regierung, Anm. d. Red.), in der die Opposition über Quoten für Straffreiheit für politische Gefangene verhandelte. Da zog die Diktatur die Amnestie aus dem Ärmel, aber es war keine echte Amnestie. Im Übrigen bedeutet eine Amnestie für die von der Freilassung begünstigten Gefangenen zu vergessen, was ihnen widerfahren ist. Anders gesagt: Bei einer Amnestie ist das Opfer insofern am stärksten betroffen, da die Gesellschaft die Gerechtigkeit, die eigentlich den Opfern zusteht, dem Wohlergehen der Gesellschaft opfert. Wenn ich also von Quoten der Straffreiheit spreche, dann beziehe ich mich genau darauf: Die nicaraguanische Opposition, die machtlos ist, verhandelt mit der Justiz, aber das Verhandeln über Quoten oder Gerechtigkeit ist nicht ihre Aufgabe oder die irgendeiner Gruppe. Denn du kannst einer Mutter nicht sagen, dass sie aufhören soll, Gerechtigkeit zu fordern, weil ihr Kind ermordet wurde. Man kann einem ehemaligen politischen Gefangenen nicht sagen, dass er aufhören soll, Gerechtigkeit für die Folter oder Vergewaltigung zu fordern, die er im Gefängnis erlitten hat. Ohne Gerechtigkeit wird es keinen Frieden im Land geben.

Die Schöne und die Bestien

Strahlende Propagandashow Bukele bei der Miss Universe-Wahl im November (Fotos: Kellys Portillo für Alharaca)

Die ersten Kandidatinnen trafen am 1. November 2023 in El Salvador ein: Miss Kamerun, Miss Thailand, Miss Norwegen und Miss Panama. Von diesem Tag an beherrschte ihre Anwesenheit die Titelseiten aller salvadorianischen Zeitungen sowie die sozialen Medien. Miss Universe 2023 übernahm die Aufmerksamkeit des ganzen Landes.

Auf diese vier jungen Frauen folgten 84 weitere aus der ganzen Welt. Ihr Besuchsprogramm wurde von der nationalen Presse konstant verfolgt: Die Schönheitsköniginnen besuchten Maya-Ruinen, tanzten Cumbia im historischen Zentrum und feierten das Lieblingsprojekt der Krypto-Enthusiast*innen, das Stranddorf El Zonte, auch „Bitcoin Beach” genannt. Zu den Ausflügen hinzu kamen Abendessen in den teuersten Restaurants des Landes sowie Übernachtungen in verschiedenen Luxushotels. Es wurden Fotos einiger Misses mit „Nayib Bukele 2024“-Kappen in den sozialen Netzwerken sowie über Propagandamedien der Regierung gestreut: illegale Propaganda für den verfassungswidrigen Wiederwahlversuch des Präsidenten. Obwohl die salvadorianische Regierung die genauen Kosten für die Durchführung des Schönheitswettbewerbs nicht bekanntgegeben hat, gab die ehemalige Miss El Salvador, Milena Mayorga, die mittlerweile Botschafterin El Salvadors in den Vereinigten Staaten ist, in einem Interview an, dass sich die Kosten allein für die Durchführung der Veranstaltung auf über 100 Millionen Dollar belaufen.

Während die Miss-Universe-Kandidatinnen an den salvadorianischen Stränden Fotoshootings machten, erreichte eine schockierende Meldung aus den USA die Bevölkerung: Am 7. November wurde Élmer Canales, „Crook“, einer der führenden Köpfe der Mara Salvatrucha-13, an die Vereinigten Staaten ausgeliefert. In den Wochen des Schönheitswettbewerbs stand Canales in New York vor Gericht. Seine Aussage bestätigte, dass es einen Pakt zwischen den Gangs und der Bukele-Regierung gab. Der Zeitpunkt für eine ansonsten schwerwiegende Enthüllung über Korruption in der salvadorianischen Regierung war für Nayib Bukele perfekt: Das Hauptthema in der nationalen Öffentlichkeit blieb weiterhin Miss Universe. Das Finale am 18. November war der Höhepunkt der Euphorie. Die Karten für die Show kosteten 500 bis 2.000 Euro – in einem Land, in dem der Mindestlohn nicht einmal 400 Dollar beträgt. Während sich die Kandidatinnen auf die Show vorbereiteten, waren einige Kilometer entfernt wütende Schreie zu hören. Eine Demonstration war auf dem Weg zum Hotel Intercontinental, in dem die Misses untergebracht waren, um die Scheinwelt von Präsident Bukele zu durchbrechen. Der Protestzug, initiiert durch die Bewegung der Opfer des Regimes (MOVIR), versuchte, die internationale Presse zu erreichen, um auf die Menschenrechtsverletzungen im Land aufmerksam zu machen. Die Demonstrant*innen und sogar die Presse wurden von der Polizei blockiert.

2023 wie 1975: Fotoshootings auf der einen Seite, Repression auf der anderen

Diese Konfrontation wirkt wie ein Déjà-vu. Denn es ist nicht das erste Mal, dass Miss Universe in El Salvador stattfindet und auch nicht das erste Mal, dass dies im autoritären Kontext geschieht. Im Jahr 1975, inmitten der Militärdiktatur, gelang es der Regierung von El Salvador, den Wettbewerb in das Land zu holen. Die Veranstaltung war Teil einer Strategie zur Vermarktung El Salvadors als Reiseziel unter dem Slogan „Das Land des Lächelns“. Doch hinter dem Lächeln verbarg sich ein zutiefst ungleiches Land, das seit Jahrzehnten unter der Herrschaft einer Militärdiktatur mit wechselndem Führungspersonal stand. Die absolute Unterdrückung der Opposition und der sozialen Bewegungen verwandelte das Land in einen Druckkochtopf, der wenige Jahre später zum Bürgerkrieg führen sollte. Zwei Wochen nach dem Finale von Miss Universe 1975 ordnete der damalige Präsident, Oberst Arturo Armando Molina, eine gewaltsame Niederschlagung einer Demonstration von Studierenden an, die auf der Straße die Verwendung öffentlicher Mittel für den Schönheitswettbewerb kritisierten. Es wird geschätzt, dass Hunderte von Menschen starben oder von staatlichen Sicherheitskräften entführt, gefoltert und ermordet wurden. Die genaue Zahl ist jedoch unbekannt, da die Aufklärung des Falls ausblieb.

“Magisches” El Salvador Proteste gegen den Schönheitswettbewerb wurden von bewaffneten Sicherheitskräften blockiert

Wie damals versucht die aktuelle Regierung El Salvadors, die überwältigende Armut und Repression zu vertuschen. Seit März 2022, also seit fast zwei Jahren, herrscht Ausnahmezustand im Land. Der Ausnahmezustand, der eigentlich nur für 30 Tage gelten sollte, wurde bereits 20-mal verlängert. Im Rahmen der Offensive gegen Straßengangs haben die Polizei und das Militär über 70.000 Personen verhaftet: Zwei Prozent der salvadorianischen, erwachsenen Bevölkerung sitzen im Gefängnis. Seit März 2022 sind mindestens 180 Menschen in den überfüllten Gefängnissen gestorben, viele davon, ohne jemals vor Gericht gestellt zu werden. Die Rede von Nayib Bukele beim großen Finale des Schönheitswettbewerbs präsentierte allerdings ein ganz anderes Land: „Für alle, die in Freiheit leben wollen, können wir Botschafter werden und der Welt mitteilen, dass El Salvador der Ort ist, an dem man seine Träume leben kann”, feierte der salvadorianische Präsident.

Überraschende Krönung

Die Verkündung des Ergebnisses der Miss-Wahl am 18. November brachte für viele eine Überraschung: Die Krone ging an Miss Nicaragua, Sheynnis Palacios. Die erste zentralamerikanische Gewinnerin in der Geschichte des Wettbewerbs wurde in ihrer eigenen Region gekrönt. Der Sieg von Miss Nicaragua bedeutete die Rückkehr vieler Nicaraguaner*innen auf die Straßen, nach Jahren der Angst vor der verheerenden Repression durch den Regierungsapparat. Zum ersten Mal seit Jahren waren öffentliche Plätze und Straßen in Managua voll von euphorischen Menschen, die blau-weiße Fahnen schwenkten, welche im Jahr 2018 zum Symbol der Opposition gegen die Regierung Ortega geworden waren.

Das wiederum stellte ein Dilemma für den nicaraguanischen Präsidenten Daniel Ortega und die Vizepräsidentin Rosario Murillo dar: Auf der einen Seite war es vielleicht das erste Mal seit Jahren, dass Nicaragua einen wichtigen Platz in der internationalen Presse einnahm, ohne dass es sich um eine seiner vielen Repressionsmaßnahmen handelte. Allerdings ist Sheynnis Palacios keine genehme Miss-Universe-Gewinnerin für die Ortega-Murillo-Propaganda: In den Medien hat sie sich bei der nicaraguanischen Regierung nicht bedankt. Sie widmete den Preis ihrer Familie und der nicaraguanischen Bevölkerung und erwähnte das Regierungspaar dabei nicht einmal. Bei einer Pressekonferenz machte sie die Andeutung, dass ihr Land sich verändern werde, ohne dabei jedoch konkret auf die politische Situation Nicaraguas einzugehen. Minuten nach ihrer Krönung wurden außerdem in den sozialen Netzwerken Fotos der Schönheitskönigin auf Demonstrationen gegen die nicaraguanische Diktatur bei den Aufständen von 2018 massiv geteilt.

„Nicaragua feiert mit seiner Königin!”, erklärte die Regierung zunächst am Tag nach der Miss-Universe-Wahl in einem Statement, das allerdings weder von Ortega noch von Murillo unterschrieben wurde. Drei Tage später war die Stimmung in der Regierung deutlich weniger festlich. Rosario Murillo schrieb im von der Regierung kontrollierten Nachrichtenportal El 19 Digital, dass die „eitlen, verrückten Menschen”, womit die politische Opposition und die kritische Zivilbevölkerung gemeint waren, aufhören sollten „Schönheit, Freude und Talent” von Palacios zu missbrauchen. Zwei Wochen nach dem Gewinn wurde Karen Celebertti, Leiterin des Miss-Nicaragua-Wettbewerbs, am Flughafen in Managua der Eintritt in das Land verweigert. Das Haus der Familie von Martín Argüello Leiva, dem Ehemann von Celebertti, wurde durchsucht. Seit dem 27. November wird Argüello Leiva dort unter Polizeibewachung in Isolationshaft gehalten.

Wie viele Regierungen in der Vergangenheit haben zwei autoritäre zentralamerikanische Präsidenten versucht, die Miss-Universe-Wahl zu ihrem Vorteil zu nutzen. Für Bukele, der Umfragen zufolge den Rückhalt der Mehrheit der Bevölkerung genießt und dessen Beliebtheit weder durch Korruption noch durch Repression beeinträchtigt wurde, war die Veranstaltung ein Schub medialer Aufmerksamkeit und eine willkommene Ablenkung. Für Ortega bedeutete der Sieg einer nicaraguanischen Frau, die nicht regierungsnah zu sein scheint, ein symbolischer Schlag und ein weiterer Riss im staatlichen Sandinismus, während die Unzufriedenheit immer weiterwächst. Was beide autoritäre Regierungen gemeinsam haben: Eine mutige und widerständige Zivilgesellschaft, die sich trotz der Repression nicht komplett davon abhalten lässt, auf die Straßen zu gehen und für das eigene Land zu kämpfen.

Ewiger Kampf für ein Nie Wieder

Carlos Astudillo holt kurz Luft und erzählt. „Der 50. Jahrestag des Militärputsches von 1973 findet zu einem für mich sehr sensiblen Moment statt, er erinnert mich an das Versprechen des ‚Nunca Más’, das so häufig ausgesprochen wurde und schlussendlich nicht stattfand“, meint der Überlebende der Repression gegen die Revolte von 2019. Astudillo läuft mit einer Krücke, er humpelt, seitdem er am 20. Oktober 2019 vom Militär angeschossen und fast für tot erklärt wurde. Videos zeigen, wie er reglos von Soldaten weggezogen wurde. Daraufhin verbrachte er zwei Monate im Krankenhaus.

Es war zur Zeit der Revolte vom 18. Oktober 2019, als Millionen von Chilen*innen auf die Straße gingen und die Regierung mit der Ausrufung des Ausnahmezustands und der Entsendung des Militärs auf die Wut der Bevölkerung reagierte. Die Folge waren massive Menschenrechtsverletzungen, wie sie in diesem Ausmaß seit dem Ende der Militärdiktatur nicht mehr begangen worden waren. Hunderte Menschen leben bis heute mit den Folgen von Folter und staatlicher Gewalt auf der Straße. Mehr als 460 Personen erblindeten auf mindestens einem Auge in Folge von Schrot- und Gasgranatenschüssen direkt ins Gesicht. Die Repression von damals prägt für Menschen wie Astudillo das 50-jährige Jubiläum des Militärputsches, denn die Gewalt von 2019 zeigt die blinden Flecken bei der Aufarbeitung der Militärdiktatur auf.

Noch Ende 2021 herrschte Euphorie mit der Hoffnung auf Wandel: Mit dem Sieg des linksreformistischen Präsidentschaftskandidaten Gabriel Boric über den rechtsextremen José Antonio Kast zeigte sich, dass zumindest zu diesem Zeitpunkt eine Mehrheit der Chilen*innen eine Rückkehr zu den politischen Überzeugungen der Militärdiktatur ablehnte. Der mittlerweile fast in der Mitte seiner Amtszeit liegende Präsident bekräftigte noch während seiner Wahlkampagne, es würde eine lückenlose Aufklärung der Menschenrechtsverletzungen von 2019 geben. Seitdem spricht er sich immer wieder kategorisch für die Einhaltung der Menschenrechte aus. Bei seiner jährlichen Ansprache vor den Parlamentskammern am 2. Juni 2023 sagte Boric, „keine politische Meinungsverschiedenheit darf dazu führen, dass wir die Demokratie oder die Menschenrechte nicht schützen“. Kurz davor hatte die Verteidigungsministerin Maya Fernández angeordnet, Attrappen der Hawker Hunter, die noch bis zu diesem Zeitpunkt vor fast jeder Kaserne der Luftstreitkräfte standen, zu entfernen. Die Originale bombardierten am 11. September 1973 den Präsidentenpalast La Moneda, vom dem aus Salvador Allende noch einige Stunden Widerstand gegen den Putsch leistete.

Die anfängliche Euphorie hat längst Risse bekommen

Carlos Astudillo würdigt diese Ankündigungen. Er meint, „die Regierung hat eine Sensibilität für Menschenrechte“. Doch das reiche nicht aus sagt er ergänzend: „Sie müssen endlich mit konkreten Reparationsmechanismen voranschreiten.“ Denn längst hat die anfängliche Euphorie Risse bekommen. Als der Präsident am 2. Juni während seiner Rede die chilenische Gemeinschaft auf den Respekt der Menschenrechte und Demokratie einschwor, klatschten alle – außer den Oberbefehlshabern der vier chilenischen Teilstreitkräfte (in der Luft, zu Wasser, zu Land sowie die Militärpolizei Carabineros de Chile). Die Generäle mussten vom Präsidenten mit einem Handzeichen dazu aufgefordert werden, aufzustehen, als der ganze Saal bereits stand. Es sind die gleichen Generäle, die auch während der Menschenrechtsverletzungen von 2019 hohe Ämter bekleideten und von Menschenrechtsaktivist*innen für einen Teil der Verbrechen verantwortlich gemacht werden. Gegen Ricardo Yañez, den amtierenden Generaldirektor der Carabineros, läuft derzeit ein Strafverfahren aufgrund der Ereignisse von 2019.

Der Historiker Igor Goicovic lächelt bedrückt auf die Frage, ob die Regierung Fortschritte im Bereich der Menschenrechte gemacht habe. Er meint, „bei den Aktivitäten der Regierung handelt es sich um eine Kommunikationsstrategie“. Diese sei darauf ausgerichtet, die gesellschaftliche Nische der Menschenrechtsaktivist*innen glücklich zu stimmen, doch sie habe keineswegs den Anspruch, gesellschaftliche Veränderungen voranzutreiben, ist Goicovic überzeugt. Der Historiker kämpfte selbst gegen die Militärdiktatur, wurde von ihr verhaftet und gefoltert. Er kritisiert, dass derzeit weder an das politische Projekt der Unidad Popular angeknüpft werde noch die politisch Verantwortlichen der Repression während der Diktatur zur Rechenschaft gezogen würden. „Die Strategie der Regierung hat zum Ziel, politische Stabilität zu schaffen“, erklärt Goicovic. Dazu gehöre eben auch, der wirtschaftlichen Elite klar zu machen, dass man sich nicht positiv auf das politische Erbe der Regierung unter Salvador Allende bezieht. Vielmehr habe es laut dem Historiker seit dem Ende der Militärdiktatur einen Konsens unter den Eliten gegeben, der zwar die Menschenrechtsverletzungen verurteilt, sie aber nicht mit den neoliberalen Reformen und staatlichen Strukturen in Verbindung setzt, sondern als Fehler einzelner Personen versteht. Dies habe zur Folge gehabt, dass nur ein Teil der für die Verfolgung tausender Chilen*innen Verantwortlichen juristisch bestraft worden sei. Diese Straffreiheit und fehlende Strukturreformen bei der Justiz, Polizei und Militär haben zur Wiederholung von Menschenrechtsverletzungen geführt.

Obwohl ein Wandel also dringend nötig wäre, rückt dieser in immer weitere Ferne. Die Regierung ist in beiden Parlamentskammern in der Minderheit, weshalb die Opposition immer wieder droht, einzelne Reformprojekte komplett zu boykottieren. Gleichzeitig zeigen jüngste Studien, dass sich demokratische Werte keineswegs in der chilenischen Gesellschaft verfestigt haben. Das Meinungsforschungsinstitut MORI gab Ende Mai 2023 bekannt, dass 37 Prozent der Befragten den Staatsstreich von 1973 für gerechtfertigt hielten. Fast jede zweite Person stimmte der Aussage zu, die Militärdiktatur habe „positive und negative Aspekte“. Laut Marta Lagos, der Direktorin von MORI und Politologin, zeige sich, dass die demokratischen Kräfte dabei versagt hätten, die Figur des Diktators Augusto Pinochet nachhaltig zu delegitimieren. Da Pinochet auf Lebenszeit Oberkommandant der Streitkräfte und Senator gewesen sei, hätte er einen Übergang in die Demokratie gefunden. Dies treffe auch auf wichtige Parteien und politische Figuren der Militärdiktatur zu, die bis heute in der Politik aktiv sind.

Währenddessen fühlen sich die Opfer der Menschenrechtsverletzungen alleingelassen, erzählt Astudillo. Erst Ende Juni sprang Jorge Salvo vor die Santiagoer Metro und starb. Der damals 29-jährige wurde am 17. Januar 2020 von einer Gasgranate im Gesicht getroffen und verlor daraufhin einen Teil seines Schädels und ein Auge. Im Zuge der Pandemie wurde seine psychologische Betreuung zwischenzeitlich gestrichen, erzählte Salvo einst gegenüber dem Santiagoer Lokalmedium La Voz de Maipú. Astudillo erklärt: „Die ins Leben gerufenen Hilfsprogramme sind unzureichend“. Ein spezielles Programm soll sich um die physischen und psychischen Folgen kümmern, doch der Zugang ist beschränkt. „Insbesondere außerhalb von Santiago gibt es enorme Schwierigkeiten bei der Umsetzung“, meint Astudillo. Häufig gäbe es lange Wartezeiten für Sprechstunden und fehlendes Personal.

Um sich für die Opfer der Repression einzusetzen, arbeitet Astudillo als Berater für die Senatorin Fabiola Campillai. Sie ist selbst durch eine Gasgranate vollständig erblindet und seither zum Symbol des Kampfes um Menschenrechte und Wiedergutmachung geworden. Von dieser Position aus will Astudillo ein Gesetz zur Wiedergutmachung vorantreiben, um Hilfsprogramme zu stärken und auf lange Zeit zu garantieren.

Wie viel Tote willst du noch, Dina?

(Alle Fotos: Vale Soldevilla Montoya)

Die Forderung nach Achtung der Demokratie reichte aus, um die Menschen ab dem 19. Juli auf die Straße zu bringen. Der Ruf nach einem Rücktritt von Dina Boluarte vereinte verschiedene Gruppen mit unterschiedlichen Forderungen, die sich zum Teil sogar gegenseitig widersprechen. Die Menschen wollen die Schließung des Kongresses, fordern eine Verfassungsgebende Versammlung, vorgezogene Wahlen und politische Reformen. Zwar fehlte den Demonstrant*innen ein gemeinsamer politischer Horizont, trotzdem gingen sie gemeinsam auf die Straße, um anzuklagen. Der Zerfall der Demokratie, die Repression, die Gewalt und die fehlende Anerkennung trieben eine Gruppe zum Protest, die bei den ersten beiden großen Mobilisierungen nicht in Erscheinung getreten war: die Mitte und die liberale Rechte.

“Du sollst nicht tötet. Beendet die Verfolgung. Neuwahlen im Jahr 2023. Wir sind Quechua, wir sind Aymara. Durch uns fließt das gleiche lut. Nein zur Straflosigkeit. Gerechtigkeit.”

Die aktuellen Proteste begannen im Dezember 2022, und sind als Teil einer Regierungskrise zu verstehen, die das Land seit 2016 erfasst hat. Nach dem vom damaligen Präsidenten Pedro Castillo angekündigten Selbstputsch vom 7. Dezember 2022 und der anschließenden Amtsenthebung übernahm Dina Boluarte, die Vizepräsidentin, das Regierungsgeschäft. Die ersten Demonstrationen fanden im Süden des Landes statt, in dem eine Mehrheit der Unterstützer*innen Castillos leben und seine Wiedereinsetzung forderten. Es ist nicht schwer, ihre Empörung zu verstehen: Castillo wurde des Wahlbetrugs beschuldigt, seine Gegner weigerten sich, ihre Niederlage zu akzeptieren.

22. Juli 2023. Demonstrant*innen halten ein Schild mit der Aufschrift “Juliaca leistet Widerstand, Helden des 9. Januar” in Erinnerung an die 18 Ermordeten

Bevor Castillo sein Amt antrat, lancierte die unterlegene Partei Fuerza Popular unter der Führung von Keiko Fujimori eine regelrechte Terrorkampagne gegen den designierten Präsidenten. Dieser Kampagne schlossen sich auch die Partei des konservativen Bürgermeisters von Lima, Rafael Lopez Aliaga, die Renovación Popular, an, ebenso Massenmedien, so in der Fernsehsendung Cuarto Poder. Obwohl die Kampagne die offizielle Verkündung des Wahlsiegers um mehrere Wochen verzögerte, wurde Castillo schließlich zum Präsidenten erklärt. Sobald er an der Regierung war, taten die Opposition und die Mainstream-Medien ihr Bestes, um ihn zu diskreditieren, oft in rassistischen und klassistischen Tönen. Doch auch Castillos Regierung war nicht fehlerfrei. Seine Zeit war geprägt von Widersprüchen und einer teils illegitimen Regierungsführung.

22. Juli 2023: “Kein Queer mit Dina, der Mörderin” Der Begriff Marika ist hier eine Selbstbezeichnung, die sich queere Menschen als widerständige Praxis angeeignet haben

Im Laufe der Tage zeigte Dina Boluarte ihr wahres Gesicht: Sie ging ein Bündnis mit der rechten Opposition ein und unterdrückte brutal diejenigen, die sie an die Regierungsmacht gebracht hatten. Am 9. Januar 2023 fand in Puno das Massaker von Juliaca statt, bei dem 18 Angehörige der Aymara-Bevölkerung bei Protesten ermordet wurden. Die jetzige dritte Mobilisierung nach Lima wurde als ein Schrei der Reaktion und der Überdrüssigkeit empfunden. Dina soll gehen, der Kongress soll gehen und „sie alle sollen gehen“, wie es bei den Protesten während der letzten drei oder vier Regierungen des Landes gefordert wurde.

Die Delegation von Juliaca leistet Widerstand und gedenkt der Toten

Zu den protestierenden Gruppen gehörten Delegationen aus mehreren Provinzen des Landes, insbesondere aus dem Süden. Auch die feministische Bewegung, die LGBTIQGemeinschaft und Künstler*innen-Gruppen schlossen sich dem Widerstand an.

Mobilisierung von Aymara-Frauen

Das Mitte-rechts-Lager, vertreten durch die Morado-Partei, war stark vertreten. Die progressive Linksmitte forderte vorgezogene Neuwahlen, die traditionellere und konservativere Linke verlangte die Freilassung von Castillo, und die gemäßigte Linke betonte in Koalition mit Arbeiter*innen und indigenen Gruppen die Forderung nach einer Verfassungsgebenden Versammlung.

“Du kannst den Regen kaufen, du kannst die Sonne kaufen, aber mein Leben kannst du nicht kaufen” Mit Fotografien der mehr als 60 Menschen, die seit Dezember 2022 bei Protesten umgekommen sind, behangene Statue

Über all diese Forderungen wurde rege diskutiert, der gemeinsame Nenner war derweil klar: Die Regierung Boluarte solle zurücktreten und sich der Justiz stellen.

“In Demokratien werden Protestierende nicht getötet”

Die Proteste werden von einem aus Puno stammenden Protestlied begleitet. Dessen Text wird teilweise auf Aymara gesungen:

Esta democracia ya no es democracia
esta democracia ya no es democracia
Dina asesina el pueblo te repudia
Dina asesina el pueblo te repudia

¿Cuántos muertos quieres,
para que renuncies?
¿Cuántos muertos quieres,
para que renuncies?

Dina runa sipiq manan munaykichu
Dina hiwayiri janiwa khitis munktamti

Sueldos millonarios para los corruptos
Balas y misiles para nuestro pueblo
Sueldos millonarios para los corruptos
Balas y misiles para nuestro pueblo

Zwei Jahre nach dem landesweiten Streik

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Wo sind die Verschwundenen des Generalstreiks? Protestaktion in Berlin (Foto: Unidas por la paz – Alemania)

Der landesweite Generalstreik 2021 gegen die Steuerreform des ehemaligen Präsidenten Iván Duque markierte einen Wendepunkt in der Geschichte Kolumbiens. Am 28. April jährt sich der Moment zum zweiten Mal, seit dem die Opfer der staatlichen Repression auf Gerechtigkeit warten.
Hauptauslöser des Aufstands war die Unzufriedenheit der Bevölkerung über die steigenden Preise des Familienwarenkorbs (Anm. d. Red.: Basisprodukte und Dienstleistungen, die für den Lebensunterhalt notwendig sind), die schlechte Gesundheitsversorgung, die hohe Arbeitslosigkeit, Hunderte von systematischen Attentaten auf Aktivist*innen und Unterstützer*innen des Friedensabkommens. Tausende Jugendliche, Studierende, Arbeiter*innen, Angehörige der LGBTIQ+-Community, Lehrer*innen, Künstler*innen und Gewerkschaften u. a. gingen wochenlang auf die Straße, um zu protestieren und von der Regierung strukturelle Veränderungen zu fordern. Teil der Forderungen war auch eine Reform der Polizei, deren Dringlichkeit bei den Demonstrationen in den folgenden Monaten deutlich wurde.

Menschenrechtsorganisationen prangerten wiederholte gewalttätige Übergriffe der Polizei, der Mobilen Bereitschaftspolizei (Esmad) und der Armee gegen zivile Demonstrant*innen an. Laut dem Bericht, den die NGO Temblores und das Institut für Entwicklungs- und Friedensstudien, Indepaz, der Interamerikanischen Menschenrechtskommission IACHR vorgelegt haben, gab es allein zwischen dem 28. April und dem 12. Mai 2021 2.110 Fälle von Gewalt durch die Sicherheitskräfte, darunter 1.055 willkürliche Verhaftungen.

Die Eskalation der staatlichen Gewalt gegen die Zivilbevölkerung erreichte extreme Ausmaße, wie zum Beispiel im Falle des erzwungenen Verschwindenlassens für Stunden und sogar Tage. Während dieser Zeit wurden die Demonstrant*innen, meist junge Menschen, von Angehörigen der Sicherheitskräfte gefoltert.

In Deutschland gingen die kolumbianische Community und viele solidarische Menschen und Gruppen auf die Straße, um den Generalstreik zu unterstützen. In einer dieser Solidaritätsbekundungen beteiligte sich ein Demonstrant, der erst wenige Tage zuvor Kolumbien verlassen musste. So kam das Kollektiv „Unidas por la paz – Alemania“ mit Horeb Nicolás Castellanos in Kontakt. Er gehörte zu den fast 400 Jugendlichen, die Anfang Mai 2021 in Bogotá für mehrere Tage verschwinden gelassen wurden und Tage später, dank der Beschwerden und des Drucks der Zivilbevölkerung, an so ungewöhnlichen Orten wie Mülldeponien oder Wasserläufen wieder auftauchten. Auch heute noch ist von Vermissten die Rede, ohne dass genaue Zahlen genannt werden können.

Nicolás kam am 7. Juli 2021 in Berlin an, um sein Leben zu retten. Einige Tage später wandte er sich an unser Kollektiv, um um Unterstützung zu bitten. Im Kontext seines Asylantrags rekonstruierte er seine Erlebnisse in einem Dokument: „Die Gewalttaten und die illegale Inhaftierung für mehr als drei Tage gegen mich und Dutzende von Begleiter*innen fanden am 2., 3., 4. und 5. Mai 2021 statt. Wir alle wurden Opfer von physischer und psychischer Folter. Unsere Verhaftung war rechtswidrig. Ich wurde mehr als 80 Stunden lang entführt“, so Nicolás.

Am 2. Mai ging die Bevölkerung wieder auf die Straße, Nicolás befand sich im Viertel San Antonio, im Osten Bogotás. Aufgrund des Angriffs der Sicherheitskräfte auf die Zivilbevölkerung an den vorherigen Tagen mussten die Demonstrant*innen festlegen, wer an der Frontlinie (Spanisch: primera línea) stehen würde, um die demonstrierende Bevölkerung zu schützen. Nicolás war an diesem Tag Teil der primera línea.

Das Ziel war es, die Plaza de Bolívar im Zentrum Bogotás zu erreichen. Dort verlief die Demonstration mehrere Stunden lang friedlich. Mit Einbruch der Dunkelheit verließen jedoch viele ältere Menschen und Familien den Platz. Nach und nach verstärkte sich die Polizeipräsenz und die Polizei griff die Demonstrant*innen von einem Moment auf den anderen an. Nicolás berichtet: „Innerhalb von Minuten herrschte Panik und die gesamte Plaza de Bolívar war mit Tränengas eingenebelt. Wir flohen durch den unteren Teil des Justizpalastes und nahmen die Carrera 9a in Richtung Norden, denn die Bereitschaftspolizei griff uns an. Es fielen Schüsse und Blendgranaten neuer Bauart, die die Polizei ‚Vennon‘ nennt. Ich habe mehrere verletzte Jugendliche fallen sehen. Andere Jugendliche, die versuchten, den Verwundeten zu helfen, wurden brutal zusammengeschlagen. Bis heute stehen viele von ihnen auf den Listen der Verschwundenen. Wir liefen mit mehreren Genoss*innen in Richtung Westen, waren erschöpft vom Laufen und gelangten auf die Carrera 13 mit der Calle 17 zu einer Tankstelle, wo wir uns vergeblich zu verstecken versuchten, denn die Polizei kam. Wir waren sieben Genoss*innen. Die Polizisten schlugen uns heftig, sie nahmen unsere Habseligkeiten, mein Handy, meine Dokumente. Sie haben uns illegal gefangen genommen. Wir hatten viele Aufnahmen mit unseren Handys gemacht, aber sie sind verschwunden, das Einzige, was übriggeblieben ist, ist das, was ich ein paar Minuten vor dem Angriff an meine Mutter per WhatsApp schicken konnte. Die Polizisten schlugen uns mit ihren Knüppeln und Helmen auf den Kopf. Mich verletzten sie im Gesicht. Ich spritzte Blut aus Mund und Nase, sie traten mich, als ich am Boden lag, sie nahmen mir die Luft zum Atmen. Das war der traumatischste Moment, den ich je in meinem Leben erlebt habe. Unter uns waren auch einige Minderjährige, unabhängig von Alter und Geschlecht, sie haben uns alle in einen Lastwagen gepackt, bis dieser voll war.“

Nach dem Bericht von Nicolás identifizierte die Polizei die Mitglieder der primera línea und brachte sie in eine Arrestzelle, wo sie die Nacht verbrachten, ohne mit ihren Familien zu kommunizieren oder medizinische Hilfe zu erhalten. Die ganze Nacht hindurch wurden diese jungen Menschen geschlagen.

Am 3. Mai wurden sie auf größere Lastwagen verladen, die normalerweise für den Transport von Pferden verwendet werden. Sie ganze Zeit über durften sie nicht auf die Toilette gehen. „Nachts brachten sie uns zur Polizeistation in San Cristóbal Sur. Mehrere Polizisten stellten sich in einer Reihe auf, und als wir aus dem Lastwagen stiegen, griffen sie uns mit Helmen, Tritten und Fäusten an. In diesem Moment bedeckte ich meinen Kopf. Ich spürte, wie sie meinen Kopf, meinen Rücken, meinen ganzen Körper schlugen. Viele von uns fielen zu Boden. Wir stolperten, alles war chaotisch und die Polizei schlug weiter auf uns ein, bis sie uns in eine Arrestzelle brachte“, erinnert sich Nicolás genau.

Am 4. Mai wurden sie wieder auf einen Lastwagen verfrachtet und durch die Stadt gefahren, die ganze Zeit ohne etwas zu essen. In der Nacht erfuhr Nicolás, dass sie in Soacha, einer Stadt in der Nähe von Bogotá, waren. „Im Morgengrauen, am 5. Mai, holten sie etwa vierzig von uns aus der Polizeistation heraus. Wir waren schon weniger als am Tag zuvor, vielleicht die Hälfte. Ich wusste nicht, was mit den anderen passiert war. Diesmal waren wir nur Männer, und zuerst sagten sie uns, dass sie uns freilassen würden, aber dann hörten wir, dass sie den Befehl gaben, uns nach Mondoñedo zu bringen (Anm. d. Autor*innen: eine der größten Freiluftmülldeponien Kolumbiens). Stunden später ließen sie mich verwundet da, nachdem sie mir gedroht hatten, ich solle nicht den Mund aufmachen, sonst würden ich und meine Familie dafür bezahlen, denn sie wussten bereits, wer ich war, sie hatten meine Papiere.“

So gut er konnte, gelang es ihm, zu einem Verwandten zu gelangen. Aus Angst ging er wochenlang nicht mehr aus dem Haus. Seine Mutter und seine Großmutter wurden durch Beamte in Zivil bedroht, auch per Telefon, und über mehrere Wochen hinweg überwacht.

Vor der staatlichen Repression geflohen Horeb Nicolás Castellanos starb in Folge seiner Verletzungen am 25. März 2022 in Berlin (Foto: Unidas por la paz – Alemania)

Nicolás gelang es schließlich, das Land zu verlassen, weil sein Vater es schaffte, ihn als Tourist ausreisen zu lassen. In Berlin wurde er in einer Schutzeinrichtung untergebracht, wo er mit anderen jungen Flüchtlingen aus verschiedenen Orten der Welt zusammenlebte. Er begann, psychosoziale Unterstützung zu erhalten, die Willkommensklasse zu besuchen, und es gab sogar gute Aussichten auf Schutz durch das Jugendamt. Leider bekam er am frühen Morgen des 20. Februar 2022, einem Sonntag, um 2 Uhr morgens starke Kopfschmerzen und wurde ins Krankenhaus gebracht, wo er wegen einer großen Blutung in der Schädeldecke operiert werden musste. Es handelte sich um ein Aneurysma. Nach der vierstündigen Operation lag er zwei Wochen lang im Koma. In der dritten Woche wachte er aus dem Koma auf, ein paar Wochen später wurde er aus der Intensivstation entlassen. Nicolás erlitt jedoch einen Rückfall und starb am Freitag, dem 25. März 2022, um 4 Uhr morgens.

Im Krankenhaus wurden bei den Untersuchungen Spuren von Schlägen auf den Schädel und das Gesicht sowie ein Nasenbeinbruch festgestellt. Dem ärztlichen Bericht zufolge könnten die vor Wochen in Bogotá erlittenen Schläge, die nicht medizinisch behandelt wurden, das Aneurysma verursacht haben.

Nicolás‘ Tod ist ein stiller Tod. Das ist auch der Fall vieler junger Menschen, die immer noch nicht aufgetaucht sind und deren Leichen, wie mehrere Organisationen in den letzten Wochen anprangerten, möglicherweise auf den Friedhöfen der Städte verbrannt wurden. Die derzeitige Bürgermeisterin von Bogotá, Claudia López, leugnet die Existenz von Verschwundenen während des Generalstreiks, aber die Geschichte von Nicolás zeigt uns, dass es sie sehr wohl gab.

Während des Generalstreiks nutzte die Polizei die Figur der „Überstellung zum Schutz“ (Spanisch:. traslado por protección), um Demonstrant*innen von einem Polizeizentrum in ein anderes zu verlegen, immer wieder und so lange, wie sie es für notwendig hielt, wie im Fall von Nicolás. In jenen Tagen war der Aufenthaltsort der außergerichtlich festgenommenen Personen unbekannt, da die Behörden sich weigerten, Informationen zu liefern. Vor dem Gesetz wird dies als „gezwungenes Verschwindenlassen“ gewertet.

Wie das Magazin Rollingstone in seiner digitalen Ausgabe vom 18. Januar 2023 berichtete, wurde bei einem Besuch der Interamerikanischen Menschenrechtskommission im Jahr 2021 festgestellt, dass 7000 Personen unter dem Vorwand der „Überstellung zum Schutz“ festgenommen wurden, um sie an der Teilnahme an den Protesten zu hindern. Heute sind die Zahlen dieser Festnahmen nicht bekannt, und es sind nur wenige Klagen eingereicht worden, da Angehörige und Freund*innen der Opfer um ihre Sicherheit und ihr Leben fürchten.

La Madre de todas las marchas

Die Vereinigung Madres de Abril Protest am ersten Jahrestag des Muttertagsmassakers (Foto: Jorge Mejía Peralta via Flickr , CC BY 2.0)

In LN 587 (Mai 2023) haben wir einen Beitrag („La Madre de todas las marchas“) abgedruckt, mit dessen Aussagen wir zum Teil nicht übereinstimmen. Insbesondere trifft das auf den ersten Satz des Artikels zu, der weder historisch korrekt ist noch in unsere kritisch-solidarische Berichterstattung zu Nicaragua passt. Den Fehler haben wir uns zu großen Teilen selbst zuzuschreiben. Aufgrund von mangelnder Zeit und ungründlicher Prüfung durch die LN-Redaktion im Vorhinein haben wir nicht die nötige journalistische Sorgfalt walten lassen. Dafür möchten wir uns bei unseren Leser*innen entschuldigen. In Absprache mit de*r Autor*in bringen wir den Beitrag online ohne besagten ersten Satz.

Daniel Ortega, der Präsident Nicaraguas, regierte seit der Sandinistischen Revolution 1979 und ist nach einer Unterbrechung seit 2006 wieder durchgehend im Amt. Die Unterstützung seiner Regierung durch das Volk verlor er jedoch spätestens am 19. April 2018, als man begann, Widerstand gegen die Reform des Sozialversicherungssystem (INSS) zu leisten. Die Proteste gingen mit Machtmissbrauch und Gewalt einher, nicht nur direkt von Ortega aus, sondern auch durch die Hand der Polizei und durch Regierungsunterstützer*innen, die die Bevölkerung zum Schweigen bringen und die Proteste unterdrücken wollten. Von da an wehrte sich die Bevölkerung, insbesondere viele Studierende, in Form von Protesten, Demonstrationen und Barrikaden gegen die Regierung. Seit Beginn der Proteste 2018 durchläuft Nicaragua eine sozialpolitische Krise, die viele Tote und viele Mütter ohne Kinder hinterließ. Der Muttertag spielt für die Bevölkerung dabei eine besondere und historisch tragische Rolle.

Die Vereinigung Madres de Abril Protest am ersten Jahrestag des Muttertagsmassakers (Foto: Jorge Mejía Peralta via Flickr , CC BY 2.0)

In Nicaragua wird der Muttertag, anders als in anderen Ländern, am 30. Mai gefeiert. Das Datum wurde 1940 von dem damaligen Diktator Anastasio Somoza Garcia festgelegt, der den Muttertag auf den Geburtstag seiner Mutter legte. Am 10. Mai 2022 erklärte das Ortega-Murillo-Regime den Muttertag zum gesetzlichen Feiertag, 20 Tage vor seiner Begehung. Jedoch gibt es seit 2018 keinen Grund mehr zum Feiern. Stattdessen ist der Muttertag zum Tag der Trauer und des Gedenkens geworden. Am 30. Mai 2018 fand ein Massenaufstand der Opposition statt, der unter dem Namen „La madre de todas las marchas“ (dt: Die Mutter aller Protestzüge) bekannt wurde und sich zu einem Blutbad entwickelte. Es versammelten sich zwischen 500.000 und einer Million Demonstrierende in den Städten Estelí, Chinandega, Masaya und der Hauptstadt Managua. Die Demonstration wurde bewusst am Muttertag begangen, da zentrales Element die Forderung nach Gerechtigkeit der ungefähr 83 Mütter war, die ihre Kinder während der vorangegangenen Aufstände durch die Hände der Ortega-Murillo-Diktatur verloren hatten. Sie wollten an diesem Tag nicht feiern, sie gingen stattdessen auf die Straße, um Veränderung und Aufarbeitung zu fordern.

Mörtel und Steine als Verteidigung gegen Schüsse auf Demonstrierende

Doch auch diese Demonstration endete gewaltvoll: 15 Nicaraguaner*innen wurden getötet, weitere 199 Personen wurden schwer verletzt. Die nationale Polizei und Paramilitärs verwendeten die Scharfschützengewehre Dragunov (SVD) und AK 47/52 gegen die protestierende Bevölkerung. Der Protest wurde zu einem Massaker. Die Geschehnisse wurden live in den sozialen Medien übertragen, wodurch nachvollziehbar wurde, wie die Menschen sich mit Mörtel und Steinen gegen die Schüsse und Kugeln verteidigen mussten. Laut Aussagen von Demonstrant*innen und verschiedenen Aufnahmen im Internet griffen die Schocktruppen den Demonstrationszug in mehreren Schüben an und zielten bewusst auf Köpfe und Brust der Teilnehmer*innen, sodass einige der Opfer sofort starben, während andere es noch bis ins Krankenhaus schafften, dort jedoch ihren Verletzungen erlagen.

Während der Präsident leere Worte verkündete, versammelten sich die Demonstrant*innen mit Plakaten mit Botschaften wie „Wir sind lebende Tote, weil sie unsere Kinder töten“, „Lass doch deine Mutter kapitulieren, denn wir tun es nicht“, „Da die Regierung es nicht schafft, ihre Ideen in unsere Köpfe zu setzen, setzt sie gegen uns Kugeln ein“ oder „Weder Resignation noch Vergeben noch Vergessen, Gerechtigkeit für die Mütter!“. An diesem 30. Mai sind es fünf Jahre seit dem Massaker, das nach wie vor straflos und unaufgearbeitet bleibt. Die Nicaraguaner*innen werden weder vergessen noch vergeben. In vielen Herzen besteht weiterhin die Hoffnung, dass die Ortega-Murillo-Diktatur für ihre Taten bestraft wird. Auch an diesem Muttertag wünschen wir uns keine Geschenke, sondern ein freies Nicaragua.

Giammatteis Vermächtnis

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Protest in Berlin Demo zum Amtsantritt der Regierung Giammattei im Jahr 2020 (Foto: Marcus Tragesser)

Im März hat das oberste Verfassungsgericht Guatemalas die Präsidentschaftskandidatur von Thelma Cabrera, der indigenen Anführerin der Volksbefreiungsbewegung (Movimiento para la liberación de los pueblos), und ihres Genossen Jordán Rodas, dem ehemaligen Staatsanwalt fur Menschenrechtsverteidigung, definitiv abgelehnt. Mit diesem Ereignis geht die Ära einer Regierung zu Ende, deren Politik eine Zunahme von staatlicher Gewalt, Extraktivismus sowie Korruption und Straflosigkeit bewirkt hat. Dies hat ständige Angriffe auf das demokratische System bedeutet. Die Wahlbehinderung zeigt sich dabei als letzte Phase der Entleerung der Garantiefunktion der demokratischen Institutionen.

Im Zuge der Gesundheitskrise zeigten die Unregelmäßigkeiten bei der Vergabe von Führungspositionen im Justizapparat deutlich die Unterordnung der Justiz unter die politische Macht der Regierung.
Angesichts der zahlreichen Mobilisierungen im ganzen Land ist die Wiederwahl von Dina Josefina Ocha und des Rechtsanwalts Luis Rosales Marroquín in das Verfassungsgericht im März 2021 ein Hinweis auf die Weigerung der Regierung, sich gegen Korruption und Straflosigkeit zu engagieren. Während Ocha beschuldigt wurde, mehrere Korruptionsfälle zu decken und die Beendigung der Mission der Internationalen Kommission gegen die Straffreiheit in Guatemala (CICIG) voranzutreiben, war Marroquín jahrelang der Verteidiger des ehemaligen Diktators Efraín Rios Montt. Wegen des Genozides gegen das Maya-Volk der Ixil in der Region Quiché wurde Ríos Montt verurteilt, dann aber in letzter Instanz für unschuldig erklärt.

Die Bestätigung von Consuelo Porras als Leiterin der Generalstaatsanwaltschaft im Mai 2022 spiegelt angesichts ihres Engagements gegen bestimmte Jurist*innen, die sich im Kampf gegen die Mafia engagiert haben, die Verbreitung von Korruption und Straflosigkeit wider. Andere Missstände zeigten sich bei der Wahl der Richter*innen des Obersten Gerichtshofs, beispielsweise bei der Kandidatur von Blanca Aída Stalling Dávila. Sie kam dem Gesetz nach nicht für eine zweite Amtszeit in Frage, zudem ermittelte die CICIG gegen sie wegen der Ausübung von Drucks auf die Justiz, um den Freispruch ihres Sohnes zu erreichen, gegen den wegen Bereicherung bei der Sozialversicherungsbehörde ermittelt wurde. Die Kooptierung der Justizorgane sowie der Wahlbehörde hat die aktuelle politische Konstellation begünstigt. In ihr spielen mehrere bekannte Persönlichkeiten eine Rolle, die beispielhaft für die Straflosigkeit stehen, die die guatemaltekische Politik in der Vergangenheit gekennzeichnet hat.

Die drei wichtigsten Präsidentschaftskandidat*innen – Zury Ríos für die Partei VIVA, Tochter des ehemaligen Diktators Ríos Montt, Sandra Torres für die Partei UNE, Exehefrau von Präsident Alvaro Colom Caballeros und nicht zuletzt Edmondo Mulet für die Partei CABAL – wurden alle der Verbindungen zum organisierten Verbrechen beschuldigt. Unabhängig davon bilden die politischen Profile der drei Kandidat*innen ein breites Spektrum von rechtsextrem bis moderat ab.

Die Kooptierung von Justizorganen und Kontrollinstitutionen ist jedoch nur eine der vielen Hinterlassenschaften der Regierung Giammattei. Während seiner Amtszeit war das Land nicht nur von einer Reihe von Maßnahmen betroffen, die unter dem Deckmantel der pandemischen Krise unangemessene Härten und Ungleichheiten verschärft haben, wie etwa dem ständigen Ausnahmezustand. Es kam auch zu einer Gewaltspirale, die unter dem Vorwand des Wirtschaftswachstums und der industriellen Entwicklung zum Verschwinden vieler indigener Gemeinschaften geführt hat.

#Wo ist das Geld hin?

Die Handhabung der Gesundheitskrise war durch einen Mangel an Impfstoffen und die Notlage eines zusammengesparten, unzureichend ausgestatteten öffentlichen Apparates gekennzeichnet. Dies bildete den Hintergrund für die zahlreichen Proteste, die die zu Ende gehende Legislaturperiode prägten. Um die Pandemie in den Griff zu bekommen, suchte die Regierung ihr Heil in einer zunehmenden Verschuldung. Die Weltbank bewilligte für den Zeitraum 2020-2022 ein Darlehen in Höhe von 750 Millionen US-Dollar, um die Effekte der Krise auf die besonders bedürftige Bevölkerung abzumildern und das Wirtschaftswachstum zu fördern. Hinzu kamen noch Darlehen anderer Institutionen wie des Internationalen Währungsfonds. Nach Angaben des Finanzministeriums liegt die Staatsverschuldung nun bei 32 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Wenige Monate nach dem Beginn der Pandemie forderten Proteste einer Bewegung unter dem Motto #dondeestaeldinero („Wo ist das Geld hin?“) den Rücktritt der Regierung und Klarheit über die Verwendung der Darlehen zur Linderung der Gesundheitskrise.

Wahrend es keine Aufklärung über die Verwendung der Covid-Kredite gegeben hat, besteht Gewissheit über die Zunahme der Gewalt gegen indigene Gemeinschaften durch die extraktivistische Politik. Die Beobachtungsstelle für die Bergbauindustrie berichtet von einem enormen Wachstum der Bergbauaktivitäten: Im Vergleich zum Vorjahr wurden allein 2023 mehr als 40 Anträge und vier neue Konzessionen registriert. Parallel dazu wurden neue Behörden gegründet, deren Ziel es ist, Enteignungen zu ermöglichen und das Privateigentum zu stärken. Zu diesen Institutionen gehören die Vereinigung zur Verteidigung des Privateigentums (ACDEPRO) und die Staatsanwaltschaft für widerrechtliche Aneignungen. Angesichts der derzeitigen Lage kann man in Guatemala schwerlich von demokratischen Wahlen reden. Unregelmäßigkeiten bei der Zulassung der Präsidentschaftskandidat*innen sowie die offensichtliche und eklatante Ausschaltung der Opposition aus dem Wahlkampf sind Merkmale für Wahlbetrug. Durch die Kooptierung der Institutionen hat die Regierung Giammattei das perfekte Klima geschaffen, um unter dem Deckmantel der Straffreiheit und der Korruption zu regieren. Kann man in einem Land noch von Demokratie sprechen, wenn die demokratischen Institutionen ihrer primären Funktion, des Schutzes der Verfassung, beraubt worden sind? Die derzeitige politische Konstellation erinnert eher an die Durchsetzung einer Diktatur unter dem Deckmantel der Demokratie.

In diesem Rahmen zeigt sich die Zukunft voller Ungewissheit, was die Widerstandsfähigkeit der Demokratie im Lande betrifft. Angesichts dieses Panoramas ist die Wahl der Parlamentsabgeordneten wahrscheinlich die einzige Maßnahme, um damit beginnen zu können, diesen Prozess wieder umzudrehen. Die solidarische internationale Begleitung ist heute so wichtig wie nie zuvor.

„Als wären wir nie dort geboren worden“

Das Colectivo de Derechos Humanos Nicaragua Nunca Más führt in Costa Rica die Arbeit der nicaraguanischen Menschrechtsorganisation CENIDH im Exil fort. Ist das nicht schwierig, ohne vor Ort zu sein?

Wendy Flores: In Costa Rica haben wir schon Überwachungssituationen erlebt und jüngst einen der schwersten Angriffe, den Gonzalo Carrión erlitt, in Form des Entzugs der Staatsangehörigkeit. 2019 haben wir das Menschenrechtskollektiv Nicaragua Nunca Más gegründet. Es ist eine Organisation, deren Arbeit in der Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen besteht, die in Nicaragua innerhalb des Landes sowie an Vertriebenen in Costa Rica und andernorts begangen werden. Wir prangern die Menschenrechtsverletzungen an und sind aufgrund dessen mit Angriffen auf unsere Arbeit konfrontiert.

Gonzalo Carrión: Bereits in Nicaragua waren wir Menschenrechtsverteidiger. Da die Organisation, für die wir in Nicaragua tätig waren, angegriffen wurde, waren wir gezwungen, das Land zu verlassen. Wir beschlossen, zu tun, was wir können, um die Menschenrechte zu verteidigen, in einem offensichtlich äußerst schwierigen Kontext, da die Verfolgung nicht aufhört.

Wie geht es den in Nicaragua verbliebenen Familien von Kollektivmitgliedern?

Wendy: Nachdem wir uns 2019 an einem dringenden Appell an die Interamerikanische Menschenrechtskommission beteiligt haben, um die Morde auf dem Land und die Verfolgung der bäuerlichen Bevölkerung anzuprangern, betrachtet uns die nicaraguanische Armee als Destabilisatoren des Friedens. So wurden im Zuge der jüngsten Überwachungsmaßnahmen die Häuser einiger unserer Kollektivmitglieder in Managua überwacht, die an regierungsnahe Personen übergeben wurden. Sie haben nach unseren Namen gefragt, um herauszufinden, ob wir noch dort leben. Das beweist, dass wir in Nicaragua immer noch überwacht werden und auch unsere Familien in Gefahr sind.

Juan Carlos Arce: Dieses Kollektiv entstand, weil die Kriminalisierung von Menschenrechtsverteidigern in Nicaragua im Jahr 2018 sehr stark war und sich in der Schließung von Organisationen, einschließlich des Nicaraguanischen Zentrums für Menschenrechte, ausdrückte. Damals hat jeder für sich beschlossen, das Land zu verlassen, weil unsere Freiheit und unser Leben in Gefahr waren. Wir sahen die Möglichkeit, uns in Costa Rica niederzulassen, um den Kampf von dort aus zu führen, was in Nicaragua nicht möglich ist. Wenn man Menschenrechtsverletzungen anprangert, dokumentiert, wird man mit Sicherheit verhaftet, seiner Freiheit beraubt, ausgewiesen oder getötet. Aber auch im Exil hat das Konsequenzen für dich und deine Familie: Wenn sie kommen, um dich zu verhaften und du nicht zu Hause bist, nehmen sie jedweden aus deiner Familie mit.

Am 9. Februar wurden 222 politische Gefangene aus den Gefängnissen geholt und ohne Umweg in ein Flugzeug nach Washington D.C. gesetzt. Wie haben Sie den Moment ihrer Freilassung erlebt?

Juan Carlos: Die Freilassung der politischen Gefangenen war definitiv eine Forderung, die wir seit mehr als einem Jahr erhoben haben, weil sie durch die Anwendung verschiedener Folterpraktiken dabei waren, getötet zu werden. Unser Kollektiv hat mehr als 150 Fälle von Folter dokumentiert, mehr als 30 Arten von Folter, und in der letzten Phase hat das Regime eine Art von Folter angewandt, die als weiße Folter bezeichnet wird und darauf abzielt, sensorische Schäden zu verursachen, was dazu geführt hat, dass sich der Gesundheitszustand der meisten Gefangenen erheblich verschlechtert hatte. Deshalb begrüßen wir die Freilassung mit Freude, denn das Leben dieser Menschen war in Gefahr. Die Befreiung wird jedoch von einer Maßnahme begleitet, die in Nicaragua und in Lateinamerika beispiellos ist − der Verbannung. Es gab im vergangenen Jahrhundert kein Regime, das mehr als 222 Personen verbannt und ihnen die Staatsangehörigkeit entzogen hat. Andere, ebenfalls inakzeptable Maßnahmen sind der Entzug sämtlicher bürgerlicher und politischer Rechte sowie die Beschlagnahmung ihres Eigentums, was einer Enteignung gleichkommt.

Es ergeben sich aber noch andere, äußerst komplizierte Situationen: Da ist die Frage der Familienzusammenführung. Was die Dinge verkomp-*liziert, ist, dass sie aus den Zivilstandsregistern gestrichen werden, als wären sie nie geboren worden. Jetzt, da sie in den USA sind, haben sie ihre Familien nicht sehen können, nicht umarmen können, sie können sie nur per Videoanruf sehen; sie sind einer absolut verwundbaren Situation ausgesetzt. Außerdem ihres Eigentums und ihrer Existenzgrundlage beraubt.

Nicht allein den Abgeschobenen wurde die nicaraguanische Staatsbürgerschaft entzogen, sondern weiteren 94 Dissident*innen. Was bedeutet das im Einzelnen für die Betroffenen?

Gonzalo: Die Verurteilung der 222 Gefangenen zur Verbannung und der Entzug ihrer Staatsangehörigkeit betrifft auch uns. 94 Personen, von denen 90 im Exil leben, wurde ebenfalls die Staatsangehörigkeit entzogen. Aber die Grausamkeit besteht darin, dass unsere Namen in den offiziellen Registern gelöscht werden, als ob wir nicht im Land geboren wären. Einige Familienmitglieder hatten für die Familienzusammenführung bereits Reisedokumente beantragt. Hierzu gibt es Berichte, dass sie Pässe für ihre Kinder oder Personen, die reisen wollen, beantragt hatten, aber da sie mit Exilanten in Verbindung stehen, hieß es, dass diese Personen nicht existieren. Diese Maßnahme hat noch weitere Folgen: Mehrere Personen haben mitgeteilt, dass ihre Altersrente blockiert wurde. Dafür haben wir gearbeitet, unser ganzes Arbeitsleben lang Beiträge geleistet. Dieser Machtmissbrauch geht über unseren Tod als Bürger hinaus, er bedroht unser Leben.

Spanien, Argentinien, Chile, Kolumbien und Mexiko haben den jetzt Staatenlosen die Staatsbürgerschaft angeboten. Ein Großteil von ihnen steht jedoch vollkommen mittellos und ohne finanzielle Unterstützung da. Welche Möglichkeiten sehen Sie, auf dieses Problem zu reagieren?

Wendy: Tatsächlich kommt es darauf an, dass die Staaten Druck auf Nicaragua ausüben, damit diese repressiven Maßnahmen eingestellt werden, und dass jeder einzelne Staat eine entsprechende Politik verfolgt. Es müssen UN-Mechanismen wie das UNHCR [Hochkommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge] aktiviert werden, denn jede vertriebene Person kommt mit absolut nichts, braucht Nahrung, braucht Arbeit, braucht eine Bleibe.

Fast zehn Prozent der nicaraguanischen Bevölkerung leben außerhalb des Landes, was wegen der Repression gegen ältere Menschen, die auf ihre Rente angewiesen waren, zur weiteren Verarmung geführt hat. Ihre Renten wurden nicht mehr auf ihre Konten überwiesen, sodass ihre Familien sie nicht mehr abheben können. Menschen, die ihre Häuser vermietet hatten, wurden ihres Eigentums beraubt und haben dieses Einkommen nicht mehr. Es besteht also die Absicht, die Würde derer, die außerhalb Nicaraguas noch ihre Stimme erheben, für nichtig zu erklären, zu verarmen und zu schädigen. Dies muss von der internationalen Gemeinschaft nicht nur verurteilt werden, sondern es müssen auch wirksame Maßnahmen ergriffen werden, um auf alle diese Forderungen zu reagieren.

Juan Carlos: Ich möchte noch eine weitere Dimension hinzufügen: Die Menschen, die aus dem Gefängnis entlassen wurden, sind auch in ihrer psychischen Gesundheit zerstört. Das Regime hat Schäden verursacht, die mit bloßem Auge nicht sichtbar sind, aber nach mehr als einem Jahr – manche zwei, drei Jahre –, in denen sie extrem grausamen Praktiken ausgesetzt waren, sind gesundheitliche Schäden zu verzeichnen.

Ein wirksamer Schutz dieser Staaten muss sich in einer Reihe anderer Maßnahmen niederschlagen, die von der Sicherung des Lebensunterhalts über deren Integration und soziale Prozesse in den Aufnahmeländern bis hin zur körperlichen und seelischen Gesundheit reichen. Wenn man sich nicht dafür einsetzt, wird alles viel schwieriger für diese Menschen, die absolut schutzbedürftig sind.

Wendy: Für jede Person bedeutet das, dass sie von jedem Land eine Staatsangehörigkeitsbescheinigung, die Anerkennung ihrer Diplome, ihres Berufs oder ihres Gewerbes erhalten muss, um sich selbst zu versorgen und ihre Rechte wirklich ausüben zu können. Abgesehen von der Staatsangehörigkeit braucht sie aufgrund der erlittenen Folter dringend psychologische Betreuung.

„Ich höre ein Knacken im Gebälk des Regimes […], wie bei einem Bauwerk, das gut zu stehen scheint und dann zusammenfällt”, sagte Dora María Tellez nach ihrer Freilassung im Interview mit der mexikanischen Tageszeitung La Jornada. Würden Sie dem zustimmen?

Gonzalo: Unbedingt. Die Verbannung von 316 Personen ist eine Aktion, die international die weitere Isolierung des Ortega-Murillo-Regimes, seinen Legitimitätsverlust, anzeigt. In letzter Zeit haben sich der kolumbianische Präsident Gustavo Petro und Präsident Gabriel Boric aus Chile immer wieder für die politischen Gefangenen und für Freiheit in Nicaragua eingesetzt. Mexiko, zwar zögerlich, hat sich ebenfalls zu Wort gemeldet, ebenso wie Brasilien und Argentinien. Es ist eine Tyrannei in der Einsamkeit. Ich bin zuversichtlich, dass sie enden wird.

Wendy: Da es sich um eine Diktatur handelt und niemand garantierte Rechte hat, wurden sogar Beamte des Justizwesens, die an der Repression beteiligt waren, wegen Misstrauens gegen sie inhaftiert. Sie [Ortega-Murillo] haben die eigenen engen Vertrauten, die eigenen Parteikader und Staatsbeamten angegriffen; ihre eigene Basis hat das Land verlassen, weil die Repression sie ebenfalls erreicht hat. Im Moment halten sie sich mit Waffengewalt, mit der Polizei und der Armee aufrecht. Das ist keine Garantie dafür, dass sie an der Macht bleiben, denn sie haben keine interne Unterstützung − die ist minimal. Wir glauben, dass dies ein Ende haben wird.

Juan Carlos: In Nicaragua sagen die Bauern, wenn sie mit schwierigen Situationen konfrontiert werden: „Es wird Tag, es wird immer Tag”. In Nicaragua wird der Tag anbrechen. Ich weiß nicht, ob es bald so weit sein wird, aber es gibt eine starke Erosion innerhalb der Frente Sandinista [Regierungspartei FSLN]. Man wird eine Implosion dessen erleben, was von dieser Partei übrig ist. Das ist unsere Hoffnung.

“DAS LIED IST EIN INSTRUMENT DER SOLIDARITÄT”

Musiker im Exil Luis Enrique Mejía Godoy und Jandir Rodríguez beim Konzert in Berlin (Foto: Michelle Obando)

Wie kamen Sie auf die Idee, diese Konzertreise gemeinsam anzutreten?

Luis Enrique: Wir beide sind Künstler zwei verschiedener Generationen, aber uns eint der Kampf für die Zukunft Nicaraguas, für Meinungsfreiheit, für Frieden, für Demokratie und Menschenrechte. Weder Jandir noch ich gehören einer politischen Partei oder einer politischen Organisation an. Wir engagieren uns für die Einheit aller Nicaraguaner im Kampf gegen die Diktatur Ortega-Murillo. Jandir kann erzählen, warum wir uns zusammengetan haben, denn es war seine Initiative.

Jandir: Die Initiative entstand aus der vorangegangenen Europatournee, die ich unternommen hatte, und des Nicaragua-Vereins in Sevilla. Und meinem Traum von einem gemeinsamen Konzert mit Luís, da wir beide den Kampf für Menschenrechte mit unseren Liedern teilen. Wir beschlossen, unser Repertoire zu vereinen und den Nicaraguanern ein Lied der Hoffnung zu bringen und zur Solidarität in den Ländern aufzurufen, die wir derzeit besuchen.

Während der Sandinistischen Revolution in den 1980er Jahren waren Sie, Luís, und ihr Bruder Carlos international berühmt. „Ay Nicaragua, Nicaragüita“, geschrieben von Carlos, wurde zu einer Art Hymne der Revolution. Wie denken Sie heute über diese Zeit?

Luis Enrique: Die sandinistische Revolution kann man nicht vergessen. Sie ist ein wichtiges historisches Ereignis, nicht nur in Nicaragua und Lateinamerika. Der Kampf gegen die Somoza-Diktatur bewegte die Welt. Das ist eine Tatsache. Die 1980er Jahre waren Jahre des Kampfes für die Errichtung eines Traums, der durch einen Kampf im Innern unterbrochen wurde, woran die US-Regierung und die russische Regierung großen Anteil hatten. In gewisser Weise wurden wir Opfer des Kalten Krieges. Die 1990er kamen, die Sandinistische Nationale Befreiungsfront (FSLN) verlor die Wahlen. Für mich ist damit ein historisches Jahrhundert zu Ende gegangen, die Revolution hatte es bereits besiegelt.

Jetzt müssen wir neu darüber nachdenken, wie wir die Demokratie unter anderen Bedingungen aufbauen können. Heute machen sich die jungen Leute andere Gedanken, jetzt sind sie es − im Jahr 1979 (Jahr des Sieges der Revolution, Anm. d. Red.) waren wir es −, die das Sagen haben. Es sind immer die jungen Menschen, die diese Kräfte besitzen. Worin besteht der Unterschied? Damals war es ein bewaffneter Kampf, heute ist es eine Bürgerbewegung.

Vor Kurzem haben Sie das Lied „Nicamigrante soy“ geschrieben. Man könnte sagen, dass es eine Hommage an die Hunderttausenden Exil-Nicaraguaner*innen ist, die verstreut über viele Länder leben. Welches waren Ihre Beweggründe für das Komponieren dieses Liedes?

Luis Enrique: Ja, ich wollte ein Lied machen, das von meiner eigenen Erfahrung als Migrant, als Exilant und von den Tausenden von Nicaraguanern auf der ganzen Welt spricht. Allein in Costa Rica sind seit 2018 180.000 Flüchtlinge unter sehr schwierigen Bedingungen eingereist. Die meisten von ihnen sind junge Menschen zwischen 18 und 35 Jahren. Ihr Studium wurde unterbrochen, ihre Studienunterlagen weggeworfen, aus dem Computer gelöscht, und ihnen damit ihre Zukunft versperrt. Nicht allein, dass man sie in Nicaragua nicht haben will, sondern man will, dass sie Schwierigkeiten haben, wo immer sie sind. Es gibt viele junge Menschen, die bei Null anfangen: ohne Arbeit, ohne Studium, mit psychologisch sehr komplizierten Traumata, mit Kriegsverletzungen, aus dem Gefängnis entlassen, gefoltert. Deshalb wollte ich ein Lied der Hoffnung für die Migranten schreiben, wo immer sie sind, und ihnen sagen, dass wir eines Tages in ein freies Nicaragua zurückkehren können. Es ist außerdem ein fröhliches Lied, nicht triumphalistisch, sondern kämpferisch.

Mittlerweile leben alle Künstler*innen, die die nicaraguanische Kulturszene ausmachten, im erzwungenen Exil. Welcher war der auslösende Moment, der Sie die Entscheidung treffen ließ, Nicaragua zu verlassen?

Luis Enrique: Wie mein Bruder Carlos beschloss ich, im August 2018 zu gehen − nachdem wir bereits ein Dutzend Lieder für diesen Kampf geschrieben hatten, in Solidarität mit den Müttern, mit den politischen Gefangenen, mit den ersten Exilanten, den ersten Verfolgten, Drangsalierten und den ersten Toten natürlich. Das erste Lied, das ich geschrieben habe, heißt „Mi patria me duele en abril” (Mein Heimatland schmerzt mich im April). Etwa 15 Tage später − es gab bereits 40 Tote − wusste niemand, ob es 100, 200 oder 300 sein würden. Aber ich wusste, dass wir vor einer neuen, schrecklichen Situation stehen, in der der Tod wieder allgegenwärtig ist. Damit nahm Daniel Ortega die Maske ab, um auf diese Art zu sagen: „Ich gehe hier nicht weg, ich habe die Waffen.”

Sämtliche Institutionen stehen unter dem Kommando von Ortega und Murillo. Es gibt keine Meinungsfreiheit. Sie haben die Printmedien, das Fernsehen und den Rundfunk geschlossen und Journalisten, Sportreporter, Intellektuelle, Lehrer, Bauern und Studenten inhaftiert. Damit wurden unsere Hoffnung und die Perspektive eines Machtwechsels in Nicaragua zunichte gemacht.

Sie, Luis, leben im Exil in Costa Rica. Schon während der Somoza-Diktatur haben Sie dort gelebt, bis 1979 die Revolution siegte. Was bedeutet dieses neuerliche Exil für Ihr künstlerisches Schaffen?

Luis Enrique: Mein erstes Exil in Costa Rica war, als ich 20 Jahre alt war, heute bin ich fast 78. Es ist also viel schwieriger, fast bei Null anzufangen. Ich bin Künstler und autark in dem Sinne, dass ich meine Gitarre und meine Stimme habe. Das ist es, was ich brauche. Ich hielt es für sinnvoller, Nicaragua zu verlassen und in Costa Rica zu sein, um in irgendeiner Weise zur Solidarität und zur Einheit im Kampf gegen die Diktatur beizutragen.

Das Lied ist ein Instrument der Solidarität, des Friedens, des Aufrufs, der Anklage. Auch Liebeslieder sind das. Ich schreibe schon seit 55 Jahren Lieder und bin mit Jandir darüber einig, dass es sich bei ihm um einen neuen Ausdruck handelt. Der Unterschied liegt im Einsatz der Technologie, doch das Bewusstsein, das Herzblut sind dasselbe, der Patriotismus ist derselbe, die Liebe zu Nicaragua − und unsere Absicht, die Poesie zu verteidigen in einer Situation, die uns zwingt, die Diktatur anzuprangern.

Die politischen Gefangenen sind heute mehr denn je ein authentisches Beispiel für nicaraguanische Vaterlandsliebe. In vielen Ländern der Welt weiß man nicht, dass sie im Hungerstreik sind, vor allem die Frauen sind isoliert: es gibt keine Bücher, sie bekommen keine Medikamente, kein Trinkwasser. Ortega-Murillo haben internationales Recht, die Menschenrechte, die OAS (Organisation Amerikanischer Staaten), die Vereinten Nationen und alle demokratischen Regierungen zum Gespött gemacht. Wenn Gabriel Boric aus Chile Kritik äußert, antwortet Daniel Ortega sofort mit dem Diskurs, dieser sei ein Handlanger der Vereinigten Staaten und wir seien Feinde Nicaraguas. Er wirft uns vor, Handlanger der CIA und Beschäftigte des US-Außenministeriums zu sein. Es ist völlig abgenutztes, dummes Gerede, aber er hat auch gezeigt, dass er in der Lage ist, all diejenigen zu töten, die gegen ihn sind.

Jandir, Sie leben im Exil in Guatemala. Wie wirkt sich die Situation auf Ihr Leben aus?

Jandir: Ich habe nie daran gedacht, meinen Lebensunterhalt mit Musik zu verdienen. Ich war Medizinstudent. Ich war kein Musiker, aber ich bin in einer musikalischen Familie aufgewachsen und die Musik war immer meine große Leidenschaft. Ich komponierte erste Lieder, jedoch sehr amateurhaft. Als ich nach Guatemala ging, änderte sich mein Leben völlig, denn ich musste herausfinden, wie ich überleben sollte. Das Einzige, was ich in diesem Moment konnte, war Musik, und das ist bis heute das Einzige, was ich kann. Die Migration ist eine große Herausforderung. Neben dem wirtschaftlichen gibt es auch den kulturellen Aspekt. Die Anpassung an eine neue Lebensweise, das Verstehen einer anderen Kultur, die Erfahrung von Fremdenfeindlichkeit, die Erfahrung von Diskriminierung. Darüber hinaus habe ich einen Prozess durchlaufen müssen, um mich in der guatemaltekischen Musikszene entwickeln zu können.

Luis Enrique: Gerade die jungen Menschen verlassen das Land, weil sie dazu gezwungen sind. Oft müssen wir es über tote Winkel verlassen − über inoffizielle Grenzen nach Honduras oder Costa Rica fliehen oder mit etwas Glück nach Europa, in die Vereinigten Staaten oder nach Kanada. Ausreisen von einem Tag auf den anderen, mit nichts, nur mit dem, was du auf dem Körper trägst. Du verlässt deine Familie, dein Zuhause, deine Arbeit. Das macht die Situation nur noch schlimmer. Für Jandir ist es also eine Sache, für ein Konzert nach Guatemala zu gehen und nach Nicaragua zurückzukehren, aber es ist eine andere, sich in einem Land niederzulassen, ohne es geplant zu haben. Weder er noch ich wissen, wann wir zurückkehren werden.

Auf Berlin folgt ein Konzert in Paris, das den mehr als 220 politischen Gefangen in Nicaragua gewidmet ist. Im Besonderen Dora María Téllez, die den ihr von der Pariser Universität Sorbonne Nouvelle verliehenen Ehrendoktortitel nicht entgegennehmen kann. Wie hoch schätzen Sie die Wirkung dieses Solidaritätskonzerts ein?

Luis Enrique: Das ist eine sehr besondere Aktivität und es gibt auch einen runden Tisch, an dem dieser Zusammenhang diskutiert wird. Es handelt sich also vielleicht um die unmittelbarste politische Aktivität der gesamten Tournee. Das Konzert in Paris ist ein sehr wichtiger Punkt − Großgeschrieben! Für Dora Maria, für die inhaftierten und isolierten Frauen und ganz allgemein für alle politischen Gefangenen.

Unter welchen Voraussetzungen würden Sie nach Nicaragua zurückkehren?

Luis Enrique: Absolute Freiheit! Ohne Erlaubnis zu leben, ohne Erlaubnis zu denken, ohne Erlaubnis zu singen, zu kommen und zu gehen, sich zu organisieren, zu mobilisieren − absolute Freiheit und Gerechtigkeit!

Jandir: Das ist entscheidend.

// GANZ EHRLICH

„Ich sage mal ganz ehrlich, diese schwarz gekleideten Inszenierungen bei verschiedenen Veranstaltungen von immer den gleichen Leuten erinnern mich an eine Zeit, die lange zurückliegt und Gott sei Dank,” erklärte Olaf Scholz von der Bühne des Kirchtages Ende Mai, nachdem zwei Umweltaktivist*innen es gewagt hatten, seine Rede zum Ausstieg aus der Kohleverstromung zu stören.

Nicht erst damit wird klar, wie leer und heuchlerisch seine Versprechungen und Inszenierung als „Klimakanzler” waren und sind, das zeigt die miserable Klimabilanz der Regierung. Nun aber diskreditiert derselbe Kanzler auch die Klimakrise als Ideologie und diejenigen, die sich für Klimagerechtigkeit einsetzen, als von Eigeninteressen geleitete Extremist*innen. Nicht verwunderlich daher, dass auch in Deutschland die Repression gegen Klimaaktivist*innen und deren Kriminalisierung steigt, das haben zuletzt die Verhaftungen im Zusammenhang mit der Räumung des Dannenröder Forsts und die Millionenklagen von RWE gegen Anti-Kohle-Aktivist*innen gezeigt.

In Lateinamerika sieht die Repression gegen Umweltaktivist*innen noch viel düsterer aus. Dort ist Umweltschutz buchstäblich lebensgefährlich und endet für viel zu viele Aktivist*innen tödlich. Fast drei Viertel der Morde an Umweltaktivist*innen weltweit finden in Lateinamerika statt, die meisten in Kolumbien, darauf folgen – mit großem Abstand – Mexiko, Brasilien und Honduras. Die NGO Global Witness berichtet von 227 ermordeten Umweltaktivist*innen im Jahr 2020, 65 davon allein in Kolumbien. Die meisten der ermordeten Aktivist*innen hatten sich gegen Abholzung durch Forstunternehmen zur Wehr gesetzt, ein Drittel der Opfer waren Indigene. Die Zahl derer, die aufgrund ihres Engagements schikaniert, bedroht, verhaftet oder entlassen wurden, ist weitaus höher. Und nicht nur das Leben der Umweltaktivist*innen steht auf dem Spiel, sondern das ganzer Communities und Ökosysteme. Internationale Unternehmen, auch aus Deutschland, zerstören aus Profitgier in Lateinamerika komplette Regionen – mit fatalen Folgen für das Klima. Sie betreiben Tagebaue, holzen Wälder ab, vertreiben Menschen oder beuten sie als billige Arbeitskräfte aus, verseuchen Grundwasser, tragen zur Versandung, Verwüstung, fehlenden CO2-Speichern und Dezimierung der Artenvielfalt bei.

Gleichzeitig werden diejenigen, die sich vor Ort gegen diese Zerstörung wehren, als „Feind*innen der Entwicklung” dargestellt, wie es der honduranische Umweltaktivist Joaquín A. Mejía ausdrückt, und damit als störende Elemente eines „Fortschritts”, der auf extraktivistischen und neokolonialen Strukturen beruht. Von dieser Art des Fortschritts, der von vielen lateinamerikanischen Regierungen propagiert wird, profitieren neben den internationalen Konzernen auch die Politiker*innen des Globalen Nordens, die die schmutzige Ressourcenausbeutung für die Energiewende in weit entfernte Regionen auslagern können. Auf diese Weise müssen sie sich mit Lösungen für die Klimakrise, die eine Abkehr vom ewigen Wirtschaftswachstums erfordern würde, gar nicht erst beschäftigen. Doch gerade indigene Umweltaktivist*innen sind es, die bereits jetzt vorleben, dass es auch anders geht.

Nicht nur deswegen ist der notwendige und legitime Protest von Umwelt- und Klimaaktivist*innen weltweit gegen die Zerstörung unserer aller Lebensgrundlagen ebenso unbeliebt bei Politik und Wirtschaft wie die Fakten über die Klimakrise selbst. Die peinliche Diskreditierung und Einschüchterung der Aktivist*innen im Falle von Scholz soll dazu dienen, von deren Botschaft abzulenken, die klar macht, dass mit den bisher geplanten Maßnahmen der Bundesregierung die selbst gesteckten Klimaziele nicht erreicht werden. Ganz ehrlich, so lässt sich die Klimakatastrophe nicht aufhalten.

VEREINIGUNGSRECHT UNTER DER GUILLOTINE

Abgesagt Auch das Poesiefestival Granada fiel der Verbotspolitik der Regierung zum Opfer (Foto: Jorge Mejía Peralta via Flickr (CC BY 2.0))

Nicaraguanische digitale Informationsportale veröffentlichen derzeit lange Listen von NGOs, über deren Auflösung im Parlament en bloc abgestimmt wird. Danach wurden seit Dezember 2018 nicht weniger als 452 NGOs liquidiert, nachdem zuletzt am 2. Juni 2022 die Annullierung von 96 weiteren Organisationen das Parlament passiert hat. Darunter finden sich Vereine, Stiftungen, Institute und Körperschaften, mehr als zweihundert allein in diesem Jahr. Sechs ausländischen NGOs, die sich für Menschen mit begrenzten wirtschaftlichen Ressourcen einsetzen, hat die dem Innenministerium (Migob) angegliederte Generaldirektion für die Registrierung und Kontrolle von gemeinnützigen Organisationen am 24. Mai den Rechtsstatus entzogen. Die Löschung der Registrierung betrifft NGOs aus Italien, Costa Rica, den Vereinigten Staaten und Spanien sowie die deutsche NGO medico international. Zur Begründung hieß es, dass sie die „Kontrolle und Überwachung” behinderten, da sie ihre Finanzberichte nicht vorgelegt sowie die Herkunft ihrer Spenden nicht gemeldet hätten und sich auch nicht als „ausländische Agenten” registrieren ließen.

Die Maßnahmen richten sich gegen eine breite, diverse NGO-Landschaft: Unter den betroffenen Organisationen finden sich Unternehmer*innen nahestehende Organisationen wie die Amerikanisch-Nicaraguanische Stiftung, die von Mitgliedern der mächtigen nicaraguanischen Unternehmerfamilie Pellas gegründet wurde und seit 30 Jahren Sozialprogramme in verschiedenen Bereichen zugunsten der am stärksten gefährdeten Gemeinden des Landes fördert. Ferner liberal-demokratische Organisationen und neoliberale Think-Tanks, deren ausländische Partnerorganisationen geopolitische Interessen verfolgen wie zum Beispiel die deutsche FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung. Von Auflösung betroffen sind ebenfalls Berufsverbände, Vereinigungen von Kleinst- und mittleren Unternehmer*innen oder religiöse Organisationen wie die jesuitische Angelo Giuseppe Roncalli-Vereinigung und das Zentralamerikanische Historische Institut. Die ins Visier genommenen NGOs sind jedoch mehrheitlich progressiv bis links zu verorten. Viele haben sich bereits in den 90er Jahren gegründet, um den sozialen Kahlschlag der neoliberalen Vorgängerregierungen abzufedern, indem sie sich für die Forderungen und Bedürfnisse besonders vulnerabler und benachteiligter Bevölkerungsgruppen einsetzten. Schwerpunkte ihrer Arbeit sind Frauenrechte und -emanzipation, Gewaltprävention, Kinderschutz und Jugendprojekte, medizinische Programme, Umweltschutzprojekte, Projekte zur Verteidigung indigener Rechte und sozialer Minderheiten, Menschenrechte sowie die Stärkung von Bürger*innenbeteiligung. Seit Ortegas Machtübernahme 2007 positionierte sich vor allem die Frauenbewegung entschieden gegen das unter seiner Führung installierte politische System. Die Soziologin María Teresa Blandón (s. LN 539), Direktorin der zentralamerikanischen Vereinigung für feministische Programme La Corriente, einer der am 4. Mai aufgelösten NGOs, erklärt dazu, dass der Angriff auf die zivilen Organisationen einer „Politik der Zerstörung und des Schweigens” entspreche. Sie ziele darauf ab, „uns auszuschalten, uns zu demobilisieren und eine einzige Form der Beteiligung, eine einzige Form der Organisation durchzusetzen, die vom Regime kontrolliert wird.” Sie bezeichnete die Entscheidung der Abgeordneten als „illegalen Akt”, da sie gegen das verfassungsmäßige Recht auf Vereinigungsfreiheit verstoße.

Die Generaldirektorin für die Registrierung und Kontrolle gemeinnütziger Organisationen des Migob, Franya Urey Blandón, die ihre Empfehlungen zur Aufhebung des Rechtsstatus an die Nationalversammlung weiterleitet, wirft den betroffenen Organisationen eine Reihe von Gesetzesverstößen vor: gegen das Gesetz gegen Geldwäsche, Terrorismusfinanzierung und Finanzierung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, das Gesetz zur Regulierung ausländischer Agenten und gegen das am 6. Mai in Kraft getretene Allgemeine Gesetz zur Regulierung und Kontrolle gemeinnütziger Organisationen. Angeblich hätten die NGOs es versäumt, Jahresabschlüsse nach Steuerzeiträumen mit detaillierter Aufschlüsselung vorzulegen, ihre Vorstände würden nicht mehr existieren und sie hätten versäumt, über frühere Spenden aus dem Ausland Buch zu führen. Dieser eingespielte Mechanismus zwischen Migob und Parlament funktioniert reibungslos, da die Regierungspartei FSLN nach der Wahlfarce vom 7. November 2021 (s. LN 569/570) über 75 von 90 Sitzen verfügt. Zweifelhaft erscheint indes, wie die Generaldirektion bei einer derart großen Menge an Vorgängen die Berichterstattung der Organisationen auf Herz und Nieren geprüft haben will, um deren Liquidierung zu legitimieren.

Demgegenüber beklagen Dutzende NGOs, dass die Behörden alle möglichen Strategien anwenden, um ihre Begründungen für die sogenannten Unregelmäßigkeiten und Verstöße zu untermauern: Dokumentationen werden nicht angenommen oder Prüfprozesse verschleppt, so dass Fristen verstreichen. Die Feministin Ana Quirós − ehemalige Direktorin des aufgelösten Zentrums für Information und Beratung im Gesundheitswesen − hält die Argumente für die Illegalisierung der NGOs für „Ausreden”, da der erste Schritt darin bestehen müsse, die Organisationen aufzufordern, die Fehler, die sie (angeblich) machen, zu beheben, und nicht, sie endgültig zu schließen. Zu den vermeintlichen Versäumnissen erklärt die Soziologin Blandón gegenüber dem Internetkanal Esta Noche: „La Corriente hat beschlossen, sich nicht als ausländischer Agent registrieren zu lassen, weil wir diese Definition nicht erfüllen. Wir sind ein Kollektiv von Nicaraguaner*innen, die seit fast 30 Jahren auf dem nationalen Territorium tätig sind und aus Staatsangehörigen besteht.” Die Liquidierung der NGOs kann auch den Einzug ihres Vermögens nach sich ziehen. Die Umweltschutzorganisation Fundación del Río war eine der ersten, deren Rechtsstatus im Dezember 2018 annulliert wurde. In der Folge wurden 454 Hektar Wald durch die Generalstaatsanwaltschaft und das Ministerium für Umwelt und natürliche Ressourcen (MARENA) konfisziert. Darunter waren Grundstücke zur Wiederaufforstung und natürlichen Regenerierung des Waldes, die Einrichtung des kommunitären Radio Voz Juvenil sowie die Büros der Organisation, außerdem vier Waldschutzgebiete und die biologische Station Mancarroncito.

„Es handelt sich um eine Säuberung von Organisationen, die das Regime als konträr zu seiner extraktivistischen Politik betrachtet, die die Grundrechte der Bevölkerung verletzt”, sagte Amaru Ruíz, Präsident der Fundación del Río gegenüber dem Portal für unabhängigen Umweltjournalismus in Lateinamerika Mongabay Latam. Wie viele Aktivist*innen lebt Amaru Ruíz inzwischen im Exil. Ihm wird vorgeworfen, sich der „Verbreitung falscher Nachrichten in den Informations- und Kommunikationsmedien” schuldig gemacht zu haben. Insbesondere seine Berichte über die Gewalt gegen die indigenen Gemeinschaften an der nördlichen Karibikküste 2020 (s. LN 557) und 2021 und das Massaker vom 3. September 2021 im Mayangna de Sauni As-Territorium im Biosphärenreservat Bosawás dürften zur Anklageerhebung gegen ihn geführt haben.

Konfiszierte Immobilien werden für Propaganda genutzt

Ein weiteres Beispiel von Enteignung ist die 1990 gegründete Stiftung für kommunale Förderung und Entwicklung Popol Na, deren Direktorin Monica Lòpez Baltodano ebenfalls im Exil lebt. Am 19. März 2021 wurde in den ehemaligen Büros der Stiftung ein Familien- und Gemeindezentrum eingeweiht und damit die endgültige Beschlagnahmung besiegelt. Es gehört zum perfiden Vorgehen dieser Regierung, die konfiszierten Immobilien einem propagandistischen Zweck zuzuführen. Schon am 21. Februar hatte das Gesundheitsministerium in den beschlagnahmten Büros der unabhängigen Medien Confidencial, Esta Semana, Esta Noche und Revista Niú, die dem Journalisten Carlos Fernando Chamorro gehören, eine Entbindungsstation eingeweiht und am Eingang ein Foto zu Ehren von Ortega und Murillo angebracht. Durch die öffentlichkeitswirksame Überführung eines Teils des beschlagnahmten Eigentums in soziale Projekte, erkauft sich die Regierung insbesondere bei der armen Bevölkerung die Akzeptanz ihrer polizeistaatlichen Methoden und verschleiert, in welchen Kanälen der Großteil dieser Vermögen am Ende tatsächlich landet.

Es liegt auf der Hand, dass diese ungeheure Menge an Verlusten zivilgesellschaftlicher nationaler und ausländischer Akteur*innen und Organisationen vor allem im Sozial-, Bildungs-, Umwelt und Kulturbereich nicht nur existentielle Folgen für die Menschen haben wird, denen die Unterstützung entzogen wird, sondern auch einen enormen Arbeitsplatzverlust für alle nationalen Kräfte bedeutet, die in den inkriminierten NGOs tätig waren. Ortega weiß, dass er aus den Wahlen vom 7. November geschwächt hervorgegangen ist. Umso mehr geht es darum, die absolute Kontrolle über das Land zu gewinnen: Jede Form der Bürger*innenbetätigung, die nicht unter Regierungskontrolle steht, wird ausgeschaltet, weil die Existenz unkontrollierter Räume − wie sie die NGOs darstellen − auch eine Chance zur Selbstermächtigung der Bürger*innen bietet oder sich in ihnen Widerstandsnester formieren könnten.

Damit keine Freude mehr aufkomme und Grabesstille herrsche im Land, fiel Mitte Mai dieses Jahres auch die Stiftung Internationales Poesiefestival Granada der Brachialgewalt zum Opfer. „Seit fast 20 Jahren machen wir dieses Festival mit Liebe, mit der ehrenamtlichen Arbeit des Vorstandes, mit Freude und bringen die Poesie zu den Tausenden, die mit Freude in Granada teilgenommen haben”, beklagt die Schriftstellerin Gioconda Belli die Auflösung und fügt hinzu: „Was in unserem Land geschieht, ist ein Trauerspiel, ein täglicher Angriff auf die Bemühungen von Tausenden, Nicaragua von der Zivilgesellschaft aus das zu geben, was die Regierung niemals uneigennützig wird geben können. Die Absage des Festivals ist eine Verweigerung von Freude und Poesie.“

WEGEN „AUFSTANDS“ IM GEFÄNGNIS

Die Anfrage datiert vom 19. November. Da fragte die Lateinamerika-Abteilung des Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) formell an, ob und wie viele Minderjährige sich in kubanischen Haftanstalten befinden. Eine offizielle Antwort der kubanischen Regierung steht zwar noch aus, aber sie könnte brisant sein. Es geht darum, ob Kuba, das die UN-Kinderrechtskonvention unterzeichnet hat, sie verletzt hat.

Für die revolutionäre Regierung in Havanna käme das einem Gesichtsverlust gleich, denn immer wieder hat sich Kuba zu den Menschenrechten bekannt – auch mit laut kritischen Stimmen vor allem für die zweiten und dritten Grades. Also die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte, die im Land traditionell weitaus besser umgesetzt werden als andernorts.

45 Fälle von Minderjährigen unter 18 Jahren, die am Tag der und nach den Protesten vom 11. Juli inhaftiert wurden, haben die beiden Organisationen Cubalex und Justicia 11J dokumentiert – über die Angaben der Eltern und anderer Verwandter. Während Cubalex in den USA, genauer von Pennsylvania aus arbeitet, ist Justicia 11J im Land selbst aktiv und sammelt Daten, die wiederum an Cubalex gehen. Letztere Organisation, die juristisch berät und lange in Kuba arbeitete, wird von Laritza Diversent geleitet. Die Anwältin hat 2010 die unabhängige Organisation gegründet. Als im September diesen Jahres Beamte des Innenministeriums 2.016 Computer und Unterlagen beschlagnahmten und das Team um Diversent darauf aufmerksam machte, dass freiberufliche juristische Beratung in Kuba illegal sei, emigrierte das Team in die USA, so Diversent. „Wir sind eine Nichtregierungsorganisation, die direkt mit den Familien von in Kuba verhafteten und angeklagten Menschen arbeitet. Die kubanische Regierung hat bisher keine offiziellen Angaben über die Anzahl der Verhaftungen am und nach dem 11. Juli gemacht, deshalb stützen wir uns auf Angaben der Familien, veröffentlichen die Daten (Foto, Ausweisnummer, Alter, Personalangaben) auf unserer Homepage und ergänzen diese Daten mit Informationen aus den sozialen Netzwerken.“

Von den bereits genannten 45 Minderjährigen sind 30 aus der Haft entlassen worden. Neun von ihnen warten unter Auflagen in Freiheit auf ihren Prozess. Vierzehn Minderjährige im Alter von 15 bis 18 Jahren befinden sich weiterhin in Haft. Darunter etliche, denen langjährige Haftstrafen drohen, wie etwa Brandon David Becerra Curbelo, der im Gefängnis 18 Jahre alt wurde und dem eine 18-jährige Haftstrafe droht. Seine Mutter ist an die Öffentlichkeit gegangen, hat protestiert und kritisiert, dass sich ihr Sohn in der Haft mit Covid-19 infiziert habe.

Mehreren Minderjährigen drohen hohe Haftstrafen

Sedición – Aufstand, lautet der Anklagepunkt, der nicht nur gegen ihn, sondern gegen eine ganze Reihe Jugendlicher ins Feld geführt wird, die auf ihre Prozesse warten. Für die Angehörigen, wie Yanaisy Curbelo, gilt: eine politische Anklage. Zudem ist es kein Einzelfall, denn mehreren der 15 Minderjährigen, die in Gefängnissen einsitzen, drohen langjährige Haftstrafen. Alle waren zum Zeitpunkt ihrer Verhaftung noch keine 18 Jahre alt, weshalb Justicia 11J sie weiterhin als minderjährig einstuft. Das sehen die Behörden anders, denn sie betrachten alle Jugendlichen ab 16 Jahren als strafmündig.

Die Prozesse deuten darauf hin, dass nach Erwachsenenstrafrecht agiert und rigoros sanktioniert werden soll.

Damit befindet sich die kubanische Gesetzgebung im Widerspruch mit internationalen Standards, was auch schon länger einen Kritikpunkt seitens UNICEF darstellt. International sind Jugendliche erst ab 18 Jahren strafmündig und werden oft nach Jugendstrafrecht be- und verurteilt. In Kuba deuten die anberaumten, aber auch die bereits durchgeführten Prozesse, darunter mehrere Sammelverfahren, daraufhin, dass nach Erwachsenenstrafrecht agiert und rigoros sanktioniert werden soll. Darauf weisen die von dem Staatsanwalt geforderten Haftstrafen von 13-23 Jahren hin, die fast alle mit dem Straftatbestand des „Aufstands“ begründet werden.

80 Fälle gibt es laut den beiden Organisationen allein in Havanna, doch es werde landesweit ähnlich agiert. Glenda de la Caridad Marrero Cartaya heißt die 15-jährige, die in Jovellanos, nahe Matanzas die Proteste angeführt haben soll. Wie hoch ihr Strafmaß dafür sein wird, ist unklar. Dabei ist die 15-jährige selbst nach kubanischem Recht nicht strafmündig, was auch für mehrere andere Kinder gilt, die nach dem 11. Juli teilweise über Wochen inhaftiert waren. Der Jüngste, gerade erst 14 Jahre alt, ist Christopher Lleonart Santana.

Zwei Wochen nach den inselweiten Protesten hatte Außenminister Bruno Rodríguez noch bestritten, dass es Verhaftungen von Minderjährigen gegeben habe. Dass ist genauso unstrittig, wie die Tatsache, dass in mehreren Fällen kubanisches Recht verletzt wurde, so Laritza Diversent. „Es gibt mehrere Fälle, in denen Angeklagte in Sammelprozessen das Recht auf einen Anwalt vorenthalten wurde. Der bekannte Fotograf Anyelo Troya wurde, seiner eigenen Aussage zufolge, in einem Sammelprozess ohne Rechtsbeistand zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr wegen ‚Störung der öffentlichen Ordnung‘ verurteilt.“

Gründe, weshalb die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte (CIDH) bereits an die kubanische Regierung appelliert, neuerliche Menschenrechtsverletzungen wie nach dem 11. Juli zu unterlassen. Doch darauf deutet derzeit wenig hin, denn zum einen laufen die Prozesse weiter, zum anderen kam es auch rund um den 15. November, dem „Tag des friedlichen Marsches für den Wandel“ auf der Insel zu Festnahmen und zu etlichen Hausarresten. „Unserer Einschätzung zufolge wenden die Behörden die Gesetze selektiv an und sie verletzten das Recht zu demonstrieren, welches in der Verfassung garantiert ist. Es gibt in Kuba aber keine Regelungen, wie sie ihr Recht auf Versammlungsfreiheit, das Recht zu demonstrieren wahrnehmen können“, moniert die Juristin Diversent. Sie hat mit ihrem Team mehrfach Aktivist*innen und Jurist*innen bei der Auslegung der kubanischen Gesetze beraten, aber ohne großen Erfolg.

„Die Behörden wenden Gesetze selektiv an und verletzen das Recht zu demonstrieren“

Nun ist es das Kinderhilfswerk UNICEF, das mit seiner Anfrage die Initiative ergreift. Diese ist unbequem für die kubanische Regierung, aber kommt auch reichlich spät. Vier Monate hat sich die UN-Organisation Zeit gelassen, obwohl die Listen der Verhafteten mit allen nötigen Daten öffentlich zugänglich im Internet stehen. 1.292 Verhaftete beiderlei Geschlechts sind es derzeit, davon befinden sich 673 weiterhin im Gefängnis. Von den Freigelassenen sind 91 mit einer Geldstrafe davongekommen, für 314 fordert die Staatsanwaltschaft Haftstrafen zwischen einem und 30 Jahren. Darunter ist 122-mal der Anklagepunkt „Aufstand“ aufgeführt – siebenmal allein bei den vierzehn noch inhaftierten Minderjährigen, so schreibt die in Madrid lebende international prämierte Journalistin Mónica Baró.

UND WAS NUN?

Kein Wahlprozess Ortega und Murillo veranstalten schamlose Fiktion (Foto: Privat)

Für diejenigen, die Augen hatten, um zu sehen, war das, was am 7. November in Nicaragua geschah, kein Wahlprozess, sondern eine schamlose Fiktion, die von Ortega und Murillo zum Zweck ihrer „Wiederwahl” inszeniert wurde, ohne sich einem Gegner stellen zu müssen. Das alles, um den Staat weiterhin zu kontrollieren und ausbluten zu lassen, um sich vor den Beweisen ihrer Verbrechen zu schützen und ihre Familienunternehmen und die ihrer Stützen in sämtlichen Machtbereichen − die aufstrebende (…) Partei-Bourgeoisie − weiter zu vergrößern.

Die perverse Simulation stützte sich auf die Gesetze zur Kriminalisierung der Opposition, auf die Gegenreform des Wahlgesetzes und die Komplizenschaft namenloser Kandidat*innen und nur auf dem Papier existierender Organisationen, die mitmachten, um vorzutäuschen, dass es in dieser Operette andere Wahlmöglichkeiten gebe – ein erfolgloser Versuch, das Volk zu verspotten.

Die Simulation war zusätzlich makaber, weil der Klimbim zur Inszenierung dieses Coups die Schließung mehrerer Medien wie La Prensa, die Kriminalisierung von Journalist*innen und die Festnahme von mehr als 30 politischen Aktivist*innen und Persönlichkeiten voraussetzte, darunter sieben Präsidentschaftskandidat*innen. Die Auswirkungen dieser Verfolgung waren neue Flüchtlingswellen.

Die Diktatur verweigerte jede unabhängige Wahlbeobachtung und zum ersten Mal wurde die internationale Presse an der Einreise gehindert. Nie zuvor hat es in der Region ein vergleichbares Ausmaß an Willkür gegeben.

Der gesamte Wahlapparat der FSLN (Sandinistische Nationale Befreiungsfront) wurde in eine reine Ortega-Maschine umgewandelt. Diese war in vollem Einsatz in allen Landesteilen, mit Listen zur Hand, um zu garantieren, dass niemand, der in staatlichen Institutionen arbeitet, Familien eingeschlossen, es unterließ, zur Wahl zu gehen. Der mit nicht löschbarer Tinte beschmierte Finger war einer der Kontrollmechanismen; außerdem wurde verlangt, dass die Staatsangestellten ein Foto des auf ihrem Stimmzettel zugunsten der Diktatur markierten Feldes abgaben.

Der Aufruf zum Paro Electoral Cuidadano (Wahlboykott), der Mitte September von der Articulación de Movimientos Sociales (Organisation der sozialen Bewegungen, Anm. der Red.) gestartet wurde, hat zu einem Konsens unter allen politischen und zivilgesellschaftlichen Kräften, der Bewegung der Bauern und Bäuerinnen, den feministischen Organisationen und den neuen Studierenden- und Jugendbewegungen geführt. Das Nationale Einheitsbündnis Blau-Weiß (UNAB) rief die Bevölkerung auf, nicht zur Wahl zu gehen, die Türen ihrer Häuser zu verschließen und nicht auf die Straße zu gehen, während sich in den Städten im Ausland die Exilant*innen versammelten, um ihre Ablehnung der Verhöhnung der Demokratie zum Ausdruck zu bringen.

Der Aufruf zum Wahlboykott funktionierte. In der Morgendämmerung des 7. November wirkte das ganze Land trostlos. Die Anhänger*innen des Regimes waren schon früh zu den Wahlurnen gezogen und Ortega musste früher als sonst erscheinen, um das Schweigen zu brechen, wobei er gegen seine Gegner*innen wetterte.

Die angebliche Wahl Ortegas steht im Gegensatz zu den Ergebnissen der jüngsten Cid Gallup-Umfrage: 69 Prozent der Nicaraguaner*innen missbilligen Ortegas Amtsführung. Gleichzeitig wären 65 Prozent bereit gewesen, für eine*n der Vorwahlkandidat*in zu stimmen, die Ortega seit Mai gefangen hält, um den Diktator aus dem Amt zu entfernen, der nur 19 Prozent der Stimmen erhalten hätte.

Was kommt als Nächstes? Ortega wird versuchen zu verhindern, dass sich die blau-weiße Bewegung im Landesinneren neu formiert, indem er von verstärkter Repression Gebrauch macht, während er seine rhetorische Verachtung für die mehrheitliche Ablehnung von Regierungen und internationalen Organisationen beibehält.

Er wird zudem versuchen, den internationalen Druck durch einen weiteren Scheindialog zu lockern. Die Schritte, die er in letzter Zeit unternommen hat, deuten darauf hin, dass er den Gegenpart seinen Vorstellungen entsprechend aufbaut. Die Verhaftungen des Präsidenten und des Vizepräsidenten des COSEP (Unternehmer*innenverband, Anm. der Red.), Michael Healy und Álvaro Vargas, haben es, trotz ihres Schweigens in den letzten Monaten, ermöglicht, dass ein zweiter Vizepräsident, César Zamora, übergangsweise die Leitung der Unternehmer*innenorganisation übernimmt. Zamora ist Präsident der Energiekammer (CEN), einer der Sektoren, die am meisten von den Konzessionen und den teuersten Energietarifen in Mittelamerika profitiert haben, welche die Ortega-Regierung gewährte, und war bislang einer der Unternehmer, die sich am deutlichsten für einen Dialog mit dem Diktator ausgesprochen haben.

In einer wütenden Rede vom 8. November rief Ortega aus, dass die inhaftierten prodemokratischen Führungspersonen „Hurensöhne” des Imperialismus seien, dass sie keine Nicaraguaner*innen seien und dass die Vereinigten Staaten sie nehmen sollten. Dies deutete auf einen möglichen Weg der Verbannung für alle Inhaftierten hin, wie es Somoza einst mit Carlos Fonseca, Pedro Joaquín Chamorro und anderen Patriot*innen tat.

Andererseits bleibt abzuwarten, welche Position die Vereinigten Staaten tatsächlich einnehmen werden, die bekanntlich immer ihre eigenen Interessen in den Vordergrund stellen. So wie Ortegas antiimperialistische Rhetorik viele von uns nicht täuscht, ist die Haltung der USA gegenüber dem Regime bisher nicht über persönliche Sanktionen hinausgegangen. Bis heute stellen der Internationale Währungsfonds, die Weltbank, die BID (Interamerikanische Entwicklungsbank) und die BCIE (Zentralamerikanische Bank für Wirtschaftsintegration) der von Ortega geführten Regierung und ihrem Repressionsapparat entscheidende finanzielle Mittel zur Verfügung. Das Freihandelsabkommen (DR-CAFTA) ermöglicht es führenden nicaraguanischen Geschäftsleuten, in den Genuss von Vorteilen zu kommen, und der Regierung, die Arbeitslosigkeit teilweise durch die maquilas zu lösen. Indessen garantiert Ortega den Vereinigten Staaten eine strenge Kontrolle der Migration in den Norden und gute Beziehungen zwischen der ortegistischen Armee und dem US-Südkommando.

Eine weitere Herausforderung für die internationale Gemeinschaft, einschließlich der OAS und der EU, ist, sich nicht auf Erklärungen zur 7N-Simulation (Wahlfarce am 7. November, Anm. der Red.) zu beschränken. Zugleich muss die Position Argentiniens in der letzten OAS- Abstimmung (12.11.21) bekräftigt werden, sodass der mexikanische Präsident López Obrador versteht, dass seine zweideutige Haltung, ähnlich wie die einer rechtsgerichteten militaristischen Regierung wie Honduras, gefährliche Signale für die Demokratien in der Region aussendet. Abzuwarten bleibt auch, ob sich die Haltung des Vatikans ändern wird. Papst Franziskus hat − bisher − Schweigen bewahrt, das Ortega begünstigt, und die lokale katholische Hierarchie dazu drängt, eine gemäßigte Position im Einklang mit der Position des umstrittenen Nuntius des Vatikans beizubehalten.

Was die Linke betrifft, so können einige Sektoren und bekannte Persönlichkeiten, wie Atilio Borón (marxistischer argentinischer Soziologe, Anm. der Red.), die Augen nicht länger vor der Realität in Nicaragua verschließen. Danach scheint, was Ortega macht, das neue Programm des Sozialismus und der neuen Demokratie zu sein: Autoritarismus, Polizeiregime, Verweigerung aller politischen Rechte der Bürger*innen, Wahlfälschungen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit an einem unbewaffneten Volk und Entzug der Meinungs-, Rede- und Organisationsfreiheit. Diese Sektoren bekunden weiter ihre Solidarität mit einem korrupten Regime, das noch neoliberaler, patriarchalischer und extraktivistischer ist als die kapitalistischen Oligarchien. Es ist notwendig, sie aufzufordern, damit aufzuhören sich zum Narren zu machen, wie es kürzlich Lulas PT (Arbeiterpartei) in Brasilien getan hat, die Ortegas „große demokratische Feier” begrüßte, nur um diesen Gruß Stunden später von ihrer Website zu entfernen.

Im Moment scheint die Reaktionsfähigkeit der Nicaraguaner*innen begrenzt zu sein. Das Regime übt eine nie dagewesene Kontrolle über die Bevölkerung aus, indem es die verfassungsmäßigen Garantien de facto außer Kraft setzt, Polizeikräfte und paramilitärische Gruppen einsetzt und die Stadtviertel und Gemeinden territorial überwacht. All dies geht einher mit der Bereitschaft, diejenigen zu töten, zu inhaftieren, zu foltern und ins Exil zu treiben, die auch nur den geringsten Protest wagen.

Das Puzzle der Kräfte des Aufstandes von 2018 muss neu zusammengesetzt werden. Klar ist, dass die Alianza Cívica (AC) (einer der beiden Oppositionsblöcke bürgerlicher Prägung Anm.der Red.) ein Markenzeichen war, das sich das Großkapital schnell angeeignet hat. Die Unternehmer*innen waren in den beiden Phasen des Dialogs (Mai 2018 und März 2019) vorherrschend und zögerlich. Ihre Haltung hat dazu beigetragen, dass Ortega die Kontrolle über das Land zurückgewann und er natürlich keine der getroffenen Vereinbarungen eingehalten hat.

Derzeit sind die verschiedenen Kräfte, gleich welcher Ausrichtung, Opfer einer gewaltigen Repression geworden. Die Möglichkeit, Strategien für Freiheit und Demokratie zu entwickeln, hängt von der Beharrlichkeit beim Aufbau eines nationalen, anti-diktatorischen Bündnisses im Rahmen eines Minimalprogramms ab, das sich auf die Beendigung des Polizeistaats, die Freilassung aller politischen Gefangenen, die Wiederherstellung der Grundfreiheiten und die Beseitigung Ortegas durch einen Bürgeraufstand − diesmal mit mehr Organisation und Nachdruck − konzentriert. Wir müssen uns vernetzen und in eine breite „Demokratiebewegung” verwandeln, anstatt „Opposition” sein zu wollen nach den institutionalisierten Spielregeln von Wahlen, die es heute in diesem Land nicht gibt. Mit Ortega und Murillo an der Macht kann es keine wirklich freien Wahlen geben. Es bedarf einer breiten, horizontalen Bewegung, ohne irgendeine hegemoniale Kraft, die an Strategien des Kampfes arbeitet, die von der Überzeugung ausgehen, dass Ortega ein Paria ist, ein Usurpator der Macht und der Institutionen. Nur mit seinem Abgang kann der Weg zur Demokratie beginnen.

Im Jahr 2021 hat die Diktatur wieder einmal ihr ganzes unheilvolles Potenzial entwickelt und eingesetzt − vor aller Öffentlichkeit. Es liegt nun an uns Nicaraguaner*innen, Wege zu finden, um den Untergang der Diktatur zu beschleunigen.

 

RAUBBAU MIT POLIZEISCHUTZ

Polizei soweit das Auge reicht Hunderte Soldaten und Polizisten räumen die Blockade

Polizei soweit das Auge reicht Hunderte Soldaten und Polizisten räumen die Blockade (Foto: Marcela Sabuc, CCDA – Comité Campesino del Altiplano)

Der Konflikt um die Nickelmine in El Estor tobt weiter. Für Empörung sorgt in Guatemala gerade der geplante Inhalt der Volksbefragung, den der stellvertretende Minister für Bergbau und Energie, Luis Ayala, am 10. November in einer Sitzung mit oppositionellen Parlamentsabgeordneten bekanntgab. „Wie wirkt sich die Arbeit der Mine auf Sie aus und welche Umstellung schlagen Sie vor?“, soll die einzige Frage lauten. Dies sei eine verzerrte Frage und gäbe der Bevölkerung keine wirkliche Option, sich gegen die Mine auszusprechen, kritisierte Walter Félix, Abgeordneter der ehemaligen linken Guerillaorganisation Unidad Revolucionaria Nacional Guatemalteca (URNG), worauf der Vizeminister Ayala erwiderte, die Befragung sei um „Lösungen zu finden, nicht um sich für oder gegen die Mine auszusprechen“.

Hintergrund der jüngsten Eskalation ist der Konflikt um ein Urteil des guatemaltekischen Verfassungsgerichts und die für Dezember geplante Volksbefragung. Bereits 2019 legte das Verfassungsgericht fest, dass die Arbeiten einzustellen seien, da eine nach Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zum Schutz der indigenen Völker festgelegte Volksbefragung der indigenen Bevölkerung nie stattgefunden habe und vor einer Fortsetzung der Abbautätigkeit diese nachzuholen sei. Trotz dieses Urteils setzten die Betreiberfirmen Compañia Guatemalteca de Niquel (CGN) und Pronico, beides 100-prozentige Tochterfirmen der Schweizer Solway Investment Group, ihre Arbeiten fort. Sie konnten laut Geschäftsberichten der Solway Group 2019 und 2020 die Rekordmenge von insgesamt 43.124 Tonnen Nickel fördern.

Solway argumentiert, dass das Urteil des Verfassungsgerichts erst am 1. März 2021 rechtskräftig geworden sei und nur die Nickelförderung durch CGN betreffe, die Nickelraffinerie von Pronico aber weiterarbeiten dürfe. Beide Argumente werden von Jurist*innen, Aktivist*innen und den betroffenen Gemeinden in Frage gestellt. Sie argumentieren, dass ab 2019, als das Verfassungsgericht Verstöße gegen die Verfassung und die Verletzung verfassungsmäßig verankerter Rechte festgestellt hatte, die Arbeiten hätten eingestellt werden müssen. Die Staatsanwaltschaft hätte gegen das Ministerium für Bergbau und Energie juristisch vorgehen müssen, weil dieses die weitere Tätigkeit der Mine genehmigt hatte. In Bezug auf die Fortsetzung der Arbeiten der Nickelverarbeitung argumentieren Gegner*innen der Mine und Anwält*innen, dass es sich bei der Mine um einen Gesamtkomplex handle. Selbst die Webseite des Unternehmens bestätigt das: Das sogenannte Fenix-Projekt wird als ein Komplex aus einer Nickelmine (CGN), einem Kraftwerk und der Metallverarbeitungsanlage (Pronico) beschrieben.

Die Volksbefragung sieht eine Abstimmung über die Schließung der Mine nicht vor

Der zweite Konfliktpunkt ist die Vorbereitung der geplanten Volksbefragung. Kritiker*innen bemängeln, dass Vertreter*innen von 94 Gemeinden, die sich gegen das Minenprojekt aussprechen, und die Vereinigung der Fischer vom Izabalsee nicht in die Vorbereitung einbezogen werden. Darüber hinaus fänden die entsprechenden Versammlungen in der Distrikthauptstadt Puerto Barrios und nicht vor Ort in El Estor statt. Dies habe die Gemeinden „sehr erbost“, erklärt Carlos Choc, Journalist von Prensa Comunitaria, der selbst aus El Estor stammt, im Oktober 2021.

Die gewaltsame Räumung des Protestcamps am 22. Oktober hatte mehrere Verletzte zur Folge. Mindestens ein Jugendlicher musste nach dem Tränengaseinsatz bewusstlos in einem Gesundheitszentrum behandelt werden, Augenzeugen berichteten von verletzten Kindern und älteren Menschen. Ab dem Folgetag war auch Militär mit Armeeeinheiten, Schnellbooten auf dem Izabalsee und zwei Militärhubschraubern im Einsatz − ein Vorgehen, das an die Zeiten des Bürgerkriegs erinnerte. Marcelo Sabuc, nationaler Koordinator der Landarbeiterorganisation Comité Campesino del Altiplano (CCDA), sprach daher von einem „Terror gegen die Bevölkerung“.

Der am 24. Oktober von Präsident Alejandro Giammattei angeordnete und am 25. Oktober in einer Sondersitzung im Parlament bestätigte Ausnahmezustand sieht starke Einschränkungen für öffentliche Versammlungen vor sowie eine nächtliche Ausgangssperre. Festnahmen und Hausdurchsuchungen sind ohne richterliche Anordnung möglich. Außerdem darf das Militär polizeiliche Aufgaben übernehmen. Davon machten die Sicherheitskräfte regen Gebrauch. Schon am Sonntag des 24. Oktober wurden mehrere Büros indigener Organisationen durchsucht und Dokumente beschlagnahmt. Das Innenministerium bestätigt für die ersten vier Tage des Ausnahmezustandes 26 Hausdurchsuchungen und 14 Festnahmen.
Auch gut zwei Wochen nach Verhängung des Ausnahmezustandes gehen die Einschüchterungen weiter. Laut Prensa Comunitaria bleibt die Polizeipräsenz stark, besonders vor Wohnhäusern bekannter Aktivist*innen. Prensa Comunitaria-Mitarbeiter Carlos Choc wurde in den Tagen des Protests von Polizisten tätlich angegriffen und leicht verletzt. In den ersten Tagen des Ausnahmezustands wurde bei ihm, während seiner Abwesenheit, eine Hausdurchsuchung durchgeführt und das Haus verwüstet hinterlassen. Anfang November berichtete Choc von Autos mit verdunkelten Scheiben, die sich im Wechsel bis zu 48 Stunden vor seinem Haus aufhielten, ohne dass jemand die Fahrzeuge verließ. Auch beim ebenfalls für Prensa Comunitaria arbeitenden Journalisten Juan Bautista Xol wurde am 26. Oktober eine Hausdurchsuchung durchgeführt. Er und mehrere Familienmitglieder wurden über Stunden festgehalten und sein Telefon beschlagnahmt. Für die Tage während der Räumung hatte die Presseagentur bereits geschrieben, dass vier ihrer Mitarbeiter*innen von Polizisten aggressiv abgedrängt und am Dokumentieren der Ereignisse gehindert worden waren.

Für die Einwohner El Estors stellt diese Situation allerdings nichts Neues dar. Der Konflikt um die Mine dauert bereits Jahrzehnte und alleine seit 2019 wurde dreimal der Ausnahmezustand für die Region ausgerufen. Drei Aktivist*innen wurden in den vergangenen Jahren ermordet, mehrere erlitten teils bleibende Verletzungen. 2007 kam es während der gewaltsamen Räumung der Gemeinde Lote Ocho zu elf Vergewaltigungen durch Polizeikräfte, Soldaten und Sicherheitspersonal.

Die Anfänge der Nickelproduktionsanlage Fenix, damals noch im Besitz der kanadischen Hudbay Minerals (kanadische Minenunternehmen machen einen Großteil der Bergbauaktivitäten in Guatemala aus, Anm. d. Red.) gehen auf das Jahr 1960 zurück. 2011 erfolgte der Verkauf von 98,2 Prozent der Firmenanteile an die Solway Investment Group, was mit einer starken Zunahme der Arbeiten einherging. Solway bezeichnet sich auf ihrer Homepage als „internationales Bergbauunternehmen“ und hat ihren Sitz in der Schweiz.

Einige Bergbaulizenzen haben eine Laufzeit von 1000 Jahren

1997, kurz nach Ende des Bürgerkriegs in der Amtszeit von Álvaro Arzú, in dessen Regierungsperiode auch die erste große Privatisierungswelle von Strom, Wasser, Banken und Telefongesellschaften fällt, beschloss der Kongress das „Gesetz zur Regulierung der Bergbautätigkeit“ in Guatemala, besser bekannt als Dekret 48-97. Das Gesetz sollte ausländisches Kapital ins Land holen und die Bergbautätigkeit fördern, sah aber vor, dass lediglich ein Prozent der Gewinne als „Lizenzgebühren“ an den guatemaltekischen Staat abgeführt werden müssen.

Das Ministerium für Energie und Bergbau hat, Stand Januar 2021, 290 gültige Abbaulizenzen erteilt. Die Mehrzahl der Lizenzen wurde für den Abbau verschiedener Gesteine, Metalle und Rohstoffe für Baumaterial erteilt. Zwölf Lizenzen laufen zurzeit für den Abbau von Silber, acht für Gold, fünf für Nickel und eine für seltene Erden. Die meisten Lizenzen haben eine Laufzeit von 25 Jahren, einige für die nächsten 1000 Jahre. Gemeinden, indigene Organisationen und Umweltschützer*innen beklagen die Zerstörung der Existenzgrundlagen vieler Gemeinden, massive Umweltprobleme, Zunahme von Krankheiten, Nicht-Einhalten der Umweltstandards und die De-Facto-Steuerfreiheit für die Unternehmen. Auch würden Konflikte zwischen Gegner*innen und Befürworter*innen der Mine in den Gemeinden geschürt, Gewalt, Prostitution und der in Guatemala stark verbreitete Alkoholismus nehme zu.

Minenbetreiber und Regierungsstellen argumentieren mit staatlichen Einnahmen, struktureller Entwicklung und Arbeitsplätzen in den Gemeinden. In den Tagen der Eskalation hatten auch einige hundert Menschen für den Weiterbetrieb der Mine demonstriert. Ein Redner sagte dabei, die Mine habe ihnen Arbeitsplätze verschafft und sie aus der Armut geholt. Allerdings zeigen Zahlen des Guatemaltekischen Instituts für Sozialversicherung (IGSS), dass zwischen 2005 und 2013 lediglich 0,5 Prozent der sozialversicherten Arbeitsplätze im Landkreis im Zusammenhang mit der Mine stehen. Auch die staatlichen Einnahmen halten sich in Grenzen, zwischen 2001 und 2017 wurden durchschnittlich 0,7 Prozent des Bruttoinlandprodukts durch den Bergbausektor erwirtschaftet.

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