Was lange währt, wird endlich schlimm

Von Repression begleitet Monatelange Proteste gegen das Ley Bases (Foto: Santiago Sito via Flickr (CC BY-NC-ND 2.0)

Die nun verabschiedete Fassung weicht somit stark von dem ursprünglichen, von der Regierung im vergangenen Dezember eingereichten Entwurf ab. Dazu kommt das Steuerpaket, eine Regelung, mit der ein neuer Verwaltungszyklus eingeleitet werden soll. Mit der Verabschiedung der beiden Gesetze erhält Milei für ein Jahr Gesetzgebungsbefugnisse. Arbeiter*innen müssen wieder Einkommenssteuern zahlen, während die Steuersätze für Reiche gesenkt werden. Firmen in öffentlicher Hand sollen privatisiert und multinationalen Konzernen mehr Gewinn versprochen werden. Zu den 238 von ursprünglich 600 Artikeln gehört auch eine rückschrittliche Arbeitsreform. Gewerkschaften hatten versucht, diese auf juristischem Wege zu verhindern.

„Der Geist dieses Gesetzes hängt direkt mit einem Paradigmenwechsel zusammen. Dieser betrifft nicht nur ökonomische oder finanzpolitische Fragen, sondern umfasst neben politischen und sozialen besonders demokratische Dimensionen“, so die Soziologin Valentina Castro gegenüber LN. Für sie ist klar, dass die gesetzlichen Regelungen „eine Übertragung von Zuständigkeiten aus staatlicher Hand hin zum privaten Sektor“ bedeuten. „Dem Staat wird so die Möglichkeit genommen, auf Wirtschaft und Politik Einfluss zu nehmen. Dieses Machtmonopol wird stattdessen den wirtschaftlich Machthabenden übertragen“, so Castro weiter.

Damit das Gesetz verabschiedet werden konnte, musste die Regierung einige Artikel des in erster Lesung im Abgeordnetenhaus angenommenen Textes verändern. So ist nicht mehr geplant, die staatliche Fluggesellschaft Aerolíneas Argentinas, die Postgesellschaft Correo Argentino und die öffentlich-rechtlichen Medien zu privatisieren. Auch die geplante Rentenreform wurde gestrichen. Sie hätte ein Moratorium beendet, welches jenen zugutekommt, die im Rentenalter keine 30 Beitragsjahre vorweisen können. Ein Teil der Opposition wehrte sich gegen dieses Vorhaben, denn fast die Hälfte der Werktätigen in Argentinien ist informell beschäftigt.

Keine Anpassung ohne Repression

Dennoch sind genug rückschrittliche Inhalte des Gesetzes erhalten geblieben. Im Hinblick auf den Arbeitsmarkt ermöglicht die neue Verordnung Arbeitgeber*innen, bis zu drei Angestellte als Selbstständige zu beschäftigen. Diese fallen damit nicht mehr unter das Arbeitsvertragsgesetz und genießen weniger Arbeitsrechte als Festangestellte. Hinzu kommt, dass die Teilnahme an Blockaden oder Besetzungen Kündigungsgrund werden und das Streikrecht für Angestellte im öffentlichen Dienst stark eingeschränkt wird – Streiktage gehen künftig von der Arbeitszeit ab.

Besonders weitreichende Folgen dürften die Ausrufung eines einjährigen öffentlichen Ausnahmezustandes in Verwaltungs-, Wirtschafts-, Finanz- und Energiefragen sowie die Übertragung besonderer Befugnisse an Milei haben: Der Präsident hat nun in diesen Bereichen direkten Einfluss. Insgesamt acht staatliche Unternehmen sollen privatisiert werden, der Öl- und Gassektor wird dereguliert und soll nun nicht mehr vornehmlich auf die Versorgung, sondern auf den Export ausgelegt sein. Auch darf die Regierung nun Bauvorhaben in öffentlicher Hand neu verhandeln oder kündigen.

Einer der umstrittensten Punkte des Ley Bases sieht die Einführung eines Systems vor, das ausländische Investitionen in Höhe von mindestens 200 Millionen US-Dollar anlocken soll. Diese Reform wurde von der Opposition vehement bekämpft, weil sie die argentinische Industrie gefährdet. Gleichzeitig werden dem internationalen Finanzsektor nur geringe Beschränkungen auferlegt. Auf den Druck der Opposition hin wird sich das System auf die Bereiche Tourismus, Infrastruktur, Minen, Technik, Stahl, Energie, Öl und Gas beschränken.

„Diese Verordnung wird als das Herz des Ley Bases betrachtet, vor allem aufgrund der Gewinnübertragung an das internationale Finanzkapital. Es untergräbt die lokale Entwicklung und schadet kleinen und mittleren Firmen sowie solchen in öffentlicher Hand. Große Besorgnis erzeugen dabei die strukturellen Veränderungen und ihre möglichen Folgen in der argentinischen Produktionsleistung“, erklärt Castro. Denn die Reform gelte für 30 Jahre, es handelt sich somit nicht um konjunkturabhängige Maßnahmen. Auf Drängen der Opposition steht im verabschiedeten Text, dass die Investor*innen für mindestens 20 Prozent der Gesamtsumme lokale Lieferant*innen unter Vertrag nehmen sollen.

„Ein maßgeschneidertes Gesetz für die Mächtigen in Argentinien“

„Wir geben der Regierung von Präsident Milei die Mittel, um den Staat endlich und endgültig zu reformieren“, sagte der Chef der Regierungsfraktion La Libertad Avanza im Abgeordnetenhaus, Gabriel Bornoroni, in seiner Abschlussrede, wenige Minuten bevor das Gesetz verabschiedet wurde. „Dies ist ein maßgeschneidertes Gesetz für die Mächtigen in Argentinien“, erwiderte der Abgeordnete und Gewerkschaftsführer Hugo Yasky, Vorsitzender der größten Oppositionsfraktion, der peronistischen Unión por la Patria. Die Pressestelle des Präsidenten feierte „das erste Gesetz, das in Richtung des freien und wohlhabenden Landes geht, welches die Argentinier gewählt haben.“

Während im Abgeordnetenhaus noch verhandelt wurde, wurde draußen demonstriert. Bei Protesten am 13. Juni nahmen staatliche Sicherheitskräfte 33 Personen fest, bei Redaktionsschluss waren davon vier Personen weiterhin inhaftiert. Ihnen wurden Straftaten vorgeworfen, die mit bis zu 15 Jahren Haft geahndet werden können, darunter Landfriedensbruch, Aufruf zu Straftaten, gemeinschaftlich begangene Gewalttaten und Rebellion. Am gleichen Tag sprach die Regierung von Terrorismus und einem versuchten Staatsstreich – und schuf damit ein gefährliches und in der jüngeren politischen Geschichte beispielloses Narrativ.

Vier Protestierende noch immer in Haft

„Es war im wahrsten Sinne des Wortes ein Albtraum. Als sie mich zum ersten Mal schlugen, um mich festzunehmen, spürte ich die Verwirrung und das Adrenalin. Das ging einige Tage so weiter, im Gefängnis und später, als sie uns die Vorwürfe eröffnet haben“, erzählt der Musiker Santiago Adano, einer der Festgenommen, gegenüber LN. Es sei ein Gefühl, das sich erst dann zu verflüchtigen begonnen habe, als der Mangel an Beweisen deutlich wurde und die Gefahr, ins Gefängnis zurückzukehren, in die Ferne rückte.

Die Vorwürfe gegen die Freigelassenen wurden inzwischen fallengelassen. Die vier Personen, die weiterhin in Haft sind, wurden hingegen angeklagt – allerdings nicht mit den eigentlichen Vorwürfen, sondern wegen konkreterer Delikte wie etwa Steinwürfen oder Angriffen und Widerstand gegen die Staatsgewalt. „Viele Rechtsexpert*innen sind sich einig, dass für diese Vorwürfe keine Untersuchungshaft verhängt werden soll. Denn es besteht weder Verdunklungs- noch Fluchtgefahr. Sie sollten also frei sein, während der Prozess geführt wird“, erklärt Adano.

Währenddessen sind Menschenrechtsorganisationen und Anti-Repressionsgruppen aktiv, um der Forderung nach Freilassung der Gefangenen Gehör zu verschaffen. „Die Kriminalisierung des Protests verletzt nicht nur Grundrechte, sondern verhindert auch die öffentliche Beteiligung und die Ausübung demokratischer Rechte. Anstatt auf Repression und Kriminalisierung zurückzugreifen, hat der Staat die Pflicht, die Ausübung dieser Rechte zu erleichtern. Außerdem muss er garantieren, dass die Personen ihre Forderungen und Anliegen auf freie und sichere Art ausdrücken können“, mahnt auch die argentinische Vernetzung zur Verteidigung der Menschenrechte und Demokratie.

Straffrei bis ins Grab

Tschüss, Sebastian! Protestierende erinnern in Santiago an die Menschenrechtsverletzungen unter Piñera (Foto: Diego Reyes Vielma / @diegoreyesvielma)

Im Oktober 2019 kam es in Chile zu einer sozialen Revolte. Die Erhöhung des Fahrpreises für den öffentlichen Nahverkehr um 30 Pesos war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Hintergrund waren tägliche und anhaltende Demüti­gungen, die die Arbeiter*innenklasse des Landes jahrelang hatte tolerieren müssen. Demütigungen, die in allen Lebensbereichen stattfanden, so ein nach Einkommensniveau gegliedertes Gesundheitssystem, Renten unterhalb der Armutsgrenze, eine hohe Verschuldung der Bevölkerung nur zur Finanzierung alltäglicher Ausgaben, nicht für Luxusgüter.

Besonders junge Menschen hatten wochenlang gegen die Erhöhung der Fahrpreise protestiert, indem sie ohne Fahrschein im ÖPNV fuhren. Darauf reagierte die Regierung mit einer Militarisierung der Haltestellen und der Kriminalisierung der Bewegung. Am 18. Oktober weitete sich der Protest dann von der U-Bahn auf die gesamte Hauptstadt Santiago aus, die Polizei war überfordert. Am Nachmittag desselben Tages wurden überall in Santiago Barrikaden errichtet, die Empörung breitete sich schnell in die anderen Regionen Chiles aus.

Eine wirkungsvolle strafrechtliche Verfolgung fand nicht statt

Allein zwischen dem 18. Oktober und dem 30. November 2019 mussten nach Angaben des Gesundheitsministeriums mehr als 12.500 Menschen nach Zusammenstößen bei den Protesten in öffentlichen Krankenhäusern notfallversorgt werden. Mindestens 347 Menschen erlitten nach Angaben des Nationalen Instituts für Menschenrechte Augenver­letzungen durch von der Polizei abgefeuerte, sogenannte nicht-tödliche Kugeln.

Eine wirkungsvolle strafrechtliche Verfolgung der für diese Menschenrechtsverletzungen Verantwortlichen gab es nicht. Die chilenische Staatsanwaltschaft gab an, dass zwischen dem 18. Oktober 2019 und dem 31. März 2020 8.508 Verfahren wegen institutioneller Gewalt im Zusammenhang mit Demonstrationen eingeleitet worden waren. 10.568 Opfer konnten identifiziert werden, wie die Staatsanwaltschaft Amnesty International in einem offiziellen Schreiben vom 9. August 2023 mitteilte.

Anzeigen durch das Nationale Institut für Menschenrechte wurde dabei noch am häufigsten nachgegangen. Bis Oktober 2022 hatte das Institut 3.151 Anzeigen wegen Folter, exzessiver Gewalt, unrechtmäßiger Nötigung und Tötung durch staatliches Handeln gestellt, von denen sich 2.987 gegen Mitglieder der Carabineros de Chile (chilenische Militärpolizei) richteten. Allerdings wurde nur gegen weniger als 200 Beamtinnen ein Verfahren eingeleitet. Diese Verfahren führten bis Oktober 2022 nur zu 14 Verurteilungen, wie die Zeitung La Tercera in einem Artikel vom 15. Oktober desselben Jahres berichtete. Auch wenn die Zahl seitdem gestiegen ist, wurden viele der Strafen dank eines im April 2023 verabschiedeten Gesetzes mit dem umgangssprachlichen Namen Ley gatillo fácil („Feuer frei-Gesetz“) reduziert.

Angesichts dieser Zahlen kann man bei den Menschenrechtsverletzungen der Jahre 2019 bis 2020 nicht von Einzelfällen sprechen. Die sozialen Bewegungen, Solidaritätsorganisationen, kritische Presse und engagierte Jurist*innen verstehen diese Übergriffe als systemisch – als Teil einer kohärenten Politik von Repression und Gewalt.

Und gerade die für diese Gewalt Verantwortlichen, die Polizist*innen, werden nicht zur Verantwortung gezogen. So teilte die chilenische Polizei dem Ministerium für Justiz und Menschenrechte im Jahr 2020 mit, dass sie 1.270 interne Ermittlungsverfahren eingeleitet habe, also in weniger als der Hälfte der gemeldeten Fälle. 1.033 davon wurden geschlossen und zu den Akten gelegt, da ein Fehlverhalten angeblich nicht nachgewiesen werden konnte.

Die ranghöchsten Vertreter der Polizei, der derzeitige Generaldirektor Ricardo Yáñez und auch der ehemalige General Mario Rozas (der in den Monaten Oktober und November 2019 das Kommando innehatte), haben sich während der Niederschlagung der Proteste stets davor gedrückt, sich zu ihrer Verantwortung zu äußern. Sie haben sich mehrfach geweigert, vor der Staatsanwaltschaft zu erscheinen, um sich zu den Verbrechen, die ihnen aufgrund ihrer Befehlsverantwortung vorgeworfen werden, einzulassen. Gleichzeitig erhielten die für die Ermittlungen zuständige Staatsanwältin und ihre Familie ständig Drohungen und die Polizei versuchte, sie von den Fällen abzuziehen, indem sie ihr „Feindschaft, Hass und Ressentiments“ gegenüber der Institution vorwarfen. Trotzdem haben sowohl die Regierung von Sebastián Piñera als auch der jetzige Präsident Gabriel Boric, der sich auf die Frente Amplio, eine Koalition aus progressiven Mitte-links- Parteien stützt, Yáñez in seiner jetzigen Position belassen, obwohl sich die Frente Amplio angeblich die aus der Revolte hervorgegangenen Forderungen zu Eigen gemacht hat.

Die Regierungspartei setzt auf Sicherheitsgesetze

An symbolträchtigen Tagen wie dem día del joven combatiente (Tag des jungen Kämpfers), der an die Ermordung linker politischer Aktivist*innen durch die Polizei während der Diktatur von Augusto Pinochet (1973–1990) als Vergeltung für den Angriff eines Teils der Carabineros auf Pinochet erinnert, zeigte die Partei von Boric, dass sie an der Seite der Polizei steht. Angesichts der Welle von „Law and Order“-Politik, die das Land derzeit erlebt, rühmte sich die Regierungspartei nur einen Tag nach dem Jahrestag der Revolte 2023 in den sozialen Netzwerken damit, die Regierung zu sein, die seit 1990 die meisten Sicherheitsgesetze beschlossen hat: 34 an der Zahl. Dabei ist das schon erwähnte „Feuer frei“-Gesetz das wichtigste. Ein weiteres Gesetzesvorhaben, das unter der Piñera-Regierung nicht mehr verabschiedet werden konnte, sah eine Ermächtigung zum Einsatz des Militärs für die Verteidigung „kritischer Infrastruktur“ vor.

Verschärfend kommt hinzu, dass die Schwere der politischen Verfolgung während der Proteste weiter geleugnet wird – auch von der Frente Amplio. Obwohl diese im Wahlkampf versprochen hatte, die politischen Gefangenen der Revolte zu begnadigen, wurden nur zwölf Verurteilte begnadigt, und das erst fast ein Jahr nach dem Amtsantritt von Präsident Boric. Eine große Zahl von Gefangenen wurde ohne Verurteilung in unverhältnismäßig langer Untersuchungshaft gehalten.

Es bestand die Absicht, Sebastián Piñera sowohl politisch als auch strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Am 19. November 2019 wurde ein Amtsenthebungsverfahren gegen den damaligen Präsidenten wegen seiner Verantwortung für die Verbrechen der Polizei und der Streitkräfte angestrengt. Dieses wurde allerdings nicht einmal inhaltlich diskutiert, da es aus verfahrenstechnischen Gründen zurückgewiesen worden war.

Soziale Revolte, auch gegen Piñera Besonders junge Leute gingen 2019 wochenlang auf die Straßen (Foto: Germán Rojo Arce)

Mindestens drei strafrechtliche Klagen gab es im Zusammenhang mit der Revolte von 2019 gegen Piñera, zusätzlich zu anderen wegen Korruption bei der Genehmigung von Bergbaubetrieben und wegen des Gesundheitsmanagements während der Pandemie. All diese Klagen wurden von Einzelpersonen eingebracht und wurden nun, nach dem Tod des ehemaligen Präsidenten, eingestellt.. Das deutet darauf hin, dass der wichtigste Akteur, der Piñeras Straflosigkeit garantierte, der Staat war, da dessen öffentliche Strafverfolgungsbehörde (die Staatsanwaltschaft) davon absah, gegen ihn vorzugehen. Das lag zum Teil daran, dass ihr damaliger nationaler Leiter vom ehemaligen Präsidenten selbst ernannt worden war. Dessen derzeitiger Nachfolger wurde wiederum von Gabriel Boric ernannt, wohl wissend, dass die Straflosigkeit andauern würde. Aber selbst, wenn es unter der neuen Regierung eine Bereitschaft gegeben haben sollte, ihn zu verfolgen: Dass Piñera auch nach seinem Tod verteidigt wird, leugnet schließlich weiter, dass der Staat Gewalt ausübt.

Der Absturz des Hubschraubers, den der Expräsident steuerte, um sich eine 50-minütige Fahrt zu seinem Sommerhaus in einer der exklusivsten Gegenden des Landes zu ersparen, wurde von der Presse als eine der größten Tragödien dargestellt, die je ein chilenischer Präsident erlitten habe. Boric selbst hielt zusammen mit mehreren seiner Minister am Sarg Piñeras Totenwache. Er wies in seiner Rede während der Beerdigung darauf hin, dass während seiner Zeit „als Opposition während (Piñeras) Regierungszeit Beschwerden und Schuldzuweisungen über das hinausgingen, was fair und vernünftig war“. Piñera sei „ein Demokrat der ersten Stunde“ gewesen. Derlei Aussagen machen die jahrelangen Bemühungen, ein Bewusstsein für Staatsverbrechen zu schärfen, zunichte.

Es war also nicht nur sein unerwarteter Tod, der Piñera davor bewahrte, vor Gericht gestellt zu werden. Die Straflosigkeit, die er mit ins Grab genommen hat, ist die Konsequenz des Handelns von Institutionen, die eine von der Exekutive unabhängige Strafverfolgung verhindern. Hinzu kommt eine Opposition, die eine sicherheits- und polizeifreundliche Agenda unterstützt, um daraus kurzfristig politisch Vorteil zu ziehen.

Der Omnibus fährt gegen die Wand

Ein gigantischer Löwe hockt auf einem Käfig. Davor, auf dem Kongressplatz, eine riesige Menschenmenge, die Argentinienflaggen schwingt. Als Bildunterschrift ein Ausschnitt der argentinischen Nationalhymne: „Hört, ihr Sterblichen, den heiligen Schrei: Freiheit, Freiheit, Freiheit!“ Dieses KI-generierte Bild postete Javier Milei am 1. Februar auf Instagram. Seine Reaktion auf die starken Proteste am Vortag ist für viele ein Symbolbild für die Befreiung des argentinischen Volkes. Für andere hingegen steht es für die zunehmende Repression. Denn auf dem Bild verlässt die Menschenmasse den Käfig nicht, sondern läuft in diesen hinein.

Am 31. Januar kam es in Buenos Aires zu Demonstrationen vor dem Kongressgebäude gegen das „Omnibus-Gesetz“, das im Kongress intensiv debattiert wurde. Die Einsatzkräfte gingen dabei mit Gewalt gegen die Demonstrant*innen vor, es kam zu tumultartigen Szenen.

Im Kongress ist Milei mit seinem „Omnibus-Gesetz“ vorerst gescheitert. Das zum Ende „nur noch“ 386 – zu Beginn waren es 664 – Artikel umfassende Vorhaben sah Änderungen in fast allen gesellschaftlichen Bereichen von Wirtschaft über Soziales bis zur Justiz vor. Durch den im Gesetzespaket enthaltenen Ausruf des Notstandes bis Dezember 2025 hätte es zu einer weiteren Machtkonzentration beim Präsidenten geführt. Nach dem Scheitern des Vorhabens twitterte Milei: „Die Kaste stellt sich gegen das Volk.“ Dazu veröffentlichte er eine Liste mit den Namen der Abgeordneten, die gegen das Paket gestimmt hatten. Dazu der Hinweis: „Das Präsidialamt weist auf den Verrat an seinen Wählern hin.“

Trotz Sommerpause – die offizielle Legislaturperiode beginnt am 1. März (nach Redaktionsschluss) – wurde das Gesetzespaket verhandelt, begleitet von sozialen Protesten. Diese hatten ihren bisherigen Höhepunkt neben dem 31. Januar mit dem Generalstreik am 24. Januar. Gewerkschaftsführer Pablo Moyano hat bereits angekündigt, dass der nächste Generalstreik „unmittelbar bevorstehe“. An den Protesten teilzunehmen, ist allerdings nicht ungefährlich. Sicherheitsministerin Patricia Bullrich lässt mit „harter Hand“ durchgreifen. Diese besteht primär aus dem Einsatz von Gummigeschossen, Tränengas und Wasserwerfern. Bei den Ausschreitungen am 31. Januar wurden der Journalist*innen-Gewerkschaft zufolge 35 Journalist*innen und noch weitaus mehr Demonstrant*innen verletzt.

Alejandro, überzeugter Peronist und bereits im Rentenalter, sieht neben der Gewalt noch einen weiteren Grund dafür, dass die Proteste noch nicht die Dimensionen erreichen wie zu früheren Zeiten in Argentinien. Viele aus seinem Bekanntenkreis seien der Meinung, dass nur „arme Menschen“ auf die Straße gehen. Dieser Gruppe möchte niemand angehören.

Die Armutsrate steuert allerdings auf die 60 Prozent zu. De facto ist derzeit also ein Großteil der Argentinier*innen arm. Bei einer Inflationsrate von 254 Prozent im Januar im Vergleich zum Vorjahresmonat sinkt die Kaufkraft immer weiter, da die Gehälter nicht im gleichen Maße stigen. Der frühere General und Präsident Juan Perón beschrieb das Phänomen zu Lebzeiten mit den Worten: „Die Löhne gehen die Treppe rauf, die Preise nehmen den Aufzug.“

Nicht nur in Buenos Aires regt sich Widerstand. Eine Gruppe patagonischer Gouverneure droht, die Lieferung von Erdöl und Erdgas an andere Landesteile zu stoppen. Die sechs für Erdöl- und Erdgasförderung bekannten Südprovinzen reagieren damit auf eine Ankündigung von Wirtschaftsminister Luis Caputo. Der hatte verkündet, Zahlungen an die Provinz Chubut aus Bundessteuern zu stoppen, um ausstehende Schulden der Provinz gegenüber dem Staat zu begleichen. Auch die nordwestliche Provinz La Rioja rebelliert. Sie kündigte an, eine cuasimoneda („Quasiwährung“) einzuführen. Beim sogenannten Bocade handelt es sich faktisch um einen Schuldschein, mit dem vor allem die Gehälter der Staatsangestellten bezahlt werden sollen. Auch La Rioja begründet sein Vorgehen mit dem Ausbleiben von Zahlungen der Zentralregierung, weshalb man sich anders behelfen müsse. Die Lage erinnert stark an die Staatspleite 2001, als es ebenfalls zahlreiche „Quasiwährungen“ gab.

„Die Löhne gehen die Treppe rauf, die Preise nehmen den Aufzug“

Trotz der sich vertiefenden sozialen Krise und aller Probleme steht noch immer ein Großteil der Argentinier*innen hinter Milei, der einen Achtungserfolg verbuchen konnte. Im Januar wies Argentinien das erste Mal seit August 2012 einen Haushaltsüberschuss vor. Dass ein solcher über eine Dekade lang kein einziges Mal erwirtschaftet wurde, zeigt, welch schweres Erbe die Regierung Milei antrat.

Das Defizit abzubauen war nur durch große Einsparungen und den Abbau des Staatsapparats möglich. Zuletzt wurde angekündigt, das Nationale Institut gegen Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus (INADI) zu schließen. Das geht allerdings nur per Gesetz mit Mehrheit im Kongress. Die Schließung schlägt in die gleiche Kerbe wie viele weitere Maßnahmen. Von Milei und vielen weiteren wird das gerne als „Gnocchis loswerden“ beschrieben. Traditionell werden im von italienischer Einwanderung geprägten Land am 29. eines jeden Monats Gnocchis gegessen. Wird der Begriff allerdings auf Staatsangestellte bezogen, sind mit Gnocchis diejenigen gemeint, die nur einmal im Monat (oder im Februar auch mal gar nicht) arbeiten.

Unterstützung erhält Milei vom Internationalen Währungsfonds (IWF). Argentinien, mit 44 Milliarden US-Dollar Hauptschuldner der Washingtoner Finanzinstitution, wird eine weitere Kredittranche in Höhe von 4,7 Milliarden Dollar ausgezahlt bekommen, obwohl wichtige Ziele des Programms nicht erreicht worden seien. Für das Land machte der Exekutivrat des IWF eine Ausnahme. Die Frist zum Erreichen der Ziele wurde bis Ende des Jahres verlängert, die Kredittranche sofort.

Neben der innenpolitischen Situation wurden auch Mileis Auslandsbesuche genau beäugt. Gegenüber China und Brasilien, den wichtigsten Handelspartnern Argentiniens, zeigte er sich bisher pragmatischer als es nach seinen verbalen Ausfällen im Wahlkampf zu erwarten gewesen war. Mit US-Außenminister Antony Blinken führte er „produktive Gespräche“ in Buenos Aires, in Washington tauschte er mit Donald Trump ein schnelles „Make Argentina Great Again“ aus. Eine weitere Reise führte den Präsidenten nach Israel, inklusive Emotionsausbruchs an der Klagemauer. An seiner Loyalität gegenüber der Ukraine, Israel, den USA und auch der EU lässt er keine Zweifel.

Auf all seinen Flügen war Milei getreu seinem Motto „No hay plata“ („Es gibt kein Geld“) in Linienmaschinen unterwegs. Auch nach Deutschland wurde er bereits eingeladen, allerdings vom deutschen Libertären und Werteunion-Mitgründer Markus Krall. Hier soll er die Hayek-Medaille entgegennehmen.

Tatsache ist: Mileis Politik zeigt Wirkung. Der Haushalt konnte schneller stabilisiert werden als erwartet, während die soziale Misere im Land immer dramatischer wird. Der Widerstand organisiert sich ebenfalls. Auf der Straße wird mobilisiert, der Kongress beugt sich Milei nicht und auch die im föderalen Argentinien bedeutsamen Gouverneure formieren sich als Opposition. Alejandro resümiert kritisch: „Milei hat angekündigt, die Kaste bezahlen zu lassen, aber in Wirklichkeit bezahlen gerade die Armen.“ Und es gibt jede Menge offener Rechnungen.

Sieg gegen den Bergbau

Das Fass ist übergelaufen Über 50.000 Panamaer*innen demonstrierten von Oktober bis Dezember 2023 gegen das Bergbaugesetz (Fotos: Carlos Escudero-Nuñez)

Unter der aktuellen Regierung von Laurentino Cortizo und seinem Bündnis aus der nominell sozialdemokratischen, aber de facto eher neoliberalen Partido Revolucionario Democrático (PRD) und der liberal-konservativen Movimiento Liberal Republicano Nacional (MOLIRENA) hat es drei große gesellschaftliche Mobilisierungen gegeben: Die massiven Proteste im Jahr 2019 forderten vor allem Änderungen an der Verfassung. Die Proteste von 2022, die sich gegen die steigenden Preise für Benzin und Waren des täglichen Bedarfs sowie die sich ausbreitende Korruption richteten, hatten starke Auswirkungen auf das soziale Gefüge in Panama. Die jüngste Protestwelle von 2023 hat jedoch sowohl das Ausmaß dieser beiden Proteste als auch ihre Auswirkungen übertroffen. Sie richtete sich gegen die Verabschiedung des Gesetzes 406, das dem Unternehmen Minera Panamá im Rahmen einer Bergbaukonzession weitreichende Rechte gewährte, wie die mögliche Ausweitung auf weitere Flächen oder den Zugang zu geschütztem Meeresgrund. Auch sollte es verboten sein, das Minengelände im Bezirk Donoso an der Atlantikküste zu überfliegen. Minera Panamá ist ein Tochterunternehmen des kanadischen Konzerns First Quantum Minerals Ltd..

Die schnelle Verabschiedung des Gesetzes brachte das Fass schließlich zum Überlaufen: Mehr als 50.000 Panamae*rinnen gingen über 40 Tage lang auf die Straßen, um ohne Pause zu demonstrieren. Oft blockierten sie Verkehrswege, obwohl die Polizei sich ihnen mit harter Repression – unter anderem dem Einsatz von Tränengas und Schrotkugeln – entgegenstellte. Dazu kam die Unterversorung mit grundlegenden Lebensmitteln, die sich durch die Straßensperren ergab.

Mehr als 1.000 Festnahmen bei den Protesten

Teile der Bevölkerung und verschiedene organisierte Gruppen sahen in der Lahmlegung der Arbeit und des Verkehrs im Land das einzige Druckmittel gegen eine Regierung, die ihnen nicht zuhörte. Organisationen wie die Baugewerkschaft SUNTRACS; die panamaische Lehrer*innenvereinigung ASOPROF; bäuerliche, indigene und studentische Bewegungen, die sich im Bündnis Alianza Pueblo Unido por la Vida (APUV) zusammengeschlossen hatten und die in digitalen Plattformen wie Sal de las Redes oder der Bewegung „Panama ist ohne Bergbau mehr wert” organisierte Jugend schafften es, zum größten Aufstand der vergangenen Jahre zu mobilisieren.

Während der Demonstrationen kam es zu Zwischenfällen mit Demonstrierenden und Gegner*innen der Proteste, vier Demonstrierende wurden dabei getötet. Ein Fotograf verlor durch eine Schrotkugel der Polizei ein Auge. Laut der Tageszeitung La Prensa wurden während der Demonstrationen mehr als 1.061 Menschen festgenommen, gegen 175 von ihnen wurden Strafprozesse wegen Vandalismus eröffnet.

Die Proteste gegen das Bergbaugesetz haben eine Vorgeschichte: Bereits im Jahr 2017 hatte der Oberste Gerichtsof Panamas den ursprünglich 1997 verabschiedeten Vertrag zur Ausbeutung der Mine, die damals noch zum Unternehmen Minera Petaquilla Gold S.A. gehörte, für verfassungswidrig erklärt. Erst 2021 wurde mit der Regierung ein neuer Vertrag ausgehandelt, bis dahin hatte Minera Panamá illegalerweise ohne Vertrag weitergearbeitet. Außerdem bezahlte das Unternehmen weder Lizenzgebühren noch Steuern. Am 20. Oktober 2023 trat der neue Vertrag in Kraft, nachdem die Regierung in mehreren Verhandlungsrunden nicht auf die Bevölkerung gehört hatte. Innerhalb nur eines Tages wurde das Gesetz vom Parlament angenommen, unterzeichnet und im Amtsblatt veröffentlicht. Der neue Vertrag wies jedoch die gleichen Mängel auf wie der alte.

Als beschwichtigende Maßnahme verabschiedete das Parlament am 3. November eine Sperre für neue Bergbaukonzessionen. Diese Maßnahme galt jedoch nicht, wie von der Bevölkerung gefordert, rückwirkend, so dass sie nicht die geringsten Auswirkungen auf das umstrittene Gesetz 406 hatte. Nach mehreren Wochen des Wartens und des Drucks aus der Bevölkerung erklärte der Oberste Gerichtshof schließlich am 28. November, dass das Gesetz 406 verfassungswidrig sei. Es verstoße gegen 25 Artikel der Verfassung der Republik Panama. Damit wurde der Bergbauvertrag zum zweiten Mal für verfassungswidrig erklärt.

Warum haben sich die Panamaer*innen derart über ein Bergbaugesetz empört? Seit den Protesten der Jahre 2022 und 2023 hat sich die Situation im Land nicht verbessert. Im Gegenteil: Korruptionsfälle und mangelnde Transparenz bei Exekutive und Legislative sind an der Tagesordnung. Im Gespräch mit den LN meint der Soziologe Jesús Alemancia: „Um zu verstehen, wie es zu den Geschehnissen im Oktober und November 2023 kam, müssen zwei Konfliktebenen erkannt werden. Auf der einen, eher generellen Ebene geht es um die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Auswirkungen der neoliberalen Wirtschaftspolitik der vergangenen 30 Jahre. Auf der anderen Ebene hat die Bevölkerung von den vielen Korruptionsfällen die Nase voll und ist unzufrieden.”

“Mein Land hat es satt, Wohltäter für die Welt zu sein” Demonstrierende in Panama-Stadt hinterfragen den Wappenspruch ihres Staates

In den Protesten entlud sich die Wut über eine ganze Reihe von Umständen, denn auch im Bergbau finden sich Korruption, Ungerechtigkeit und Straffreiheit. Die Verabschiedung eines Bergbaugesetzes, das genau bei diesen Themen Mängel aufwies, war schließlich der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Die Geduld der Panamaer*innen war am Ende, auch, weil ein großer Teil der wirtschaftlichen und politischen Kräfte des Landes ein Interesse am Bergbau hat und einige Medien ihnen zudem eine Bühne verschafften.

Der panamaische Vizepräsident Gabriel Carrizo Jaén war beispielsweise vor Amtsantritt als Anwalt des Bergbauunternehmens Petaquilla Gold tätig, wie Mi diario berichtet. Auch im Umfeld des ehemaligen Ministers für Handel und Industrie, Alfaro Boyd, finden sich Aktieninhaber des Konzerns Minera Panama, so FRENADESO, ein Netzwerk aus Gewerkschaften und verschiedenen Nichtregierungsorganisationen.

Der Hauptgrund für das gesellschaftliche Aufblühen, das man auch als revolutionären sozio-ökologischen Frühling bezeichnen könnte, ist die Wut der Bevölkerung über die anhaltenden Ungerechtigkeiten im Land. Laut der Weltbank weist Panama ein Bruttoinlandsprodukt von 63,61 Milliarden US-Dollar auf und ist eines der ungleichsten Länder Lateinamerikas: der Gini-Koeffizient, ein Maß für die Ungleichheit, kommt für Panama auf einen Wert von 49, für die ganze Region nur auf 46. Trotz des großen Wirtschaftswachstums hat die Ungleichheit im Land seit 2007 mit 2,4 Punkten vergleichsweise wenig abgenommen – im lateinamerikanischen Durchschnitt sind es 4,5 Punkte.

Für Alberto Agrazal von der kirchlichen Organisation Comisión de Justicia y Paz gibt es noch einen Grund für das Ausmaß der Proteste: „In den neuen Generationen des sozialen Gefüges in Panama hat es ein Erwachen gegeben. Wegen des Bergbauthemas hat sich ein Bewusstsein dafür gebildet, wie wichtig Umwelt und Umweltschutz sind – und wie wichtig es ist, die Gesellschaft zu mobilisieren. Das hat auch mit einem Reifungsprozess zu tun, der von unterschiedlichen Umweltorganisationen und gemeinschaftlichen Bewegungen ausgeht”, so Agrazal. Einer Umfrage des internationalen Zentrums für politische und soziale Studien aus dem Jahr 2023 zufolge ist für zwei von drei Befragten die Umwelt wichtiger als das Wirtschaftswachstum. Dennoch spielte das Thema bei den Debatten im Parlament keine Rolle, bevor Ende Oktober die Proteste ausbrachen. Ramón Rivera aus dem Bezirk Donoso erzählt den LN: „Wir sind keine Bergarbeiter, wir sind ein Land des Umweltschutzes, das an die Erhaltung der Umwelt glaubt. Die Leute in unserer Region leben auf friedliche und harmonische Weise mit der Umwelt zusammen.”

„Das hier ist nicht irgendein Erfolg.“

Einen weiteren wichtigen Aspekt erläutert die Universitätsdozentin und Community-Journalistin Claudia Figueroa: „Mehr noch als ein ökologisches Bewusstsein ist es eine Verwurzelung mit dem Territorium, denn unter (der Aneignung seitens der USA, Anm. d. Red) der Kanalzone haben wir gelitten… so etwas soll nicht noch einmal passieren. Ich denke also, dass es mehr um eine Idee geht, die sich durch Bildung und Kultur in der Bevölkerung geformt hat.”

Einen derart massiven gesellschaftlichen Aufstand mit so klaren Auswirkungen hatten die Regierung und das Bergbauunternehmen nicht erwartet. Niemand hätte sich ausgemalt, dass es an einem Sonntag um vier Uhr nachmittags in den sozialen Medien heißen würde: „Gehst du zur Demonstration? Los gehts!” Das Gefühl, in einem Kampf gegen einen transnationalen Megakonzern gewonnen zu haben, hält in der panamaischen Bevölkerung noch immer an. Es wurde an vielen Fronten gekämpft: in den Stadtvierteln, indigenen Gebieten, an spontanen Straßensperren in vielen Orten, in Gewerkschaften und anderweitig organisierten Bereichen der Gesellschaft. Sogar die Fischereien und Bootsführer*innen von Donoso kämpften mit: Unter großem Arbeitsaufwand verhinderten sie, dass Schiffe weiterhin das im Tagebau gewonnene Kupfer und Gold im Hafen von Punta Rincón abholten.

Am 11. Januar dieses Jahres unternahm eine Delegation unterschiedlicher Regierungs- und zivilgesellschaftlicher Organisationen eine der ersten Exkursionen auf das Minengelände mit dem Ziel, für eine geordnete und transparente Schließung des Tagebaus zu sorgen. Die Bevölkerung jedoch fordert, sich an den dafür geschaffenen Arbeitsgruppen noch sichtbarer beteiligen zu können. Laut Mario Almanza, einem der Sprecher des Bündnisses APUV, handelt es sich bei der Exkursion um eine Dreistigkeit – es gäbe keine Vereinbarungen, nicht einmal einen Fahrplan.

Auf der anderen Seite herrscht in den ersten Wochen dieses Jahres eine scheinbare Gelassenheit. Es ist ein Zeichen für die politischen Kandidat*innen, die am 5. Mai dieses Jahres bei den Präsidentschaftswahlen antreten werden. Sie sollten darauf setzen, der Bevölkerung und ihren Forderungen nach besseren Lebensbedingungen zuzuhören und ihre Klagen und Bereitschaft zur Mobilisierung ernstzunehmen. Denn wir stehen am Beginn eines Prozesses, in dem es kein Zurück gibt und der einen tiefen Reifungs-, Organisations- und Bildungsprozess aller gesellschaftlichen Sektoren erfordert. Das hier ist nicht irgendein Erfolg. Es ist der Sieg der Leute von unten, der Arbeiter*innen, der bäuerlichen und indigenen Bevölkerung, der Jugendlichen und Studierenden gegen den Metallabbau in panamaischen Tagebauen!

Guatemala ist auf der Straße

Die Revoluzzersöhne Jacobo Árbenz Villanova (Mitte links) und Bernardo Arévalo de León (Mitte rechts) (Foto: Edwin Bercian)

Wie jedes Jahr wurde in Guatemala auch am diesjährigen 20. Oktober der Tag der Revolution gefeiert. An diesem Datum wird dem sogenannten guatemaltekischen Frühling gedacht, der 1944 mit dem Sturz der Militärdiktatur von Federico Ponce Vaides begann und zehn Jahre dauerte. An diesem 20. Oktober schwang in der Erinnerung an die Revolution auch die Hoffnung mit, Jahrzehnte der Korruption und Plünderung hinter sich zu lassen.

Grund der Hoffnung ist der Erfolg des Sohnes von Juan José Arévalo, Bernardo Arévalo de León, bei den jüngsten Präsidentschaftswahlen. Bei den demokratischen Wahlen von 1944 wurde Juan José Arévalo als Kandidat der Partei Frente Popular Libertador mit einer Zustimmung von über 85 Prozent gewählt. Der Pädagoge, Doktor der Philosophie und Erziehungswissenschaften wird als Held der Revolution bei den jährlich stattfindenden Demonstrationen am 20. Oktober geehrt. Der guatemaltekische Frühling aber endete mit dem erzwungenen Rücktritt und Exil seines Nachfolgers Jacobo Árbenz Guzmán.

Bernardo Arévalo de León wiederum gewann am 20. August dieses Jahres die Stichwahl um das Präsidentenamt, der Amtsantritt soll am 14. Januar 2024 stattfinden. Seine Kandidatur hatte dem Land die Hoffnung auf den Frühling zurückgebracht: Bernardo Arévalo und seine sozialdemokratische Partei Movimiento Semilla erlangten landesweit große Aufmerksamkeit durch ihr Versprechen, die Korruption zu bekämpfen, begleitet von einer bescheidenen Wahlkampagne in einem Land, das gemäß dem Korruptionswahrnehmungsindex von 2022 zu den dreißig korruptesten Ländern der Welt gehört.

Doch mit der Hoffnung sind auch die Gegner wieder aufgetaucht. Unter dem bekannten Vorwurf des „Kommunismus“ werden Bernardo Arévalo und seine Partei angegriffen und kritisiert. So hat auch die amtierende Regierung von Alejandro Giammattei eine Offensive gegen die Partei gestartet, um zu verhindern, dass Arévalo sein Amt antritt. Die Generalstaatsanwaltschaft, die zu einem effektiven Instrument der Unterdrückung geworden ist, hat mehrere Verfahren eröffnet, um Mitglieder der Partei zu kriminalisieren. Juan Alberto Fuentes Knight, einer der Gründer der Partei, hat das Land vor wenigen Monaten aufgrund der Verfolgung, dem das Gründungskomitee ausgesetzt ist, verlassen. Gegen Cinthya Rojas Donis und Jaime Gudiel Arias wurde wegen der Beteiligung an der Gründung der Partei Haftbefehl erlassen. Ende Oktober wurde zudem aufgrund eines Kommentars auf der Plattform X die Aufhebung der Immunität des Abgeordneten Samuel Pérez beantragt.

Im Angesicht dieser Ereignisse gewann der 20. Oktober eine neue Bedeutung. Bernardo Arévalo trägt das Erbe seines Vaters Juan José Arévalo in die Gegenwart. Die Hoffnung auf den Straßen wird jedoch begleitet von Unsicherheit aufgrund der Angriffe derjenigen, die eine Veränderung der aktuellen Machtstrukturen verhindern wollen. Die Demonstrierenden fordern die Anerkennung der jüngsten Wahlergebnisse und den Rücktritt der Leitfiguren der Generalstaatsanwaltschaft, die versuchen, diese Ergebnisse zu sabotieren.

Bereits in den frühen Morgenstunden dieses 20. Oktobers versammelten sich Bürger*innen aus verschiedenen Landesteilen und zogen im Gedenken an das furchtbare Feuer vom 8. März, bei dem 41 Mädchen in einem staatlichen Kinderheim starben, in Richtung des sogenannten Platzes der Mädchen im Zentrum der Hauptstadt. Angehörige indigener Gruppen, Student*innen und zivilgesellschaftliche Organisationen versammelten sich vor dem Nationalpalast, um Respekt für die Demokratie, die Wahlergebnisse und die Erinnerung an den guatemaltekischen Frühling einzufordern.

„Das Volk hat gewählt und Euch zum Teufel geschickt“

Besonders kritisiert wurde, dass Guatemala nicht die notwendigen Mindestbedingungen und Chancen auf ein würdevolles Leben für zukünftige Generationen bietet. Die Parole „Wegen unserer Kinder, wegen unserer Migranten” spielt darauf an, dass sich viele überwiegend junge Guatemaltek*innen deshalb zur Migration gezwungen sehen. Eine der Haupteinnahmequellen des Landes sind Auslandsüberweisungen. Die Devisen, die Migrant*innen regelmäßig nach Guatemala schicken, machen 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts des Landes aus. Wie Daten der Bank von Guatemala zeigen, ist dies mehr als der Beitrag der stärksten Wirtschaftssektoren, wie die verarbeitende Industrie, Landwirtschaft und Viehzucht, Autohandel und -reparatur.

Auf Konfrontation Polizei und Protestierende beim landesweiten Streik (Foto: Edwin Berci‡n)

„Das Volk hat gewählt und Euch zum Teufel geschickt“ war eine weitere Parole, die laut in den Straßen hallte. Die Demonstrierenden machten lautstark darauf aufmerksam, dass die Vertreter*innen des Staates bereits gewählt wurden und diese Ergebnisse respektiert werden müssen. Die noch amtierenden Regierungsvertreter*innen werden als Teil des Korruptionsproblems gesehen, es fehlt ihnen an Rückhalt in der Bevölkerung.

Die Märsche waren von historischer Symbolik geprägt. In einem Moment trafen sich auf einer Brücke im Stadtzentrum, unter der ein Teil der Menschen herzog, Sympathisant*innen der Oktoberrevolution und Demonstrierende, die Respekt für die Demokratie forderten. Bernardo Arévalo hielt zusammen mit Jacobo Árbenz Villanova, dem Sohn von Jacobo Árbenz Guzmán eine Rede, die auf den Sturz der autoritären Regierung im Frühling 1944 anspielte. Neben der Erinnerung an die Hoffnungsmomente vor 79 Jahren betonte Arévalo, dass die gegenwärtige Situation des Landes typisch für einen historischen Moment sei, und dass diese Unsicherheit eine neue Ära, einen neuen Frühling, ankündige. Er zollte den Guatemaltek*innen Respekt, die in Anbetracht der aktuellen Lage ihre Stimme erhoben haben. Er bezeichnete sie als das Volk, das sich gegen die Tyrannei der Korruption erhebt und seit dem 2. Oktober friedlichen Widerstand vor verschiedenen Vertretungen der Generalstaatsanwaltschaft im ganzen Land leistet. Schließlich bekräftigte er sein Vorhaben, die Korruption von der Exekutive aus zu bekämpfen, um dem Volk die ihm genommenen Chancen zurückzugeben. So soll ein pluralistischer und inklusiver Staat entstehen, der den Menschen eine Perspektive abseits der Migration bietet.

Seit mittlerweile mehr als einem Monat wird in vielen Teilen des Landes auf diese Weise friedlicher Widerstand geleistet. Guatemala erlebt einen kritischen Moment in der Gestaltung seiner Zukunft. Die Beteiligung indigener Gruppen war entscheidend für die Mobilisierung der Bevölkerung, sich für die Verteidigung der Demokratie einzusetzen. Diese turbulenten Zeiten werden darüber entscheiden, ob die Demokratie lebensfähig ist und das aktuelle System ablösen kann. Das guatemaltekische Volk kämpft weiter und wird nicht aufgeben.

Zwei Jahre nach dem landesweiten Streik

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Wo sind die Verschwundenen des Generalstreiks? Protestaktion in Berlin (Foto: Unidas por la paz – Alemania)

Der landesweite Generalstreik 2021 gegen die Steuerreform des ehemaligen Präsidenten Iván Duque markierte einen Wendepunkt in der Geschichte Kolumbiens. Am 28. April jährt sich der Moment zum zweiten Mal, seit dem die Opfer der staatlichen Repression auf Gerechtigkeit warten.
Hauptauslöser des Aufstands war die Unzufriedenheit der Bevölkerung über die steigenden Preise des Familienwarenkorbs (Anm. d. Red.: Basisprodukte und Dienstleistungen, die für den Lebensunterhalt notwendig sind), die schlechte Gesundheitsversorgung, die hohe Arbeitslosigkeit, Hunderte von systematischen Attentaten auf Aktivist*innen und Unterstützer*innen des Friedensabkommens. Tausende Jugendliche, Studierende, Arbeiter*innen, Angehörige der LGBTIQ+-Community, Lehrer*innen, Künstler*innen und Gewerkschaften u. a. gingen wochenlang auf die Straße, um zu protestieren und von der Regierung strukturelle Veränderungen zu fordern. Teil der Forderungen war auch eine Reform der Polizei, deren Dringlichkeit bei den Demonstrationen in den folgenden Monaten deutlich wurde.

Menschenrechtsorganisationen prangerten wiederholte gewalttätige Übergriffe der Polizei, der Mobilen Bereitschaftspolizei (Esmad) und der Armee gegen zivile Demonstrant*innen an. Laut dem Bericht, den die NGO Temblores und das Institut für Entwicklungs- und Friedensstudien, Indepaz, der Interamerikanischen Menschenrechtskommission IACHR vorgelegt haben, gab es allein zwischen dem 28. April und dem 12. Mai 2021 2.110 Fälle von Gewalt durch die Sicherheitskräfte, darunter 1.055 willkürliche Verhaftungen.

Die Eskalation der staatlichen Gewalt gegen die Zivilbevölkerung erreichte extreme Ausmaße, wie zum Beispiel im Falle des erzwungenen Verschwindenlassens für Stunden und sogar Tage. Während dieser Zeit wurden die Demonstrant*innen, meist junge Menschen, von Angehörigen der Sicherheitskräfte gefoltert.

In Deutschland gingen die kolumbianische Community und viele solidarische Menschen und Gruppen auf die Straße, um den Generalstreik zu unterstützen. In einer dieser Solidaritätsbekundungen beteiligte sich ein Demonstrant, der erst wenige Tage zuvor Kolumbien verlassen musste. So kam das Kollektiv „Unidas por la paz – Alemania“ mit Horeb Nicolás Castellanos in Kontakt. Er gehörte zu den fast 400 Jugendlichen, die Anfang Mai 2021 in Bogotá für mehrere Tage verschwinden gelassen wurden und Tage später, dank der Beschwerden und des Drucks der Zivilbevölkerung, an so ungewöhnlichen Orten wie Mülldeponien oder Wasserläufen wieder auftauchten. Auch heute noch ist von Vermissten die Rede, ohne dass genaue Zahlen genannt werden können.

Nicolás kam am 7. Juli 2021 in Berlin an, um sein Leben zu retten. Einige Tage später wandte er sich an unser Kollektiv, um um Unterstützung zu bitten. Im Kontext seines Asylantrags rekonstruierte er seine Erlebnisse in einem Dokument: „Die Gewalttaten und die illegale Inhaftierung für mehr als drei Tage gegen mich und Dutzende von Begleiter*innen fanden am 2., 3., 4. und 5. Mai 2021 statt. Wir alle wurden Opfer von physischer und psychischer Folter. Unsere Verhaftung war rechtswidrig. Ich wurde mehr als 80 Stunden lang entführt“, so Nicolás.

Am 2. Mai ging die Bevölkerung wieder auf die Straße, Nicolás befand sich im Viertel San Antonio, im Osten Bogotás. Aufgrund des Angriffs der Sicherheitskräfte auf die Zivilbevölkerung an den vorherigen Tagen mussten die Demonstrant*innen festlegen, wer an der Frontlinie (Spanisch: primera línea) stehen würde, um die demonstrierende Bevölkerung zu schützen. Nicolás war an diesem Tag Teil der primera línea.

Das Ziel war es, die Plaza de Bolívar im Zentrum Bogotás zu erreichen. Dort verlief die Demonstration mehrere Stunden lang friedlich. Mit Einbruch der Dunkelheit verließen jedoch viele ältere Menschen und Familien den Platz. Nach und nach verstärkte sich die Polizeipräsenz und die Polizei griff die Demonstrant*innen von einem Moment auf den anderen an. Nicolás berichtet: „Innerhalb von Minuten herrschte Panik und die gesamte Plaza de Bolívar war mit Tränengas eingenebelt. Wir flohen durch den unteren Teil des Justizpalastes und nahmen die Carrera 9a in Richtung Norden, denn die Bereitschaftspolizei griff uns an. Es fielen Schüsse und Blendgranaten neuer Bauart, die die Polizei ‚Vennon‘ nennt. Ich habe mehrere verletzte Jugendliche fallen sehen. Andere Jugendliche, die versuchten, den Verwundeten zu helfen, wurden brutal zusammengeschlagen. Bis heute stehen viele von ihnen auf den Listen der Verschwundenen. Wir liefen mit mehreren Genoss*innen in Richtung Westen, waren erschöpft vom Laufen und gelangten auf die Carrera 13 mit der Calle 17 zu einer Tankstelle, wo wir uns vergeblich zu verstecken versuchten, denn die Polizei kam. Wir waren sieben Genoss*innen. Die Polizisten schlugen uns heftig, sie nahmen unsere Habseligkeiten, mein Handy, meine Dokumente. Sie haben uns illegal gefangen genommen. Wir hatten viele Aufnahmen mit unseren Handys gemacht, aber sie sind verschwunden, das Einzige, was übriggeblieben ist, ist das, was ich ein paar Minuten vor dem Angriff an meine Mutter per WhatsApp schicken konnte. Die Polizisten schlugen uns mit ihren Knüppeln und Helmen auf den Kopf. Mich verletzten sie im Gesicht. Ich spritzte Blut aus Mund und Nase, sie traten mich, als ich am Boden lag, sie nahmen mir die Luft zum Atmen. Das war der traumatischste Moment, den ich je in meinem Leben erlebt habe. Unter uns waren auch einige Minderjährige, unabhängig von Alter und Geschlecht, sie haben uns alle in einen Lastwagen gepackt, bis dieser voll war.“

Nach dem Bericht von Nicolás identifizierte die Polizei die Mitglieder der primera línea und brachte sie in eine Arrestzelle, wo sie die Nacht verbrachten, ohne mit ihren Familien zu kommunizieren oder medizinische Hilfe zu erhalten. Die ganze Nacht hindurch wurden diese jungen Menschen geschlagen.

Am 3. Mai wurden sie auf größere Lastwagen verladen, die normalerweise für den Transport von Pferden verwendet werden. Sie ganze Zeit über durften sie nicht auf die Toilette gehen. „Nachts brachten sie uns zur Polizeistation in San Cristóbal Sur. Mehrere Polizisten stellten sich in einer Reihe auf, und als wir aus dem Lastwagen stiegen, griffen sie uns mit Helmen, Tritten und Fäusten an. In diesem Moment bedeckte ich meinen Kopf. Ich spürte, wie sie meinen Kopf, meinen Rücken, meinen ganzen Körper schlugen. Viele von uns fielen zu Boden. Wir stolperten, alles war chaotisch und die Polizei schlug weiter auf uns ein, bis sie uns in eine Arrestzelle brachte“, erinnert sich Nicolás genau.

Am 4. Mai wurden sie wieder auf einen Lastwagen verfrachtet und durch die Stadt gefahren, die ganze Zeit ohne etwas zu essen. In der Nacht erfuhr Nicolás, dass sie in Soacha, einer Stadt in der Nähe von Bogotá, waren. „Im Morgengrauen, am 5. Mai, holten sie etwa vierzig von uns aus der Polizeistation heraus. Wir waren schon weniger als am Tag zuvor, vielleicht die Hälfte. Ich wusste nicht, was mit den anderen passiert war. Diesmal waren wir nur Männer, und zuerst sagten sie uns, dass sie uns freilassen würden, aber dann hörten wir, dass sie den Befehl gaben, uns nach Mondoñedo zu bringen (Anm. d. Autor*innen: eine der größten Freiluftmülldeponien Kolumbiens). Stunden später ließen sie mich verwundet da, nachdem sie mir gedroht hatten, ich solle nicht den Mund aufmachen, sonst würden ich und meine Familie dafür bezahlen, denn sie wussten bereits, wer ich war, sie hatten meine Papiere.“

So gut er konnte, gelang es ihm, zu einem Verwandten zu gelangen. Aus Angst ging er wochenlang nicht mehr aus dem Haus. Seine Mutter und seine Großmutter wurden durch Beamte in Zivil bedroht, auch per Telefon, und über mehrere Wochen hinweg überwacht.

Vor der staatlichen Repression geflohen Horeb Nicolás Castellanos starb in Folge seiner Verletzungen am 25. März 2022 in Berlin (Foto: Unidas por la paz – Alemania)

Nicolás gelang es schließlich, das Land zu verlassen, weil sein Vater es schaffte, ihn als Tourist ausreisen zu lassen. In Berlin wurde er in einer Schutzeinrichtung untergebracht, wo er mit anderen jungen Flüchtlingen aus verschiedenen Orten der Welt zusammenlebte. Er begann, psychosoziale Unterstützung zu erhalten, die Willkommensklasse zu besuchen, und es gab sogar gute Aussichten auf Schutz durch das Jugendamt. Leider bekam er am frühen Morgen des 20. Februar 2022, einem Sonntag, um 2 Uhr morgens starke Kopfschmerzen und wurde ins Krankenhaus gebracht, wo er wegen einer großen Blutung in der Schädeldecke operiert werden musste. Es handelte sich um ein Aneurysma. Nach der vierstündigen Operation lag er zwei Wochen lang im Koma. In der dritten Woche wachte er aus dem Koma auf, ein paar Wochen später wurde er aus der Intensivstation entlassen. Nicolás erlitt jedoch einen Rückfall und starb am Freitag, dem 25. März 2022, um 4 Uhr morgens.

Im Krankenhaus wurden bei den Untersuchungen Spuren von Schlägen auf den Schädel und das Gesicht sowie ein Nasenbeinbruch festgestellt. Dem ärztlichen Bericht zufolge könnten die vor Wochen in Bogotá erlittenen Schläge, die nicht medizinisch behandelt wurden, das Aneurysma verursacht haben.

Nicolás‘ Tod ist ein stiller Tod. Das ist auch der Fall vieler junger Menschen, die immer noch nicht aufgetaucht sind und deren Leichen, wie mehrere Organisationen in den letzten Wochen anprangerten, möglicherweise auf den Friedhöfen der Städte verbrannt wurden. Die derzeitige Bürgermeisterin von Bogotá, Claudia López, leugnet die Existenz von Verschwundenen während des Generalstreiks, aber die Geschichte von Nicolás zeigt uns, dass es sie sehr wohl gab.

Während des Generalstreiks nutzte die Polizei die Figur der „Überstellung zum Schutz“ (Spanisch:. traslado por protección), um Demonstrant*innen von einem Polizeizentrum in ein anderes zu verlegen, immer wieder und so lange, wie sie es für notwendig hielt, wie im Fall von Nicolás. In jenen Tagen war der Aufenthaltsort der außergerichtlich festgenommenen Personen unbekannt, da die Behörden sich weigerten, Informationen zu liefern. Vor dem Gesetz wird dies als „gezwungenes Verschwindenlassen“ gewertet.

Wie das Magazin Rollingstone in seiner digitalen Ausgabe vom 18. Januar 2023 berichtete, wurde bei einem Besuch der Interamerikanischen Menschenrechtskommission im Jahr 2021 festgestellt, dass 7000 Personen unter dem Vorwand der „Überstellung zum Schutz“ festgenommen wurden, um sie an der Teilnahme an den Protesten zu hindern. Heute sind die Zahlen dieser Festnahmen nicht bekannt, und es sind nur wenige Klagen eingereicht worden, da Angehörige und Freund*innen der Opfer um ihre Sicherheit und ihr Leben fürchten.

Ja, in Peru gab es Menschenrechtsverletzungen

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Nur el pueblo rettet el pueblo Protest von Peruaner*innen in Berlin (Foto: Fujimori Nunca Más – Berlin)

Während des sozialen Aufstands in Peru hat das Regime von Dina Boluarte zusammen mit einem großen Teil der peruanischen Presse eine Desinformationskampagne gestartet. In dieser wurde unter anderem versucht, das Narrativ zu etablieren, dass die Demonstrierenden selbst die Todesfälle verursacht hätten, Waffen von Evo Morales aus Bolivien geliefert wurden und dass der Terrorismus des Leuchtenden Pfades zurückgekehrt sei. Diese Behauptungen sind jedoch international widerlegt worden und wir hoffen, dass die internationale Justiz tätig wird, um der peruanischen Bevölkerung zu ihrem Recht zu verhelfen. Mehrere Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen in der westlichen Welt haben sich zu Wort gemeldet und das Regime von Dina Boluarte scheint angesichts seiner Lügen mehr und mehr in die Isolation zu geraten.

Der kürzlich veröffentlichte Bericht „Tödliche Verschlechterung. Übergriff durch Sicherheitskräfte und Demokratiekrise in Peru“ von Human Rights Watch stellt fest, dass die vom peruanischen Militär und der Polizei während der Proteste zwischen Dezember 2022 und Februar 2023 getöteten Menschen als außergerichtliche oder willkürliche Hinrichtungen angesehen werden können. Der Bericht dokumentiert des Weiteren eine übermäßige Gewaltanwendung durch die Sicherheitskräfte, Verstöße gegen das Protokoll, Misshandlungen von Gefangenen und Mängel bei strafrechtlichen Ermittlungen sowie eine tief verwurzelte politische und soziale Krise, die Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte in Peru untergräbt. Obwohl einige der Demonstrierenden für Gewalttaten verantwortlich waren, reagierten die Sicherheitskräfte mit unverhältnismäßiger Gewalt, unter anderem mit Sturmgewehren und Handfeuerwaffen. 49 Demonstrierende und Unbeteiligte, darunter acht Jugendliche unter 18 Jahren, wurden während der Proteste getötet.

“Diese Demokratie ist keine Demokratie mehr”

Der Bericht stützt sich auf mehr als 140 Interviews mit Zeug*innen, verletzten Demonstrant*innen und Umstehenden, Angehörigen von Getöteten, Polizistinnen, Staatsanwältinnen, Journalist*innen sowie auf Informationen des Verteidigungs- und Innenministers, damaliger Vertreter der peruanischen Polizei, der Staatsanwältin und der Bürgerbeauftragten. Die Organisation sichtete mehr als 37 Stunden Videomaterial und 663 Fotos der Demonstrationen und prüfte Autopsie- und Ballistikberichte, medizinische Unterlagen, Strafregisterauszüge und andere Dokumente. Die so gesammelten Beweise belegen, dass mindestens 39 Menschen durch Schussverletzungen starben. Mehr als 1.300 Menschen wurden verletzt, darunter Hunderte Polizist*innen.

Peru hat in den letzten Jahren eine Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit und der demokratischen Institutionen erlebt. Dies ist zum Teil auf die weit verbreitete Korruption zurückzuführen sowie auf ein Parlament, das hauptsächlich von persönlichen Interessen geleitet wird und beständig darauf aus ist, die seine Macht limitierenden Kontrollmechanismen zu beseitigen. Vor mehr als einem Jahr untergrub die damalige Opposition – die jetzt die Regierung stellt und das Parlament kontrolliert – zusammen mit der sich um die Unternehmensgruppe El Comercio konzentrierende Presse und den ultrakonservativsten Sektoren der Gesellschaft die ohnehin schon prekäre peruanische Demokratie, indem sie ein Narrativ des Wahlbetrugs erfanden. Anschließend blockierte sie die Reformprojekte der Regierung und startete eine Verfolgungskampagne gegen Vertreter*innen der Exekutive – zu der Castillo durch fragwürdige Ernennungen von Ministern mit verschiedenen Korruptionsvorwürfen und Ermittlungen beitrug. Der damalige Präsident vertiefte schließlich am 7. Dezember 2022 die politische Krise, indem er versuchte, das Parlament aufzulösen und in die Justiz einzugreifen. Der Kongress setzte Castillo ab und die Vizepräsidentin Dina Boluarte übernahm die Präsidentschaft, wie es die peruanische Verfassung vorsieht. Jedoch ohne jegliche Legitimation durch die Bevölkerung, da sie alle Versprechen des Wandels, die sie während des Wahlkampfs an der Seite von Castillo gegeben hatte, verriet. Die Rechtmäßigkeit dieses Verfahrens zur Neubesetzung des Präsident*innenpostens steht indes noch immer in Frage. Wie es im bekannten Protestsong so schön heißt: „Diese Demokratie ist keine Demokratie mehr.“ (Während der Proteste entwickelte sich das Lied „Dina asesina”, in dem es heißt „Esta democracia, ya no es democracia“, Anm. d. Red.).

Tausende Menschen – vor allem Landarbeiter*innen und Indigene aus dem Süden des Landes – gingen auf die Straße, um Castillo zu unterstützen und gegen seine Absetzung zu protestieren. Sie forderten Wahlen und eine verfassungsgebende Versammlung. In den folgenden Tagen und Wochen verstärkten sich die Proteste und die Demonstrierenden blockierten Straßen und Flughäfen im ganzen Land. Als Reaktion darauf verhängte die Regierung Boluartes den Ausnahmezustand und setzte sowohl Streitkräfte als auch Nationalpolizei ein, um die Proteste niederzuschlagen. Die Sicherheitskräfte gingen brutal mit scharfer Munition und Tränengas gegen die Demonstrierenden vor, unter denen sich viele Frauen und Kinder befanden.

Der Bericht von Human Rights Watch betont, dass Peru die Menschenrechts- und Demokratiekrise umgehend und wirksam angehen muss. Dazu gehört die Notwendigkeit einer grundlegenden Reform der Sicherheitskräfte sowie Maßnahmen, die sicherstellen, dass die Beamt*innen internationale Menschenrechtsstandards einhalten und für die begangenen Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden. Diese Aussagen decken sich mit dem im Februar 2023 von Amnesty International veröffentlichten Bericht, der auf folgende in Peru festgestellte Menschenrechtsverletzungen hinweist: Übermäßige Gewaltanwendung, willkürliche Festnahmen, Folter und Misshandlung sowie Kriminalisierung sozialer Proteste.

Dieses Vorgehen seitens der peruanischen Sicherheitskräfte verstößt gegen die grundlegenden Menschenrechte und kann schwerwiegende Folgen für die Sicherheit und das Wohlergehen der Bevölkerung haben. Darüber hinaus betont Amnesty International, dass diese Handlungen nicht neu sind und dass die Menschenrechtsverletzungen in Peru schon seit mehreren Jahren Anlass zur Sorge geben. Die Organisation fordert die peruanische Regierung auf, sofortige und wirksame Maßnahmen zu ergreifen, um die staatliche Repression zu beenden und die Achtung der Menschenrechte zu gewährleisten. Außerdem fordert sie die peruanischen Behörden auf, mit der Zivilgesellschaft zusammenzuarbeiten, um die strukturellen Probleme der peruanischen Bevölkerung anzugehen.

Auch die Rede des Hohen Vertreters für Außen- und Sicherheitspolitik sowie Vizepräsidenten der Europäischen Kommission Josep Borrell am 18. April vor dem Europäischen Parlament zur Lage in Peru widerlegt die Darstellung von Präsidentin Boluarte und ihren Verbündeten. In seiner Rede äußerte er seine Besorgnis über die Menschenrechtsverletzungen im Land, einschließlich der gewaltsamen Unterdrückung der Proteste und der Korruptionsvorwürfe im Justizsystem. Ein kürzlich vom US-Außenministerium veröffentlichter Bericht verurteilt ebenfalls die exzessive Gewaltanwendung bei den Demonstrationen in Peru und das Fehlen wirksamer Maßnahmen, um die an diesen Aktionen beteiligten Beamt*innen zur Rechenschaft zu ziehen. In dem Bericht wird die Befürchtung geäußert, dass diese Straffreiheit zu weiterer Gewalt und Unterdrückung führen könnte. Der Bericht weist auch auf mehrere dokumentierte Fälle von polizeilichen Übergriffen hin, welche von verschiedenen Menschenrechtsorganisationen dokumentiert wurden, die ebenfalls die peruanische Regierung dringend zur Aufarbeitung der Fälle auffordern.

Die extreme Rechte hatte erwartet, dass sie die Verstöße unter den Teppich kehren könnte

Auch der am 3. Mai veröffentlichte Bericht des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte bestätigt, was bereits in allen zuvor genannten Berichten erwähnt wurde und wiederholt werden muss: Während der peruanischen Proteste wurden von der peruanischen Regierung „schwere Menschenrechtsverletzungen“ begangen.

Der Gerichtshof empfiehlt, dass zur Überwindung der Krise in Peru ein „breiter, echter und umfassender Dialog“ geführt werden muss, in dem alle Bereiche der Gesellschaft vertreten sind. Er ist außerdem der Ansicht, dass die in seinem Bericht genannten Menschenrechtsverletzungen untersucht und strafrechtlich verfolgt werden sollten.

Insgesamt zeigen diese Berichte die weitgehende internationale Isolierung des autoritären Regimes von Dina Boluarte und ihrer Kompliz*innen, da die unter ihrem Mandat begangenen schweren Menschenrechtsverletzungen von Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen in der westlichen Welt verurteilt werden. Die extreme Rechte in Peru hatte erwartet, dass diese schweigen würden und sie all die Tötungen und Misshandlungen unter den Teppich kehren könnten. Hier müssen wir allerdings auf die Bedeutung des Einsatzes der Kollektive der peruanischen Diaspora in der ganzen Welt hinweisen und aller Verbündeten, die Peru solidarisch ihre Hand gereicht haben. Hier in Deutschland geschah dies speziell durch das Netzwerk PEX Alemania und in Berlin war es explizit unsere Aufgabe als Kollektiv Fujimori Nunca Más – Berlín, durch die Summe all unserer kleinen Anstrengungen einen Druck im Ausland aufzubauen, damit die Stimmen unserer Landsleute gehört werden können. Aber es sei gesagt, dass wir nicht in Solidarität mit dem peruanischen Volk (pueblo) handeln. Wir SIND das peruanische Volk.

In diesem Sinne werden wir nicht aufhören, Druck auszuüben und uns zu organisieren, bis angesichts dieser schweren Menschenrechtsverletzungen GERECHTIGKEIT erreicht wird. Und wir werden auch weiterhin auf das größere, kollektive Projekt der tiefgreifenden Veränderung unserer Gesellschaft durch einen plurinationalen und paritätischen Verfassungsprozess drängen. Gleichzeitig unterstützen wir auch die Kämpfe unserer lateinamerikanischen Brüder und Schwestern, der Migrant*innen und Arbeiter*innen hier in Berlin, Deutschland und Europa; wir kämpfen für die Umwelt und ökologische Gerechtigkeit; wir setzen uns für die feministischen Kämpfe und die LGBTQIA+-Bewegung ein und wir verstärken unser Engagement für einen breiten Prozess der Dekolonisierung in der ganzen Welt, in dem Peru und Abya Yala (Lateinamerika) eine entscheidende Rolle spielen auf dem Weg zu mehr Souveränität unserer Völker und Territorien auf der Suche nach dem Buen Vivir (guten Leben, Anm. d. Red.).

„Chan“ Santokhi in Not

Die Proteste in Surinam ebben auf und ab, versiegen tun sie nicht. Am 24. März gingen erneut Hunderte Surinamer*innen in der Hauptstadt Paramaribo auf die Straßen, um den Rücktritt des Präsidenten des karibischen Landes zu fordern, das im Nordosten des südamerikanischen Subkontinents liegt. Anlass dieses Protestes war der Vorwurf an die Regierung von Präsident „Chan“ Santokhi, sie versuche, die 2025 turnusmäßig anstehenden Parlamentswahlen zu verschieben. Sie können erst stattfinden, wenn der Gesetzgeber das Wahlgesetz geändert hat, wie es ein Gerichtsurteil aus dem Jahr 2022 vorschreibt. Das neue Wahlgesetz soll ein gerechteres Wahlsystem schaffen.

Die Regierungskoalition von Santokhi lässt sich dabei allerdings Zeit. Am 21. März setzte die Regierung immerhin einen Ausschuss ein, der zwei Vorschläge zur Änderung des Wahlgesetzes vorlegte. Laut Santokhi sollen sie innerhalb von zwei Monaten den Abgeordneten vorgelegt werden. Das reicht nicht allen. Die Demonstrant*innen fordern, dass das Gesetz innerhalb einer Woche verabschiedet wird. Die Aktivistin Maisha Neus sagte, sie werde weitere Proteste organisieren, falls es zu einer Verzögerung komme: „Wir werden sie dort treffen, wo es weh tut. Wirtschaftlich.”

Weit mehr als die Proteste zum Wahlgesetz machten die Proteste im Februar weltweit Schlagzeilen. Der 17. Februar sorgte in den USA, in Europa und in der ehemaligen Kolonialmacht Niederlande für beträchtliches Aufsehen. Dutzende von Demonstrant*innen drangen in das surinamische Parlament ein, bis sie von Sicherheitskräften zurückgedrängt werden konnten. Zuvor hatten Hunderte von ihnen in der Hauptstadt Paramaribo randaliert. Es kam zu chaotischen Situationen und gewalttätigen Zusammenstößen mit der Polizei. Mindestens 126 Personen wurde festgenommen. Die Regierung von Präsident „Chan“ Santokhi verurteilte die Gewalt und erklärte, sie habe eine Sondereinheit eingerichtet, um die Verantwortlichen für den Angriff auf das Parlament zu finden. „Wir werden energisch gegen die Personen vorgehen, die diese Angriffe angeordnet, ausgeführt und Zerstörungen verursacht haben“, hieß es in einer Erklärung. Laut mehreren Berichten auf Twitter sollen in Surinam kurz nach den Protesten im Februar soziale Netzwerke und Messenger-Dienste wie Facebook und WhatsApp unzugänglich gewesen sein. Der Telekommunikationsanbieter Telesur ist im Besitz der Regierung.

Beamt*innen errichten Barrikaden gegen die Bevölkerung

Am 24. März lief es gesitteter ab, weil die Polizei den Demonstrant*innen zahlenmäßig weit überlegen war. Dieses Mal errichteten die Beamt*innen Barrikaden, um das Präsidialamt und das Parlament vor unerwünschtem Zulauf zu schützen. „Ist das Demokratie, wenn man sein Volk hinter einem Zaun festhält?“, rief ein Demonstrant laut der Nachrichtenagentur AP. Die Proteste kommen nicht von ungefähr. Santokhis Kabinett ist gerade dabei, die vom IWF angeordneten Sparmaßnahmen umzusetzen. Der IWF fordert, die Subventionen für Strom, Wasser und Treibstoff abzubauen, um das Staatsdefizit in den Griff zu bekommen. Den Preis dafür zahlen die Bürger*innen, die ohnehin schon unter einer hohen Inflationsrate von 58 Prozent zu leiden haben. Der Anstieg der Lebenshaltungskosten hat viele in Surinam schwer getroffen – die Ärmsten wie immer am stärksten. Der IWF hatte sich zwar bereit erklärt, Surinam im Dezember 2021 ein Darlehen in Höhe von 690 Millionen Dollar zu gewähren, bisher wurden aber nur 100 Millionen Dollar ausgezahlt. Da die Regierung die auferlegten Ziele nicht erfüllte, wurden die Auszahlungen gestoppt.

Vor seiner Wahl zum Präsidenten vor fast drei Jahren rief „Chan“ Santokhi das Parlament zur Einigkeit der verschiedenen ethnischen Gruppen auf. In Surinam leben Menschen indonesischer, indischer, chinesischer, afrikanischer und europäischer Herkunft. Knapp die Hälfte der gut 600.000 Surinamer*innen wohnt in der Hauptstadt Paramaribo, die restlichen Einwohner*innen leben verstreut an der Küste oder im tiefen Urwald.

„Wir werden sie dort treffen, wo es weh tut.“

Mit seiner Prognose zum Amtsantritt hatte Santokhi im Juli 2020 durchaus Recht: „Wir stehen kurz vor dem finanziellen Abgrund“, sagte der frühere Polizeichef. Diese Krise übertreffe die schlimmsten Erwartungen. Bereits im April 2020 war das Land von einzelnen Ratingagenturen in seiner Kreditwürdigkeit herabgestuft worden. Je niedriger die Stufe, desto teurer wird der Zugang zu frischem Kapital, wenn sich überhaupt noch Kreditgeber*innen finden. Unter dem Druck der Corona-Pandemie wurde Surinam wenige Monate nach Santokhis Amtsantritt zahlungsunfähig. Im November 2020 musste das Land mangels Devisenreserven Zahlungen an seine Anleihegläubiger*innen teilweise einstellen. Seitdem laufen zähe Umschuldungsverhandlungen, die einen Neuanfang ermöglichen sollen. Bisher stellen sich die Gläubiger*innen gegen die Vorschläge Surinams.

Surinam war nach Sambia das zweite Land weltweit, das im Zusammenhang mit der Pandemie seinen Schuldendienst teilweise nicht mehr leisten konnte. Durch die coronabedingte Rezession brach die vom Tourismus und einigen wenigen Exportgütern wie Gold, Öl und Holz abhängige Wirtschaft um knapp 16 Prozent ein. Der Wachstumseinbruch, durch den die Staats- und Exporteinnahmen deutlich sanken, traf zudem auf ein Jahr mit besonders hohen Schuldendienstverpflichtungen: Mehr als 40 Prozent der Staatseinnahmen sollten 2020 in fällige Zins- und Tilgungszahlungen fließen. Entsprechend verschlechterte sich die Tragfähigkeit der Verschuldung: Das Verhältnis zwischen Staatsschulden und Wirtschaftsleistung stieg laut dem Schuldenreport 2022 von bereits hohen 85 Prozent im Jahr 2019 auf 148 Prozent im Jahr 2020. Der Schuldenreport 2023, der am 30. März 2023 veröffentlicht wurde, führt Surinam weiter als zahlungsunfähig und mit einer nur leicht gesunkenen Verschuldungsrate von 125,7 Prozent. Die Schuldensituation war bereits vor der Pandemie kritisch: Der Schuldendienst vervierfachte sich ab 2016.

Als Mitteleinkommensland ist Surinam von Schuldenerlassinitiativen für die ärmsten Länder ausgeschlossen, sowohl auf Ebene der G20-Staaten als auch direkt beim IWF. Wegen der schleppenden Umschuldungsverhandlungen mit seinen Gläubiger*innen beantragte Surinam ein IWF-Hilfsprogramm für die Jahre 2021 bis 2024. Der IWF ist dazu grundsätzlich bereit, aber wie immer nur zu seinen neoliberalen Bedingungen. Andererseits ist Surinam eines der wenigen kritisch verschuldeten Länder, bei denen sich der IWF seit Beginn der Pandemie für eine deutliche Umschuldungsempfehlung ausspricht und sowohl öffentliche als auch private Gläubiger*innen zum Forderungsverzicht aufruft. Denn nur so habe das Land eine Chance, wieder auf die Beine zu kommen. In Sicht ist das so wenig wie ein Ende der Proteste.

Eine Verfassung für alle Menschen im Land

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Können Sie uns etwas über die Geschichte Ihrer Organisation erzählen und für welche Kämpfe sie einsteht?
Patriarchale Strukturen sind sehr stark in Lateinamerika und wir haben immer dafür gekämpft, das sichtbar zu machen. Deswegen haben wir die Föderation der Landwirtinnen, Handwerkerinnen, indigenen und erwerbstätigen Frauen Perus (Fenmucarinap) vor 17 Jahren gegründet und sind landesweit aktiv. Unsere Arbeit beruht auf zwei Hauptsäulen: einerseits Empowerment von Frauen und andererseits Ernährungssouveränität. Unser Kampf gilt dem Schutz des Wassers, der Erde und unserer Kultur und Weltanschauung. Wir kämpfen kompromisslos für die Verteidigung der Menschenrechte und Vielfalt, setzen uns aber genauso für das Recht auf Abtreibung ein. Unsere Großeltern haben uns gelehrt, das Land zu verteidigen, aber sie haben uns nicht eingeschärft, wie wir uns als Frauen zu verteidigen haben. Wir sind Teil der lateinamerikanischen Koordination bäuerlicher Organisationen (CLOC-Vía Campesina). Dort werden wir darauf vorbereitet, politische Führungsarbeit zu leisten. Als Organisation machen wir politische Öffentlichkeitsarbeit, damit wir z. B. vom Frauen- oder Landwirtschaftsministerium empfangen werden.

Wie kam es zu Ihrer Europareise?
Ana Durán, ehemalige Frauenministerin unter Pedro Castillo, informierte mich über eine Einladung der Europäischen Kommission. Es fiel mir sehr schwer das Land zu verlassen, denn hier wurden meine Brüder getötet. Aber am 10. Januar kam ich in Europa an. Meine Reise verlängerte sich, damit ich vor den Vereinten Nationen in Genf sprechen konnte. In der Zwischenzeit wurde ich unter anderem nach Madrid eingeladen. Nachdem ich dort an einer Kundgebung vor der peruanischen Botschaft teilgenommen hatte, erhob der ehemalige Botschafter Perus in Spanien Vorwürfe gegen mich. Ich beriet mich mit meinen Genossinnen. Sie rieten mir, nicht zurückzukehren, da mir eine Verhaftung drohe – wegen Verleumdung Perus. Aber ich beantrage kein politisches Asyl, denn für mich bedeutet das, dass ein Land dir vorschreiben kann, keine politische Öffentlichkeitsarbeit mehr zu machen. Ich habe aber durchaus vor, weiterhin internationale Organe zu fragen, welche Sanktionen sie vorsehen gegen ein Land, das die Menschenrechte missachtet.

Können Sie die Aspekte struktureller Exklusion der indigenen Bevölkerung Perus beschreiben und wie diese sich heute zeigen?
Die Regierung hat sie schon immer fatal vernachlässigt, nicht nur jetzt unter Boluarte. Auch die vorherigen Regierungen haben sich nie darum gekümmert, der indigenen Bevölkerung ein gutes Leben zu ermöglichen. In den meisten unserer Regionen haben sich Bergbauunternehmen angesiedelt und man sollte meinen: Wenn sie dort Gold abbauen, sollte das Land besser dran sein. Es sollte bessere Schulen, Straßen und Krankenhäuser geben sowie fähige Fachleute. Aber dort, wo sich die Bergbauunternehmen befinden, häuft sich extreme Armut am stärksten.
In Bagua gab es ein Massaker, als Indigene aus der Regenwaldregion sich gegen einen Gesetzesvorschlag auflehnten, der es den großen Unternehmen ermöglichen sollte, sich das Land anzueignen. Die Regierung sieht nur diejenigen als Menschen an, die in den Städten leben, weil sie dort Trinkwasserzugänge und Kanalisationen bauen. In unseren indigenen Dörfern haben wir so etwas nicht. Dort leben wir mit Flüssen, die verschmutzt sind von Bergbau und Erdöl.
Sie wollen uns auch genetisch verändertes Saatgut aufzwingen, was die indigenen Gemeinden töten und uns zu reinen Konsumenten machen würde. Wir ernten, weil wir die einheimischen Saatkörner haben und die Pachamama (Mutter Erde) ist für uns kein Geschäft, sondern unser Leben. Wir sind gezwungen in die Städte zu migrieren, weil die Bergbauunternehmen sich unsere Territorien aneignen. Wir müssen in eine rassistische Kultur migrieren, die schon in der Schule beginnt. Wieso können sie an den Schulen nicht in unseren Sprachen unterrichten? Warum müssen sie unsere Kultur und unsere Sitten so verstümmeln? Das wertet die indigene Bevölkerung ab, und es ist noch schlimmer, wenn Du eine Frau bist. Das ist es, was alles in Peru zerstört hat, diese anerzogene Abwertung.

Glauben Sie, dass dieser strukturelle Rassismus die Präsidentschaft Castillos behindert hat?
Castillo stand für einen wirtschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen Wandel. Das war der indigenen Bevölkerung klar, aber die linken Parteien haben nicht verstanden, dass es den Indigenen und Landwirt*innen eben nicht nur um den Schutz von Pedro Castillo ging. Ihnen ging es darum, eine Regierung zu schützen, die einen Wandel herbeiführen kann. Wir haben damals zuerst für die Kandidatin Verónika Mendoza gestimmt, weil sie die Themen der Frauen, Jugendlichen, indigenen Bevölkerung und der LGBTQIA+-Community aufgegriffen hat – etwas, das in Castillos Wahlprogramm nicht enthalten war. Verónika hat nicht gewonnen, also haben wir uns entscheiden, im zweiten Wahlgang für einen Bruder aus dem bäuerlichen Umfeld zu stimmen. Man kann auch nicht sagen, dass Pedro alles richtig gemacht hätte; bei der Vergabe der Ministerien z. B. gab es Fehlentscheidungen. Psychologisch und verbal wurde ihm schwer zugesetzt. Die Rechte hat es ihm nie verziehen, dass es einen Präsidenten aus der Provinz gab.

Was hat Pedro Castillo besser gemacht als seine Vorgänger*innen?
Er hat uns die Türen zum Regierungspalast geöffnet, uns zugehört und unsere Vorschläge entgegengenommen. Wir wollen, dass diese Regierungsform fortgeführt wird. Alle 74 Gesetzesvorschläge wurden jedoch auf Eis gelegt. Das hat mit der von Fujimori eingeführten Verfassung von 1993 zu tun: Sie gibt der Legislative alle Macht, um Gesetze zugunsten großer Firmen zu erlassen.

Was waren Castillos Vorschläge hinsichtlich der Bergbaukonzessionen und wie entwickelt sich die Situation unter Boluarte?
Castillo sagte, er würde die Bergbaukonzessionen nicht verlängern, wenn sich herausstellen sollte, dass sie die Klauseln der Konzessionsverträge nicht einhalten. Es ging darum, die Bedingungen für Erdölgewinnung und Bergbau zu überprüfen, unsere Reichtümer zurückzuerlangen und zu verteilen. 2023 ist ein entscheidendes Jahr. Denn 2023 werden Bergbaukonzessionen für die nächsten 50 oder 30 Jahre geprüft und erneuert, und Castillo wollte ihnen nicht zustimmen. Das war es, was die großen Erdöl- und Bergbauunternehmen aufgebracht hat und daher kamen auch die Anträge zur Amtsenthebung. Eine weitere Absicht von Präsident Castillo war, die Steuerschuld der großen Unternehmen einzufordern. Jetzt fühlen sich die Besitzer*innen dieser großen Unternehmen sicher – mit der Präsidentin aus dem rechten Lager, die für uns keine rechtmäßige Präsidentin ist. Sie bringen Gesetze auf den Weg, damit sie diese Steuern nicht zahlen müssen.

Wie positionieren Sie sich zu den Korruptionsvorwürfen gegen Castillo? Könnte man sagen, dass man nicht mit Sicherheit wissen kann, wie das Urteil ausfallen wird, solange es in Peru kein unabhängiges Justizsystem gibt?
Man kann die Situation auf diese Weise analysieren, denn im Moment haben wir eine politisierte Justiz. Castillo ist im Gefängnis, aber Keiko ist immer noch frei und hat Millionen für ihre Kampagne erhalten. Als die Justiz Castillo vorwarf korrupt zu sein, kamen immer wieder Zweifel auf. Wir baten Pedro Castillo bei jedem Treffen, ehrlich zu uns zu sein. Er sagte, dass er nicht einen einzigen Sol (Währung Perus) angefasst habe. Sie würden ihn verleumden, weil er bereits die politische Entscheidung getroffen habe, auf unserer Seite zu stehen. Gab es also Zweifel? Ja, aber nicht mehr, nachdem er uns seine Integrität versicherte.

Als Pedro Castillo die Auflösung des Kongresses verkündete, hielt er sich nicht an das verfassungsmäßige Recht. Was dachten Sie in diesem Moment? Erschien Ihnen das legitim?
Ja, wir sahen es als legitim an, weil es die Meinung der Bevölkerung war – auch, wenn wir ihm immer vorgeschlagen hatten, den Kongress auf legalem Wege aufzulösen. Ja, er hat den korrekten Prozess übersprungen und er wird sich dafür verantworten müssen, wenn die Zeit gekommen ist. Aber er wusste auch, dass er weder die Unterstützung der Legislative hatte, noch der Armee, der Presse oder der Kirche; er hatte nur uns. Er sagte mir, wenn er frei ist, wird er seine Gründe erklären. Meine persönliche Meinung als Lourdes Huanca, nicht als Vertreterin meiner Organisation, ist, dass Castillo genug hatte. Denn er wusste, dass er die Regierung nicht regulär zu Ende führen konnte, da sie ihn sowieso irgendwann absetzen würden. Ich denke, er hat es gemacht, um die Bevölkerung zum Handeln zu bewegen und um zu zeigen, dass man ihn einsperrt, weil er versuchte, den Reichtum unseres Landes zurückzugewinnen. Wenn es sein Ziel war, die Menschen zu bewegen und zum Kämpfen zu bringen, dann hat er das erreicht. Denn jetzt fordern alle eine Verfassungsänderung und das auf Kosten seiner Freiheit.

Was fordert Ihre Organisation?
Unsere Forderungen sind: Rücktritt von Boluarte, Freiheit für Pedro Castillo, Auflösung des Kongresses, Gerechtigkeit für die 72 getöteten Held*innen und dass eine plurinationale, paritätisch besetzte, verfassungsgebenden Versammlung einberufen wird. Diese neue verfassungsgebende Versammlung ist wichtig, weil sie unser Leben verändern würde. Die indigenen Völker sind in der Verfassung von 1993 überhaupt nicht vertreten. In der Legislative und Exekutive müssen aber auch Indigene, junge Menschen, Frauen und Intellektuelle vertreten sein; wir brauchen eine Verfassung für alle, denn wir sind ein plurinationales Land.

INS AUS GESCHOSSEN

Präsidentin bis 2026? Die damalige Vizepräsidentin Dina Boluarte auf dem Weltwirtschaftsforum 2022 (Foto: World Economic Forum via Flickr , CC BY-NC-SA 2.0)

„Präsidentin Boluarte, wir wünschen Ihnen viel Erfolg bei der Bildung einer Regierung der nationalen Einheit.“ Die Glückwünsche für das neue Staatsoberhaupt Perus kommen ausgerechnet von Keiko Fujimori, die drei Mal in Folge in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen scheiterte.
Auf Twitter verkündete die Tochter des Exdiktators Alberto Fujimori ihre Unterstützung für die erste Präsidentin durch ihre Parlamentsfraktion Fuerza Popular. Die rechte Fuerza Popular stellt zusammen mit der Mitte-rechts-Partei Acción Popular, die 2020 federführend im Amtsenthebungsverfahren gegen den damaligen Präsidenten Martín Vizcarra war, die größte Oppositionspartei im peruanischen Kongress.

Zwei Amtsenthebungsverfahren hatte Castillo in seiner 17-monatigen Regierungszeit überstanden. Einem dritten Verfahren versuchte Castillo am 7. Dezember durch die Verkündung einer Notstandsregierung zuvorzukommen. Mehrere Minister traten daraufhin aus Protest zurück, kurz darauf setzte ihn der Kongress ab und Castillo wurde wegen Verfassungsbruchs von der Polizei in Gewahrsam genommen.

Was Castillo zu dieser extremen Maßnahme brachte, fragen sich im Nachgang viele. Schon seit längerem versuchte Castillo den ihm feindlich gesinnten Kongress das Handwerk zu legen. Mitte November legte Ministerpräsident Aníbal Torres dem Kongress eine Vertrauensabstimmung zur Aufhebung eines Gesetzes aus dem Januar 2022 vor. Laut dem Gesetz dürfe kein Referendum zur direkten Annahme einer Verfassungsreform durchgeführt werden, sondern müsse vorher durch den Kongress. Die Regierung lehnte das Gesetz mit der Begründung ab, dass es direkte Bürger*innenbeteiligung verhindere. Doch der Kongress lehnte die Vertrauensfrage ab, Ministerpräsident Torres trat daraufhin zurück. Dies hätte den Weg frei gemacht, dass Castillo ein neues Kabinett bestimmt und die Vertrauensfrage erneut vorgelegt hätte. Sofern diese abgelehnt worden wäre, hätte dies den Präsidenten befugt, den Kongress aufzulösen.
Am Tag des Putschversuchs sagte erstmals ein Exfunktionär, Leiter des Beraterkabinetts des Ministeriums für Wohnungsbau, Salatiel Marrufo, aus, Pedro Castillo persönlich 100.000 Soles (rund 25.000 Euro) an Korruptionsgeldern übergeben zu haben. Im Berater*innenkreis Castillos schien deshalb die Befürchtung zu bestehen, dass das dritte Amtsenthebungsverfahren gegen Castillo erfolgreich sein könnte. Besonders Mitglieder von Castillos ehemaliger Partei Perú Libre, die der Präsident im Juni 2022 verlassen hatte, galten als Wackelkandidat*innen.

Die Ankündigung einer Notstandsregierung hat Castillos ohnehin geringe Unterstützer*innenbasis weiter erodiert. Die damalige Vizepräsidentin und heutige Präsidentin Dina Boluarte verurteilte den Schritt über Twitter als Putschversuch. Nach der Absetzung Castillos wurde sie als neue Präsidentin vereidigt. „Ich bin mir der enormen Verantwortung bewusst, die auf mich zukommt, und rufe zur Einheit aller Peruaner auf“, sagte die 60-jährige Juristin in ihrer Antrittsrede im Kongress.

Eine Mehrheit im Kongress hat sie so wenig hinter sich wie Castillo. Auch hat sie keinen Rückhalt in ihrer gemeinsamen ehemaligen Partei, der marxistisch-leninistischen Partei Perú Libre. Aus dieser wurde sie Anfang 2022 ausgeschlossen, weil sie die Ansichten des Generalsekretärs, Vladimir Cerrón, nicht teilte. „Ich war schon immer eine Linke und werde es auch bleiben, aber eine demokratische und keine totalitäre Linke“, erklärte sie. Damals sagte sie, dass sie sich von Perú Libre distanzieren werde, aber nicht von Präsident Castillo, der seinerseits mit Cerrón längst über Kreuz lag. Boluarte blieb Ministerin für Entwicklung und soziale Eingliederung, bis sie am 25. November zurücktrat, weil sie mit der Ernennung von Betsy Chávez, der kurzzeitigen Premierministerin des nun abgesetzten Präsidenten, nicht einverstanden war. Als amtierende Vizepräsidentin gelang ihr nun unverhofft der Sprung an die Staatsspitze.

Boluarte muss sich schnell nach Allianzen umsehen

Bis vor zwei Wochen war Boluarte mit einer Verfassungsklage in der Legislative konfrontiert aufgrund angeblicher Unregelmäßigkeiten bei ihrem Rücktritt als Beamtin zur Übernahme der Vizepräsidentschaft. Das Verfahren wurde rasch eingestellt, ein möglicher Vertrauensbeweis durch die Abgeordneten, die sie bereits als Nachfolgerin Castillos im Präsidentenamt sahen.

Nun muss sich Boluarte schnell nach politischen Allianzen umsehen und ein neues Kabinett bilden. Dabei könnte ihr zum Vorteil werden, dass sie nie zum inneren Kreis der Regierung Castillo gehörte.
Boluarte kann laut Artikel 115 der Verfassung bis zum Ende der Amtszeit von Castillo 2026 übernehmen. Doch bereits am Tag nach ihrer Übernahme kam es zu Protesten einiger tausend Menschen landesweit und zu Straßenblockaden. „Dina Boluarte überrascht uns. Nicht nur der Süden, auch andere Regionen erheben sich. Die Entscheidung der Bevölkerung muss respektiert werden. Es ist alles die Schuld des Kongresses, sie haben ihn (Pedro Castillo) nicht regieren lassen“, sagte Carmelina, eine protestierende Bäuerin aus La Joya, gegenüber der Tageszeitung El Comercio.

Wie bereits in der Wahl 2021 wird peruanische Politik zunehmend in den Regionen entschieden. Noch sind die Forderungen der Proteste diffus, einige fordern die Freilassung Castillos, einige die Absetzung Boluartes. Gemeinsamer Nenner ist die vorzeitige Ausrufung von Neuwahlen. Die Präsidentin Perus hat bereits eingeräumt, dass die Wahlen vorverlegt werden können „wenn die Gesellschaft und die Situation es fordert“.

Castillo hat den Ball aus dem politischen Spielfeld geschossen und weder Exekutive noch Legislative scheinen ihn zurückholen zu können. Wahrscheinlich ist, dass über kurz oder lang dem Ruf nach Neuwahlen stattgegeben wird. Dabei besteht die Gefahr, dass sich den Ball ein kompletter Außenseiter schnappt.

AUFWACHEN NACH DEM GESELLSCHAFTLICHEN KNALL?

Proteste in Panama Regierung muss einlenken (Foto: Brandon Ortiz)

Panama ist eines der wenigen Länder der Region, in dem große Demonstrationen oder Massenproteste nur selten für Schlagzeilen sorgen. Weil das Land logistisch und finanziell gesehen in einer vorteilhaften Lage ist, entsteht häufig der Eindruck, dass hier alles in Ordnung sei. Das panamaische Bruttoinlandsprodukt verzeichnet laut Daten der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) für 2022 ein Wachstum von 8,2 Prozent, das Land ist eine der größten Volkswirtschaften der Region – und wächst wirtschaftlich gesehen in einem schwindelerregenden Tempo. Gleichzeitig ist Panama das sechstungleichste Land der Welt, was den Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, die Verteilung des Wohlstands und die Lebensbedingungen angeht.

Die Proteste, die von Mai bis August dieses Jahres in Panama stattfanden, hatten in der Provinz Colón an der Karibikküste begonnen. Lehrergewerkschaften, Arbeitnehmer*innen und ganz normale Bürger*innen forderten bessere Lebensbedingungen, menschenwürdige Arbeitsplätze und eine gerechte Verteilung des Wohlstands. Die Provinz Colón ist nach Panama-Stadt die Stadt mit dem zweithöchsten Einkommen im nationalen Bruttoinlandsprodukt.

Hinter den Mobilisierungen im Mai standen Gruppen wie die Koalition für die Einheit Colóns (CUCO). Nach Aussagen des führenden CUCO-Aktivisten Edgardo Voitier gegenüber TeleSur zielten die Proteste darauf ab, die hohen Lebenshaltungskosten zu stoppen und die Kraftstoffpreise einzufrieren. Um den Forderungen Nachdruck zu verleihen, wurden im Stadtzentrum von Colón Straßenblockaden, Demonstrationen und Kundgebungen organisiert. Obwohl unklar ist, wie viele Menschen insgesamt an den Aktionen teilnahmen, konnte CUCO die Proteste in der Provinz wochenlang aufrechterhalten – und die Regierung damit zu einem Dialog zwingen.

Im Juli brachen die Proteste erneut aus, dieses Mal jedoch landesweit. Es wurden die größten Proteste seit der Rückkehr Panamas zur Demokratie vor 32 Jahren. Sie begannen mit Straßenblockaden und Demonstrationen an mehreren Orten: in der Hauptstadt Panama-Stadt rund um die Nationalversammlung, in der Provinz Veraguas an der wichtigen Panamericana-Straßengabelung von Divisa sowie in mehreren Orten der Provinz Chiriquí.

Für den 1. Juli hatten Lehrkräfte und Professor*innen landesweit zu Streiks mobilisiert. Sie hatten ein symbolisches Datum gewählt – traf der Tag der Großmobilisierung doch den dritten Jahrestag des Amtsantritts von Panamas Präsident Laurentino Cortizo.

Den Aufrufen der Lehrergewerkschaften schlossen sich spontan landesweit unterschiedliche gesellschaftliche Akteur*innen an. Dazu gehörten einerseits Organisationen von Beschäftigten in Viehzucht, Fischerei, Landwirtschaft und Transportwesen sowie Schüler*innen. Sie alle schlossen sich in der landesweiten Allianz für die Rechte des organisierten Volkes (ANADEPO) zusammen, deren Aktionszentrum sich in der Provinz Veraguas befand.

Auf der anderen Seite gab es die Allianz für ein vereintes Volk für das Leben, die sich aus der Bauarbeiter*innengewerkschaft SUNTRACS, der Lehrervereinigung und verschiedenen anderen Gewerkschaften zusammensetzt und in der Hauptstadtprovinz verortet ist. Und schließlich mobilisierte auch die Nationale Koordinierungsstelle der indigenen Völker Panamas (COONAPIP), in der die sieben indigenen Gemeinschaften des Landes organisiert sind, zum Protest.

All diese Kräfte schlossen sich in zwei großen Bündnissen zusammen und forderten Lösungen für drei wesentliche Punkte. Dazu gehörte erstens die Senkung des Kraftstoffpreises, der im Mai und Juni bei sechs Dollar pro Gallone lag, auf drei Dollar. Zweitens forderten sie die Senkung der Preise für Grundnahrungsmittel, die zuletzt um 3,5 Prozent gestiegen waren, drittens eine Kontrolle der Arzneimittelpreise.

Darüber hinaus forderten Bildungsorganisationen, dass der panamaische Staat sechs Prozent des BIP für Bildung bereitstellt. Man müsse die Schulen ausbauen, Gebäude im schlechten Zustand sanieren und die Arbeitsbedingungen und Gehälter des Lehrpersonals insbesondere in abgelegenen Regionen verbessern. Das Problem der sogenannten escuelas ranchos, Schulen mit prekären Lernbedingungen, oft ohne Wände und mit Erdboden, müsse gelöst werden.

Dazu kamen schließlich Forderungen nach einer Reduzierung und Eindämmung der öffentlichen Ausgaben, die in den vergangenen Jahren verglichen mit den Vorjahren um 5,6 Prozent gestiegen sind. Hierfür sollten die ebenso exorbitanten wie fragwürdigen Budgets des Präsidialamts, des Ministeriums für öffentliche Sicherheit sowie des Parlaments beschnitten werden. Die Regierung ist in Skandale und Korruptionsfälle verstrickt Das Klima der Instabilität, das in den vergangenen Monaten in Panama herrschte, lässt sich auf einen Vertrauensverlust der staatlichen Institutionen zurückführen. Setzte man bei Amtsantritt der aktuellen Regierung noch Vertrauen darin, dass die Regierung Probleme lösen würde, hat diese sich nun in Skandale und Korruptionsfälle verstrickt. Die entsprechenden Fälle in der Nationalversammlung häuften sich. Gleichzeitig haben mehr als 80 Prozent der Menschen im Land Probleme beim Zugang zu Wohnung, Gesundheit, Bildung und Grundnahrungsmitteln, da die wirtschaftliche Unterstützung während der Pandemie zu keiner Zeit ausreichte.

Die Arbeitslosenquote liegt bei 9,9 Prozent, die Quote der informell Beschäftigten ist laut Angaben des staatlichen Statistikinstituts INEC allein in den vergangenen Monaten auf 48,2 Prozent gestiegen. Die Instabilität des Arbeitsmarktes und die Einkommensungleichheit werden damit in Panama zu einem zunehmenden Problem.

Die Regierung verhandelte zunächst in der Provinz Veraguas mit der ANADEPO-Führung und kündigte daraufhin an, den Kraftstoffpreis ab dem 15. Juli landesweit auf 3,95 Dollar zu senken. Dazu wurde auch das Einfrieren der Preise von zehn Lebensmitteln aus dem staatlich festgelegten Grundnahrungsmittelkorb erwähnt. Diese Maßnahmen genügten den Forderungen der Protestierenden jedoch nicht, geschweige denn die Liste der berücksichtigten Lebensmittel, die teils stark verarbeitet oder von fragwürdiger Qualität waren. Angesichts der Unzufriedenheit der Bevölkerung wies sogar das Gesundheitsministerium auf die Notwendigkeit hin, den Menschen einen gesunden und ausgewogenen Satz an Grundnahrungsmitteln zu ermöglichen. Sogar das Gesundheitsministerium zweifelt an den Maßnahmen Die Unzufriedenheit und die sozialen Unruhen hielten mehrere Wochen an. Auch wenn sich die Regierung den Forderungen der ANADEPO-Führung in Veraguas annäherte, demonstrierten die Menschen in anderen Landesteilen weiter und forderten die Einrichtung eines einheitlichen Runden Tisches für den Dialog. Mehrere Wochen lang wurde die Aufforderung der Regierung, die Straßenblockaden und Streiks zu beenden, ignoriert, da die Regierung diesen Runden Tisch verweigerte. Erst auf Vermittlung der katholischen Kirche hin wurde dieser schließlich doch noch am 21. Juli eingerichtet.

Unter dem Eindruck der Straßenblockaden sowie Massendemonstrationen im ganzen Land akzeptierte die Regierung die vom Runden Tisch für den Dialog vorgeschlagenen Bedingungen, darunter die Definition von 72 Gütern als Grundnahrungsmittel, erweitert auf Hygieneartikel. Die Gewinnspanne für bestimmte Produkte wurde auf höchstens 15 bis 20 Prozent begrenzt, der Benzinpreis wurde auf 3,25 Dollar pro Gallone eingefroren. Dazu wurde eine Nulltoleranzpolitik gegenüber Korruption vereinbart.

Im Bildungsbereich wurde eine schrittweise Erhöhung der Investitionen vereinbart. Die Abmachung legt fest, dass dies mit einer gerechten Verteilung geschehen soll, die die Qualität der Schulbildung stärkt. So sollen die hierfür vorgesehenen Mittel im Haushalt 2023 auf 5,5 Prozent des BIP und im Jahr 2024 auf sechs Prozent ansteigen. Außerdem wurde vereinbart, das Gesetz über das öffentliche Auftragswesen zu ändern, um die Mittelvergabe für den Unterhalt von Schulen zu erleichtern. So sollen öffentliche Mittel zukünftig schneller bereitgestellt werden können.

Schließlich verfügte die Regierung, den Preis von 170 Medikamenten für vorerst 6 Monate um 30 Prozent zu senken. Die Forderung nach einer Senkung der Preise einer Reihe wichtiger Arzneimittel bleibt eines der umstrittensten Themen: es bestehen wirtschaftliche Interessen an der Einfuhr von teuren Arzneimitteln, die in Panama bis zu 300 Prozent mehr kosten als anderswo.

Als Folge der erzielten Vereinbarungen endeten die Proteste schließlich im August. Noch im Oktober soll jedoch eine zweite Phase des Runden Tisches beginnen, in der strukturelle gesellschaftliche Probleme sowie offene Punkte besprochen werden sollen.

Die Protestwelle zeugt von der Zermürbung und Erschöpfung einer Bevölkerung, die es leid ist, ein unwürdiges Leben zu führen, in dem sich der Reichtum in den Händen einiger weniger konzentriert. Entsprechend sieht sie keine andere Möglichkeit mehr, als auf die Straße zu gehen. Für die öffentliche Verwaltung bietet sich nun eine gute Möglichkeit, das Vertrauen zwischen den Bürger*innen und der Exekutive wieder zu festigen und nach mittel- und langfristigen Lösungen zu suchen, um die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern. In den Worten des SUNTRACS-Anführers Saúl Méndez (LN 415) heißt das, dass „die Regierung nicht weiter nur für die Reichen in diesem Land regieren kann”.

Bis zu den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Jahr 2024 bleibt noch Zeit, den sozialpolitischen Kurs zu korrigieren und Vertrauen und Entwicklung zu erreichen. Dabei müssen die in Vereinbarungen gegossenen Forderungen der Protestierenden berücksichtigt werden: Die jüngste Protestwelle hat unter Beweis gestellt, dass das pro Kopf drittreichste Land Lateinamerikas ein aktiver und sprudelnder Nährboden für Mobilisierungen ist, der jederzeit wieder explodieren kann.

DER KAMPF UM EIN LEBEN IN WÜRDE

Foto: Karen Toro für laperiodica.net

Der nationale Streik, zu dem verschiedene soziale Organisationen für den 13. Juni 2022 aufriefen, kam nicht ohne vorherige Ansage. Der ecuadorianische Präsident Guillermo Lasso, von der Mitte-rechts Partei CREO und seit etwas über einem Jahr im Amt, nutzte die Corona-Krise für die Durchsetzung neoliberaler Sparmaßnahmen. Damit baut Lasso auf der Politik seines Vorgängers Lenín Moreno auf, unter dessen Präsidentschaft es im Oktober 2019 zu den bis dato größten Protesten in den letzten zehn Jahren kam. Vergangenen Oktober ließ der Präsident den Preis für Diesel per Dekret auf 1,90 US-Dollar pro Gallone (entspricht 3,785 Liter) einfrieren – was einer Preissteigerung um 45 Prozent im Vergleich zum Vorjahr entsprach. Seit Juni 2021 versuchte die CONAIE (Konföderation der indigenen Nationalitäten Ecuadors) mehrmals, mit dem Präsidenten in Dialog zu treten, ein letztes Treffen beider Parteien fand im November 2021 statt. Konkrete Lösungen ergaben sich aus diesen Treffen allerdings nicht. Gemeinsam mit mehreren indigenen Verbänden des Landes, Gewerkschaften, Studierenden und weiteren sozialen Organisationen verkündete die CONAIE am 13. Juni in einer Pressemitteilung: „Die aktuellen Bedingungen sind unerträglich. Wir fordern mehr Arbeitsplätze sowie angemessene Einkommen in dem ‚Land der Möglichkeiten‘, das Präsident Lasso uns versprochen hat und in dem nur drei von zehn Ecuadorianerinnen eine Arbeitsstelle haben.“

Die zehn Forderungen der CONAIE, die im Vorfeld der Proteste veröffentlicht wurden und bereits Teil der bisherigen Dialogversuche mit der Regierung waren, sind eine Antwort auf die wachsende soziale Ungleichheit im Land. Nach Zahlen des nationalen Institutes für Statistik und Bevölkerungszählung (INEC) aus dem Jahr 2021 leben 32,2 Prozent der ecuadorianischen Bevölkerung in Armut. 14,7 Prozent davon sogar in extremer Armut, was bedeutet, dass die Betroffenen mit durchschnittlich 1,60 USD am Tag überleben müssen.

Perspektivwechsel „Soziale Ungleichheit ist gewaltsamer als jeder Protest“ (Foto: Karen Toro für laperiodica.net)

Gefordert werden die Senkung und das anschließende Einfrieren der Treibstoffpreise sowie faire Preise für landwirtschaftliche Produkte, um die Existenzgrundlage der Produzentinnen zu gewährleisten. Ebenso die Einführung von Kontrollinstrumenten, die der Spekulation mit Grundnahrungsmitteln Einhalt gebieten. Weiter ein verbesserter Schutz der Ökosysteme, ein Moratorium für die Ausweitung von Bergbau und Erdölförderung sowie Entschädigungen für deren soziale und ökologische Auswirkungen. Außerdem fordert das Bündnis mehr Geld für den Bildungs- und Gesundheitssektor.

Indira Vargas ist Mitglied der Basisorganisation Pakkiru und moderiert ihre eigene Radiosendung beim Sender Voz de la CONFENIAE, einem Programm des Dachverbandes indigener Organisationen im Amazonasgebiet Ecuador. Die 31-Jährige gehört der Nationalität der Kichwa an und kommt aus der Provinz Pastaza. Zur wirtschaftlichen Situation des Landes sagt Indira gegenüber LN, dass die Preise für Grundnahrungsmittel – wie Speiseöl – überdurchschnittlich stark gestiegen sind, was beispielsweise die Betreiberinnen kleiner gastronomischer Betriebe besonders hart trifft. Gleichzeitig würden sich Unternehmen, die industriell hergestellte Produkte vertreiben, durch die Preisspekulation selbst bereichern. Menschen mit niedrigerem Einkommen aber können sich diese Produkte nicht mehr leisten. Deswegen sei es so wichtig, Kontrollinstrumente zu entwickeln, die dieser Spekulation Einhalt gebieten. Die Bevölkerung aus dem Amazonasgebiet hat sich den Protesten angeschlossen, weil sie von den Folgen der extraktivistischen Agenda der aktuellen Regierung besonders stark betroffen sind.

Überraschende Einigung

Der Streik am 13. Juni begann friedlich, im ganzen Land gab es Proteste, in einigen Provinzen kam es zu Straßensperrungen durch die Demonstrantinnen. Die nicht ganz so friedliche Reaktion der Regierung ließ nicht lange auf sich warten. Bereits am ersten Tag der Mobilisierungen verkündete Lasso über seinen Twitteraccount, die ecuadorianische Bevölkerung könne es nicht zulassen, dass politische Gruppen mit dem Ziel, die Republik zu destabilisieren, das Land lahmlegen würden – nachdem sich die Lage nach der langen Zeit der Pandemie gerade erst normalisiert hätte. Darauf folgte ein weiterer Versuch der Regierung, die Protestbewegung zu delegitimieren und zu kriminalisieren. Am 14. Juni, gegen ein Uhr morgens, wurde Leonidas Iza, Präsident der CONAIE und zentrale Führungspersönlichkeit während der Proteste, von Elitegruppen der Polizei festgenommen. Vorgeworfen wurde ihm die Störung der öffentlichen Ordnung sowie Rebellion. Die CONAIE rief ihre Anhänger daraufhin dazu auf, ihre Maßnahmen zu radikalisieren, um sich für die Freiheit von Leonidas Iza und einen Kampf in Würde einzusetzen. Nach 24 Stunden wurde Iza wieder freigelassen, der Prozess gegen ihn ist jedoch lediglich vertagt.

Eine weitere Maßnahme, die nicht nur die Demonstrierenden, sondern auch viele Künstlerinnen und Intellektuelle des Landes gegen die Regierung aufbrachte, war die Besetzung des Casa de la Cultura in Quito durch die Nationalpolizei am achten Tag der Proteste. Von dort aus sollte „die öffentliche Sicherheit und Ordnung angesichts der Bedrohung durch gesellschaftliche Gruppen, die Gewalt gegen Bürger sowie öffentliches und privates Eigentum als Form des Protests einsetzen, gewährleistet werden“. Das Museum und Kulturzentrum wurde bereits bei den Protesten 2019 als Versammlungszentrum genutzt. Es dient traditionell auch als Unterkunft und Schutzzone für die Familien der Protestierenden, von denen viele von weit her mit ihren Kindern in die Hauptstadt reisen, um die Proteste zu unterstützen. Der Vorsitzende des Casa de la Cultura, Fernando Cerón bezeichnete die Besetzung als diktatorische Handlung.

Auf die anhaltende Kriminalisierung der Protestierenden seitens der Regierung, reagierten Frauen aus der indigenen Bevölkerung, verschiedene feministische Kollektive und LGBTIQ-Personen mit einer großen Demonstration in Quito am 25. Juni. Indira Vargas sagt über die Rolle der Frauen während der Streiks: „Die Frauen haben eine sehr wichtige und zentrale Aufgabe während dieser Proteste eingenommen. Wenn die Einheit und Solidarität aller gebraucht wurde, waren die Frauen da, in der ersten Reihe, auch wenn es um die Gesundheit und Versorgung der Menschen ging.“

Doch trotz der vielen friedlichen Proteste überschattete, wie schon in den Jahren zuvor, die ausufernde Gewalt alles andere. Die Organisation Allianz für Menschenrechte Ecuador zählte am 14. Tag des Streiks 73 Menschenrechtsverletzungen, 5 Todesopfer, 200 Verletzte und 145 Festnahmen. Die Einigung kam dann in einem Moment, in dem viele schon nicht mehr daran glaubten.

An dem Dialog, der am 27. Juni zwischen Vertreterinnen verschiedener indigener Organisationen sowie Repräsentanten der Regierung aufgenommen wurde, nahm Guillermo Lasso selbst nicht teil. Nur einen Tag später kündigte er die Gespräche einseitig auf: „Wir werden nicht an einen gemeinsamen Tisch mit Leonidas Iza zurückkehren, der nur seine eigenen politischen Interessen vertritt und nicht die seiner Basis“, sagte der Präsident im Rahmen einer Pressekonferenz. Er offenbarte damit erneut seine Ignoranz und Unkenntnis gegenüber der Organisationsstruktur der indigenen Bevölkerung. Ramira Álvila, ehemaliger Richter des ecuadorianischen Verfassungsgerichts, sagte zu der Reaktion des Präsidenten: „Eine indigene Führungspersönlichkeit zu ignorieren, bedeutet ihre kollektive Organisationsstruktur zu ignorieren, und damit begeht der Präsident einen gravierenden Fehler.“

Überwältigende Solidarität gegen Polizeigewalt

Wenige Stunden zuvor war bei Straßenschlachten zwischen Demonstrierenden und Sicherheitskräften in der Provinz Sucumbíos ein Soldat ums Leben gekommen. Auch das galt der Regierung als Anlass, die Verhandlungen einseitig aufzukündigen. Von den fünf Todesopfern, welche die Proteste zu diesem Zeitpunkt bereits unter den Demonstrierenden gefordert hatten, war dabei keine Rede. Für Entsetzen sorgte der Fall von Byron Holger Guatatuca, der ums Leben kam, als er während Auseinandersetzungen in der Stadt Puyo von einer aus unmittelbarer Nähe gegen ihn abgefeuerten Tränengasgranate am Kopf getroffen wurde.

Indira Vargas, die mit etwa 700 Delegierten aus ihrer Provinz nach Quito gereist war, berichtet neben der Polizeigewalt auch von der überwältigenden Solidarität vieler Stadtbewohnerinnen gegenüber der indigenen Bevölkerung. „Die Menschen haben Wasser gespendet, Brot, Kleidung und Decken, um das kalte Klima erträglich zu machen. Während der gesamten Reise, bis wir die Hauptstadt erreichten, haben wir sehr viel Solidarität erfahren. Die Leute haben geweint, sie haben uns mit offenen Armen empfangen.“

Die Regierung, wenn auch wieder nicht in direkter Vertretung durch ihren Präsidenten, nahm die Verhandlungen mit der CONAIE unter Vermittlung der Bischofskonferenz wieder auf. Einen Tag später wurde die Einigung zwischen den beiden Parteien und die damit verbundene Beendigung der Proteste bekannt gegeben. Die Regierung versprach eine sofortige Senkung der Treibstoffpreise um 15 US-Cent, eine Senkung der Lebensmittelpreise sowie die Einführung von Kontrollen, um Spekulation zu verhindern. Das Dekret 151 zum Bergbausektor soll reformiert werden und der Bergbau in geschützten und archäologischen Gebieten sowie in Wasserschutzgebieten untersagt. Außerdem muss das Recht der freien, vorherigen Konsultation der indigenen Bevölkerung gewährleistet werden. Das Dekret 95, welches die Verdopplung der Öl-Produktion in indigenen Territorien vorsah, wird zurückgenommen. Darüber hinaus einigten sich die Parteien darauf, die übrigen Vereinbarungen innerhalb der nächsten 90 Tage im Rahmen eines weiteren Dialoges zu evaluieren.

Die indigene Bevölkerung Ecuadors, unterstützt von Gewerkschaften, Studierenden und weiteren sozialen Bewegungen, hat erneut gezeigt, dass sie eine Politik, von der nur die oberen Schichten des Landes profitieren, nicht akzeptiert und sich von Spaltungsversuchen sowie der Gewalt des Staatsapparates nicht einschüchtern lässt. Ihr Kampf geht weiter – für eine Politik, die dem Konzept des plurinationalen Staates, wie er in der ecuadorianischen Verfassung festgeschrieben ist, angemessen ist.

DEM NEOKOLONIALISMUS DEN KAMPF ANSAGEN

Treffsicher? Protestaktion gegen den G7-Gipfel 2022 in Elmau (Foto: Sofía Quesada)

Unter antikapitalistischen, antikolonialen und Klimagerechtigkeitsgruppen sorgen hochkarätige Treffen wie der jüngste G7-Gipfel in Elmau immer für Aufruhr, sind sie doch meist Ausdruck offensichtlicher Heuchelei. Denn G7, der informelle Zusammenschluss der sieben bei der Gründung 1975 bedeutendsten westlichen Industriestaaten, ist eine Inszenierung, bei der es kaum um kritische Themen geht. Stattdessen dient das Treffen dazu, die Schere zwischen Globalem Süden und Norden zu erhalten oder sogar zu vergrößern.

Es ist daher nicht verwunderlich, dass mit den Vorbereitungen für G7 in Elmau auch Mobilisierungen für Gegenproteste einsetzten. Zusammen mit linken Gruppen aus Deutschland protestierten dann lateinamerikanische und afrikanische Aktivist*innen aus Gruppen wie der Karawane für das Leben, Debt for Climate, Fridays for Future oder der Riseup-Bewegung in der Umgebung des Gipfels. Das Bündnis „Stop G7 Elmau“ hatte damit auch jenen eine Stimme verschafft, die sonst selten diese Möglichkeit bekommen. „Ich bin den Neokolonialismus der G7 über unsere Leute satt. Wir wollen Gerechtigkeit für unsere Menschen, wir wollen, dass sie für den Kolonialismus des europäischen Kontinents über unsere Länder Verantwortung übernehmen”, sagte etwa die namibische Aktivistin Ina Maria Shikongo in München. Und man muss sich nur die verheerenden Auswirkungen der geplanten Ölbohrungen im Okavango-Delta in Namibia ansehen, um zu verstehen, wie teuer der Ölkolonialismus Länder und Gemeinden im globalen Süden zu stehen kommt. Die Geschichte erzählt es uns, denn es ist nichts Neues: In Afrika werden die natürlichen Ressourcen ausgebeutet, die Gemeinschaften leben in Armut und in ständigem Überlebensmodus.

Eng verbunden mit wirtschaftlichen Fragen zeigt sich auch der Kampf gegen die Klimakrise und für Klimagerechtigkeit. Es ist offensichtlich, dass die Klimakrise Folge jahrhundertelanger Ausbeutung ist, die nicht aufzuhören scheint. So erzählt Esteban Servat, Debt for Climate-Aktivist aus Argentinien: „Es geht nicht nur um Emissionen oder eine 1,5-Grad-Politik. Wir müssen zusammen gegen die Ausbeutung und den Kolonialismus des Globalen Nordens kämpfen.“ Wann wird der Globale Süden erfolgreich unabhängig? Zur wirtschaftlichen Ausbeutung gehören auch die hohen Schulden beim Internationalen Währungsfonds, von denen viele lateinamerikanische Länder derzeit betroffen sind. So entscheiden die G7 über die Schulden der Länder des Globalen Südens, während sie selbst Klimaschulden aufhäufen. Was wiegt da schwerer? So oder so bleibt es der Globale Süden, der am Ende den Schaden davonträgt. Sei es durch unüberwindbare Schuldenberge oder dadurch, dass Lebensräume indigener Gemeinschaften dem Erdboden gleichgemacht und ihre kulturellen Identitäten zerstört werden. Auch wenn Länder des Globalen Nordens behaupten, im Globalen Süden fehle es an Infrastruktur, geschieht das meist nicht, um die Lebensbedingungen der Menschen vor Ort zu verbessern. Stattdessen dient dieser paternalistische Vorschub als Hauptbegründung für die Durchführung von Infrastrukturprojekten, die die Gemeinschaften am Ende wieder ausbeuten. Zwei der zahllosen Beispiele hierfür sind der Interozeanische Korridor im mexikanischen Isthmus von Tehuantepec oder der Tren Maya (siehe LN 567), an dem auch die Deutsche Bahn AG als sogenannter Schattenbetreiber (Shadow Operator) lukrativ beteiligt ist. Angesichts der Schulden und Verzweiflung vieler Staaten des Globalen Südens werden die natürlichen Ressourcen dieser Länder zu Zahlungsmitteln. So bot der argentinische Präsident Alberto Fernández, der als Gast aus Lateinamerika zum G7-Gipfel eingeladen war, die Vaca Muerta, eine der größten Ölschiefer-Lagerstätten weltweit, als Alternative zum russischen Gas in der aktuellen Energiekrise an.

Und so bleibt die große Frage immer dieselbe: Wann wird der Globale Norden aufhören, die Länder des Globalen Südens zu beherrschen, zu verfolgen und zu verwüsten? Wird der Tag kommen, an dem diese Länder erfolgreich unabhängig sind? Irgendwann sicher, wenn der Aufstand gegen die Ungerechtigkeit weiter geht. So denken die Aktivist*innen, die gegen G7 protestieren ebenso wie die Autorin dieses Textes. Solange der gesellschaftliche Kampf sichtbar ist, solange die Solidarität keine Grenzen kennt, geht die Hoffnung nicht verloren. Doch im schlimmsten Fall ist es zu spät. Die Natur lässt uns keinen Aufschub mehr und die Folgen der Klimakrise werden irreparabel.

Doch vielleicht gibt es einen Faktor, der den Unterschied ausmachen kann: Die mutigen Menschen aus dem Globalen Norden, die sich ihrer Privilegien bewusst sind. Sie haben sich unermüdlich dem Kampf für Gleichberechtigung und dem Erhalt der Natur verschrieben. Sie wissen, dass ihre Stimmen ein anderes Gewicht haben und dass sie weiter gehen können, ohne größte Risiken einzugehen. Sie wissen, dass die Bewegungen im Globalen Süden sie brauchen, um mehr Reichweite zu bekommen. Sie wissen, dass ihr Status für den Wandel von Bedeutung ist.

Der Kolonialismus, über den wir in der Schule lernen und der uns an die alten Bücher erinnert, in denen Männer auf Schiffen reisen, scheint uns so weit weg. Doch er ist heute so präsent wie nie. Tag für Tag nimmt er neue und abartigere Ausdrucksformen an – manche sind offensichtlich, manche eher subtil. Wer das versteht, weiß, dass der intersektionale Kampf die einzige Lösung ist, um uns zu retten – uns alle. Denn wer weiterhin nur auf sein eigenes Portemonnaie achtet und sich im Vorteil des Glücks der Geburt im Globalen Norden wiegt; wer nicht versteht, dass dieser Kampf intersektional sein muss, der kann sich auch nicht selbst retten.

WACH UND VOLLER HOFFNUNG

Evadir, no pagar, otra forma de luchar („Bahnfahren ohne zu zahlen, eine andere Art zu kämpfen!“), schallte es Anfang Oktober 2019 durch die Metrostationen von Santiago de Chile. Mutige Schüler*innen hatten damit gegen steigende Kosten für Bus und Bahn protestiert und eine Revolte ausgelöst, die ihre Spuren bis heute zieht: Im September stimmen die Chilen*innen über eine neue Verfassung ab (siehe Artikel auf S. 38). Die in Hamburg lebende chilenische Illustratorin Su Rivas hat diese historischen zweieinhalb Jahre in einem farbenfrohen Comic nachgezeichnet, das nun auf Deutsch im Unrast Verlag erschienen ist: Chile ist aufgewacht! Das Ende einer neoliberalen Ära.

Zwei neugierige Protagonist*innen begleiten durch die drei Kapitel des Comics, das zunächst die verschiedenen Bewegungen und Themen der von den Schüler*innen entfachten Revolte vorstellt. Da sind zum Beispiel die feministischen Bewegungen, die spätestens seit dem feministischen Frühling im Jahr 2018 aus der chilenischen Politik nicht mehr wegzudenken sind. Und auch überall im Comic ist ihr Erkennungszeichen, das grüne Tuch der Verfechter*innen eines Rechts auf legale Schwangerschaftsabbrüche, zu entdecken. Doch die Themen der feministischen Bewegungen sind vielseitig: Es geht ihnen auch um das Ende sexualisierter Gewalt und patriarchaler Machtstrukturen, die Anerkennung von Sorgearbeit und mehr politische Mitbestimmung (siehe Bild unten).

Die Themen sind vielseitig Eine Seite zu den feministischen Bewegungen und ihren Forderungen

Schnell wird klar, was die Protestierenden unterschiedlicher Bewegungen vereint: der Wunsch nach einem Ende des Neoliberalismus. Und der ist in Chile in der Verfassung von 1980, die mitten in der Diktatur unter Augusto Pinochet entstand, festgeschrieben. Gut verständlich erklärt das Comic die Kritik an der Verfassung und warum bisherige Versuche sie zu ändern oder grundlegend zu reformieren, scheiterten.

Besonders gut erklärt Rivas wichtige Begriffe und Symbole der Revolte und ordnet sie für ein deutschsprachiges Publikum historisch ein. So entsteht eindrucksvoll das Bild der Revolte, die häufig als „gesellschaftlicher Knall“ bezeichnet wird, als Wendepunkt in der chilenischen Geschichte.

Dass das folgende zweite Kapitel sehr ausführlich zeigt, wie die rechtskonservative Regierung unter Präsident Sebastián Piñera mit der Coronapandemie umging, mag zunächst verwundern. Doch schließlich ist der weitere Verlauf der Revolte eng mit der Pandemie verwoben, legte letztere doch die großen Mobilisierungen lahm und zwang die Protestierenden, ihre Stimmen auf andere Weise zu erheben. Gleichzeitig zeigt das Pandemiemanagement der Regierung auf, wie tief neoliberale Grundsätze in der Politik verankert sind und jegliche Bereiche des Lebens durchdringen. So wurden als Reaktion auf den in der Pandemie verbreiteten Hunger in ärmeren Bevölkerungsteilen Lebensmittelpakete verteilt – rein zufällig mit Produkten von Unternehmen, mit denen Regierungspolitiker*innen in Verbindung standen. Und falls die nicht reichten, sollten die Chilen*innen doch einfach 3 Liter Wasser am Tag trinken – das stille das Hungergefühl, so die Fernsehköchin Paula Arenas. Eine hämische Bemerkung, wo doch das Wasser in Chile privatisiert ist und viele Familien wöchentlich nicht genug Trink- und Nutzwasser zur Verfügung haben.

Besonders gut erklärt Rivas wichtige Begriffe und Symbole der Revolte“

So bleiben im Comic auch kleine Aussagen und Ereignisse, die sonst vielleicht nicht jede*m in Erinnerung geblieben wären, für die Zukunft anschaulich festgehalten. Die beiden Protagonist*innen stellen dabei stets die richtigen Fragen und decken die rhetorischen Schachzüge und Strategien rechter Politiker*innen schamlos und unterhaltsam auf. Dabei trifft Rivas mit ihren detailgetreuen Porträts einzelner Personen zweifellos einen Nerv: Vertreter*innen der neoliberalen Politik werden als düster, mies gelaunt und böse stilisiert, wohingegen die Protestierenden mit all ihren Transparenten, Parolen und Symbolen bunt aufleuchten.

Ebenso vielseitig werden im dritten Kapitel die Menschen vorgestellt, die die Chilen*innen im Mai 2021 gewählt haben, um eine neue Verfassung für das Land auszuarbeiten. Zahlreiche Vertreter*innen im Verfassungskonvent, viele davon Aktivist*innen aus sozialen Bewegungen, kommen auf den letzten Seiten des Comics zu Wort und erklären, welche Themen ihnen in der neuen Verfassung wichtig sind.

Mit Chile ist aufgewacht! ist eine anschauliche Chronik der Revolte und ihrer Folgen in einem besonderen Format gelungen. Auch wenn die Übersetzung an kleinen Stellen ruckelt, liest sich das Comic wie im Fluge. Während der Lektüre wird glasklar, warum eine neue Verfassung für Chile so wichtig wäre und warum so viele trotz großer Hürden ihre Hoffnungen in das aktuelle Verfassungsprojekt setzen. Auf die Frage nach den Chancen im Plebiszit antwortet eine der Protagonist*innen: „Darauf setze ich meine ganze Hoffnung.“

„WENN WIR NICHT AUFSCHREIEN, WIRD ES GENAUSO ABLAUFEN WIE GEPLANT“

Zu Wasser und zu Land Aktivist*innen wollen den Bau der industriellen Wasserstraße verhindern (Foto: Claudia Horn)

Um fünf Uhr im Morgengrauen legt das Boot von der Flussgemeinde Igarapé-Miri im brasilianischen Amazonasgebiet ab. Die Passagiere haben im Boot oder in der Gemeinde in Hängematten geschlafen. Nun treiben wir an den Anlegestellen der Häuser auf Stelzen und den Fischerbooten aus Holz vorbei, bis sich der Fluss verbreitert und die Sonne aufgeht. Im Boot riecht es nach Kaffee und Butter. Die Mitglieder der Karawane begrüßen und umarmen sich und warten auf die Morgenrunde, bei der die Tagesroute, Agenda und Aufgaben angekündigt, neue Mitglieder begrüßt und Lieder gesungen werden. Es ist Tag zwei der sechstägigen Karawane. Auf dem Tagesprogramm steht heute der Besuch von zwei weiteren Fischergemeinden entlang des Flusses Tocantins. Zusammen mit einem Videoteam teilen die etwa dreißig Aktivist*innen während der sechs Tage nicht nur den engen Raum auf dem Boot, sondern auch Erfahrungen und alltägliche Aufgaben wie Putzen, Kochen und die Vorbereitung der Versammlungen in den Gemeinden.

In jeder Gemeinde stellen sich die Aktivist*innen vor, berichten von dem Bauprojekt und hören die Gemeindemitglieder an. Beim ersten Halt im Dorf Itupanema versammeln sich nur wenige Anwohner*innen. Am Rande der Versammlung, vor dem Hintergrund des massiven Industriehafens Porto de Vila do Conde, erzählt einer der Koordinatoren der Karawane, Iury Paulino, von der Bewegung der von Staudämmen Betroffenen (MAB). „Die Karawane soll nicht nur die Situation anprangern, sondern auch die Betroffenen zusammenführen und ihnen eine reale Vorstellung von den Problemen vermitteln, welche die Wasserstraße mit sich bringen kann. Es geht um die Bildung einer Organisation, die den kollektiven Widerstand ermöglicht.“

Mit einer Länge von mehr als 2.000 Kilometern ist der Tocantins der zweitgrößte Fluss Brasiliens. Er beginnt im Bundestaat Goiás und durchquert die Amazonas-Bundesstaaten Tocantins und Maranhão, bis er bei Belém im Bundesstaat Pará ins Meer mündet. Das Tocantins-Araguaia-Becken, das zwischen dem Norden und dem Landeszentrum liegt und insgesamt 409 Gemeinden umfasst, ist das größte vollständig auf brasilianischem Gebiet liegende Flussbecken. Entlang des Flusses leben indigene und traditionelle Gemeinden sowie Quilombola-Gemeinden, die von entflohenen Sklaven gegründet wurden, dazu kommen Fischer*innen und Bauernfamilien. Zusammen bilden sie die lokale Wirtschaft. Ihr Lebensunterhalt hängt vom Fluss ab.

Von Barcarena bis Itupiranga Die Route der Karawane auf dem Fluss Tocantins in Pará (Grafik: Martin Schäfer)

Die geplante Wasserstraße ist Teil des so genannten Nordbogen-Korridors, der Eisenbahnstrecken, Autobahnen und Wasserwege in Brasiliens zentraler Sojaproduktionsregion miteinander verbindet. Vom Hafen Vila de Conde in Barcarena aus erreichen die Güter den Ozean und globale Märkte. Nach Angaben der Nationalen Agentur für Wassertransport werden hauptsächlich Kraftstoffe und Minerale, Sojabohnen und Mais befördert. Die geplanten Bauarbeiten am Tocantins zielen darauf ab, die Wasserstraße ganzjährig schiffbar zu machen. Dazu sollen die Flussabschnitte auf beiden Seiten des Stausees am Wasserkraftwerk Tucuruí im Bundestaat Pará auf einer Länge von insgesamt 212 Kilometern ausgebaggert werden, um Bodenmaterial, natürliche Sedimente und Felsen vom Grund des Gewässers zu entfernen, einschließlich der Sprengung von 35 Kilometern der Felsenformation Pedral do Lourenção.

Die Diskussionen über die Wasserstraße begannen bereits in den 1960er Jahren und wurden in den 1980er Jahren wieder aufgenommen. Das laufende Genehmigungsverfahren durch die brasilianische Umweltbehörde IBAMA verletzt die internationalen und nationalen Konventionen, die eine Beratung mit den betroffenen traditionellen Gemeinschaften genauso vorsehen, wie deren vorherige und informierte Zustimmung. Obwohl die Gemeinschaften nicht über ihre Rechte informiert wurden, ist eine Genehmigung der industriellen Wasserstraße in den nächsten Wochen zu erwarten. Dass es jetzt so schnell geht, liegt vor allem daran, dass die Bolsonaro-Regierung die Umweltregulierung in den letzten vier Jahren stark geschwächt hat.

Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung werden ignoriert

Carmen Foro, Leiterin der Karawane und Generalsekretärin der brasilianischen Gewerkschaftszentrale (CUT) ist selbst am Tocantins aufgewachsen. In der Flussgemeinde Paquetá erklärt sie einem großen Publikum aus Kindern und Erwachsenen, dass die Karawane die sozial-ökologischen Schäden der Wasserstraße aufzeigen soll. „Multinationalen Unternehmen verursachen große Schäden, aber machen sehr wenig für das lokale Leben. Sie versprechen Arbeitsplätze, Investitionen in Struktur und Bildung, ohne sie später einzulösen.“ Auf der Rückfahrt im Bus erinnert sich Carmen, dass bereits beim Bau des Tucuruí-Staudamms in den späten 1970er Jahren die Bedürfnisse von Fischer*innen, Bauernfamilien und Flussbewohner*innen ignoriert wurden. „Jahrelange Mobilisierung war notwendig, um Strom für die Gemeinden zu erreichen, während deren Fischereierträge bereits zurückgingen.“

Studien der Universität von Pará zeigen, dass die Wasserstraße zu einem noch größeren Verlust von Fischarten führen wird und auch Fischer*innen selbst sagen, dass der Bau den Fluss tötet, weil er zum Verlust der Wasserqualität, der biologischen Vielfalt, der Bodenfruchtbarkeit, der Fischereimöglichkeiten und damit der Lebensgrundlage der Gemeinden führt. Die industrielle Nutzung bringt außerdem Verschmutzung durch Pestizide und Industrieabfälle und droht Wälder und Kleinbäuerinnen und -bauern durch Monokulturen zu ersetzen.

In einer der Gemeinden am Rande des Tocantins spreche ich während des gemeinsamen Mittagessens mit Antonio Dias, Mitglied der Karawane von MAB und Direktor der Vereinigung der Flussanwohner*innen von Cametá. Antonio berichtet, dass die Bewohner*innen bereits seit 38 Jahren mit den negativen Auswirkungen des Tucuruí-Staudamms leben. „Wir haben allein über 40 Fischarten verloren.” Die Fischer*innen wissen um das Ausmaß dieser Einflüsse und trotzdem, so Dias, „ist die Wasserstraße für uns immer noch eine unbekannte Sache, ein Phantom.”

Schon bei unserem Gespräch in Barcarena machte Iury Paulinho vom MAB auf ein weiteres Problem des Staudamms aufmerksam. Die katastrophalen Dammbrüche von Brumadinho und Mariana haben gezeigt, dass es in Brasilien keine Sicherheitspolitik für die Strukturen dieser Staudämme und für die betroffenen Menschen gibt. Tausende von Menschen leben in gefährdeten Gebieten und es gibt keine Strategie, sie umzusiedeln oder zu retten. Ein Beispiel ist eine 300 Familien große Gemeinde in Marabá, die unterhalb des Rückhaltebeckens lebt. Im Falle eines Dammbruchs würden ihre Häuser innerhalb von drei Minuten überflutet. Paulinho erklärt: „Dort hörst du Berichte von Menschen, die gesehen haben, was in Mariana passiert ist und die nicht mehr schlafen können, sogar die Kinder.”

Das Projekt der Wasserstraße wird kaum in der Öffentlichkeit diskutiert, als hätte es geringe Auswirkungen auf die Gesellschaft. Am Rande einer Veranstaltung, auf dem Gras sitzend, berichtet Marcia De São de Martins von der Quilombola-Gemeinde Igarapé Preto in Baião, dass sich der Bau auch auf die Städte auswirke. „Wenn Landwirt*innen und Landarbeiter*innen nicht produzieren und essen können, ziehen sie in der Regel an den Stadtrand, wo prekäre Bedingungen und soziale Probleme, insbesondere für Frauen, vorherrschend sind.“

Die Karawane hat einen tiefen gesellschaftlichen Konflikt aufgezeigt, denn vorher wusste niemand, was die lokale Bevölkerung dachte. „Nun haben sich drei Interessengruppen gebildet”, erzählt Carmen Foro. Wochen nach der Karawane sitzen wir in ihrem Büro in Belém. „Die Karawane und deren Verbündete sind die, die das Projekt in Frage stellen, die Wasserstraße nicht wollen und über Alternativen nachdenken, um den Fluss nicht zu zerstören. Es gibt eine andere Gruppe, vor allem große Landwirte, die finanzielle Entschädigungen will und versucht, die traditionellen Gemeinden für sich zu gewinnen. Und die Gruppe der Bürgermeister*innen will Arbeitsplätze in den Städten schaffen und ihre Wiederwahl garantieren.“

Für Iury Paulinho sind die Entschädigungsversprechen eine Falle. „Ich sage immer, zeig’ mir einen Fall, wo sich die Bedingungen der Gemeinschaft erfüllt haben. Wenn es einen solchen Fall gibt, bin ich offen dafür, einen Vorschlag dieser Art zu diskutieren und zu akzeptieren.” Tatsächlich gibt es keine nationale Politik, die die Rechte der Betroffenen definiert. Die MAB definiert „betroffen” als finanzielle, kulturelle und soziale Frage. „Umsiedlung und Wiedergutmachung sind unterschiedliche Dinge. Eine Lehrerin, die in einer Gemeinde unterrichtet und aufgrund des Baus ihre Stelle verliert, wird nicht umgesiedelt, doch sie sollte entschädigt werden,” so Paulinho. Formal gelten in Pará nur indigene Völker als traditionelle Bevölkerung, das schließt die traditionellen Quilombola-Gemeinschaften und andere Flussbewohner*innen aus.

Die industrielle Wasserstraße tötet den Fluss

„Der Amazonas wurde und wird weiterhin ausgebeutet, genau wie im 14. Jahrhundert“, erklärt Carmen Foro, zurück in Belém. Die Protestbewegung richtet sich nicht gegen Entwicklung, sondern gegen die Ausbeutung der Region. Die CUT hat daher auch grundlegende Forderungen für Alternativen. Alle Gemeinden bis nach Barcarena sollen als Betroffene anerkannt werden. Außerdem fordert die CUT ein Programm, um die Auswirkungen von Infrastrukturprojekten zu verringern. Dieses sieht fünf Maßnahmen vor: Erstens die Regulierung der Landtitel der Quilombolas und der indigenen Bevölkerung am Flussufer. Zweitens die Verbesserung der lokalen Infrastruktur, der Straßen und Häfen. Drittens die Förderung der landwirtschaftlichen Produktion der traditionellen Gemeinden. Viertens ein Programm zur Wiederherstellung der Umwelt, des Flusses und der Auenwälder. Der fünfte Punkt betrifft die öffentlichen Dienstleistungen wie Gesundheit, Bildung, berufliche Qualifikation und Forschung. Kurzum, ein Programm für nachhaltige Entwicklung zum Wohle der lokalen Bevölkerung.

Die Aktivist*innen wollen eine Audienz beim Gouverneur und eine öffentliche Anhörung im brasilianischen Senat, um den Bau aufzuhalten und die Rechte der Bevölkerung zu verteidigen. Dieses Jahr sind Präsidentschaftswahlen, doch unabhängig von ihrem Ausgang spürt die Amazonasregion jederzeit, dass Großunternehmen das Sagen haben. Bei unserem Treffen in Belém sagt Carmen Foro: „Wenn wir nicht aufschreien, wird es genauso ablaufen wie geplant. Wenn wir aufschreien, ist es möglich, dass der Bau trotzdem stattfindet, aber wir werden versuchen, den Schaden zu begrenzen.” Es gibt bereits Erfolge. Bei der feierlichen Eröffnung der Fangsaison im März sprachen sich Fischer öffentlich gegen die Wasserstraße aus und zeigten das Banner „Nein zur Wasserstraße!” Foro erzählt dies mit Tränen in den Augen.

Die MAB ist sowohl in ländlichen als auch in städtischen Gebieten aktiv, doch erreicht die Bewegung nicht einmal einen von zehn der von Staudämmen betroffenen Menschen in Brasilien. Die Karawane hält Iury Paulinho von grundlegender Bedeutung für die Mobilisierung der Anwohner*innen, weil sie verschiedene Sektoren verbindet: Gewerkschaften, Quilombola-Bewegung und die Kirche. Auch Jandyra, die Menschenrechtsreferentin der CUT meint in ihrer Ansprache vor der Flussgemeinde von Paquetá: „Es ist kein einfacher Kampf, wie alle Kämpfe des brasilianischen Volkes, aber gerade dieser richtet sich gegen mächtige Interessen − die des Großkapitals, des Bergbaus und der Agrarindustrie. Der Aufbau einer wirklichen Einheit zwischen den betroffenen Gemeinden und sozialen Bewegungen ist daher in diesem Kampf grundlegend.”

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