Aktuell | Nummer 586 - April 2023 | Peru

Eine Verfassung für alle Menschen im Land

Interview mit der Aktivistin Lourdes Huanca über die Lage in Peru

Seit der Amtsenthebung des peruanischen Präsidenten Pedro Castillo und der folgenden Regierungsübernahme von Dina Boluarte sind in ganz Peru Proteste ausgebrochen. Die bäuerliche und indigene Bevölkerung, die Castillo hauptsächlich unterstützt, wehrt sich gegen die unrechtmäßige Regierung Boluartes und fordert eine verfassungsgebende Versammlung. Die LN sprachen mit Lourdes Huanca über die Situation und ihre Forderungen.

Interview: Antonella Navarro (Übersetzung: Ulrike Geier)

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Können Sie uns etwas über die Geschichte Ihrer Organisation erzählen und für welche Kämpfe sie einsteht?
Patriarchale Strukturen sind sehr stark in Lateinamerika und wir haben immer dafür gekämpft, das sichtbar zu machen. Deswegen haben wir die Föderation der Landwirtinnen, Handwerkerinnen, indigenen und erwerbstätigen Frauen Perus (Fenmucarinap) vor 17 Jahren gegründet und sind landesweit aktiv. Unsere Arbeit beruht auf zwei Hauptsäulen: einerseits Empowerment von Frauen und andererseits Ernährungssouveränität. Unser Kampf gilt dem Schutz des Wassers, der Erde und unserer Kultur und Weltanschauung. Wir kämpfen kompromisslos für die Verteidigung der Menschenrechte und Vielfalt, setzen uns aber genauso für das Recht auf Abtreibung ein. Unsere Großeltern haben uns gelehrt, das Land zu verteidigen, aber sie haben uns nicht eingeschärft, wie wir uns als Frauen zu verteidigen haben. Wir sind Teil der lateinamerikanischen Koordination bäuerlicher Organisationen (CLOC-Vía Campesina). Dort werden wir darauf vorbereitet, politische Führungsarbeit zu leisten. Als Organisation machen wir politische Öffentlichkeitsarbeit, damit wir z. B. vom Frauen- oder Landwirtschaftsministerium empfangen werden.

Wie kam es zu Ihrer Europareise?
Ana Durán, ehemalige Frauenministerin unter Pedro Castillo, informierte mich über eine Einladung der Europäischen Kommission. Es fiel mir sehr schwer das Land zu verlassen, denn hier wurden meine Brüder getötet. Aber am 10. Januar kam ich in Europa an. Meine Reise verlängerte sich, damit ich vor den Vereinten Nationen in Genf sprechen konnte. In der Zwischenzeit wurde ich unter anderem nach Madrid eingeladen. Nachdem ich dort an einer Kundgebung vor der peruanischen Botschaft teilgenommen hatte, erhob der ehemalige Botschafter Perus in Spanien Vorwürfe gegen mich. Ich beriet mich mit meinen Genossinnen. Sie rieten mir, nicht zurückzukehren, da mir eine Verhaftung drohe – wegen Verleumdung Perus. Aber ich beantrage kein politisches Asyl, denn für mich bedeutet das, dass ein Land dir vorschreiben kann, keine politische Öffentlichkeitsarbeit mehr zu machen. Ich habe aber durchaus vor, weiterhin internationale Organe zu fragen, welche Sanktionen sie vorsehen gegen ein Land, das die Menschenrechte missachtet.

Können Sie die Aspekte struktureller Exklusion der indigenen Bevölkerung Perus beschreiben und wie diese sich heute zeigen?
Die Regierung hat sie schon immer fatal vernachlässigt, nicht nur jetzt unter Boluarte. Auch die vorherigen Regierungen haben sich nie darum gekümmert, der indigenen Bevölkerung ein gutes Leben zu ermöglichen. In den meisten unserer Regionen haben sich Bergbauunternehmen angesiedelt und man sollte meinen: Wenn sie dort Gold abbauen, sollte das Land besser dran sein. Es sollte bessere Schulen, Straßen und Krankenhäuser geben sowie fähige Fachleute. Aber dort, wo sich die Bergbauunternehmen befinden, häuft sich extreme Armut am stärksten.
In Bagua gab es ein Massaker, als Indigene aus der Regenwaldregion sich gegen einen Gesetzesvorschlag auflehnten, der es den großen Unternehmen ermöglichen sollte, sich das Land anzueignen. Die Regierung sieht nur diejenigen als Menschen an, die in den Städten leben, weil sie dort Trinkwasserzugänge und Kanalisationen bauen. In unseren indigenen Dörfern haben wir so etwas nicht. Dort leben wir mit Flüssen, die verschmutzt sind von Bergbau und Erdöl.
Sie wollen uns auch genetisch verändertes Saatgut aufzwingen, was die indigenen Gemeinden töten und uns zu reinen Konsumenten machen würde. Wir ernten, weil wir die einheimischen Saatkörner haben und die Pachamama (Mutter Erde) ist für uns kein Geschäft, sondern unser Leben. Wir sind gezwungen in die Städte zu migrieren, weil die Bergbauunternehmen sich unsere Territorien aneignen. Wir müssen in eine rassistische Kultur migrieren, die schon in der Schule beginnt. Wieso können sie an den Schulen nicht in unseren Sprachen unterrichten? Warum müssen sie unsere Kultur und unsere Sitten so verstümmeln? Das wertet die indigene Bevölkerung ab, und es ist noch schlimmer, wenn Du eine Frau bist. Das ist es, was alles in Peru zerstört hat, diese anerzogene Abwertung.

Glauben Sie, dass dieser strukturelle Rassismus die Präsidentschaft Castillos behindert hat?
Castillo stand für einen wirtschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen Wandel. Das war der indigenen Bevölkerung klar, aber die linken Parteien haben nicht verstanden, dass es den Indigenen und Landwirt*innen eben nicht nur um den Schutz von Pedro Castillo ging. Ihnen ging es darum, eine Regierung zu schützen, die einen Wandel herbeiführen kann. Wir haben damals zuerst für die Kandidatin Verónika Mendoza gestimmt, weil sie die Themen der Frauen, Jugendlichen, indigenen Bevölkerung und der LGBTQIA+-Community aufgegriffen hat – etwas, das in Castillos Wahlprogramm nicht enthalten war. Verónika hat nicht gewonnen, also haben wir uns entscheiden, im zweiten Wahlgang für einen Bruder aus dem bäuerlichen Umfeld zu stimmen. Man kann auch nicht sagen, dass Pedro alles richtig gemacht hätte; bei der Vergabe der Ministerien z. B. gab es Fehlentscheidungen. Psychologisch und verbal wurde ihm schwer zugesetzt. Die Rechte hat es ihm nie verziehen, dass es einen Präsidenten aus der Provinz gab.

Was hat Pedro Castillo besser gemacht als seine Vorgänger*innen?
Er hat uns die Türen zum Regierungspalast geöffnet, uns zugehört und unsere Vorschläge entgegengenommen. Wir wollen, dass diese Regierungsform fortgeführt wird. Alle 74 Gesetzesvorschläge wurden jedoch auf Eis gelegt. Das hat mit der von Fujimori eingeführten Verfassung von 1993 zu tun: Sie gibt der Legislative alle Macht, um Gesetze zugunsten großer Firmen zu erlassen.

Was waren Castillos Vorschläge hinsichtlich der Bergbaukonzessionen und wie entwickelt sich die Situation unter Boluarte?
Castillo sagte, er würde die Bergbaukonzessionen nicht verlängern, wenn sich herausstellen sollte, dass sie die Klauseln der Konzessionsverträge nicht einhalten. Es ging darum, die Bedingungen für Erdölgewinnung und Bergbau zu überprüfen, unsere Reichtümer zurückzuerlangen und zu verteilen. 2023 ist ein entscheidendes Jahr. Denn 2023 werden Bergbaukonzessionen für die nächsten 50 oder 30 Jahre geprüft und erneuert, und Castillo wollte ihnen nicht zustimmen. Das war es, was die großen Erdöl- und Bergbauunternehmen aufgebracht hat und daher kamen auch die Anträge zur Amtsenthebung. Eine weitere Absicht von Präsident Castillo war, die Steuerschuld der großen Unternehmen einzufordern. Jetzt fühlen sich die Besitzer*innen dieser großen Unternehmen sicher – mit der Präsidentin aus dem rechten Lager, die für uns keine rechtmäßige Präsidentin ist. Sie bringen Gesetze auf den Weg, damit sie diese Steuern nicht zahlen müssen.

Wie positionieren Sie sich zu den Korruptionsvorwürfen gegen Castillo? Könnte man sagen, dass man nicht mit Sicherheit wissen kann, wie das Urteil ausfallen wird, solange es in Peru kein unabhängiges Justizsystem gibt?
Man kann die Situation auf diese Weise analysieren, denn im Moment haben wir eine politisierte Justiz. Castillo ist im Gefängnis, aber Keiko ist immer noch frei und hat Millionen für ihre Kampagne erhalten. Als die Justiz Castillo vorwarf korrupt zu sein, kamen immer wieder Zweifel auf. Wir baten Pedro Castillo bei jedem Treffen, ehrlich zu uns zu sein. Er sagte, dass er nicht einen einzigen Sol (Währung Perus) angefasst habe. Sie würden ihn verleumden, weil er bereits die politische Entscheidung getroffen habe, auf unserer Seite zu stehen. Gab es also Zweifel? Ja, aber nicht mehr, nachdem er uns seine Integrität versicherte.

Als Pedro Castillo die Auflösung des Kongresses verkündete, hielt er sich nicht an das verfassungsmäßige Recht. Was dachten Sie in diesem Moment? Erschien Ihnen das legitim?
Ja, wir sahen es als legitim an, weil es die Meinung der Bevölkerung war – auch, wenn wir ihm immer vorgeschlagen hatten, den Kongress auf legalem Wege aufzulösen. Ja, er hat den korrekten Prozess übersprungen und er wird sich dafür verantworten müssen, wenn die Zeit gekommen ist. Aber er wusste auch, dass er weder die Unterstützung der Legislative hatte, noch der Armee, der Presse oder der Kirche; er hatte nur uns. Er sagte mir, wenn er frei ist, wird er seine Gründe erklären. Meine persönliche Meinung als Lourdes Huanca, nicht als Vertreterin meiner Organisation, ist, dass Castillo genug hatte. Denn er wusste, dass er die Regierung nicht regulär zu Ende führen konnte, da sie ihn sowieso irgendwann absetzen würden. Ich denke, er hat es gemacht, um die Bevölkerung zum Handeln zu bewegen und um zu zeigen, dass man ihn einsperrt, weil er versuchte, den Reichtum unseres Landes zurückzugewinnen. Wenn es sein Ziel war, die Menschen zu bewegen und zum Kämpfen zu bringen, dann hat er das erreicht. Denn jetzt fordern alle eine Verfassungsänderung und das auf Kosten seiner Freiheit.

Was fordert Ihre Organisation?
Unsere Forderungen sind: Rücktritt von Boluarte, Freiheit für Pedro Castillo, Auflösung des Kongresses, Gerechtigkeit für die 72 getöteten Held*innen und dass eine plurinationale, paritätisch besetzte, verfassungsgebenden Versammlung einberufen wird. Diese neue verfassungsgebende Versammlung ist wichtig, weil sie unser Leben verändern würde. Die indigenen Völker sind in der Verfassung von 1993 überhaupt nicht vertreten. In der Legislative und Exekutive müssen aber auch Indigene, junge Menschen, Frauen und Intellektuelle vertreten sein; wir brauchen eine Verfassung für alle, denn wir sind ein plurinationales Land.

LOURDES HUANCA

ist Vorsitzende der Föderation der Landwirtinnen, Handwerkerinnen, indigenen und erwerbstätigen Frauen Perus (Fenmucarinap). Als Aktivistin war sie in den vergangenen drei Monaten in Europa unterwegs, um auf die Situation in Peru aufmerksam zu machen. Von der Alliance of Internationalist Feminists wurde sie zum feministischen Kampftag am 8. März nach Berlin eingeladen. (Foto: Antonella Navarro)

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