Aktuell | Nummer 584 - Februar 2023 | Peru | Politik

STIMMEN DES PROTESTS

Menschen aus Peru teilen ihre Gedanken und persönlichen Erfahrungen zu den Protesten

Seit Castillos „Selbstputsch” kehrt auf Perus Straßen keine Ruhe mehr ein. Wir haben gefragt, was die Protestierenden in den Regionen und der Hauptstadt antreibt und was ihre Forderungen sind.

Koordination: Kiva Drexel

Foto: Derechos humanos sin fronteras

Es war der erste Tag des unbefristeten Streiks in Abancay, einer Stadt in der südlichen Region Apurímac. Die Atmosphäre war angespannt, aber es herrschte eine gesellige Stimmung. Vor allem aufgrund der vielen Menschen, die aus den verschiedenen Provinzen kamen, um ihren Forderungen und gemeinsamen Zielen Gehör zu verschaffen. Am ersten Tag, dem 12. Dezember, verlief der Streik ohne jegliche Auseinandersetzungen. Die Polizei beschützte die öffentlichen Einrichtungen und es gab keine Zwischenfälle, außer in der Stadt Andahuaylas, drei Stunden von Abancay entfernt, wo fünf Tote gemeldet wurden.

Am nächsten Tag gab es in Abancay nur wenig Polizeipräsenz. Dagegen gab es viele Beamte in Zivil und anstatt die öffentlichen Einrichtungen zu schützen, sahen wir, wie die infiltrierten Polizisten Angriffe auf öffentliches und privates Eigentum verübten. Viele gaben dennoch den Demonstranten die Schuld. Am Abend ging eine Gruppe von Bürgern auf die Straße, um gegen den Vandalismus zu protestieren, wobei sie die Demonstranten, insbesondere die angereisten Indigenen, ohne jeden Grund beschuldigten. Diese reaktionären Gruppen gewannen mit der Zeit an Stärke und wurden später mit dem Slogan „Nein zu Vandalismus; kein Terrorismus mehr“ bekannt. Sie zeichnen sich durch ihre rassistischen und klassistischen Äußerungen aus.

Nach dem Staatsstreich von Castillo mitsamt seiner Ungeschicklichkeit und seinen Unzulänglichkeiten, bedeutete der Amtsantritt von Dina Boluarte eine offenkundige Veränderung des politischen Szenarios. Die neue Präsidentin ist zwar legal ins Amt gekommen, aber für eine große Mehrheit der Bevölkerung mit illegitimen Mitteln.

Ich glaube nicht, dass Peru bald aus der Krise herauskommt. In diesem Moment spürt man die Wut der Bevölkerung auf die aktuelle politische Situation. Ich denke, wir müssen politische Reformen durchführen, damit sich die Bevölkerung besser vertreten sieht. Ich möchte nicht mehr zwischen dem kleineren und dem größeren Übel wählen müssen. Ich weiß, dass eine neue Verfassung nicht alles ändern kann, aber sie kann dazu beitragen, die Situation zu verbessern und das Land demokratischer zu gestalten.

// Dante Wayrasonqo, Ingenieur, Apurímac / Abancay


Wie wir auf nationaler Ebene und speziell hier in der südlichen Andenregion gesehen haben, hat die Tatsache, dass ein Präsident abgesetzt wurde, der von einer Mehrheit in diesen Gebieten gewählt wurde, die Bevölkerung mobilisiert. Zumindest mich mobilisierte das starke Gefühl, dass wir nie an der politischen Gestaltung dieses Landes teilnehmen konnten.

Über Jahre erlegten uns der Kongress und die Exekutive Gesetze auf, die meist zu ihren Gunsten waren. Jetzt gerade sehen wir, wie die Regierung den neoliberalen Unternehmen die Steuern erlässt und millionenschwere Verträge für viele Jahre verlängert. Die Bevölkerung spürt, dass es so nicht weitergehen kann und dass es Veränderungen geben muss.

Es gibt verschiedene Forderungen. Die wichtigsten sind, dass Dina Boluarte und die Spitze des Kongresses zurücktreten und dass noch in diesem Jahr Wahlen angesetzt werden sowie ein Referendum darüber abgehalten wird, ob es eine verfassunggebende Versammlung geben wird.

Ich habe das Gefühl, dass sich der gesamte Süden und jetzt auch der Norden und das Zentrum des Landes auflehnen. Das ist ein gutes Zeichen, denn es zeigt die Ablehnung des neoliberalen Systems, in dem wir leben. Ich spüre auch eine Hoffnung, dass wir – trotz der Trauer über die Morde – mit neuen Perspektiven und neuen Gedanken in der Gemeinschaft zusammen vorankommen werden. Wir werden den heutigen Individualismus überwinden. Schritt für Schritt, trotz aller Unzulänglichkeiten, aller Probleme, die auftauchen werden.

// Claudia (Name von der Redaktion geändert), Journalistin, Apurímac / Andahuaylas


Die Repression der Regierung von Dina Boluarte ist keineswegs neu. ANFASEP besteht nun seit 40 Jahren. Wir sind es leid, Gewalt zu sehen.

Derzeit ermorden sie Menschen in vielen Dörfern, in Juliaca, in Andahuaylas, in Ayacucho. Wir protestieren lautstark und sie töten uns mit Schüssen, am helllichten Tag. Sie haben junge Menschen voller Lebensenergie getötet. Ihre Familien leiden, so wie wir gelitten haben. Ich weiß nicht, ob es für diese Menschen Gerechtigkeit geben wird. Hier in Ayacucho sind wir in Trauer und niemand unternimmt etwas. Die gekauften Journalisten, die alle Fujimori befürworten, äußern sich nicht dazu.

Die Polizei und das Militär betrachten uns nicht als Menschen, sie töten uns wie Tiere. Es heißt, es sei das erste Mal, dass mit Boluarte eine Frau Präsidentin ist. Und wie hat sie das gemacht? Sie ist mordend ins Amt gekommen. Sie soll den Kongress und den Regierungspalast verlassen, sie ist nicht unsere Präsidentin. Unser Präsident ist Pedro Castillo. Wir alle haben ihn unterstützt. Die Fujimoristas, die im Kongress sitzen, haben unseren Reichtum an sich gerissen. Und als Pedro Castillo begann, unsere Rechte einzufordern, haben sie ihn ins Gefängnis gesteckt. Und wie damals Fujimori, wird auch Dina Boluarte sofort als Präsidentin vereidigt. Doch wir haben nicht für sie gestimmt.

// Lidia Flores, Präsidentin von ANFASEP (Asociación Nacional de Familiares de Secuestrados,*Detenidos y Desaparecidos del Perú), Huamanga / Ayacucho


Ich war gerade auf der Arbeit in der Apurímac-Region. Um zwei Uhr erfuhr ich, dass mein Bruder von einer Kugel getroffen worden war. Man schickte mir per WhatsApp ein Video.

Mein Bruder war Präsident der bäuerlichen Gemeinde von Anta und Präsident des Bauernverbandes der Anta-Provinz. Er war als Gemeindepräsident federführend in der Organisation der Proteste._Auf einem Gemeindetreffen wurde die Entscheidung getroffen, gegen die Regierung von Dina Boluarte zu demonstrieren. Er war ständig bei den Treffen gewesen, weil die Gemeinschaft von Anta dort war.

Für mich ist das Verhalten der Regierung feige. Ich glaube, dass in unserem Land Rechtsvorschriften existieren und wenn eine Person gegen diese Vorschriften verstößt, müssen die zuständigen Stellen eine Mitteilung machen, sei es über die Justiz oder die Kriminalpolizei. Dazu ist es nicht gekommen, und wie ich nun von meiner Familie höre, wurde mein Bruder schon seit längerem überwacht. Das ist auch eine Gefahr für mich und für meine ganze Familie.

// Romulo Candia Guevara, Anthropologe und Bruder von Remo Candia Guevara, der am vergangenen 11. Januar durch Polizeischüsse ums Leben kam, Cusco

“Meine größte Angst ist, dass das hier aufhört und alles so bleibt, wie es ist” Demonstrant*innen in Cusco, Peru (Foto: Derechos sin fronteras)

Der Protest in der Provinz Andahuaylas in der Region Apurimac hat begonnen, weil Dina Boluarte bis zum Jahr 2026 vereidigt wurde. Als sie noch Castillos Vizepräsidentin war, behauptete sie, sie würde zurücktreten, sofern er aus dem Amt entfernt wird. Doch sie änderte ihre Meinung, verhängte den Ausnahmezustand und die Sicherheitskräfte begannen, die Bevölkerung zu unterdrücken. So geschah es am 15. Dezember hier in Ayacucho. Sie warfen Tränengasbomben aus der Luft, so dass selbst auch Menschen, die sich nicht an den Protesten beteiligten, Opfer der Repressionen wurden. Eine Gruppe von 15 bis 20 Personen setzte öffentliche Gebäude in Brand, ohne dass das Militär etwas unternahm oder die Leute gefasst wurden.

Friedliche Demonstrationen werden zunehmend gewalttätig. Die Militärs säen diese Gewalt, sie selbst betreiben Vandalismus und beschuldigen dann die Bevölkerung. Sie könnten das alles verhindern und uns schützen, aber sie verursachen die Gewalt und ich weiß nicht, zu welchem Zweck. Das besorgt mich.

Sie sprechen von Dialog und Frieden, aber welchen Frieden sehen wir? Anstatt das Feuer zu löschen, gießt die Regierung weiter Öl hinein. Die Entscheidung liegt in den Händen von Dina Boluarte. In einer ihrer Reden auf Quechua sagte sie: „Ich liebe euch von ganzem Herzen, warum hasst ihr mich, ich habe nichts getan“. Sie meint, es liege daran, dass sie eine Frau sei, aber das ist es nicht. Es ist der Missbrauch von Autorität: man kann keine unschuldigen Menschen, darunter Kinder und Frauen angreifen, beleidigen und töten. Das ist durch nichts zu rechtfertigen. Nach den Protesten kündigte sie an, dass es schon im Jahr 2024 einen Präsidentschaftswechsel geben wird. Aber die Bevölkerung glaubt ihr nicht mehr.

Viele Menschen haben heute Angst, zu protestieren, auch ich. Man weiß nie, ob man wieder nach Hause kommt. Und obwohl ich jung bin, habe ich große Angst, weil ich eine Familie habe. In Ayacucho gab es mehr als zehn Todesopfer und noch mehr Verletzte. In Puno sind mehr als 18 Menschen ums Leben gekommen. Es ist ein großes Leid, ein Kind zu verlieren und keine Gerechtigkeit zu erfahren.

// María E. Tarqui, Mitarbeiterin von ANFASEP (Asociación Nacional de Familiares de Secuestrados, Detenidos y Desaparecidos del Perú), Huamanga / Ayacucho


Im Vergleich zu dem, was in anderen Teilen des Landes geschieht, gibt es in Lima wenig Repression. Auch die Demonstrationen waren hier weniger groß und gingen eher von der organisierten Linken aus. Das ist ein Nachteil, denn leider ist das Land so zentralisiert, dass,,wenn sich in Lima nichts bewegt, die Regierung wahrscheinlich nicht im Geringsten angetastet wird. Wir verlangen vor allem von dieser illegitimen Regierung von Dina Boluarte, dass es keine weiteren Toten gibt.

Auch wenn viele Neuwahlen fordern, sind wir – die Gruppierung La Combi Constituyente – der Meinung, dass in dem Fall die selben Personen wie immer kandidieren würden, da sich die Spielregeln nicht ändern. Was diese Personen wirklich fürchten, ist eine verfassunggebende Versammlung. Unsere Verfassung wurde uns 1993 durch den Diktator Alberto Fujimori aufgezwungen und damit das neoliberale Modell im Land eingeführt. Seitdem hat die Verfassung mehrere Regierungen, Präsidenten und institutionelle Krisen überlebt. Die jetzige Krise ist ein Spiegel des neoliberalen Modells: Mit allen Ungerechtigkeiten, Ungleichheiten und dem Rassismus, der im Kongress, in der Regierung und bei all den Personen vorherrscht, die diese Regierung unterstützen. Auch wenn Pedro Castillo Fehler gemacht hat und wir viel Kritik an ihm haben, wird unsere Kritik jedoch niemals von rechts kommen.

Auch die Rechten haben dazugelernt, sie machen Propaganda, indem sie sagen, die verfassunggebende Versammlung sei für Terroristen, für Leute, die nur Böses für unser Land wollen und sie nennen als Beispiel Chile. Wir haben von Chile gelernt, dass es möglich ist, durch Mobilisierung und Solidarität einen verfassunggebenden Prozess anzustoßen. Aber es gab auch viele Fehler auf Seiten der Linken selbst, die sich vielleicht zu sehr in institutionelle Fragen verstrickt haben und dabei vergaßen, den breiten Massen zu zeigen, dass eine neue Verfassung einen Gewinn darstellt. In Chile hat die Rechte das Referendum am Ende gewonnen. Das können wir hier nicht zulassen.

// Grecia Calderón, Studentin, Callao


Es war eine friedliche Demonstration. So eine, über die sie sagten, dass sie sie respektieren würden. Aber Polizei oder Militärs sahen uns als Feinde. Sie griffen uns an mit Schlagstöcken, sogar mit Tränengasbomben, ohne jeglichen Respekt. Ich war eigentlich auf dem Weg nach Hause, doch die Polizei verwechselte mich mit den Demonstrierenden. Ich habe die Empörung vieler Menschen gesehen. Es gibt in diesem Land keinen Respekt für die Würde des Menschen, weder für die Bürger noch die Demokratie selbst.

// Jairsinho Rivas Olgado, Cusco

Jairsinho Rivas Olgado wurde am 11. Januar auf einer Demonstration in der Stadt Cusco festgenommen und 48 Stunden lang auf der Polizeistation festgehalten. Nun läuft ein Ermittlungsverfahren gegen ihn, der Vorwurf lautet “Gewalt gegen Polizeibeamte”.


// Übersetzung und Transkription: Moritz Aschemeyer, Tininiska Zanger Montoya, Elisabeth Erdtmann, Sarah Schaarschmidt & Johanna Saggau

DIE POLITISCHE SITUATION IN PERU Seit der Inhaftierung des Präsidenten Pedro Castillo kommt das Land nicht zur Ruhe. Insbesondere im südlichen Andenhochland, aber auch in anderen Regionen sowie der Hauptstadt Lima gehen seit Dezember hunderttausende Menschen gegen die Nachfolgeregierung unter der ehemaligen Vizepräsidentin Dina Boluarte auf die Straße. Dabei kommt es immer wieder zu Straßenblockaden und Besetzungen von öffentlichen Gebäuden oder Flughäfen. Die Forderungen sind regional unterschiedlich. Sie eint einzig der Ruf nach einem Rücktritt Boluartes, der Auflösung des Kongresses und raschen Neuwahlen. Mittlerweile werden Stimmen immer lauter, die eine neue Verfassung fordern sowie das sofortige Ende der Gewalt gegen Protestierende. Getragen werden die Proteste unter anderem von Gewerkschaften und der armen Landbevölkerung im Andenhochland, die Castillo gewählt hatte und sich nun von der Elite Limas betrogen sieht. Die rechte Opposition hatte seit Castillos Wahl im April 2021 alles daran gesetzt, seine Politik zu blockieren. Die Polizei geht brutal gegen die Protestbewegung vor. In vielen Regionen im Land, auch in Lima, wurde der Ausnahmezustand verhängt. Seit Amtsantritt Boluartes am 7. Dezember sind im Kontext der Proteste über 60 Personen umgekommen, in ihrer großen Mehrzahl Demonstrierende aus ländlichen Regionen. Allein am 9. Januar starben in Juliaca in der Andenprovinz Puno 17 Menschen, viele davon durch scharfe Munition. Gegen Boluarte, Premierminister Alberto Otárola sowie den Verteidigungs- und den Innenminister laufen nun Vorermittlungen wegen möglichen Genozids. Die Interimsregierung geht unterdessen weiter rabiat gegen Protestierende vor. Ein Ende der staatlichen Gewalt ist bislang nicht abzusehen. // Moritz Aschemeyer

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