Chile | Erinnerung | Nummer 591/592 - September/Oktober 2023

Ewiger Kampf für ein Nie Wieder

Zum Jahrestag des Putsches in Chile fühlen sich Opfer von staatlicher Gewalt von der Regierung alleingelassen

Präsident Gabriel Boric ist stets darauf bedacht, einen menschenrechtsfreundlichen Diskurs zu pflegen. Aus Sicht von Opfern staatlicher Repression lässt er seinen Worten jedoch kaum Taten folgen. Hilfsprogramme für Opfer von Menschenrechtsverletzungen bleiben unzurei-chend, während politische Stabilität für die Regierung oberste Priorität hat.

Malte Seiwerth, Santiago de Chile

Carlos Astudillo holt kurz Luft und erzählt. „Der 50. Jahrestag des Militärputsches von 1973 findet zu einem für mich sehr sensiblen Moment statt, er erinnert mich an das Versprechen des ‚Nunca Más’, das so häufig ausgesprochen wurde und schlussendlich nicht stattfand“, meint der Überlebende der Repression gegen die Revolte von 2019. Astudillo läuft mit einer Krücke, er humpelt, seitdem er am 20. Oktober 2019 vom Militär angeschossen und fast für tot erklärt wurde. Videos zeigen, wie er reglos von Soldaten weggezogen wurde. Daraufhin verbrachte er zwei Monate im Krankenhaus.

Es war zur Zeit der Revolte vom 18. Oktober 2019, als Millionen von Chilen*innen auf die Straße gingen und die Regierung mit der Ausrufung des Ausnahmezustands und der Entsendung des Militärs auf die Wut der Bevölkerung reagierte. Die Folge waren massive Menschenrechtsverletzungen, wie sie in diesem Ausmaß seit dem Ende der Militärdiktatur nicht mehr begangen worden waren. Hunderte Menschen leben bis heute mit den Folgen von Folter und staatlicher Gewalt auf der Straße. Mehr als 460 Personen erblindeten auf mindestens einem Auge in Folge von Schrot- und Gasgranatenschüssen direkt ins Gesicht. Die Repression von damals prägt für Menschen wie Astudillo das 50-jährige Jubiläum des Militärputsches, denn die Gewalt von 2019 zeigt die blinden Flecken bei der Aufarbeitung der Militärdiktatur auf.

Noch Ende 2021 herrschte Euphorie mit der Hoffnung auf Wandel: Mit dem Sieg des linksreformistischen Präsidentschaftskandidaten Gabriel Boric über den rechtsextremen José Antonio Kast zeigte sich, dass zumindest zu diesem Zeitpunkt eine Mehrheit der Chilen*innen eine Rückkehr zu den politischen Überzeugungen der Militärdiktatur ablehnte. Der mittlerweile fast in der Mitte seiner Amtszeit liegende Präsident bekräftigte noch während seiner Wahlkampagne, es würde eine lückenlose Aufklärung der Menschenrechtsverletzungen von 2019 geben. Seitdem spricht er sich immer wieder kategorisch für die Einhaltung der Menschenrechte aus. Bei seiner jährlichen Ansprache vor den Parlamentskammern am 2. Juni 2023 sagte Boric, „keine politische Meinungsverschiedenheit darf dazu führen, dass wir die Demokratie oder die Menschenrechte nicht schützen“. Kurz davor hatte die Verteidigungsministerin Maya Fernández angeordnet, Attrappen der Hawker Hunter, die noch bis zu diesem Zeitpunkt vor fast jeder Kaserne der Luftstreitkräfte standen, zu entfernen. Die Originale bombardierten am 11. September 1973 den Präsidentenpalast La Moneda, vom dem aus Salvador Allende noch einige Stunden Widerstand gegen den Putsch leistete.

Die anfängliche Euphorie hat längst Risse bekommen

Carlos Astudillo würdigt diese Ankündigungen. Er meint, „die Regierung hat eine Sensibilität für Menschenrechte“. Doch das reiche nicht aus sagt er ergänzend: „Sie müssen endlich mit konkreten Reparationsmechanismen voranschreiten.“ Denn längst hat die anfängliche Euphorie Risse bekommen. Als der Präsident am 2. Juni während seiner Rede die chilenische Gemeinschaft auf den Respekt der Menschenrechte und Demokratie einschwor, klatschten alle – außer den Oberbefehlshabern der vier chilenischen Teilstreitkräfte (in der Luft, zu Wasser, zu Land sowie die Militärpolizei Carabineros de Chile). Die Generäle mussten vom Präsidenten mit einem Handzeichen dazu aufgefordert werden, aufzustehen, als der ganze Saal bereits stand. Es sind die gleichen Generäle, die auch während der Menschenrechtsverletzungen von 2019 hohe Ämter bekleideten und von Menschenrechtsaktivist*innen für einen Teil der Verbrechen verantwortlich gemacht werden. Gegen Ricardo Yañez, den amtierenden Generaldirektor der Carabineros, läuft derzeit ein Strafverfahren aufgrund der Ereignisse von 2019.

Der Historiker Igor Goicovic lächelt bedrückt auf die Frage, ob die Regierung Fortschritte im Bereich der Menschenrechte gemacht habe. Er meint, „bei den Aktivitäten der Regierung handelt es sich um eine Kommunikationsstrategie“. Diese sei darauf ausgerichtet, die gesellschaftliche Nische der Menschenrechtsaktivist*innen glücklich zu stimmen, doch sie habe keineswegs den Anspruch, gesellschaftliche Veränderungen voranzutreiben, ist Goicovic überzeugt. Der Historiker kämpfte selbst gegen die Militärdiktatur, wurde von ihr verhaftet und gefoltert. Er kritisiert, dass derzeit weder an das politische Projekt der Unidad Popular angeknüpft werde noch die politisch Verantwortlichen der Repression während der Diktatur zur Rechenschaft gezogen würden. „Die Strategie der Regierung hat zum Ziel, politische Stabilität zu schaffen“, erklärt Goicovic. Dazu gehöre eben auch, der wirtschaftlichen Elite klar zu machen, dass man sich nicht positiv auf das politische Erbe der Regierung unter Salvador Allende bezieht. Vielmehr habe es laut dem Historiker seit dem Ende der Militärdiktatur einen Konsens unter den Eliten gegeben, der zwar die Menschenrechtsverletzungen verurteilt, sie aber nicht mit den neoliberalen Reformen und staatlichen Strukturen in Verbindung setzt, sondern als Fehler einzelner Personen versteht. Dies habe zur Folge gehabt, dass nur ein Teil der für die Verfolgung tausender Chilen*innen Verantwortlichen juristisch bestraft worden sei. Diese Straffreiheit und fehlende Strukturreformen bei der Justiz, Polizei und Militär haben zur Wiederholung von Menschenrechtsverletzungen geführt.

Obwohl ein Wandel also dringend nötig wäre, rückt dieser in immer weitere Ferne. Die Regierung ist in beiden Parlamentskammern in der Minderheit, weshalb die Opposition immer wieder droht, einzelne Reformprojekte komplett zu boykottieren. Gleichzeitig zeigen jüngste Studien, dass sich demokratische Werte keineswegs in der chilenischen Gesellschaft verfestigt haben. Das Meinungsforschungsinstitut MORI gab Ende Mai 2023 bekannt, dass 37 Prozent der Befragten den Staatsstreich von 1973 für gerechtfertigt hielten. Fast jede zweite Person stimmte der Aussage zu, die Militärdiktatur habe „positive und negative Aspekte“. Laut Marta Lagos, der Direktorin von MORI und Politologin, zeige sich, dass die demokratischen Kräfte dabei versagt hätten, die Figur des Diktators Augusto Pinochet nachhaltig zu delegitimieren. Da Pinochet auf Lebenszeit Oberkommandant der Streitkräfte und Senator gewesen sei, hätte er einen Übergang in die Demokratie gefunden. Dies treffe auch auf wichtige Parteien und politische Figuren der Militärdiktatur zu, die bis heute in der Politik aktiv sind.

Währenddessen fühlen sich die Opfer der Menschenrechtsverletzungen alleingelassen, erzählt Astudillo. Erst Ende Juni sprang Jorge Salvo vor die Santiagoer Metro und starb. Der damals 29-jährige wurde am 17. Januar 2020 von einer Gasgranate im Gesicht getroffen und verlor daraufhin einen Teil seines Schädels und ein Auge. Im Zuge der Pandemie wurde seine psychologische Betreuung zwischenzeitlich gestrichen, erzählte Salvo einst gegenüber dem Santiagoer Lokalmedium La Voz de Maipú. Astudillo erklärt: „Die ins Leben gerufenen Hilfsprogramme sind unzureichend“. Ein spezielles Programm soll sich um die physischen und psychischen Folgen kümmern, doch der Zugang ist beschränkt. „Insbesondere außerhalb von Santiago gibt es enorme Schwierigkeiten bei der Umsetzung“, meint Astudillo. Häufig gäbe es lange Wartezeiten für Sprechstunden und fehlendes Personal.

Um sich für die Opfer der Repression einzusetzen, arbeitet Astudillo als Berater für die Senatorin Fabiola Campillai. Sie ist selbst durch eine Gasgranate vollständig erblindet und seither zum Symbol des Kampfes um Menschenrechte und Wiedergutmachung geworden. Von dieser Position aus will Astudillo ein Gesetz zur Wiedergutmachung vorantreiben, um Hilfsprogramme zu stärken und auf lange Zeit zu garantieren.

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