Dossier 20 - Sein oder Schein? | Peru

SCHLIMMER GEHT IMMER

Präsident Pedro Castillo vertieft die politische Dauerkrise

Nach über einem Jahr im Amt hat die Regierung Castillo alle Hoffnungen auf einen positiven Wandel und den Abbau der Ungleichheit im Land enttäuscht. Die Linke ist zerstritten, der Kongress blockiert. Jegliche Aktivität von Regierung und Opposition dient nur noch der Wahrung eigener Interessen. Auch aus der Zivilgesellschaft kommen keine Impulse, denn eine bessere Alternative ist nicht in Sicht.

Von Hildegard Willer

Castillo Vor allem die ländliche Bevölkerung setzte große Hoffnung in ihn (Foto: Braian Reyna Guerrero via wikimedia commons, CC BY 2.0)

Im Juni 2021 schaffte der Dorfschullehrer und Gewerkschafter Pedro Castillo mit einem hauchdünnen Wahlsieg gegen die Diktatorentochter Keiko Fujimori, was noch kein Peruaner vor ihm geschafft hatte: den direkten Sprung vom Dorf in den Präsidentenpalast, ohne Umweg über Militär, Hauptstadt, Ausland oder wenigstens eine ausländische Ehefrau. Genau 200 Jahre nach der Befreiung Perus von der spanischen Kolonialherrschaft trat Castillo sein Amt mit dem Versprechen an, das Land endgültig von seinen kolonialen Fesseln zu befreien. Denn Peru, der einstige Sitz des spanischen Vizekönigsreichs, ist auch heute noch von Rassismus und Klassengesellschaft dominiert.

Vor allem die ländliche Bevölkerung setzte große Hoffnungen darauf, dass endlich einer von ihnen an der Macht war und die Ungleichheit Perus abbauen würde. Ein Jahr danach ist von dieser Hoffnung nichts mehr zu spüren: 65–71 Prozent der Bevölkerung lehnen Castillo ab. Selbst auf dem Land, wo seine Stammwähler*innen leben, haben sich bei einer Umfrage im August 2022 57 Prozent gegen ihn ausgesprochen. Pedro Castillo, der angeblich linke Mann von der Basis, entpuppt sich nämlich als ein traditioneller Politiker, der das Amt vor allem dazu benutzt, seine Freund*innen unterzubringen und ihnen Pfründe zuzuschanzen. So haben alle Präsidenten der letzten 20 Jahre vor ihm regiert, ungeachtet ihrer politischen Couleur oder ihrer ethnischen Zugehörigkeit. Und genau deswegen sind alle Präsidenten Perus der letzten 20 Jahre entweder im Gefängnis, unter Anklage oder tot wie Alan García, der sich lieber erschoss, als von der Polizei abgeführt zu werden. Insofern ist die Präsidentschaft Castillos nur eine weitere Episode in der politischen Dauerkrise, in der Peru seit dem Rücktritt von Pedro Pablo Kuczynski vor fünf Jahren steckt. Doch wie kam es dazu, dass Castillo alle Hoffnungen auf einen Wechsel in nur einem Jahr vertat?

Ein erster Prüfstein war, wen Castillo in sein Kabinett berufen und zu seinem Regierungspartner nehmen würde: die dogmatisch-marxistische Partei Perú Libre von Vladimir Cerrón, auf deren Liste Castillo die Wahl gewonnen hatte? Oder die moderate Linke um Verónica Mendoza, die niemand „moderat“ genannt hatte, bevor Pedro Castillo sie als Kandidat links überholte? Letztere wird von ihren Gegner*innen auch gerne als Kaviarlinke verunglimpft, weil unter ihr auch Vertreter*innen von Nichtregierungsorganisationen und Universitäten sind.

In seinem ersten Kabinett versuchte Castillo noch, die beiden Seiten zu vereinen: Finanzminister wurde Pedro Francke vom Flügel von Verónica Mendoza, Premierminister aber wurde ein Statthalter von Vladimir Cerrón, der bis dahin unbekannte Guido Bellido. Die Kohabitation hielt nicht lange. Zuerst musste Bellido gehen, ein paar Monate später Francke. Im Kabinett machten sich dafür vor allem Männer aus Castillos Heimat Cajamarca, aus der Partei Perú Libre und der Lehrer*innengewerkschaft breit, die für das von ihnen verantwortete Ressort keinerlei Leistungsausweis hatten. In nur einem Jahr hat Castillo über 50 Minister und auch ein paar Ministerinnen verschlissen – mit ein Grund dafür, dass bisher kaum eines seiner Vorhaben umgesetzt werden konnte.

Zerfleischung der Linken

Dabei hätte Castillo keine Feind*innen aus der Linken gebraucht, denn im Kongress haben seine Gegnerinnen sowieso die Überhand. Der Kongress blockiert Castillo seit Beginn seiner Amtszeit. Unterstützung bekommt er darin von den großen Hauptstadtmedien, die einseitig die Verfehlungen Castillos täglich auf den Titelseiten bringen. Die Anhänger*innen Fujimoris, die fujimoristas, sind nicht darüber hinweg, dass sie die Wahl verloren haben. Die konservativen Rechten aus der Hauptstadt verachten Castillo ob seiner Herkunft. Alle Versuche des Parlaments, Castillo wegen „moralischer Unfähigkeit“ abzusetzen – die Verfassung erlaubt diesen Gummiparagraphen – sind dennoch mangels Mehrheiten gescheitert.

Kongress und Regierung im Patt

Dies liegt zum einen an den Parlamentarier*innen, die als Lobbyist*innen vor allem in ihre eigene Tasche wirtschaften und nicht das Risiko eingehen wollen, dass bei möglichen Neuwahlen auch sie ihren Parlamentssitz räumen müssten. Zum anderen ergeben sich erstaunliche Allianzen zwischen den dogmatischen Marxist*innen von Perú Libre und den rechten Freischärler*innen der übrigen Parteien. Bei ihrem konservativen und traditionellen Frauen- und Familienbild sind sich Rechte und Castillos Linke einig und stimmten gemeinsam für die Streichung jeglicher Genderarbeit aus den staatlichen Schullehrplänen. Ebenso einig sind sie sich bei der Förderung informeller bis illegaler Wirtschaftszweige: seien es die privaten Betreiber*innen der Stadtbuslinien in Lima, die informellen Goldschürfer*innen oder die Betreiber*innen privater Schrottuniversitäten.

Die Zurücknahme der Universitätsreform ist ein gutes Beispiel dafür, wie unter der Regierung von Castillo und in Eintracht mit dem sonst feindlich gesonnenen Kongress mühsame Regulierungen der vergangenen Jahre zunichte gemacht werden. Seit 2014 mussten sich alle Universitäten von einer dem Bildungsministerium unterstehenden Behörde lizenzieren lassen. Viele private, nur auf Gewinn ausgerichtete Universitäten und auch ein paar staatliche Universitäten mussten schließen. Doch gerade deren Besitzer*innen sind im Kongress vertreten und erreichten zusammen mit den Linken von Perú Libre, dass die Universitätsbehörde entmachtet wurde. Die Folge werden noch schlechter ausgebildete Universitätsabgänger*innen sein, die dann zwar einen Titel vorweisen können, für den ihre Eltern viel Geld hingelegt haben, der aber weitestgehend wertlos ist, weil er keinen Mindeststandards mehr entspricht.

Viele mag es erstaunen, dass Pedro Castillo es überhaupt geschafft hat, trotz all seiner Regierungsfehler, nicht gehaltener Versprechungen und der Feindschaft des Kongresses und der Medien, ein Jahr im Amt zu bleiben.

Der Kongress und die Exekutive halten sich in ihrer ganzen Jämmerlichkeit gegenseitig in Schach: Wenn der Kongress den Präsidenten absetzt und es zu Neuwahlen kommt, dann müssten auch die Parlamentarier*innen ihren Sitz räumen. Und zugleich droht Castillo damit, den Kongress zu schließen – dies kann er verfassungsmäßig, wenn der Kongress ihm zweimal hintereinander das Misstrauen ausgesprochen hat.

Aufrufe von Seiten der Zivilgesellschaft, doch freiwillig zurückzutreten und Neuwahlen auszurufen, hat er bisher ignoriert. Und obwohl eine Mehrheit der Bevölkerung lieber heute als morgen sowohl den Präsidenten wie auch die Abgeordneten loswerden möchte, gibt es keine massiven Proteste auf den Straßen. Seit Castillos Amtsantritt rufen nur die rechten fujimoristas regelmäßig zu meist eher spärlich besuchten Protesten auf. Und die große Masse der Fujimori-Gegner*innen würde nie an einer Demonstration teilnehmen, zu der die fujimoristas aufrufen, ganz egal wie sehr sie sich einen Rücktritt Castillos wünschen.

So sitzt Castillo trotz seiner instabilen, erratischen Politik also doch recht stabil im Präsidentensessel. Allenfalls die Justiz könnte ihm noch gefährlich werden: Sechs staatsanwaltschaftliche Untersuchungen laufen gegen Castillo und Mitglieder seiner Familie. Meist geht es um verbotene Vorteilsnahme und unrechtmäßige Vergabe staatlicher Aufträge an Bekannte. Im Vergleich zu den Korruptionssummen seiner Vorgänger geht es da um Peanuts. Aber korrupt ist korrupt und die Enttäuschung, dass sich auch Castillo als korrupt erweist, ist bei vielen Wähler*innen besonders groß.

Noch ist niemand in Sicht, der den Unmut der Bevölkerung angesichts der Politik von Legislative und Exekutive kanalisieren könnte. Selbst wenn es zu Neuwahlen käme, ist keineswegs sicher, dass das Ergebnis besser wäre als das, was die Peruaner*innen jetzt haben. Es könnte sogar noch schlimmer kommen.

Dieser Artikel ist aus unserem aktuellen Dossier “Sein oder Schein? – Die neue progressive Welle in Lateinamerika”. Das Dossier kann hier kostenlos heruntergeladen werden.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren