Lyrik aus Lateinamerika

Illustration: Joan Farías Luan (www.cuadernoimaginario.cl)

Medo

Tenho medo
Deste medo
De ter medo
Medo do desconhecido
Este velho conhecido
Que insiste em se esconder
Medo dos segredos
No infinito do não saber
Tenho medo do agora
Deste momento
Tão sozinho
Medo tenho
Da incompreensão
Do meu vizinho
Tenho tanto medo
Medo mesmo
De estar sozinho
Medo do esquecimento
Dos momentos sem carinho

Medo, medo, medo
Dos fantasmas do inconsciente
Ciento do medo que tenho
De não estar ciente

Medo, medo, medo
Do futuro
Do presente
Medo do desconhecer
Da noite sem luar
Do dia que tarda
Medo de mim mesmo
Do que um dia fui
Medo de não puder planejar
Medo do futuro que não terei
Medo, medo, medo
Deste medo de ter medo
Do medo do medo de amar …

Angst

Ich habe Angst
Vor dieser Angst
Angst zu haben
Angst vor dem Unbekannten
Diesem alten Bekannten
Der sich ungern freiwillig zeigt
Angst vor Geheimnissen
Im unendlichen Raum des Unwissens
Ich habe Angst vor dem Jetzt
Vor diesem Augenblick
In dem ich so allein bin
Habe Angst
Vor Unverständnis
Vor meinem Nachbarn
Ich habe solche Angst
Wirklich Angst
Allein zu sein
Angst vor dem Vergessenwerden
Vor Momenten ohne Zärtlichkeit

Angst, Angst, Angst
Vor den Geistern des Unbewussten
Bewusst meiner Angst
Vor dem Verlust des Bewusstseins

Angst, Angst, Angst
Vor der Zukunft
Der Gegenwart
Angst vor dem Nichtwissen
Vor der Nacht ohne Mond
Vor dem Tag, der bald naht
Angst vor mir selbst
Vor dem, was ich einst war
Angst, dass sich das Planen nicht lohnt
Angst vor fehlenden Perspektiven
Angst, Angst, Angst
Vor dieser Angst, Angst zu haben
Angst vor der Angst zu lieben …

Brot und Spiele

WM und Arbeitskämpfe verbinden Spielerinnen klagen über fehlende Unterstützung der Verbände (Foto: Medios Públicos EP via Flickr (CC BY-SA 2.0))

Es war spannend bis zur letzten Minute: Nach einer knappen 1:0-Führung in der Nachspielzeit gelang der haitianischen Stürmerin Melchie Dumonay ein weiterer Treffer, mit dem sie die chilenische Torhüterin überwand und einen historischen Sieg besiegelte, mit dem sich Haiti zum ersten Mal für die Weltmeisterschaft qualifizierte. Les Grenadières, wie die haitianische Frauen-Nationalelf auch genannt wird, hatten in der Gruppe A des Qualifikationsturniers den dritten Platz belegt und trafen damit im Februar zunächst auf Senegal und dann auf Chile. Nachdem Haiti beide Teams besiegt hatte, war die Teilnahme an der WM für Juli und August gesichert.

Panama musste ebenfalls in einem zusätzlichen Spiel um seine Teilnahme bei der WM kämpfen. Die Nationalelf besiegte Papua-Neuguinea mit Leichtigkeit, bevor sie sich mit einem 1:0-Sieg über Paraguay das letzte Ticket für die Weltmeisterschaft in Neuseeland und Australien sicherte. Auch für Panama ist es die erste Teilnahme an einer WM. Gegenüber der panamaischen Tageszeitung La Prensa äußerte sich die Torschützin Lineth Cedeño glücklich: „Es ist ein sehr wichtiges Tor für das ganze Land, das Tor, das uns zur Weltmeisterschaft bringt.“

Jahrelange Konflikte zwischen dem brasilianischen Fußballverband CBF und den Spielerinnen

Mit Brasilien, Argentinien, Kolumbien, Jamaika und Costa Rica haben sich fünf weitere Teams aus Lateinamerika und der Karibik direkt für den Wettbewerb qualifiziert. Brasiliens seleção ist mit neun WM-Teilnahmen und Superstars wie Marta, der besten brasilianischen Torschützin aller Zeiten, nicht nur das Team mit den besten Chancen auf den Sieg aus der Region, sondern unter den Favoriten auf den Titel. Die Teilnahme der Brasilianerinnen erfolgt nach jahrelangen Konflikten zwischen dem brasilianischen Fußballverband CBF und den Spielerinnen. Im Jahr 2017 verließen fünf langjährige Spielerinnen die Nationalelf, unter anderem Cristiane, Francielle und Rosana. Sie begründeten den Weggang mit der Entlassung der ersten weiblichen Trainerin Emily Lima und mit ihrer Erschöpfung „durch jahrelange Respektlosigkeit und mangelnde Unterstützung“, wie es damals in einem offenen Brief hieß. Im Jahr 2021 wurde dann der Präsident des CBF, Rogério Caboclo, aufgrund von Anschuldigungen wegen sexueller Belästigung von seinem Amt suspendiert. Im Jahr 2019 kam Pia Sundhage als neue Trainerin für das Team. Seither trainiert sie die brasilianische Nationalelf der Frauen. Damit wurde der 2017 von den Spielerinnen geäußerte Wunsch nach langfristiger Unterstützung durch den Verband und Beständigkeit im Trainerstab zumindest teilweise erfüllt.

Auch in Kolumbien und Argentinien kam es zwischen Nationalelf und Fußballverband zu Konflikten. Nach der Weltmeisterschaft 2019 in Frankreich trafen sich alle 23 argentinischen Spielerinnen, um ihre Unzufriedenheit mit der Ausrichtung des Teams unter dem damaligen Trainer Carlos Borrello zu diskutieren. Als Tage später mehrere Schlüsselspielerinnen, darunter Kapitänin Estefanía Banini, für die kommenden Spiele aus dem Kader geworfen wurden, protestierten die Spielerinnen in den sozialen Medien. Banini schrieb, der Grund ihres Ausschlusses liege auf der Hand und hänge mit der zuvor geäußerten Kritik zusammen.

Ähnlich wie Banini wurde 2016 die kolumbianische Mittelfeldspielerin Daniela Montoya, eine der Schlüsselspielerinnen für Kolumbien bei der Weltmeisterschaft 2015, nicht mehr für den Olympia-Kader aufgestellt. Sie hatte öffentlich kritisiert, dass der Verband den Spielerinnen Preisgelder von vergangenen internationalen Turnieren noch nicht ausgezahlt hatte. Drei Jahre später prangerte die kolumbianische Spielführerin Natalia Gaitán zusammen mit anderen Spielerinnen den kolumbianischen Verband wegen mangelnder Unterstützung für das Frauenteam an. Beide Spielerinnen, Banini und Montoya, sind inzwischen in ihre Nationalteams zurückgekehrt.

Kolumbien und Argentinien liegen auf dem 25. bzw. 28. Platz der Weltrangliste und haben sich aufgrund ihrer hervorragenden Leistungen bei der Copa América 2022 automatisch für die Weltmeisterschaft qualifiziert. Beide Teams haben bereits an mehreren Weltmeisterschaften teilgenommen und wollen ihre Leistungen verbessern. Las Cafeteras aus Kolumbien waren enttäuscht, dass sie die Teilnahme an der WM 2019 in Frankreich verpassten, nachdem sie 2015 als erstes südamerikanisches Team neben Brasilien ein Spiel bei einer WM gewonnen und die Gruppenphase überstanden hatten. Sie bereiten sich nun darauf vor, den Weltmeistertitel zu erspielen. „Wir wollen dabei sein und um den Weltmeistertitel kämpfen“, so die aktuelle Kapitänin Daniela Montoya gegenüber FIFA.com. Die Mannschaft sei aus erfahrenen und jungen Spielerinnen zusammengestellt worden. „Ich weiß, dass dies unser Moment ist, das Jahr, in dem die kolumbianische Nationalmannschaft an der Spitze stehen wird“, erklärte Montoya weiter.

La Albiceleste nehmen zum vierten Mal an einer Weltmeisterinnenschaft teil. Obwohl sie sich seit Anfang der 2000er Jahre verbessert hat, konnte sie bisher keinen greifbaren Erfolg verbuchen. In Frankreich 2019 holte sie mit zwei Unentschieden ihre ersten Punkte bei einer Weltmeisterschaft. Kapitänin Stefanía Banini sagte im Gespräch mit DSports Radio, dass das Team sich darauf konzentriere „dort gut anzukommen und einige der Spiele zu gewinnen.“

Jamaika und Costa Rica nehmen erst zum zweiten Mal an einer Weltmeisterschaft teil. Costa Rica kehrt dieses Jahr auf die WM-Bühne zurück, nachdem es bei der WM 2019 in Frankreich nicht klappte und ein neuer Tarifvertrag zwischen Spielerinnen und Verband abgeschlossen wurde. Das jamaikanische Team erlebt seinerseits den Höhepunkt seiner Wiedergeburt im Frauenfußball, auch wenn seine Situation prekär bleibt. In den 2000er Jahren stand das Team kurz vor der Auflösung und musste sich aus internationalen Wettbewerben zurückziehen, bis die Sängerin und Tochter von Bob Marley, Cedella Marley, als Investorin einstieg und zudem eine Crowdfunding-Kampagne für das Team startete. Auch nach der zweiten WM-Qualifikation gehen die Probleme jedoch weiter. Am 15. Juni 2023, nur einen Monat vor Beginn des Turniers, veröffentlichten die Spielerinnen einen Brief in den sozialen Medien, in dem sie Veränderungen im jamaikanischen Fußballverband forderten. Sie erklärten, dass sie wiederholt spielten „ohne die vertraglich vereinbarte Bezahlung zu erhalten“, Freundschafts-spiele wegen „extremer Desorganisation“ verpasst hätten und es weiter unklar sei, ob Tage vor der Weltmeisterschaft überhaupt noch ein Trainingslager stattfinden würde.

“Ich kann das derzeitige System nicht mehr unterstützen”

Unruhen zwischen Spielerinnen und Verbänden kommen jedoch auch außerhalb von Lateinamerika und der Karibik vor. Die Kapitänin der französischen Nationalelf Wendie Renard sowie zwei weitere Spielerinnen kritisierten den Verband und kündigten einen Boykott der WM an. Auf Twitter schrieb Renard: „Ich kann das derzeitige System nicht mehr unterstützen, das weit von den Anforderungen der ersten Liga entfernt ist.”. Zwei Wochen später wurde die Trainerin entlassen. Auch das kanadische Team protestierte gegen mangelnde Unterstützung und Lohnungleichheit, in Spanien wollten 15 Spielerinnen nicht für den Nationalkader berufen werden, „bis Situationen, die unseren emotionalen und persönlichen Zustand, unsere Leistung und folglich die Auswahlentscheidungen beeinträchtigen und zu unerwünschten Verletzungen führen könnten, rückgängig gemacht werden“, wie sie in einer Erklärung mitteilten. Drei der 15 unterzeichnenden Spielerinnen nehmen allerdings trotzdem an der bevorstehenden WM teil. Der fehlende Wille der Verbände in den Frauenfußball zu investieren und ihn damit zu professionalisieren, führen dazu, dass viele Spielerinnen sich kurz vor der WM mitten im Arbeitskampf befinden.

Diese Weltmeisterschaft ist auch in anderer Hinsicht einzigartig. Das Teilnehmerfeld wurde von 24 auf 32 Teams vergrößert, darunter acht Teams, die zum ersten Mal bei einer WM mitspielen. Außerdem garantiert die FIFA erstmals jeder Spielerin, die an der Gruppenphase teilnimmt, ein Preisgeld von umgerechnet mindestens 27.000 Euro. Für Teams, die über die Gruppenphase hinaus kommen, erhöht sich das Preisgeld. Dies ist ein wesentlicher Bestandteil der Förderung des Frauenfußballs und fällt besonders ins Gewicht, da 29 Prozent der Spielerinnen laut einem Bericht der Organisation FIFPRO „keine Zahlungen von ihren Nationalteams erhalten“.

Andere Verbände können sich ein Beispiel an der Vereinbarung zwischen dem costa-ricanischen Verband und seinen Spielerinnen nehmen. Diese unterzeichneten im April 2022 einen Tarifvertrag. Nach dem Vorbild der Vereinbarung für männliche Fußballer von 2014 wurden Prämien, Zulagen und Grundbedürfnisse für die Spielerinnen festgelegt. So wurde beispielsweise vereinbart, dass sie den gleichen Prozentsatz der von der FIFA gezahlten Einnahmen als Bonus erhalten wie die männlichen Profis.

Auch mit Blick auf die Berichterstattung gibt es positive Neuigkeiten. Mitte Juni unterzeichneten die deutschen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ARD und ZDF mit der FIFA eine Vereinbarung über die Übertragungsrechte. Der Vertragsabschluss ließ auf sich warten, da die FIFA beschlossen hatte, die Übertragungsrechte für die Frauen- und Männer-WM getrennt zu verkaufen und sich dann mit dem ursprünglichen Angebot der europäischen öffentlich-rechtlichen Sender nicht zufrieden gab. Wegen der Zeitverschiebung werden alle Spiele nach deutscher Zeit am Vormittag in ARD und ZDF übertragen.

Y UN PEQUEÑO MILAGRO CADA MES

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Foto: Jan-Holger Hennies

Era un soleado día de mayo de 1973 cuando quince o veinte jóvenes, todos ellos recién llegados a Alemania del agitado clima político chileno, se reunieron en un prado verde bajo un cerezo en Hessen para pensar juntos cómo ayudar al pueblo chileno, que atravesaba una difícil situación, y al Gobierno de la Unidad Popular, mediante información educativa (¿conferencias, artículos?) y apoyo práctico (¿bicicletas, por ejemplo?). El ambiente era positivo, incluso optimista, teniendo en cuenta las malas noticias que llegaban en su mayoría del otro lado del Océano Atlántico: asesinatos políticos organizados por grupos de extrema derecha, la inflación en rápido aumento, la escasez de suministros en todas partes. Sin embargo, el grupo estaba animado y no se imaginaba que el “experimento “, una profunda agitación política y social mediante un Gobierno electo, pudiera fracasar. Así se fundó el comité “Solidaridad con Chile”, cuya tarea principal era organizar ayuda práctica para las personas pasando aún más hambre durante el invierno chileno. Más para la comunicación interna del círculo que para la educación de la sociedad alemana occidental, se decidió compilar, cada 14 días, unas páginas con las informaciones más importantes sobre Chile y consejos en cuestiones prácticas. Los textos breves debían recopilarse “primero” en Berlín (Occidental).

Los comienzos

El momento había llegado: el 28 de junio de 1973, un jueves, como ocurriría de allí en adelante. A las siete de la tarde, seis —¿o siete?— personas se reunieron y planificaron el contenido de las páginas del primer número de la revista: comenzando con un breve informe “Sobre los acontecimientos en Chile”, seguido por referencias a materiales informativos, eventos, etcétera; y al fin de la página, también los nombres y direcciones de los implicados. Después de la sopa de frijol, que durante meses se convirtió en un elemento fijo de la tarde de producción, pusimos manos a la obra y, al cabo de tres horas, todos los textos estaban escritos y cuidadosamente mecanografiados en siete matrices Ormig. La noticia del intento fallido de golpe de Estado el día anterior en Chile apenas pudo acomodarse. A la mañana siguiente, se hicieron 50 copias de cada matriz, se clasificaron, se metieron en sobres y se llevaron a correos. Además de los miembros del comité, se pidieron donativos a algunos amigos para sufragar los gastos de producción, que se recibieron rápida y abundantemente.

La noticia de la existencia de esta fuente de información se extendió rápidamente, y en el quinto número —dos meses más tarde— hubo que retirar 200 ejemplares de las matrices para satisfacer la demanda. Pero eso era lo máximo que las matrices podían producir en aquel momento.

El número de involucrados también aumentó con rapidez. Pronto acudieron a ayudar diez, quince, veinte personas interesadas. Se hizo necesaria una reunión adicional el jueves, que hasta ese entonces había sido el día “libre”, para preparar el siguiente número. Por supuesto, todos en nuestras filas estaban convencidos de que la protección constitucional estaba implicada; no obstante, los nombres de los implicados se imprimieron valientemente. Los participantes chilenos en el Festival Mundial de la Juventud en Berlín (Oriental) debían recibir algunos ejemplares del número 3, pero la Policía Popular del paso fronterizo de la calle Heinrich-Heine estuvo vigilante y confiscó el pequeño folleto informativo tras un largo control del contenido. En el viaje de vuelta, los ejemplares fueron devueltos, porque la Policía Popular tampoco los quería como regalo.

Un intento de organizar un evento informativo en Berlín Occidental con la gente de Chile del festival fracasó porque esto sólo habría sido posible en conjunto con la FDJW (la Juventud Alemana Libre de Berlín Occidental), que impuso como condición que en el evento no se hubiera espacio de discusión: “Mejor ningún evento que uno descontrolado”.

Cualquiera que lea hoy los textos de los cinco primeros números de CHILE-NACHRICHTEN comprobará que estos muestran con toda claridad la inevitabilidad de un golpe de Estado de la derecha en Chile. Esto no fue intencionado, al contrario. Al discutir y escribir, todo el mundo era más o menos optimista de que todavía se podía cambiar la marea. Parecía demasiado escandaloso que el mundo se atreviera a tolerar un golpe contra un Gobierno electo.

La conmoción fue aún mayor cuando el golpe se produjo finalmente el 11 de septiembre de 1973. Para CHILE NACHRICHTEN esto significó de inmediato un fuerte aumento de la demanda y el procesamiento de más noticias, informaciones, manifestaciones de solidaridad. Ahora había que imprimir bien. En noviembre, la tirada era ya de 6000 ejemplares, cuya producción no supuso ningún problema financiero gracias a las ricas donaciones. El número 10 se publicó con un alcance considerablemente mayor; un amigo inglés llamó desde Londres durante una reunión editorial posterior: “¡Están locos! ¡Sesenta páginas!”Muy pronto, a finales de 1973, quedó claro que el calendario de publicación quincenal no podía mantenerse. La pequeña revista, cada vez más densa y pronto ampliada con números especiales —inicialmente gratuitos— con fines de documentación, sólo podía publicarse mensualmente. El estudio, la enseñanza, la investigación, la actuación, en resumen: la vida normal no podía subordinarse por completo al trabajo en la revista.

El archivo

A medida que los apartamentos de los y las integrantes de la redacción se llenaban de documentos importantes que nadie quería desechar, surgió la necesidad de construir un archivo. Esto no habría sido posible sin el apoyo y la infraestructura de la Comunidad de Estudiantes Evangélicos de la Universidad Técnica de Berlín.  En torno al archivo se fundaría pronto como asociación sin fines de lucro el Centro de Investigación y Documentación Chile-Latinoamérica (FDCL), que fue ampliando sus actividades con el tiempo. Cuanto más clara se volvían las violaciones a derechos humanos de la junta militar, sobre el carácter criminal del régimen de Pinochet mismo, sobre la imprudente política económica de los Chicago Boys y sobre las relativamente buenas relaciones del régimen con importantes figuras de la política y economía de la República Federal de Alemania; las y los integrantes de la redacción reconocían el valor de su trabajo al servicio de la información y la solidaridad cada vez más.

Solidaridad creciente

Junto a las CHILE-NACHRICHTEN (¿o sobre ellas? ¿en torno a ellas?), surgió en Berlín Occidental, directamente después del golpe de Estado, el Chile-Komitee, desde donde se organizaron manifestaciones, protestas y acciones de apoyo para las personas refugiadas que llegaron a Berlín. No se olvida —pese a las duras negociaciones previas con los comunistas de Berlín occidental del Partido Socialista Unificado de Berlín Oeste (SEW)— la gran manifestación de 30 mil personas el 4 de noviembre de 1973. Tampoco se olvida cómo durante la Copa Mundial de Fútbol de 1974, durante el partido de Chile contra Alemania, una enorme bandera chilena ondeó en la cancha en el medio tiempo, con el mensaje “CHILE SÍ — JUNTA NO”. Desde luego, el Chile-Komitee también fue un espacio de arduos debates políticos, en los que las CHILE-NACHRICHTEN no solo recibieron elogios. Si bien los Jóvenes Socialistas, inicialmente muy involucrados, percibían a la revista con cierta generosidad paternal, los spontis consideraban a la redacción como poco radical y demandaban con frecuencia una mayor consideración de las corrientes revolucionarias en Chile, como el Movimiento de Izquierda Revolucionaria (MIR) —incluso cuando estas corrientes tenían poco o nada en común con los spontis. Para muchos miembros habría sido preferible que la revista se convirtiera formalmente en un órgano del Komitee pero, como ello habría implicado demasiado trabajo de control, la independencia de la redacción se mantuvo siempre. Fundamentalmente, la redacción estaba organizada de manera poco rígida y tan espontánea como el Komitee. La participación era absolutamente voluntaria y además anónima, puesto que nadie quería divulgar los nombres de miembros del equipo a la inteligencia chilena.

Conflictos ideológicos

Un miembro del Komitee abogaba incansablemente por agilizar el trabajo a partir de principios organizacionales claros. Sin embargo, este enviado oficial de la Liga contra el Imperialismo, una organización de fachada del Partido Comunista de Alemania (KPD) maoísta, no encontró simpatía hacia sus propuestas de elegir un consejo y establecer un secretariado. A los otros maoístas de la Liga Comunista de Alemania Occidental (KBW) se les ocurrió otra cosa. Enviaron a un camarada —le llamaremos Fritz— a la redacción de las CHILE-NACHRICHTEN, donde consiguió hacer amigos con diligencia y prudencia. Un día Fritz declaró que se ausentaría por tres semanas porque debía dedicarse a estudiar un documento. Tres semanas más tarde, trajo a otro camarada, y ambos asumieron la tarea de iluminar a la redacción en que las CHILE-NACHRICHTEN estaban objetivamente al servicio de la contrarrevolución, puesto que no seguían fielmente la línea de la República Popular China de apoyar al “tercer mundo” —incluido Pinochet— contra el imperialismo. Los dos enviados del KBW solicitaron sacar de la redacción a todo aquel que no quisiera seguir la línea correcta. Perdieron con dos votos contra 18, desaparecieron y no fueron vistos por un largo rato, hasta que Fritz —ya purgado hacía tiempo— apareció en un buen proyecto vecino del Mehringhof.

Caos constructivo

El trabajo de la redacción era algo descoordinado. Ya en aquel entonces, cada edición tenía una nueva coordinación. Sin embargo, por lo general, todo se mantenía abierto hasta el último minuto; por ello, ya en aquel tiempo, las noches de producción se extendían hasta altas horas de la madrugada.

Por un buen tiempo, lo más caótico fue la situación financiera. Tras el golpe de Estado en Chile, la revista recibió muchas suscripciones de individuos, grupos y librerías. Pero nadie tenía tiempo para ocuparse de las cuentas pendientes. La revista se encontraría pronto al borde de la ruina  —hasta que alguien tuvo la idea de llamar a las y los suscriptores a saldar sus deudas—. El excedente fue tal que la redacción decidió ofrecer una revista similar en idioma español a las personas refugiadas chilenas en Berlín Occidental para sus pares en Europa. Bajo el nombre “CHILE COMBATIENTE” y “SÍ, COMPAÑERO” se publicaron un par de ejemplares, hasta que conflictos partidarios dentro de los grupos de refugiados y refugiadas complicaron cada vez más el trabajo. El dinero tampoco habría alcanzado para mucho más.

A mediados de los setenta quedó claro que, si bien Chile representaba un caso especialmente flagrante de combinación de gobierno militar autoritario y políticas económicas ultraliberales, los demás países sudamericanos seguían cada vez más su ejemplo. En Uruguay, los militares habían asumido el poder casi simultáneamente. Brasil y Perú ya eran dictaduras militares.A más tardar con el golpe en Argentina en 1976 se hizo evidente que se trataba de  una tendencia generalizada que debía interesar a la redacción de las CHILE-NACHRICHTEN. Como resultado, se publicaban cada vez más artículos sobre los vecinos de Chile, hasta que eventualmente se encontraron ante la decisión de ampliar fundamentalmente tanto el contenido como el título de la revista. Como todos los cambios fundamentales en la historia de la publicación, la discusión al respecto fue intensa; pero con el número 51, y con el inicio del quinto año de publicación en el verano de 1977, el momento había llegado. A partir de ese momento, la revista se llamaría LATEINAMERIKA NACHRICHTEN; el nombre CHILE-NACHRICHTEN se mantuvo once años más como subtítulo y aparecía con un dejo de vergüenza en el Impressum, la declaración legal de autoría y propiedad. Las CHILE-NACHRICHTEN se volvieron parte de la historia. Ahora la redacción está conformada por jóvenes que no habían nacido cuando ya se había sepultado el nombre CHILE-NACHRICHTEN. Eso es digno de celebración.

Und jeden Monat ein kleines Wunder

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Hier fing alles an “Die Wiese” in Hessen, auf der die Idee für die Chile-Nachrichten entstand (Foto: Jan-Holger Hennies)

Es war ein sonniger Maientag des Jahres 1973, als sich fünfzehn bis zwanzig junge Leute, die alle erst vor kurzem aus dem aufgeregten politischen Klima Chiles nach Deutschland zurückgekehrt waren, auf einer grünen Wiese unter einem Kirschbaum im Hessischen versammelten, um gemeinsam darüber nachzudenken, wie man durch aufklärende Informationen (Vorträge, Artikel?) und praktische Unterstützung (Fahrräder zum Beispiel?) den unter der schwierigen Situation leidenden Volksmassen und der Regierung der Unidad Popular helfen könnte. Die Stimmung war gut und sogar optimistisch, bedenkt man die meistens schlechten Nachrichten, die über den Atlantischen Ozean kamen: politische Attentate, von extrem rechten Gruppen organisiert, rasch ansteigende Inflation, Versorgungsengpässe an allen Ecken und Enden. Trotzdem konnte sich die muntere Runde nicht vorstellen, daß das »Experiment« einer gründlichen Umwälzung mittels einer gewählten Regierung scheitern könnte. Und so wurde denn ein Komitee »Solidarität mit Chile« gegründet, das es sich zur Hauptaufgabe machte, praktische Hilfe für die im chilenischen Winter noch mehr darbenden Massen zu organisieren. Mehr für die interne Kommunikation des Kreises als für die Aufklärung der westdeutschen Gesellschaft wurde beschlossen, alle 14 Tage ein paar Seiten mit den wichtigsten Informationen aus Chile und Tips in praktischen Fragen zusammenzustellen. Die kurzen Texte sollten »erst einmal« in (West-)Berlin zusammengestellt werden.

Die Anfänge

Am 28. Juni 1973, einem Donnerstag wie immer seither, war es dann so weit. Gegen sieben Uhr abends kamen sechs – oder sieben? – Leute zusammen und planten den Inhalt der Seiten der ersten Nummer: erst einen kurzen Bericht »Über die Ereignisse in Chile«, dann Hinweise auf Informationsmaterial, Veranstaltungen etc., schließlich auch die Namen und Adressen der Beteiligten. Nach der Bohnensuppe, die für Monate zu einer ständigen Einrichtung am Produktionsabend wurde, ging es an die Arbeit, und nach drei Stunden waren alle Texte geschrieben und sorgfältig auf sieben Ormig-Matritzen getippt. Die Nachrichten von einem mißlungenen Putschversuch am Vortag in Chile konnten gerade noch berücksichtigt werden. Am nächsten Morgen wurden von jeder Matritze 50 Abzüge gemacht, sortiert, in Briefumschläge gepackt und zur Post gebracht. Außer den Mitgliedern des Komitees wurden noch ein paar Freunde bedacht, von denen man für die Produktionskosten Spenden erbat, die dann auch schnell und reichlich eintrafen.

Die Existenz dieser Informationsquelle sprach sich schnell herum, und schon bei der fünften Nummer – zwei Monate später – mußten von den Matritzen 200 Exemplare abgezogen werden, um die Nachfrage zu befriedigen. Das war aber auch das Äußerste, was die Matritzen damals hergaben.
Die Zahl der Mitarbeitenden wurde auch ziemlich schnell größer. Bald kamen zehn, fünfzehn, zwanzig Interessierte, um zu helfen. Eine zusätzliche Sitzung an dem bisher »freien« Donnerstag wurde zur Vorbereitung der nächsten Nummer nötig. Natürlich waren alle davon überzeugt, daß der Verfassungsschutz in unseren Reihen mit dabei war; trotzdem wurden die Namen der Beteiligten tapfer abgedruckt. Von der Nummer 3 sollten die chilenischen Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Weltjugendfestival in (Ost-) Berlin einige Exemplare überreicht bekommen; aber die Volkspolizei am Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße war wachsam und beschlagnahmte die kleine Informationsbroschüre nach länger dauernder Kontrolle des Inhalts. Bei der Rückreise wurden die Exemplare zurückgegeben, denn geschenkt haben wollte die Volkspolizei sie auch nicht.
Ein Versuch, mit den Leuten aus Chile vom Festival eine Informationsveranstaltung in Westberlin zu machen, scheiterte daran, daß das nur gemeinsam mit der FDJW (der Freien Deutschen Jugend Westberlin) möglich gewesen wäre, und die stellte die Bedingung, daß auf einer solchen Veranstaltung nicht diskutiert werden dürfe: Lieber gar keine Veranstaltung als eine unkontrollierte.

Wer heute die Texte der ersten fünf Nummern der CHILE-NACHRICHTEN liest, wird finden, daß sie in aller Klarheit die Unausweichlichkeit eines Putsches der Rechten in Chile aufzeigen. Das war nicht Absicht – im Gegenteil. Beim Diskutieren und Schreiben waren alle mehr oder weniger optimistisch, daß sich das Blatt noch wenden ließe. Es schien zu ungeheuerlich, daß die Welt es wagen sollte, den Putsch gegen eine gewählte Regierung zu dulden.

Umso größer war der Schock, als der Putsch dann am 11. September 1973 doch unternommen wurde. Für die CHILE-NACHRICHTEN bedeutete das sofort eine sehr stark wachsende Nachfrage und die Verarbeitung von immer mehr Nachrichten, Informationen, Solidaritätskundgebungen. Jetzt mußte richtig gedruckt werden. Im November lag die Auflage schon bei 6000 Exemplaren, deren Produktion finanziell wegen reicher Spenden kein Problem war. Die Nummer 10 erschien mit einem erheblich erweiterten Umfang; ein englischer Freund rief danach während einer Redaktionssitzung aus London an: »Ihr seid varrickt! Sixty pages!«

Ende 1973 wurde sehr schnell deutlich, daß die 14-tägige Erscheinungsweise nicht zu halten war. Die kleine Zeitschrift, die nun immer dicker wurde und bald zu Dokumentationszwecken um – zunächst kostenlose – Sonderhefte erweitert wurde, konnte nur noch monatlich hergestellt werden. Studium, Unterricht, Forschung, Schauspiel, kurz: das normale Leben konnte ja nicht völlig der Arbeit an dem Blatt untergeordnet werden.

Das Archiv

Weil sich die Wohnungen der Redaktionsmitglieder mit wichtigen Daten und Dokumenten füllten, die niemand wegwerfen wollte, mußte ein Archiv eingerichtet werden. Ohne die tatkräftige Mithilfe und die Infrastruktur der Evangelischen Studentengemeinde an der Technischen Universität wäre das wohl niemals möglich gewesen. Als gemeinnütziger Verein um das Archiv herum wurde dann bald das Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile – Lateinamerika (FDCL) gegründet, dessen Aktivitäten sich später stark ausgeweitet haben.

Je genauer die Informationen über die Menschenrechtsverletzungen durch die Militärjunta, über den verbrecherischen Charakter des Pinochet-Regimes an sich, über die rücksichtslose Wirtschaftspolitik der Chicago Boys und über relativ gute Beziehungen zu wichtigen Figuren aus Wirtschaft und Politik der Bundesrepublik wurden, desto wichtiger empfanden die Redaktionsmitglieder ihre Arbeit im Dienst von Information und Solidarität.

Wachsende Solidarität

Neben den CHILE-NACHRICHTEN (oder über ihnen? oder um sie herum?) war in Westberlin schon gleich nach dem Putsch das Chile-Komitee entstanden, von dem aus Demonstrationen, Proteste und Hilfsaktionen für die nach Berlin gekommenen Flüchtlinge organisiert wurden. Unvergessen bleibt – trotz der zermürbenden Vorverhandlungen mit den Westberliner Kommunisten von der SEW – die große Demonstration der 30.000 am 4. November 1973; unvergessen bleibt auch, wie während der Fußball-WM 1974 beim Spiel Chile gegen Deutschland in der Pause auf dem Platz eine große chilenische Flagge erschien mit der Aufschrift: »CHILE SI – JUNTA NO«.

Natürlich war das Chile-Komitee auch Ort heftiger politischer Debatten, in denen die CHILE-NACHRICHTEN nicht nur gelobt wurden. Die anfangs noch stärker beteiligten Jungsozialisten betrachteten zwar die Zeitschrift mit einer Art altväterlichem Wohlwollen, aber die über weite Strecken tonangebenden Spontis hielten die Redaktion für eher zu wenig radikal und verlangten häufig eine stärkere Berücksichtigung der entschieden revolutionären Strömungen in Chile wie etwa der »Linksrevolutionären Bewegung« (MIR), auch wenn diese Strömungen mit Spontis absolut nichts im Sinn hatten. Am liebsten wäre manchen im Komitee gewesen, wenn die Zeitschrift regelrecht zum Organ des Komitees geworden wäre; da das aber viel Arbeit für die Kontrolleure bedeutet hätte, blieb die Unabhängigkeit der Redaktion immer erhalten. Im Kern war sie ebenso locker organisiert und spontan wie das Komitee. Die Mitarbeit war absolut freiwillig und dazu noch anonym, weil niemand dem chilenischen Geheimdienst die Namen der Mitarbeitenden verraten wollte.

Ideologische Auseinandersetzungen

Ein Komiteeteilnehmer trat immer wieder unbeirrbar für eine Straffung der Arbeit durch klare Organisationsprinzipien ein. Dieser offizielle Abgesandte der Liga gegen den Imperialismus, einer Frontorganisation der maoistischen KPD, fand aber mit seinen Vorschlägen für die Wahl eines Vorstandes und die Einrichtung eines Sekretariats keinerlei Gegenliebe. Die konkurrierenden Maoisten vom KBW ließen sich etwas anderes einfallen. Sie entsandten einen Genossen, nennen wir ihn Fritz, in die Redaktion der CHILE-NACHRICHTEN, wo er sich durch Fleiß und Umsicht Freunde zu machen wußte. Eines Tages erklärte Fritz, er könnte erst einmal drei Wochen lang nicht erscheinen, weil er ein Dokument zu studieren habe. Nach drei Wochen brachte er einen Genossen mit, und beide begannen mit dem Versuch, der Redaktion klarzumachen, daß die CHILE-NACHRICHTEN objektiv der Konterrevolution dienten, weil sie nicht konsequent gemäß der Linie der Volksrepublik China die Dritte Welt – einschließlich Pinochet – gegen den Imperialismus unterstützten. Die beiden KBW-Leute beantragten, alle aus der Redaktion zu entfernen, die der korrekten Linie nicht folgen wollten, unterlagen aber mit zwei gegen achtzehn Stimmen, verschwanden und wurden lange Zeit nicht mehr gesehen, bis Fritz – inzwischen längst geläutert – bei einem sehr vernünftigen Nachbarprojekt im Mehringhof auftauchte.

Konstruktives Chaos

Die eigentliche Arbeit der Redaktion verlief einigermaßen unkoordiniert. Für jede Ausgabe wurde schon damals eine neue Leitung bestimmt. Im übrigen aber blieb alles meistens bis zur letzten Minute offen; deshalb dauerten die Produktionsnächte schon damals bis in die Morgenstunden.

Am chaotischsten war nach einiger Zeit die Finanzlage. Nach dem Putsch in Chile waren sehr viele Abonnementsbestellungen von Personen, Gruppen und Buchhandlungen eingegangen. Aber niemand hatte Zeit, sich um das Eintreiben der Außenstände zu kümmern. Die Zeitschrift stand relativ bald vor dem Ruin, bis jemand auf den Gedanken kam, die Abonnenten einfach zur Bezahlung ihrer Schulden aufzufordern. Darauf ergab sich ein solcher Überschuß, daß beschlossen wurde, den chilenischen Flüchtlingen in Westberlin die Herausgabe einer ähnlichen Zeitschrift in spanischer Sprache für ihresgleichen in Europa anzubieten. Unter den Namen »CHILE COMBATIENTE« und »SI, COMPAÑERO« sind dann auch tatsächlich ein paar Nummern erschienen, bis Parteienstreitigkeiten unter den Flüchtlingsgruppen die Arbeit immer mehr erschwerten. Das Geld hätte auch nicht viel weiter gereicht.

Mitte der siebziger Jahre wurde deutlich, daß Chile zwar einen besonders krassen Fall der Kombination von autoritärer Militärherrschaft und ultraliberaler Wirtschaftspolitik bedeutete, daß aber die anderen südamerikanischen Länder diesem Beispiel immer stärker folgten. In Uruguay hatten die Militärs die Herrschaft fast gleichzeitig übernommen. Brasilien und Peru waren schon Militärdiktaturen gewesen.
Spätestens mit dem Putsch in Argentinien 1976 wurde deutlich, daß es sich um eine allgemeine Tendenz handelte, für die sich nun die Redaktion der CHILE-NACHRICHTEN interessieren mußte. Das Ergebnis waren immer mehr Artikel über Chiles Nachbarländer, bis dann irgendwann die Entscheidung anstand, den Inhalt und den Titel grundsätzlich zu erweitern. Wie jede der grundsätzlichen Veränderungen in der Geschichte der Zeitschrift war auch diese heiß umkämpft; aber mit Nummer 51 und dem Beginn des fünften Jahrgangs im Sommer 1977 war es dann soweit. Von jetzt ab hieß das Blatt LATEINAMERIKA NACHRICHTEN; der Name CHILE-NACHRICHTEN hielt sich noch elf Jahre als Untertitel und erscheint nur noch ganz schamhaft im Impressum. Die CHILE-NACHRICHTEN sind Teil der Geschichte geworden. Heute arbeiten in der Redaktion junge Leute, die noch nicht geboren waren, als der Name CHILE-NACHRICHTEN schon begraben wurde. Das gilt es zu feiern.

Alte Texte neu gelesen – dieser Text erschien zum 25. Jubiläum der in LN 289/290 (Juli/August 1998) und wurde in der Jubiläumsausgabe 588 zu 50 Jahren LN erneut abgedruckt.

50 Jahre Lateinamerika Nachrichten

„Amerika den Amerikanern“ formulierte der US-amerikanische Präsident James Monroe vor 200 Jahren und meinte doch nur „Lateinamerika den USA“. Der Aufstieg der USA zur neuen Hegemonialmacht in Lateinamerika vollzog sich in wenigen Jahrzehnten, schon Anfang des 20. Jahrhunderts war der Kontinent fest in den Händen der USA.
Auch die Gründung der Lateinamerika Nachrichten vor nunmehr 50 Jahren verdankt sich, zumindest indirekt, dieser Doktrin. Die Rolle der USA bei der wirtschaftlichen Destabilisierung der Unidad Popular-Regierung in Chile und beim Militärputsch gegen Präsident Salvador Allende mag heute längst nicht mehr allen bekannt sein. Für die Aktiven des Komitees „Solidarität mit Chile“, die am 28. Juni 1973 die erste Ausgabe der Chile-Nachrichten (seit Nummer 51: Lateinamerika Nachrichten) produzierten, war der Kampf gegen den US-Imperialismus jedoch ein wichtiges Motiv für ihr politisches und journalistisches Engagement.
Der Diktator ging, die Lateinamerika Nachrichten blieben. Nur mäßig konnte uns zu unserem Silberjubiläum im Jahre 1998 der Abgang von Augusto Pinochet erfreuen: Den Oberbefehl über die chilenischen Streitkräfte tauschte er damals mit einem Senatorenposten auf Lebenszeit. Und auch sonst boten uns eher die Kontinuität der eigenen Arbeit, denn die Verhältnisse in Lateinamerika Anlaß zu Optimismus.
Das waren überhaupt komische Zeiten damals, als sich das Jahrtausend dem Ende zuneigte. Die Zauberworte Neoliberalismus und Globalisierung bestimmten die Regierungspolitik in fast allen Ländern des Kontinents. Fast: Wie ein gallisches Dorf trotzte nur Kuba den Römern, die damals in Washington residierten. Und als ob auch er als Kind in einen Zaubertrank gefallen wäre, zeigte sich Fidel Castro Jahrzehnt um Jahrzehnt unschlagbar: In der westlichen Hemisphäre hält er noch heute den Rekord für die längsten Ansprachen – unterbrechen ließ er sich meist nur, wenn auf der Zuckerinsel mal wieder der Strom abgestellt wurde. Vor Yankees hatte er nur auf dem Baseball-Platz Respekt, die Blockade konnte Kuba nicht in die Knie zwingen (für jüngere LeserInnen: die USA versuchten bis nach der Jahrtausendwende, Kuba durch Wirtschaftsblockade und politische Isolierung in die Knie zu zwingen – was sich ja bekanntlich erst änderte, als vor fünfzehn Jahren die kurz zuvor eingebürgerte Ex-Präsidentin Brasiliens, Benedita da Silva, ins Weiße Haus gewählt wurde).
Lange Zeit war Politik ja eine Angelegenheit korrupter Männer, die mit Militärs kungelten und Phantasie nur zeigten, wenn sie für ihre Wiederwahl mal wieder eine Verfassungsänderung durchsetzten – in Peru durfte damals nur noch zum Präsidenten gewählt werden, wer japanische Vorfahren, und in Argentinien, wer syrische Vorfahren hatte. Brasilien konnte nur regieren, wer Großgrundbesitzer war und ein Soziologie-Diplom sein eigen nannte.
Die Wende in Lateinamerika brachten bekanntlich die ZapatistInnen und die Landlosenbewegung MST. Der erste Präsident mit Skimütze in Mexiko und die Vergabe eines Landtitels an die letzte landlose Bäuerin in Brasilien – das waren bewegende Momente, die auch uns wieder optimistisch in die Zukunft blicken ließen.
Denn während unsere Freunde und Freundinnen in Lateinamerika die Verhältnisse zum Tanzen brachten, wurde es in Deutschland immer eisiger. Die Grünen stritten mal wieder, ob es der Bevölkerung zuzumuten sei, den Benzinpreis um drei Prozent zu erhöhen, während Joschka Fischer als Verteidigungsminister den Parteiausschluß von Jürgen Trittin verlangte, weil der sich noch immer weigerte, an den wöchentlichen öffentlichen Rekrutengelöbnissen vor dem Reichstag teilzunehmen.
Grund zur Freude hatten wir erst wieder, als Jamaica 2006 Fußballweltmeister wurde und Berti Vogts durchsetzte, daß Gras endlich auch in Deutschland legalisiert wird. Die Cannabis-Pflanze statt dem Bundesadler auf der Schwarz-Rot-Goldenen Flagge und „Keine Macht für niemand“ von den Scherben als Nationalhymne – das hat sich vor 25 Jahren niemand in der Redaktion zu träumen gewagt. Auch nach 50 Jahren Lateinamerika Nachrichten – wir machen weiter: „Get up, stand up for your rights“.

Alte Texte neu gelesen – dieses Editorial erschiet in LN 289/290 (Juli/August 1998) und wurde in der Jubiläumsausgabe 588 zu 50 Jahren LN erneut abgedruckt.

Ein Konzern blamiert sich

VW in São Paulo Druck aus der Zivilgesellschaft (Foto: Ennio Brauns)

Es ist vor allem dem Priester Ricardo Rezende von der Landarbeiterpastoral CPT zu verdanken, dass die skandalösen Verhältnisse auf der Rinderzuchtfarm von VW do Brasil nicht in Vergessenheit gerieten. Er dokumentierte die menschen-unwürdige Be­handlung der Arbeiter*innen bereits in den 1970er und 1980er Jahren, sammelte jahrelang Zeugenaussagen und Beweise und bewirkte bereits Anfang der 1980er Jahre eine polizeiliche Untersuchung. Diese zog allerdings keine weiteren Konse­quenzen nach sich. 2022 war es erneut Rezende, inzwischen Professor für Anthro­pologie und Menschenrechte, der eine Anhörung durchsetzte. Bereits 2019 hatte er dem Arbeitsministerium (MPT) ein detailliertes Dossier ausgehändigt und nach drei­jähriger Auswertung fiel endlich von staatlicher Seite die Entscheidung, dass die auf­geführten Sachverhalte eine nähere Untersuchung rechtfertigen. 2022 griff die brasi­lianische Bundesstaatsanwaltschaft die Ereignisse auf der Farm auf und eröffnete am 19. Mai ein Ermittlungsverfahren gegen Volkswagen, dem am 14. Juni 2022 eine erste Anhörung in Brasília folgte. Diese fand über Brasilien hinaus große Aufmerk­samkeit. In Deutschland berichteten unter anderem der Spiegel, die Süddeutsche Zeitung und der Weltspiegel der ARD. VW musste zu den Vorwürfen Stellung bezie­hen, die Hoffnung auf eine baldige Einigung bestand. Anklagepunkte waren Sklaven­arbeit, Menschenhandel und systematische Menschenrechtsverletzungen in hunder­ten von Fällen.

Um für das Treffen am 29. März 2023 eine Entscheidung herbeizuführen und eine weitere Verzögerungstaktik von VW zu unterbinden initiierte die Brasilieninitiative Freiburg e.V. Anfang Februar bei campact eine WeAct-Petition: „VW soll Menschen­rechtsverletzungen anerkennen.“ Binnen kurzer Zeit kamen fast 3.000 Unterschriften zusammen. Weder der im VW-Vorstand zuständige Herr Dr. Döss noch die Men­schenrechtsbeauftragte Frau Dr. Waltenberg – 2022 hatte VW die Stelle einer Menschenrechtsbeauftragten eingeführt – standen jedoch für die Annahme zur Verfü­gung, allein der VW-Pressesprecher nahm am 24. März die Petition in Wolfsburg ent­gegen. Auch die zeitgleich geplante Übergabe in São Paulo gestaltete sich anders als erwartet: Vertreterinnen verschiedener NGO waren anwesend, die VW-Delega­tion ging wortlos an ihnen vorüber, eine Annahme der Petition wurde abgelehnt. Das Treffen selbst brachte erneut keine Einigung, im Gegenteil. Vertreter*innen von VW do Brasil verließen den Verhandlungstisch und erklärten nicht weiter an einer Eini­gung interessiert zu sein: VW sei nicht verantwortlich für die Geschehnisse auf der Farm. Der auf dem Tisch liegende Vorschlag der Staatsanwaltschaft über eine Ent­schädigungszahlung von umgerechnet rund 25 Millionen Euro fand keine Beachtung. Diese sollte den bereits identifizierten geschädigten Arbeitern bzw. deren Familien zugutekommen sowie der Einrichtung eines Opferfonds dienen. Der leitende Staats­anwalt Rafael Garcia sagte nach der Begegnung im Gespräch mit der Tageszeitung Folha de São Paulo: „Wir bedauern die Haltung von Volkswagen, welche die Arbeit­nehmer, die mehr als zehn Jahre lang versklavt und in ihrer Würde und Freiheit be­schnitten wurden, nicht respektiert.“

Der Auseinandersetzung um die Entschädigungszahlungen an die Geschädigten auf der VW-Rinderzuchtfarm ist ein jahrzehntelanges Tauziehen um Entschädigungen für die während der Militärdiktatur begangenen Menschenrechtsverletzungen in den VW-Werken vorangegangen. Es dauerte bis ins 21. Jahrhundert, bis VW sich – notgedrungen – seiner Vergangenheit in Brasilien stellen musste. Anlass war der am 10. Dezember 2014 nach zweijähriger Arbeit überreichte Bericht der bra­silianischen Wahrheitskommission an die damalige Präsidentin Dilma Rousseff. In diesem dreibändigen Bericht wurden die Menschenrechts-verletzungen während der Militärdiktatur 1964 bis 1985 aufgearbeitet.

Der Bericht legte sowohl die Kollaboration mit der Militärdiktatur, die Verfolgung ge­werkschaftlich aktiver Arbeiter im VW-Werk in São Bernardo do Campo, als auch die sklavenähnlichen Verhältnisse auf der VW-Rinderzuchtfarm im Bundesstaat Pará of­fen. Bereits 1983 vorliegende Dokumente, die jedoch damals keine Beachtung fan­den und die von menschenunwürdigen Zuständen berichteten, sollten bestätigt wer­den. Eine Reaktion von VW wurde notwendig und so beauftragte der Konzern 2016 den Historiker Christo­pher Kopper mit der Aufarbeitung der Vorwürfe. Dieser recherchierte so­wohl zur Zusammenarbeit mit der Militär-regierung und der Verfolgung kritischer Ge­werkschafter im Automobilwerk in São Bernado do Campo (Bundesstaat São Paulo), als auch zu den Vorwürfen in Bezug auf die VW-Rinder-zuchtfarm Rio Cristalino in Amazonien. Sein Urteil war eindeutig: „Das Management von VW do Brasil verhielt sich gegenüber der Militärregierung uneingeschränkt loyal und teilte ihre wirtschafts­politischen und innenpolitischen Ziele.“

Was die Vorwürfe gegenüber der Behandlung der Beschäftigen im VW-Werk betraf, erklärte sich VW 2020 schließlich dazu bereit, umgerechnet rund 5,5 Millionen Euro an Ent­schädigung zu bezahlen. Damit erhielten ehemalige Gewerkschafter, die während der Militärdiktatur nachweislich gefan-gen, gefoltert oder verfolgt wurden, eine späte finanzielle Entschädigung; auch ein Opferverband wurde eingerichtet. Für VW war da­mit dieses dunkle Kapitel der Firmengeschichte abge-schlossen.

„Vergessen“ hatte man allerdings die Vorkommnisse auf der VW-Rinderzuchtfarm, die Historiker Kopper ebenfalls in seinem Bericht belegte. VW hatte in den 1970er Jahren beschlossen, nicht nur Autos zu produzieren, sondern sich auch in der Rin­derzucht zu betätigen. 1978 erwarb der Konzern die Fazenda Rio Cristalino mit 139.000 Hektar Land im Bundesstaat Pará, wo sich die Arbeitsbe-dingungen für die nicht festan­gestellten Arbeiter als prekär erweisen sollten. Für das Abholzen, Niederbrennen und Um­zäunen beauftragte das Firmenunternehmen Subunternehmer, die sogenannten gatos (Kater): „Zu den bevorzugten Opfern der gatos gehörten verschuldete Wan­derarbeiter, deren Schulden sie übernahmen. Da von dem Lohn nach Abzug der Ver­pflegung kaum Geld zum Abzahlen der Schulden übrig blieb, gerieten verschuldete Wanderarbeiter in eine längerfristige Schuldknechtschaft.“ Laut Kopper war die Lei­tung der VW-Farm zweifellos mit den Verhältnissen auf dem ländlichen Arbeits­markt vertraut und kannte die ausbeuterischen Praktiken der gatos.

Verfehlungen in der Militärdiktatur – Verantwortung wird bis heute abgelehnt

Die zwischen 600 und 1.200 Männer mussten ihre Unterkunft in Zelten, ihre Verpfle­gung und ihren Transport selbst bezahlen. Damit waren sie von Beginn an hoch ver­schuldet und durften die Farm nie verlassen. Private Sicherheitsdienste hinderten sie daran. In einem Interview mit den Brasilien Nachrichten 1986 bestätigte der ehemali­ge Sicherheitsbeauftragte der VW-Farm, Adão, dass zeitgleich mehrere Subunterneh­men tätig waren und dass es vorkam, dass Menschen flohen. Die Tatsache, dass 90 Prozent der Farmarbeiter Analphabeten gewesen seien, habe den Umgang mit ihnen erleichtert, ihre Rechte hätten sie nicht gekannt. „Auch wenn es sich nicht um wirkli­che Sklaven handelte und VW do Brasil nicht unmittelbar für ihre katastrophalen Ar­beitsbedingungen verantwortlich war, unterließ VW alles, um die Lage der Wander­arbeiter zu verbessern“, stellte Kopper fest. VW do Brasil entschloss sich 1986 schließlich zum Verkauf der Fazenda Rio Cristalino. Zum einen wurde wohl ein Imageschaden befürchtet, zum anderen blieben die erhofften Gewinne aus.

Für den engagierten Vertreter des Arbeitsministeriums, Staatsanwalt Rafael Garcia, gab es nach Sichtung der Unterlagen keine Zweifel, dass „VW immer wusste, was auf der Fazenda geschah, zum einen weil VW der Besitzer war und zum zweiten da der Zugang zur Fazenda und der Verbleib auf ihr unter voller Kontrolle der VW-Ver­waltung stand“, so Garcia gegenüber Agência Brasil. Zur Tatsache des be­waffneten „Sicherheitsdienstes“, der die Arbeiter*innen daran hinderte, die Fazenda zu verlassen, meinte Garcia: „Ein derartiges Verhalten wäre ohne Zustimmung der für die Fazenda Verantwortlichen unmöglich gewesen.“ Es stand und steht für ihn außer Frage, dass VW Verantwortung zu übernehmen hat.

Dagegen lehnt der ehemalige Verant­wortliche der VW-Farm, Brügg, bis heute jede Verantwortung ab. „Die Vorwürfe sind völliger Blödsinn“, sagte er am 22. Mai 2022 im Weltspiegel der ARD. Auch die Konzernleitung von VW weigert sich bis heute, die unhaltbaren Zustände der damaligen Zeit anzuerkennen. Angesichts der nur noch wenigen Überlebenden ist das besonders skandalös. „Statt die Opfer der VW-Sklavenarbeit auf der Rinderzuchtfarm endlich nach all den Jahren zu entschädigen, will Volkswagen auf der am 10. Mai in Berlin anstehenden Jahres­hauptversammlung des Konzerns die Bezüge, Boni und Gehaltszahlungen für den Vorstand erhöhen“, kritisiert Christian Russau, Vorstandsmitglied des Dachverbands der Kritischen Aktionär*innen aus Köln. „In der Summe wären das potentielle Erhö­hungen von 27 Millionen Euro, dies entspricht ziemlich genau der von der Staats­anwaltschaft geforderten Entschädigung. Dieses Geld steht den ehemaligen Skla­venarbeitern zu!“

Nachdem VW do Brasil die Gespräche abgebrochen hat, ist jetzt der Mutterkonzern gefragt. VW sollte schnellstens einer Vereinbarung zustimmen, die Verzö­gerungstaktik aufgeben und endlich dieses düstere Kapitel seiner Firmengeschichte zum Ab­schluss bringen. Eine Stellungnahme des Mutterkonzerns in Wolfsburg auf die Ereignisse in São Pau­lo am 29. März sowie auf die von fast 3.000 Bürger*innen unterzeichnete Petition lag, trotz mehrfacher Nachfrage, bis zum Redaktionsschluss nicht vor.

„Wir wollten die Gewalt nicht in den Vordergrund stellen“

Ein Film aus der Perspektive der Mütter Das Kurzmusical Ash Wednesday war auf der Berlinale 2023 zu sehen (Foto: Kleber Nascimento)

Wie kam es dazu, dass Sie diesen Film gemacht haben?

João Pedro Prado: Der Film ist ein bisschen wie ein Kammerspiel. Er basiert auf Geschichten und Situationen aus Vierteln in Rio wie der Maré, wo es für Kinder gefährlich ist, zur Schule zu gehen. Die Idee dazu kam mir während der Pandemie und es war von Anfang an klar, dass wir in Deutschland drehen mussten, weil es im Ausland in dieser Zeit gar nicht möglich war. Das bedeutete, dass wir es mit Brasilianer*innen, die hier leben, machen mussten. 90 Prozent der Beteiligten an diesem Film sind aus der deutsch-brasilianischen Community. Einige sind erst seit einem Jahr hier, andere schon seit Jahrzehnten. Bárbara zum Beispiel schon seit 2001. Ich habe sie kontaktiert, weil ich ein Musical machen wollte, aber selbst keine musikalischen Kenntnisse hatte.

Bárbara Santos: Uriara Maciel, unsere Hauptdarstellerin, war meine Theaterschülerin in mehreren Gruppen, die ich geleitet habe. Sie wusste, dass ich viel mit Klang und Rhythmus arbeite und hat mir dieses Projekt vorgestellt, das ich sofort geliebt habe. Das Konzept zum Drehbuch war schon komplett strukturiert, es fehlte nur die Musik, für die ich verantwortlich sein sollte. Ich fand die Idee sensationell, dass eine Frau in ihrem Haus in der Favela ständig von Eindringlingen heimgesucht wird, die verschiedene Formen von Gewalt ausüben. Ich mochte auch, dass der Fokus trotz allem nicht auf der Gewalt, sondern auf ihrer Perspektive lag.

Das Bild der Favelas in Rio wurde außerhalb Brasiliens auch durch andere Filme geprägt: City of God war 2003 ein Riesenerfolg, Tropa de Elite (Elite Squad) hat 2008 die Berlinale gewonnen. War das ein Einfluss für euch oder wolltet ihr einen Kontrast dazu setzen?

João Pedro Prado: Ein Einfluss nur in der Hinsicht, wie wir es nicht machen wollten (lacht).

Bárbara Santos: Wir wollten einen Film machen, in dem die Gewalt nicht im Vordergrund steht. Wir wollten über die Gewalt sprechen, ihre Auswirkungen im täglichen Leben der Menschen zeigen. Aus der Perspektive eben dieser Menschen, die wir nicht entmenschlichen wollten. Durch die Musik wollten wir auch eine Brecht’sche Distanz, eine Verfremdung der Gewalt schaffen. Damit man als Zuschauer*in auch darüber nachdenken kann, was man da sieht. Nicht nur in Schießereien verwickelt zu sein, die Angst zu spüren. Wir wollten Reflexion wie bei Brecht, der sagte, dass man sein Hirn nicht mit dem Hut am Theatereingang abgeben soll.

João Pedro Prado: Es sollte nicht der Blickwinkel wie in Tropa de Elite sein, wo der Protagonist ein Polizist ist. Bei uns ist die Perspektive die einer Mutter, die dort wohnt. Das sieht man nicht so oft, dass eine Frau im Zentrum dieser Filme über Gewalt in der Favela steht, und auch das macht den Film interessant anzusehen. Wir haben an die Mütter gedacht, die 2020 in Rio de Janeiro nach Polizeieinsätzen gebeugt über den Särgen ihrer getöteten Kinder standen. Uns hat interessiert: Was ist mit diesen Müttern passiert? Was war ihre Geschichte davor und danach? Und warum erzählen wir nicht ihre Geschichte?

Seid ihr in Kontakt mit Leuten, die dort wohnen? Wie ist die Situation jetzt? Hat sich in den letzten Jahren etwas verändert oder ist alles mehr oder weniger gleich geblieben?

Bárbara Santos: Die vier Jahre Bolsonaro waren eine Ausnahmesituation für Brasilien. Da hat sich die Situation wirklich verschlechtert. Ich komme aus Rio de Janeiro. Das war dort die Zeit der schlimmsten Gemetzel aller Zeiten in den Favelas. Als der neue Gouverneur Claudio Castro an die Macht kam, gab es in den ersten sechs Monaten seiner Amtszeit unfassbare Massaker. Und in der Pandemie wurde es noch schlimmer. Die Leute waren zu Hause, schutzlos. Es gab da das Beispiel eines Jungen, auf das wir uns mehr oder weniger mit unserem Film bezogen haben. Der ist auf dem Schulweg gestorben, in seiner Schuluniform. Das sollte eigentlich ein Schutzschild für ihn sein, diese Schuluniform. Von den Polizist*innen hört man oft als Rechtfertigung für Erschießungen: „Der sah aus wie ein Verbrecher!“ Das war der endgültige Beweis, dass es nicht so ist.
Es war eine schreckliche Zeit. Jetzt mit der Regierung Lula herrscht eine enorme Erleichterung, dass nicht alles noch schlimmer wird. Alleine darüber sind die Leute schon glücklich. Es wurde in der Zeit vorher immer, immer schlimmer, es hörte nicht auf, nirgendwo. Unglücklicherweise gibt es in Rio keine große Hoffnung, denn der Gouverneur wurde wiedergewählt. Es gibt da eine politische Logik, dass Sicherheitspolitik sich auf Waffen und Gewalt stützt. Wir wollen dazu beitragen, die Ideen zu entmystifizieren, dass man die Gewalt beendet, indem man die Armen wegschafft. Dass man die Armut beendet, indem man die Armen tötet. Und auch unser Film kann dabei helfen, darüber nachzudenken und diese Diskussion zu transportieren. Deshalb brennen wir auch total darauf, ihn in Brasilien zu zeigen. Damit wir Teil der Diskussion dort werden können.

Haben Sie auch selbst in einer Favela in Rio gewohnt?

Bárbara Santos: Nein, nie. Aber ich habe viel mit dem Theater der Unterdrückten in verschiedenen Favelas von Rio gearbeitet, kenne das Umfeld dort also sehr gut.

Die Regierung Bolsonaro stand auch für kulturellen Kahlschlag, speziell was die Filmförderung betrifft. Was erwarten Sie jetzt von der Regierung Lula auf diesem Gebiet?

João Pedro Prado: Ich erwarte, dass der nationale Fördertopf für audiovisuelle Medien zurückkehrt, dass Institutionen, die Kunst und Kino fördern, zurückkehren und geleitet werden von Menschen, denen Kulturförderung wichtig ist. Der große Knackpunkt ist: Etwas aufzubauen dauert sehr lange, um alles kaputtzumachen, braucht es nur wenige Monate. Brasilien hat zwei Jahrzehnte gebraucht, um zu der Kinogröße zu werden, die es am Ende der Regierungen von Dilma Roussef und Lula war. Und nur wenige Monate Bolsonaro haben gereicht, um das komplett zu zerstören. Er hat aus ideologischen Gründen den größten Teil der Finanzierungsmöglichkeiten abgeschafft. Meine Prognose ist deshalb, dass wir erst in zwei bis drei Jahren wieder brasilianische Filme auf internationalen Filmfestivals sehen werden. Das enthüllt auch die Fragilität unserer Demokratie und unserer Institutionen. Diese Institutionen und deren Finanzierung müssten unabhängig von der Regierung existieren, was unglücklicherweise nicht der Fall ist.

Bárbara Santos: Bolsonaro hat nicht nur das Kulturministerium abgeschafft, er hat die ganzen Strukturen zerschmettert. Jetzt muss man eine Struktur wiederaufbauen, die gut organisiert war und die er zerstört hat. Der Effekt von Bolsonaro ist so groß, dass er sich auf die Erinnerung auswirkt. In seiner Regierungszeit wurde nicht nur so viel Regenwald durch Brände zerstört, wie nie zuvor, sondern es haben auch noch nie so viele Museen gebrannt. Da ging ganz viel Erinnerung verloren. Deshalb ist es eine große Sache, dass wir jetzt das Kulturministerium zurückhaben. Denn dafür braucht man ein Kulturministerium: Zur Pflege der Erinnerung ans Kino, an die Künste. Es gibt große Hoffnung, das kann ich sagen. Alleine die Zerstörung gestoppt oder auch nur gebremst zu haben, ist eine Riesenerleichterung. Das mag absurd erscheinen, aber so ist es.

Dramatische Rhythmen in brasilianischer Favela

© Kleber Nascimento

Das Zischen des Schnellkochtopfs, das erst noch fröhliche Singen der Mutter, dann das Geräusch der Helikopterflügel und der stürmische Ton mehrerer Handynachrichten. So beginnt das Musical Ash Wednesday, das Spielfilmdebütder brasilianischen Regisseur*innen João Pedro Prado und Bárbara Santos. Die Mutter Demétria (Uriara Maciel) wartet am letzten Karnevalstag auf ihre Tochter Cora, die schon längst von der Schule hätte zurück sein sollen. Doch eine brutale Polizeirazzia, vermeintlich gerechtfertigt durch den Kampf gegen Drogenhandel, überfällt die Favela in Rio de Janeiro, den Wohnort der beiden. Einschüchternde Szenen der Polizei gegenüber den Bewohner*innen der Favelas, welche nur abwertend Favelados (Slumdogs) genannt werden, werden vom bunten Szenenbild der Favelas und dramatischen Gesängen getragen, welche die Verzweiflung über Rassismus und soziale Konflikte zum Ausdruck bringen. Zugleich wird durch die Darstellungsform als Musical manchmal Abstand zur Realität genommen und das Musical wirkt teilweise fast wie ein Theaterstück, wodurch die Handschrift der Theaterregisseurin und Aktivistin für Feminismus und gegen Rassismus Bárbara Santos zu bemerken ist. Diese stilistische Kombination trägt dazu bei, den Wunsch nach Ausbruch zu verstehen, aufmerksam zu machen und die Augen dafür zu öffnen, mit welchem Unrecht und diktatorischem Vorgehen gehandelt wird und wie nah doch Freude und Leid beieinander sein können.

Dabei wird auch der innere Konflikt des Glaubens gezeigt, in dem die Mutter einerseits Hilfe sucht und zur Göttin Naña, Beschützerin der Verlorenen, betet. Doch andererseits der Besuch des Pfarrers eher einschüchternd und anklagend wirkt. Angsterfüllte Stimmen der Mütter, die ihre Kinder suchen, werden abwechselnd mit Szenen aus der Pressekonferenz des Gouverneurs gezeigt, der für „Säuberung“, „Funktionsfähigkeit“ und „Krieg gegen Drogen“ wirbt.

Durch die Kameraperspektiven und Lichteinstellungen, welche Demétria zentrieren und die anderen im Hintergrund erscheinen lassen, wirken die Leidensgenossinnen der Mutter und die Göttin, eher wie Traumvorstellungen, welche eine Art Realitätsflucht veranschaulichen. Die Nahaufnahmen der Mutter, die Energie geladenen Soundeffekte und die rhythmischen Tanzbewegungen zeigen ihre innere Zerrissenheit und die Absurdität des Lebens.

Als beeindruckend ist zu benennen, dass das Favela-Setting an der Filmuniversität Babelsberg Konrad-Wolf absolut authentisch nachgebaut worden ist. Der strukturelle Rassismus und die seit Jahrzehnten präsenten sozialen Konflikte in Brasilien, welche durch die Pandemie mehr denn je verstärkt worden sind, werden in einer mitreißenden Art und Weise benannt. Die ausdrucksstarken Szenen vermitteln die damit verbundene Verzweiflung. Dieses Musical ist ein Gewinn für die Sektion Perspektive Deutsches Kino, welche die Sektion für aufregenden Nachwuchs in Deutschland darstellt und durch ungewöhnliche Einblicke die Realität dokumentiert und durch Realitätsflucht vollendet.

LN-Bewertung: 5/5 Lamas

Steine im Gepäck

Foto: Flora Dias, Juruna Mallon

Der Flughafen Guarulhos in São Paulo ist der größte Airport Lateinamerikas. Sein Bau wurde von der Militärdiktatur beschlossen und 1985 begleitet von Protesten abgeschlossen: Für den Aeroporto Guarulhos musste eines der letzten Schutzgebiete des atlantischen Regenwaldes in Brasilien abgeholzt werden. Die Siedlungen auf dem Gelände wurden zerstört, viele Indigene verloren dadurch ihre Heimat. Einige von ihnen fanden später auf dem Flughafengelände Arbeit.

Der Film O Estranho (Der Fremde) folgt den beiden indigenen Frauen Alê und Sílvia, die in Guarulhos geblieben sind. Alê (Larissa Siqueira) arbeitet in der Gepäckabfertigung, Sílvia (Patrícia Saravi) betreibt ein Nagelstudio. Das läuft aber nicht mehr so richtig und sie plant deshalb, mit ihrer Tochter in die Stadt zu ziehen. Obwohl Sílvia eigentlich gute Gründe hat, zu bleiben: Mit Alê beginnt sie gerade eine Beziehung und außerdem ist sie aktiver Teil der Candomblé-Religionsgemeinschaft in der Nähe. Alê ist dagegen fest entschlossen, zu bleiben. Für sie ist Guarulhos nach wie vor das Land, auf dem sie geboren ist und sich heimisch fühlt. Als kleine Rache klaut sie Passagier*innen Fotos aus dem Reisegepäck im Fundbüro und lässt dafür Steine dort zurück – eine Erinnerung an das indigene Erbe von Guarulhos.

Die Regisseur*innen Flora Dias und Juruna Mallon lassen O Estranho wie eine Dokumentation aussehen, obwohl Charaktere und Handlung fiktional sind. Ihre Figuren wandern über das Flughafengelände und die umliegende Natur und stoßen immer wieder auf Spuren und Hinterlassenschaften der indigenen Geschichte. Eine zentrale Rolle spielen dabei die Flüsse, früher Lebensadern, heute zubetoniert und verschmutzt. Der Blick schwenkt auch zu den Flughafenarbeiter*innen, die in dünn besetzten Teams arbeiten und für ihre Rechte kämpfen müssen. Und zu den heutigen Indigenen, die sich nicht vertreiben lassen und auf dem Rest des ihnen einst zugewiesenen Gebietes eine neue Siedlung errichten.

Die dokumentarische Herangehensweise – es werden auch Archivmaterial und zu Beginn nicht-chronologische Momentaufnahmen aus der Geschichte von Guarulhos gezeigt – kann ab und zu etwas verwirren. Das gleiche gilt für die Erzählweise: Ein durchgehender Plot ist nicht wirklich auszumachen, stattdessen springt der Film zwischen verschiedenen Personen und Episoden hin und her. Das macht O Estranho vor allem für Zuschauer*innen außerhalb Brasiliens etwas herausfordernd, denn nicht jede*r dürfte beispielsweise mit der indigenen Geschichte des Landes tiefer vertraut sein. Dennoch ist der Film eine weitgehend interessante Lektion über ein Stück brasilianische Geschichte, das bislang noch wenig Aufmerksamkeit bekommen hat.

Tarantino in Queer

Brasilien 1973: Die Zeiten waren alles andere als fröhlich. Die Militärdiktatur des Präsidenten Emílio Gastarrazu Medici unterdrückte, folterte und ermordete brutal die meist gewaltlose Opposition des Landes und auch die Wirtschaft geriet zunehmend in Schieflage. Überraschenderweise entstand in diesem Jahr in Brasilien aber auch A Rainha Diaba (Übersetzt etwa: Die teuflische Königin), ein hochunterhaltsamer queerer Gangsterfilm, der Maßstäbe setzen sollte und es nun, genau ein halbes Jahrhundert später, digitalisiert ins Klassikerprogramm der Berlinale geschafft hat. Regisseur Antonio Carlos da Fontoura orientierte sich bei der Besetzung der Hauptfigur im Film lose am Leben von João Francisco dos Santos, einem bekannten Kriminellen aus Rio de Janeiro, dessen Leben später auch in Madame Satã (2002) noch einmal verfilmt werden sollte. Bei da Fontoura wird dos Santos zur teuflischen Drag-Queen Rainha Diaba (gespielt von Superstar Milton Gonçalves). Diese kontrolliert von ihrer Wohnung in einem Hinterhof den Drogenhandel im Ausgehviertel Lapa und den umgehenden Favelas. Großartig schon der erste Auftritt der „Königin“ (Rainha, wie sie von ihren Untergebenen ehrfurchtsvoll genannt wird): Ihre Handlanger*innen müssen zum Rapport in ihrem Schlafzimmer antreten, wo ihr Lover ihr währenddessen die Fußnägel lackiert. Die vordergründige Freundlichkeit und der tuckige Akzent der Gangsterbossin sind jedoch nicht nur in dieser Szene trügerisch, denn Fehlverhalten bestraft die Rainha grausam und gnadenlos.

A Rainha Diaba bringt brasilianischen Gangster-Trash aus den Siebzigern zurück auf die Leinwand© José Medeiros

Der Plot des Films entwickelt sich rasch rund um Bereto (Stepan Nercessian), einen gutaussehenden Taugenichts, der seine Freundin schlägt und hofft, durch eine kriminelle Karriere ans schnelle Geld zu kommen. Die Rainha hat ihn zum Opfer auserkoren, da einer ihrer Lieblings-Untergebenen einen Drogendeal vermasselt hat. Nun muss sie der Polizei einen Sündenbock präsentieren, um weiter in Ruhe arbeiten zu können. Ihre rechte Hand Zeca Catitu (herrlich schmierig: Nelson Xavier) wirbt Bereto an, der Raubüberfälle mit der Clique begehen und für diese später ans Messer geliefert werden soll. Zunächst scheint auch alles nach Plan zu laufen. Doch Bereto gibt nicht klein bei und so nehmen die Dinge bald einen Lauf, der die Geschäftsgrundlage der Rainha in Gefahr bringt.

A Rainha Diaba ist bestes Kino-Entertainment im Stile der Gangsterfilme von Quentin Tarantino. Unmöglich, keine Vergleiche mit dessen (weit später gedrehten) Klassikern wie Pulp Fiction oder Reservoir Dogs zu ziehen, in denen teils exzessive Gewaltszenen sich mit geschliffenen Dialogen abwechseln – ohne dabei allzu große Empathie mit den Beteiligten aufkommen zu lassen, wenn sie das Zeitliche segnen. Die bunte Freakshow des großteils offen oder latent queeren Gangster*innen-Ensembles gibt A Rainha Diaba dabei aber eine unverwechselbare Note. Bemerkenswert – vor allem für die Zeit der Entstehung – ist die Natürlichkeit, mit der Drag und Homosexualität in ein machistisch dominiertes Genre implantiert wurden, ohne dass es der Treue zu stilistischen Konventionen Abbruch getan hätte.

© José Medeiros

Als klassisches Popcorn-Movie konzipiert, sollte man A Rainha Diaba allerdings auf keinen Fall zu ernst nehmen. Für reichlich Trash-Faktor und unfreiwillige Komik sorgen unter anderem die lächerlich schlecht choreografierten Kampfszenen und das offensichtlich falsche Kunstblut, das in Strömen fließt. Auch der Ton ist trotz digitalisierter Aufbereitung manchmal undeutlich und die Dialoge deshalb schwer zu verstehen. Das machen die durchdachte und überraschende Handlung, stimmige Charaktere, tolle Schauspieler*innen und die gelungene Inszenierung vor der traumhaft schönen Kulisse Rio de Janeiros aber mehr als wett. Wer im oftmals etwas verkopften und bedeutungsschwangeren Programm der Berlinale nach einer spaß- und actionlastigen Abwechslung sucht, dürfte deshalb an A Rainha Diaba auch 50 Jahre nach Erstveröffentlichung des Films noch große Freude haben.

Triggerwarnung: Explizite Gewaltdarstellungen

LN-Bewertung: 4/5 Lamas

„UM GANHO PARA ALÉM DO BRASIL“

Für die deutschsprachige Version hier klicken.

No Brasil, mulheres negras são, com 28 % da população, o maior grupo demográfico do país. Porém, depois da última eleição de 2018, elas ocupavam menos de 2% de cadeiras no congresso nacional. A questão da representatividade melhorou depois dessa eleição?
Não tivemos grandes mudanças. Passamos de 2,3% para 2,5%. Então ainda estamos no mesmo patamar. Nessas eleições, apesar de muitas mulheres negras terem sido eleitas, não são todas comprometidas com a agenda anti racista. Muitas vezes são asociadas com partidos de direita, são Bolsonaristas. Isso pode ser explicado com o fato que houve uma mudança na legislação eleitoral para impulsionar essas candidaturas de pessoas negras, os partidos se aproveitarem dessas regras e assim conseguirem mais recursos para o financiamento de campanhas.

Nessa eleição, o Mulheres Negras Decidem apoiou 27 mulheres negras com uma agenda políticaprogressista nas suas candidaturas, uma em cada estado brasileiro e também no Distrito Federal. Essas mulheres conseguiram se eleger?
Tivemos bons resultados, muitas delas receberam muitos votos. Mas das 27, infelizmente só duas foram eleitas, a Laura Sito do PT e a Camila Valadão do PSOL. Como mulher jovem negra, a Laura por exemplo conseguiu mais de 30.000 votos na eleição para a Assembleia Estadual no Rio Grande do Sul, um estado que historicamente tem muitas questões com racismo.

Vocês estão satisfeitas com esse resultado?
Em termos de quantidade de candidatas que foram eleitas é bem abaixo do que era esperado, considerando toda mobilização de centenas de grupos que apoiaram candidaturas negras. Mas as candidatas apoiadas pelos movimentos que se elegerem são pessoas que chegarão na próxima legislatura muito fortalecidas e com um apoio da sociedade civil. Elas vão precisar reverter alguns dos atrasos que foram aprovados em termos de legislação no governo Bolsonaro. Elas chegam muito fortes nesse sentido mesmo se não são tantas como nós queríamos. Nunca existiu uma mobilização tão forte quanto nessas eleições.

Como você se explica que a mobilização foi maior esse ano?
A sociedade brasileira se deu conta de que transformações sociais profundas só são possíveis fazendo política. O jeito com que Bolsonaro lidou com a pandemia mostrou a desigualdade no acesso de direitos que existe no Brasil. Isso mostrou a urgência de ter representantes com um perfil mais popular para atender as demandas da maioria da população.

Porque é necessário apoiar candidaturas de mulheres negras? 
São mulheres que têm perfis políticos muito fora do comum, de movimentos sociais de base, de religiões de matriz africana, mulheres quilombolas. Para essas mulheres não é fácil participar de uma disputa, primeiro dentro dos partidos e depois na campanha política em si. Porque os projetos políticos delas se preocupam com o aprofundamento da democracia e questionam o poder como ele está estabelecido. Então elas são muito atacadas. Ao mesmo tempo, votar nelas é uma coisa boa para todo mundo porque uma vez eleitas, elas produzem políticas públicas que são do interesse de todos.

Você pode dar um exemplo?
Um exemplo seria a recém eleita Deputada Estadual Laura Sito que defende agendas consideradas prioritárias pelos eleitores no Brasil, como a educação. Mas a Laura fala de uma educação inclusiva, anti racista e emancipadora. 

Como você está se sentindo depois do suspense que era o segundo turno da eleição?
Estou menos preocupada do que estava antes do segundo turno. As forças armadas não estão tão dispostas contra a democracia e a constituição como nós imaginávamos. As instituições reconheceram o resultado e os protestos golpistas têm sido condenados não só pelo TSE mas também pelo STF, pelo Congresso e também pelamídia. Vencemos a etapa institucional mas me preocupo com o reconhecimento pela população. Temos uma quantidade significativa de pessoas nas ruas defendendo atos golpistas e antidemocráticos. É uma disputa de mais longo prazo que depende das lideranças democráticas fortes nas assembléias regionais e no Congresso, de movimentos de base fortes para a politização das novas gerações e a recuperação do debate público das questões do dia a dia. 

Isso significa que o Bolsonarismo vai permanecer?
A extrema direita cresceu e se organizou durante o governo Bolsonaro. Mas ela vai bem além do Bolsonaro e da família dele, como também dos seus apoiadores políticos. Essas ideias autoritárias são uma questão global que encontrou um terreno muito fertil no Brasil.

Os governadores que foram eleitos em São Paulo, Minas Gerais e Rio de Janeiro estão bem próximos aBolsonaro. Isso dificulta o trabalho de movimentos e grupos sociais como o Mulheres Negras Decidem?
Nesses estados os movimentos já têm muita força, estrutura e recursos. O nosso desafio continua sendo principalmente em regiões nordestinas, norte e principalmente no Centro Oeste onde as estruturas são mais fragilizadas. 

Como os 51% dos brasileiros que foram votar e votaram no Lula deveriam lidar com os 49% das pessoas que votarem no Bolsonaro?
Isso será um grande desafio. O Presidente eleito Lula tem esse perfil de união e reconciliação, mas ele precisará muito da ajuda dos movimentos sociais para recuperar esse tecido social e promover unidade no Brasil. Quem apoia o Bolsonaro entende a importância da política também. Mas seus eleitores acreditam que existe uma luta do bem contra o mal. A questão agora é trabalhar para que essa compreensão seja desfeita. Trazer essas pessoas de volta para o debate sobre a realidade concreta que é uma dificuldade não só para os 49% mas para todo mundo. A realidade do brasileiro em média é de muita precariedade. Quanto mais cedo a gente conseguir voltar a discutir questões práticas do nosso dia a dia, para melhorar a situação de todo mundo, mais facilmente vamos conseguir lidar com essas diferenças.

O Presidente-eleito Lula precisará do apoio dos movimentos sociais. Vários grupos apoiaram a campanha dele, mas falam que vão virar oposição no momento em que ele tomará posse. Como seu governo poderia dar certo então?
No primeiro ano, os movimentos de base que apoiarem o Lula vão estar muito junto do governo. Vai ser um ano de reconhecimento do tamanho dos estragos que aconteceram e de planejar estratégias para reconstrução. Agora tudo vai depender muito de como vai ficar a configuração desse novo governo. Já saíram críticas sobre a configuração do grupo que está fazendo a transição do governo. Há poucas mulheres, não há pessoas negras. Ainda faltam alguns meses até o Lula anunciar os ministros. Será importante incluir mulheres, negros e indígenas. Isso aumentaria as possibilidades da cooperação entre governo e sociedade civil.

Quais são as suas expectativas para o novo governo Lula?
Essa questão da composição ministerial com muitas mulheres. Em cima disso, será importante, principalmente nos orgãos que cuidam da questão do enfrentamento do racismo, que ele coloque pessoas com perfil alinhado a agenda histórica dos movimentos negros. O Lula tem que escutar essas as sugestões que está recebendo para os cargos de confiança, como por exemplo, a Deputada Erica Malunguinho, uma mulher negra trans, para a Secretaria de Promoção da Igualdade Racial ou para a Fundação Palmares.

Qual foi o papel das mulheres nessas eleições?
Elas tinham um papel principalmente no trabalho de base. O número das abstenções diminui no segundo turno e as mulheres tiveram um papel muito importante nessa decisão de outras pessoas da família irem votar. Graças a elas o Lula também mudou o foco na campanha e falou mais sobre o futuro, oportunidades para os jovens. Esse grupo, entre 18 e 35 anos, estava muito em dúvida se era para votar no Lula ou Bolsonaro, mas votaram no Lula no segundo turno.

Também teve quase um quarto da população com direito a voto que não votou, votou nulo ou branco. Isso sinaliza que a democracia brasileira está em crise?
É um reflexo da crise de representatividade e de confiança nas instituições que está acontecendo pelo menos nos últimos dez anos. Uma parcela grande está desacreditada de qualquer possibilidade de mudança e uma outra é impossibilitada de participar do processo político porque está em situação de grande vulnerabilidade. 

Qual será o efeito dessa eleição no âmbito global?
Com a volta do governo Lula conseguimos recuperar questões que são de política global, especialmente em relação a região amazônica, mas também em saúde, direitos humanos e mediação de conflitos que são agendas que o Brasil liderava. Isso é um ganho para além do Brasil.

AVANTGARDE DES RÜCKSCHRITTS

Fakten lügen nicht Die politische, sexuelle und psychische Gewalt gegen Frauen hat in Brasilien zugenommen (Foto: Mohamed Hassan)

In den vergangenen Jahren hat Brasiliens Zivilgesellschaft die internationale Gemeinschaft unermüdlich vor der rasanten Zerstörung der brasilianischen Demokratie gewarnt. Da Brasilien eines der am stärksten von COVID-19 betroffenen Länder ist, hat sich die Zivilgesellschaft auf nationaler Ebene unermüdlich dafür eingesetzt, die politischen Entscheidungsträger*innen darauf aufmerksam zu machen, dass die drastischen Folgen der Pandemie – zum Beispiel die Auswirkungen auf das Gesundheitssystem – abgemildert werden könnten. Dafür hätte allerdings die eigene Bundesverfassung und das internationale Engagement, das Brasilien 2015 vorangetrieben hat und das in die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung mündete, respektiert werden müssen.

Leider wurden wir nicht gehört. Und obwohl wir als Zivilgesellschaft wissen, dass die Geschichte unsere Beharrlichkeit anerkennen wird, ist die Realität, dass Brasilien ein dekadentes Land geworden ist, dessen Führung sich weder um die Gegenwart, noch um die Zukunft der Menschen im Land kümmert. Traurigerweise nimmt die Gewalt immer weiter zu und die Ungleichheiten vertiefen sich in einem Ausmaß, das wir uns vor zehn Jahren nicht hätten vorstellen können. Die Folgen der Fehlentscheidungen der politischen Entscheidungsträger lassen sich in der sechsten Ausgabe des Spotlight Reports der Zivilgesellschaft über die Umsetzung der Agenda 2030 in Brasilien gut belegen. Verfasst wurde der Bericht von 101 Expert*innen aus den Bereichen Soziales, Wirtschaft und Umwelt. Er stützt sich auf offizielle Daten von Regierungsinstitutionen und Universitäten. Methodisch wird die nationale Politik anhand von 168 Zielen und rund 230 Indikatoren überprüft, die den brasilianischen Staat beim Schutz der Umwelt, der Förderung des Friedens und der Inklusion leiten sollen.

Die Ziele und Indikatoren wurden nach dem Grad ihrer Umsetzung kategorisiert und zeigen, dass die Ergebnisse alles andere als positiv sind: Brasilien hat nur bei einem der 168 analysierten Ziele zufriedenstellende Fortschritte erzielt. Bei 110 Zielen (65,47 Prozent) zeigten sich Rückschritte, bei 24 Zielen (14,28 Prozent) waren die Fortschritte unzureichend. 11 Ziele (6,54 Prozent) verblieben auf dem Vorjahresniveau oder stagnierten insgesamt, 14 Ziele (8,33 Prozent) sind gefährdet und zu 8 Zielen (4,76 Prozemt) liegen keine Daten vor. Im Vergleich zum Bericht von 2021 stieg die Zahl der Ziele, deren Umsetzung rückläufig ist, von 92 auf 110 und die der Ziele mit unzureichenden Fortschritten von 13 auf 24.

Bolsonaros Regierung war eine Katastrophe mit Ankündigung

Wenn wir hinter diese Daten blicken, sehen wir Leben ohne Hoffnung, eine vergeudete Gegenwart und die Vorstellung einer besseren Zukunft, an die kaum zu glauben ist. Übersetzt in die Realität zeigt der Bericht ein Land, das sich rasch zurückentwickelt und die eingegangenen internationalen Verpflichtungen verleugnet – was dazu geführt hat, dass Brasilien international isoliert ist. In diesem Zusammenhang ist es kein Zufall, dass Brasilien im Oktober 2022 die gewalttätigsten Wahlen (des Präsidenten der Republik, der Gouverneure der Bundesstaaten und der Parlamente) in der Geschichte des Landes erwartet.

Es gibt sicher keinen Zweifel an den begrenzten intellektuellen Fähigkeiten von Jair Bolsonaro, der nicht in der Lage ist, auch nur ein oberflächliches Gespräch mit führenden Politiker*innen der Welt zu führen. Die analysierten Daten zeigen jedoch, dass er bei der Erfüllung all seiner Wahlversprechen von 2018, die sich vor allem gegen die Rechte der Bevölkerung richten, ziemlich erfolgreich war. Taktisch hat er Allianzen mit rechtsextremen Gruppen, christlichen Pfingstkirchen, der Waffenindustrie und illegalen Extraktivist*innen geschlossen und damit dem organisierten Verbrechen mehr Raum gegeben. Durch die Bestechung politischer Parteien gelang es ihm, Gesetze zu verabschieden, die die zuvor eroberten Rechte wieder einschränkten. Er zerstörte Institutionen und Foren der gesellschaftlichen Partizipation und machte Menschenrechtsverteidi-gerinnen, Nichtregierungsorganisationen und Indigene zu Staatsfeinden.

Während er Budgets, öffentliche Dienstleistungen und Kontrollinstrumente zerstörte, hat Bolsonaro erfolgreich auf einen manichäischen populistischen Diskurs („wir gegen sie“) gesetzt, der typisch für Faschist*innen ist. Damit hat er Sexismus, Rassismus und LGBTI-Phobie in einem Land, das bereits durch Sklaverei und Machismus traumatisiert ist, noch verstärkt. Fakten lügen nicht: Die Zahl der Feminizide an Transgender-Frauen hat im Jahr 2021 zugenommen, ebenso wie die politische, sexuelle und psychische Gewalt, die selbst Frauen im Parlament betrifft. Nach Angaben von UN-Women haben 82 Prozent der brasilianischen Politikerinnen psychische Gewalt erlitten, 45 Prozent wurden bedroht, 25 Prozent wurden im Parlament körperlich angegriffen und 20 Prozent wurden sexuell belästigt. Brasilien liegt heute bei der Beteiligung von Frauen in den Parlamenten auf Platz 143 von 188 Ländern (2015 war es noch Platz 115) und in der Bundesregierung sind nur 8,7 Prozent der Minister*innen Frauen.

Die Regierung spricht sich offen gegen sexuelle und reproduktive Rechte und Gendergerechtigkeit aus, so dass die Sexualerziehung aus dem Nationalen Gemeinsamen Basislehrplan (BNCC) gestrichen wurde. Nur 3 von 26 Bundesstaaten empfehlen den Schulen, Unterricht über Sexualität, Genderfragen, Prävention von Teenagerschwangerschaften und Gewalt anzubieten. Selbst die Bekämpfung von HIV und Aids, in der Brasilien ein internationales Vorbild war, wurde deutlich geschwächt, da die Mittel für Präventionskampagnen in alarmierender Weise gekürzt wurden. Betrug das Budget für HIV/AIDS-Prävention 2015 noch 20,1 Millionen brasilianische Reais, sank es 2020, im zweiten Jahr der Amtszeit von Jair Bolsonaro, auf 3,9 Millionen Reais. 2021 waren es nur noch rund 100.000 Reais.

Die Regierung Bolsonaro war eine angekündigte Katastrophe, aber die Ergebnisse sind deutlich schlimmer, als von der Zivilgesellschaft erwartet. Denn es bestand noch die Hoffnung, dass die demokratischen Institutionen bei der Erfüllung ihres Mandats der Exekutive die richtigen Grenzen setzen würden – was nicht geschah. Und so erscheint Brasilien 2022 erneut auf der Welthungerkarte: Die Anzahl der Hungernden stieg von 19,1 Millionen im Jahr 2020 auf 33,1 Millionen im Jahr 2021; insgesamt 125,2 Millionen Menschen leben in einem gewissen Grad von Ernährungsunsicherheit. Das ist mehr als jede*r Zweite im Land.

Brasilien erwartet die gewalttätigsten Wahlen seiner Geschichte

Bei einer Arbeitslosenquote von 11,2 Prozent fehlt es an wirksamen Maßnahmen, um Arbeitsplätze und Einkommen zu schaffen. Die Agrarreform wurde ausgesetzt und die Zahl der Konflikte auf dem Land ist bis 2021 um 1.100 Prozent gestiegen, während das räuberische Agrobusiness weiter vorrückt und das Leben der Indigenen und Quilombolas zerstört. Das brasilianische Entwicklungsmodell setzt grundsätzlich auf den Primärsektor und ist von geringer Dynamik und hoher Umweltzerstörung gekennzeichnet. Doch die Situation ist außer Kontrolle geraten: Die Entwaldung war im Jahr 2021 um 79 Prozent höher als im Jahr 2020 und erreichte 20 Prozent der Gesamtfläche des Amazonasgebiets, während sie im Trockenwald Cerrado um acht Prozent (8.531 km2) zunahm. Zwischen 2019 und 2021 gingen in den Schutzgebieten 130 Prozent mehr Waldfläche verloren als in den drei Jahren zuvor, und in den indigenen Gebieten war die Entwaldung um 138 Prozent höher.

Das Wirtschaftsteam der Regierung Bolsonaro ist nachweislich inkompetent und theoretisch nicht auf dem neusten Stand, so dass es – selbst wenn es wollte, was nicht der Fall ist – nicht wüsste, wie es mit der schwierigen ökonomischen Situation in Brasilien umgehen soll. Durch seine Arbeit stieg die Inflation, die Preise für Treibstoff, Energie und die Lebenshaltungskosten. Das führte zu einem sprunghaften Anstieg der Anzahl der auf der Straße lebenden Menschen. Die jüngste Volkszählung in der reichen Stadt São Paulo hat ergeben, dass die Zahl der Obdachlosen in den vergangenen zwei Jahren um 31 Prozent gestiegen ist und sich überwiegend aus Frauen, Kindern und ganzen Familien zusammensetzt. Bolsonaro verfolgt jedoch weiter strukturpolitische Maßnahmen, und hat erst vor wenigen Wochen, mit Blick auf die Wahlen, mehr Mittel für soziale Hilfsleistungen bewilligt.

Bei all diesen deprimierenden Kennzahlen zeigt der Spotlight Report aber auch, dass es Lösungen gibt. Die 116 Empfehlungen zeigen, dass es möglich ist, unsere Rechte wieder in den öffentlichen Haushalt aufzunehmen und den Boden zurückzugewinnen, den wir durch Gewalt, Hunger, Armut, Rassismus und geschlechtsspezifische Ungleichheiten verloren haben, die das heutige Brasilien kennzeichnen. Wir müssen unbedingt unsere Kultur der Privilegien beenden. Dazu ist es dringend erforderlich, die Arbeits- und Sozialversicherungsreformen der vergangenen Jahre zu revidieren, und die Gesetze wieder abzuschaffen, die öffentliche Investitionen in Gesundheit, Bildung und andere wichtige Bereiche verhindern. Zum Beispiel die Verfassungsänderung EC 95 der Regierung von Michel Temer, die von den Vereinten Nationen als die weltweit drastischste wirtschaftliche Maßnahme gegen soziale Rechte angesehen wird. Wir brauchen eine Steuerreform, über die effiziente und menschenrechtsorientierte Projekte gefördert werden. Schließlich müssen wir die Steuervermeidung und -hinterziehung sowie die öffentliche Finanzierung von Unternehmen, die nicht auf eine nachhaltige Entwicklung hinarbeiten, beenden. Trotz der schwierigen Rahmenbedingungen werden wir nicht aufgeben, bis diese Regierung und ihre Kumpane im Parlament für ihre Verbrechen vor Gericht gestellt werden. Dafür müssen die Kapazitäten der Zivilgesellschaft und der demokratischen Institutionen gestärkt werden, auch durch eine größere Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft.

LULA FOR PRESIDENT?

Tintenfisch mit Gurke An der Seite von „Tintenfisch“ Lula tritt Alckmin als Vize an – er hat in der Vergangenheit den Spitznamen chuchu bekommen – ein geschmackloses Gemüse (Foto: www.lula.com.br)

Am 26. Mai veröffentlichte das als sehr zuverlässig geltende Wahlforschungsinstitut Datafolha eine neue Umfrage zu den Präsidentschaftswahlen. Danach liegt Lula mit 48 Prozent deutlich vor Bolsonaro, der lediglich auf 27 Prozent der Stimmen kommt. Ein Wahlsieg von Lula bereits im ersten Wahlgang wäre damit möglich. Die Umfrage bestätigt ein sich immer mehr konsolidierendes Szenario: Die Präsidentschaftswahl läuft auf ein Duell zwischen Lula und Bolsonaro hinaus, alle anderen Kandidat*innen bleiben im einstelligen Bereich. Damit dürften alle Versuche, einen sogenannten „Dritten Weg“ jenseits der bestehenden Polarisierung zu finden, als gescheitert gelten. Im linken Lager wurde das Ergebnis der Umfrage mit großer Erleichterung aufgenommen. Denn in den vorangegangen Umfragen hatte sich der Abstand zwischen Lula und Bolsonaro zusehends verringert, Bolsonaro holte auf. Dieser Trend ist nach den aktuellen Ergebnissen von Datafolha nun anscheinend gebrochen. Es ist schwer zu sagen, worauf dies zurückzuführen ist. Sicher ist, dass die wirtschaftliche Entwicklung den Amtsinhaber nicht begünstigt. Die Wirtschaftskrise hält an, die Inflation steigt unaufhörlich. Die offizielle Inflationsrate liegt nun bei sieben Prozent, aber der Preisindex für Konsumgüter ist um zwölf Prozent gestiegen. Dies trifft insbesondere die Ärmsten, die Verschlechterung der Lebenslage ist spürbar. Traurigster Indikator dafür ist die Wiederkehr des Hungers in Brasilien. Eine neue Studie geht davon aus, dass im Jahr 2020 rund 55 Prozent der brasilianischen Bevölkerung von Ernährungsunsicherheit betroffen sind, das heißt 116,7 Millionen Menschen. Von diesen 116,7 Millionen sind 19 Millionen, also neun Prozent der Gesamtbevölkerung, von Hunger betroffen und weitere 11,5 Millionen Menschen ohne regelmäßigen und gesicherten Zugang zu Nahrung (siehe LN 563). Dies ist ein Ergebnis der Streichung zahlreicher Sozialprogramme durch die Regierung Bolsonaro. Auf jeden Fall bedeuten die Umfragewerte Rückenwind für die Strategie von Lula und der PT. Anders als bei den letzten Wahlen tritt Lula nun mit einem Wahlbündnis an, das über die üblichen Verdächtigen aus dem linken Lager hinausgeht. Tatsächlich war früh klar, dass die kleineren linken Parteien Lulas Kandidatur unterstützen werden. Auch die sozialistische PSOL wird Lula bereits im ersten Wahlgang unterstützen und keinen eigenen Kandidaten aufstellen. Bei den letzten Präsidentschaftswahlen 2018 war sie mit dem populären Guilherme Boulos von der Bewegung der Wohnungslosen MTST angetreten, der nun für das Bundesparlament kandidieren wird.

Alckmins Nominierung als Lulas Vize ist ein Signal an das bürgerliche Lager

Ein überraschender und möglicherweise wahlentscheidender Schachzug gelang Lula und der PT aber mit der Nominierung von Geraldo Alckmin als Kandidaten für das Amt des Vizepräsidenten. Alckmin war in den letzten Jahrzehnten der wichtigste Politiker der PSDB, dem historischen Widersacher der PT. Präsidentschaftswahlen waren in Brasilien lange Zeit ein Duell zwischen den Kandidat*innen der PT und der PSDB; 2006 unterlag Alckmin Lula bei den Präsidentschaftswahlen. Nach dem katastrophalen Abschneiden der PSDB bei den Präsidentschaftswahlen 2018 hat sich die Partei aber in rivalisierende Lager aufgespalten. Alckmin wechselte zur PSB, einer Partei, die zwar den Sozialismus im Namen führt, aber in vielen Bundesstaaten ein Sammelbecken ohne klares politisches Profil bildet. Alckmin ist jeglicher linker Sympathien unverdächtig, seine Nominierung ist genau das Signal an das bürgerliche Lager, das sich Lula und die Mehrheit seiner Partei wünschen: Unser Bündnis umfasst ein weites politisches Spektrum, niemand – außer der Familie Bolsonaros und dem härtesten Kern seiner Anhänger – müsse vor einer Präsidentschaft Lulas Angst haben, so die Botschaft.

Neidisch schaute die Linke Brasiliens nach Kolumbien

Unter den linken Strömungen der PT und in der PSOL wurde die Nominierung Alckmins hingegen mit Misstrauen und offener Ablehnung aufgenommen. „Wir glauben, dass Alckmin keine Stimmen bringt. Er ist ein Neoliberaler, ein Unterstützer des Putsches (gegen Dilma Rousseff, Anm. d. Red.) und er hat unzählige Male die PT und Lula beleidigt“, kritisierte Valter Pomar, prominenter Vertreter der PT-Linken. Neidisch schaute die Linke Brasiliens nach Kolumbien und wünschte der PT den Mut, eine Frau wie Francia Marquéz auszuwählen. Doch es half alles nichts – mit großer Mehrheit bestätigte der Vorstand der PT Anfang Mai die Kandidatur Alckmins. Die Kritiker*innen haben die Entscheidung zähneknirschend akzeptiert und die Unterstützung der Kandidatur Lulas nicht von der Entscheidung der PT für Alckmin abhängig gemacht. Lula com chuchu (Tintenfisch mit Gurke) heißt daher das Motto der Stunde: Alckmin hat in der Vergangenheit den Spitznamen chuchu bekommen, ein als besonders geschmacklos geltendes Gemüse. Auch wenn in den aktuellen Umfragen Bolsonaro klar hinter Lula liegt – er ist und bleibt der einzige Kandidat, der Aussichten hat, Lula zu schlagen. Deshalb wird immer wieder davor gewarnt, Bolsonaro zu unterschätzen und zu siegesgewiss zu sein. Die Tatsache, dass Bolsonaro trotz der desaströsen Bilanz seiner Regierung über ein stabiles Fundament von etwa 30 Prozent der Wähler*innen verfügt, zeigt, dass der Bolsonarismus inzwischen fest in der brasilianischen Gesellschaft verwurzelt ist und wohl auch auch bei einer Niederlage die kommenden Wahlen überleben würde. Die gesellschaftlichen Gruppen, die den Bolsonarismus speisen, sind die extrem konservativen Evangelikalen und alle diejenigen, die sich durch „Genderideologie“, Feminismus, Menschenrechte und Kommunismus bedroht und von der traditionellen Politik verraten fühlen. Die Zustimmung zu Bolsonaro ist bei Männern höher als bei Frauen und steigt parallel zum Einkommen. Auf dieser Basis wird Bolsonaro seinen Wahlkampf als moralischen Kreuzzug gegen das Böse führen und Themen wie die Verteufelung der Entkriminalisierung von Abtreibung, der Rechte von LGBTIQ* aber auch die Verbindungen der PT zu den als „kommunistisch“ bezeichneten Regierungen von Venezuela, Kuba und Nicaragua in den Mittelpunkt stellen. Lula und die PT hingegen werden genau diese Themen meiden und die wirtschaftliche Lage, die Inflation sowie die zunehmende Verelendung thematisieren und immer wieder zeigen, dass unter Lulas Präsidentschaft alles besser war.

„Leute, wir können jetzt nicht über Abtreibung reden!“

Die Frage der Abtreibung zeigt, wieviel von der PT in diesem Wahlkampf zu erwarten ist. Lula hatte im April bei einer Veranstaltung erklärt, Abtreibung solle zu eine Frage der öffentlichen Gesundheitsfürsorge werden. Nach heftigen Reaktionen erklärte er, dass er persönlich gegen Abtreibung sei, und seitdem wird das Thema von der PT vermieden. Symptomatisch ist die Äußerung der populären Schauspielerin und Lula-Unterstützerin Maria Ribeiro, die vor allem durch den Film Tropa de Elite bekannt wurde: „Leute, wir können jetzt nicht über Abtreibung reden. Darüber sprechen wir nächstes Jahr, verstanden? Wir müssen diese Wahl gewinnen.“ Lulas Wahlsieg hängt davon ab, dass es ihm gelingt, das konservative Lager zu spalten und zumindest zum Teil für sich zu gewinnen. Die Konservativen sind die entscheidende Zielgruppe des Wahlkampfes und für sie ist die Nominierung Alckmins das richtige Signal. Die Linke werde ohnehin Lula wählen, zumal wenn die Alternative Bolsonaro lautet – so das Kalkül von Lula und der PT.

Überschattet wird der beginnende Wahlkampf von einer weiteren Frage: Ist der amtierende Präsident überhaupt bereit, ein anderes Wahlergebnis als seinen Sieg zu akzeptieren? Seit Anfang Mai hat Bolsonaro die Angriffe gegen die demokratischen Institutionen verstärkt, insbesondere gegen den Obersten Gerichtshof STF. Er sät immer wieder Zweifel an dem elektronischen Wahlverfahren und beschwört das Gespenst von Wahlfälschungen. Damit ist die Gefahr eines Putsches in der brasilianischen Presse erneut omnipräsent. So bereitet Bolsonaro das Terrain dafür vor, im Falle einer Wahlniederlage den demokratischen Prozess zu delegitimieren. Das alles erinnert natürlich an die Rhetorik von Donald Trump. Allerdings gibt es einen wichtigen Unterschied: Bolsonaro hat die Unterstützung (weiter Teile) des Militärs und anderer bewaffneter Gruppen aus Militärpolizei, Sicherheitsdiensten und Milizen. Keine andere gesellschaftliche Gruppe hat so von der Regierung Bolsonaros profitiert wie die Militärs. 6.000 Angehörige der Streitkräfte haben gutbezahlte Posten in der Regierung erhalten, mehr als in den Zeiten der Militärdiktatur. Die Gehälter der Militärs wurden angehoben und in den Wahlkampf wird Bolsonaro wohl mit einem loyalen Militär als Kandidat für die Vizepräsidentschaft gehen. Zudem rühmt er sich, dass unter seiner Regierung der Zugang zu Waffen erleichtert wurde. Im Mai dieses Jahres wiederholte Bolsonaro einen seiner Lieblingssprüche: „Das bewaffnete Volk wird niemals versklavt sein. Die Waffe in der Hand der aufrechten Bürger wird nicht nur die Familie, sondern auch das Vaterland verteidigen.“ Und er fügte hinzu: „Meine Regierung ist radikal gegen Abtreibung, Genderideologie und den Kommunismus, und Gott steht über allen.“ Unter den Menschen Angst zu verbreiten, gehört zu den speziellen Fähigkeiten Bolsonaros. Brasiliens Demokratie steht vor schweren Zeiten.

“KÖNNEN WIR NOCH WEITERE VIER JAHRE SO LEBEN?”

Foto: Katie Mähler @katie_maehler

Anfang Oktober sind Wahlen in Brasilien. Welche Erwartungen habt ihr mit Blick auf dieses Ereignis?
Alice: Ich hoffe sehr, dass ein anderer Kandidat als Bolsonaro gewinnt. Ich habe natürlich meine Präferenzen und konkrete Vorstellungen für die Zukunft, aber wie heißt es so schön: Das Leben ist kein Wunschkonzert. Auch wenn ein Kandidat erklärt, die indigenen Völker zu unterstützen, bedeutet das nicht unbedingt viel. Wir benötigen konkrete Aktionen. Während der Vorgängerregierungen hatten wir bereits bemerkt, dass es zwischen der indigenen Bewegung und der brasilianischen Politik eine tiefe Spaltung gibt. Und das müssen wir ein für alle Mal verändern. Ich hoffe wirklich sehr, dass die neue Regierung kompromissbereit sein wird und Verantwortung übernimmt. Denn bei Wahlkundgebungen ist es sehr einfach, Unterstützung zu zeigen. Doch sie in die Praxis umzusetzen und das Leben der Indigenen etwas zu erleichtern sowie endlich die Anerkennung der indigenen Territorien umzusetzen, das wäre für uns alle ideal.

Wie sind eure Erfahrungen als indigene Frauen und politische Führungspersönlichkeiten der Pataxó und der Uru Eu Wau Wau?
Tejubi: Bisher ist das eine gute Erfahrung für mich. Es ist zum Beispiel das erste Mal, dass ich als Vertreterin meines Volkes so weit gereist bin. Dass meine Tochter so weit weg ist, macht mir etwas Angst, weil ich oft an die Invasionen in unser Land denke und weiß, dass immer etwas Schlimmes passieren kann. Ich muss aber sagen, dass es nicht immer einfach war, mein Volk zu vertreten, denn ich wurde häufig diskriminiert und habe gehört, dass Frauen diese Aufgaben nicht übernehmen können. Aber ich stehe hier, um zu zeigen, dass wir es doch können.
Alice: Das ist ein extrem komplexes Thema. Wir sprechen von indigenen Völkern, die immer noch vom Patriarchat und gewissermaßen auch vom Machismo dominiert werden. Die Pataxós haben heute eine größere Offenheit, so sehe ich es, da es seit vielen Jahren Frauen gibt, die Führungspersönlichkeiten und Caciques sind. Diese Entwicklung nimmt zu. Heute sehe ich mehr Mädchen, die sich in politischen Räumen beteiligen und ihre Communities vertreten können. Das ist auch für uns sehr wichtig, denn wir bewegen uns von einer Position, in der wir nur als Frauen oder Mütter gesehen werden, zu einer anderen, in der wir eine politische, individuelle Person sein dürfen. Dabei geht es nicht nur um Zugang zur Politik, sondern auch um andere Möglichkeiten, wie zum Beispiel ein Studium. Das stärkt alle indigenen Frauen.

Wie blickt ihr auf die indigenen Kämpfe der letzten Jahre, in denen die Regierung Bolsonaro die territorialen Besetzungen und den Genozid an den indigenen Völkern vorangetrieben hat?
Alice: Der Genozid ist das Hauptmerkmal der Regierung von Bolsonaro. Ich habe noch nie eine solche Gesetzlosigkeit erlebt, sie erstickt die indigene Bevölkerung langsam. Die Suizidrate von Indigenen ist gestiegen, ebenso wie die von LGBT. Die Lage ist chaotisch, vor allem in Bezug auf die Pandemie. Es macht uns extrem traurig – umso mehr, wenn wir daran denken, dass Bolsonaro erneut kandidieren will. Falls er gewinnt, was werden wir tun, um mit seiner Politik umgehen zu können? Denn ehrlich gesagt, ist der Schaden nach vier Jahren seiner Regierung äußerst groß. Ich frage mich, ob wir noch weitere vier Jahre so leben können.
Tejubi: Seit Bolsonaro an der Macht ist, stellen alle fest, dass die Besetzungen in den indigenen Territorien beträchtlich zugenommen haben. Ich denke gerade an eine Geschichte, die bei uns passiert ist. Einige Invasoren sind in unser Land eingedrungen. Meine Verwandten sind zu ihnen gegangen und haben von ihnen gehört: „Das ist ein Befehl von oben. Wichtige Menschen haben uns erlaubt, das Land hier zu besetzen”. Wir Indigene und viele andere Brasilianer haben nur Probleme seit dem Beginn von Bolsonaros Amtszeit. Aber manche nehmen die Katastrophe nicht wahr, denn die Mehrheit seiner Unterstützer besitzen Land und Vieh und befürworten die Abschaffung indigener Territorien völlig.
Alice: Die Regierung Bolsonaro verfolgt eine politische Agenda, die sich gegen die indigenen Völker richtet und gegen die Menschen aus Favelas. Es ist für uns sehr schwer zu akzeptieren, dass das bestehende brasilianische System nur weiße Personen berücksichtigt, die über Privilegien und Ressourcen verfügen. Alle Vorstellungen von Entwicklung, die aktuell von der Regierung vertreten werden, basieren darauf. Auf Geld, auf Entwaldung, kurz: auf allem, was wir bekämpfen und seit langem versuchen zu verändern.

Welche Rolle spielte der digitale Aktivismus in euren politischen Kämpfen?
Alice: Ich arbeite heutzutage mit sozialen Medien. Sie sind ein Werkzeug mit großem Potenzial, das der indigenen Bewegung viel geben kann, denn sie dienen dazu, Menschen, die keinen Zugang zu unseren Communities haben, über unsere Bewegung und unsere Realität zu infor-*mieren. Es gibt eine riesige, nicht nur geographische, Distanz zwischen indigenen Dörfern und den Städten in Brasilien und dies hat natürlich Konsequenzen. Wir müssen aber gut aufpassen, denn dieses Werkzeug hat andererseits auch negative Effekte. Es gibt eine neue Generation, die langsam diesen virtuellen Raum besetzt, der ursprünglich nicht für uns geschaffen worden ist. Hier in Deutschland und Europa ist das Engagement über die sozialen Medien sehr stark, viele zeigen großes Interesse für die indigene Bewegung in Brasilien. Diese Annäherung wurde nur dank des Internets ermöglicht.
Tejubi: Alice ist die Influencerin von uns beiden (Gelächter).
Alice: Ich sehe mich nicht als Influencerin, denn ich beeinflusse Menschen nicht. Vielmehr kläre ich sie auf, denn das interessiert mich. Ich will nicht sagen, was die anderen tun sollten. “Influence” ist ein Begriff, der für die Kommerzialisierung konzipiert wurde und ich denke einfach anders.
Tejubi: Das Internet war für uns von Uru Eu Wau Wau sehr wichtig, denn so konnten wir etwas bekannter werden. Wir haben gelernt, Drohnen und GPS zu nutzen, um ein Harpyie-Nest (seltener, tropischer Greifvogel, der in den höchsten Baumkronen nistet, Anm. d. Red.) zu beobachten. Dies haben wir der FUNAI (Nationale Behörde für Indigene, Anm. d. Red.) gezeigt, um zu dokumentieren, dass dort Entwaldung stattfindet. Obwohl sie dem widersprochen haben – sie wären dort gewesen und hätten nichts gefunden, sagten sie – haben wir angefangen zu posten, was in unserem Territorium geschieht, und hoffen nun, dass uns dies helfen kann.

Wie stellt ihr euch das Engagement der jungen Generationen gegen die Entwaldung und für die Umwelt vor?
Alice: Junge Menschen können etwas tun, auch auf autonome Art und Weise. Mein Großvater hat mir immer gesagt, dass die Jugendlichen von heute die Führungsfiguren von morgen sein werden. In dieser Hinsicht ist unsere Bewegung sehr gewachsen und das ist extrem positiv. Ich hoffe, dass wir mehr Zugang zu Möglichkeiten erhalten sowie weniger Vorurteile und Diskriminierungen erleben werden, denn wir sind dagegen nicht immun. Unsere Jugend braucht auch mehr Engagement der neuen Generationen anderer Länder, um die echten Probleme besser angehen zu können.

In Bezug auf eure Reise nach Europa: Wie schätzt ihr die Möglichkeiten ein, mit internationalen Akteuren zu kooperieren?
Tejubi: Ich hoffe, dass unsere Reise nach Europa positive Folgen haben wird. Mein Volk würde sich sehr darüber freuen, wenn ich mit konkreten Ergebnissen zurückkehren könnte. Ich denke dabei an die Ermordung zweier meiner Onkel, die keine juristischen Konsequenzen hatte. Der eine war Lehrer und Mitglied einer Monitoring-Gruppe, er wurde vor zwei Jahren ermordet. Der andere erst vor drei Monaten, wahrscheinlich von einem Goldgräber in Guajará-Mirim. Wir haben dazu noch nichts erfahren, weder von Seiten der FUNAI, noch der Polizei. Es ist sehr schwierig für mich, wenn mich meine Großmutter fragt, ob ich hier schon etwas erreichen konnte, um die Verbrechen aufzuklären.
Alice: Ich finde es auf jeden Fall positiv und notwendig, die Realität unseres Kampfes in einem internationalen Kontext darstellen zu können. Beispielsweise können durch Kunst unsere Gefühle und andere Aspekte unserer Bewegung sehr effektiv kommuniziert werden. Auch wenn wir in den letzten Jahren mehr Raum in der nationalen wie internationalen Politik einnehmen konnten, kommen wir in vielerlei Hinsicht immer noch zuletzt, was sehr schade ist.

GEGEN DEN TRANSFEINDLICHEN NORMALZUSTAND

Ein sicherer Ort mit umfassender Betreuung In den Kliniken arbeiten interdisziplinäre Teams an der Hormontherapie (Foto: Renato Araújo/Agência Brasilia (CC BY 2.0))

Wie viele Travestis und trans* Frauen in Lateinamerika hat Brenda ihre Hormontherapie ohne ärztliche Begleitung begonnen. Diane 35, ein für die Behandlung von Akne vorgesehener Testosteronblocker sowie Perlutan, eine für cis Frauen vorgesehene Verhütungsspritze, sind frei in Apotheken verkäuflich. Seit dem Beginn ihrer Behandlung in einem Ambulatório Trans in ihrer Heimatstadt Natal konnte Brenda die Selbstmedikation reduzieren. „Auch wenn einige Hormone wie etwa Diane 35 vom SUS weiterhin nur für cis Frauen verschrieben werden, fühle ich mich bei den Trans-Kliniken gut aufgehoben. Dort werde ich von einer Endokrinologin betreut und kann kostenlos meine Östradiol- und Testosteronwerte kontrollieren lassen“.

Gegen die transfeindliche Politik Jair Bolsonaros ist die Implementierung der Trans-Kliniken ein wichtiger Schritt des Widerstandes. Seit Beginn seiner Amtszeit zieht der rechtsextreme Präsident seine konservative Agenda gegen die sogenannte „Gender-Ideologie“ durch und legitimiert transfeindliche Gewalt – und das in einer ohnehin schon polarisierten Gesellschaft. 2019 schwärmte Damares Alves, damals Ministerin für Frauen, Familie und Menschenrechte, in einem Video, dass eine neue Ära anbrechen würde, in der „Mädchen rosa und Jungs blau tragen“. 2020 wurde ein Video von Eduardo Bolsonaro verbreitet, Sohn des Präsidenten und Kongressabgeordneter, in dem er während einer „Gender reveal party“ mit einer Waffe auf einen Ballon schießt, um das Geschlecht seines Kindes zu enthüllen. 

Jedes Jahr werden durchschnittlich 123 trans* Personen in Brasilien ermordet

Die Zahlen von Travestiziden und Transfeminiziden sind alarmierend hoch. Laut dem jüngsten Bericht der nationalen Vereinigung für Travestis und Transsexuelle (ANTRA), werden jährlich durchschnittlich 123 trans* Personen ermordet. Damit bleibt Brasilien das dreizehnte Jahr in Folge das Land, in dem weltweit am meisten trans* Personen ermordet werden. Daran hat sich nichts geändert, seit sich bei den Kommunalwahlen 2020 die Anzahl der in politische Ämter gewählten Travestis und trans* Menschen vervierfacht hat. Viele der jetzigen Abgeordneten sind mit anonymen Morddrohungen konfrontiert. Benny Briolly, Stadträtin von Niterói, musste sogar vorrübergehend das Land verlassen.

Trotz dieser brutalen Realität sind in den letzten Jahren eine bedeutende Zahl von Trans-Kliniken entstanden. Politisch ermöglicht hat dies eine 2011 noch unter der Regierung Dilma Rousseffs vom Gesundheitsministerium erlassene Richtlinie. 2013 wurde diese um den Zugang zur Hormontherapie sowie zu operativen geschlechtsangleichenden Maßnahmen für trans* Männer und Travestis erweitert. Die erste Trans-Klinik wurde 2009 in São Paulo eröffnet, mittlerweile finden sie sich in den meisten Hauptstädten des Landes. Manche, etwa diejenige in Salvador, sind nur durch das Engagement von Aktivist*innen wie Mirella Santos zustande gekommen. In ganz Brasilien gibt es momentan 33 Ambulatórios Trans – eine Zahl, die vor wenigen Jahren noch unvorstellbar war.

„Die Trans-Kliniken bieten eine sichere Möglichkeit für die Hormontherapie“, erzählt Brenda. In der Klinik von Natal wird sie die im Laufe ihrer Therapie von einem interdisziplinären Team begleitet, dem auch Sozialarbeiter*innen und Psycholog*innen angehören. Als safe spaces garantieren die Kliniken eine kontinuierliche Behandlung. „In anderen Praxiszentren würden wir nicht so gut behandelt werden, wegen der Stigmatisierung unserer Körper und unserer Leben“ erläutert sie weiter. Diese koordinierte und sichere Möglichkeit zur Hormontherapie gibt es nicht einmal in Berlin. Dort müssen Termine bei verschieden Arztpraxen vereinbart werden. Eine ohne die Unterstützung durch die Community fast unmögliche Aufgabe. Zusätzlich muss die Diagnose einer Störung (F64 ICD 10) von einem*einer psychologischen Gutachter*in vorliegen.

„Die Diagnostizierung solch einer ‘Störung’ sollte verfassungswidrig sein“, meint Porca Flor, eine Travesti aus Brasilien. Sie berichtet, dass am Anfang ihrer Behandlung in der Trans-Klinik in João Pessoa auch eine psychologische Diagnose stand. Das Gespräch mit der Psychologin fand sie „karikaturistisch, aber zugleich interessant“, denn es war das erste Mal, dass sie überhaupt psychologische Beratung machte: „Ganz anders, als mit einer Freundin zu reden“, ergänzt sie. „Dennoch musste ich mich ständig daran erinnern, wer da eigentlich sitzt, und welche Logik der Normativität diese Person ausdrückt. Und dementsprechend habe ich einfach mitgespielt“. Nachdem sie mit dem Gutachten bei einem Psychiater war, konnte sie die Behandlung beginnen. Diese institutionelle Pathologisierung und Diskriminierung findet in vielen Ländern Lateinamerikas, aber auch Europas statt, wie die Organisation Transgender Europe in der Studie „Trans Healthcare Lottery“ kritisiert. „Wäre die Psychologin trans gewesen, oder rassifiziert, dann wär’s vielleicht was. Aber mit einer weißen cis Frau, die keine Ahnung von meinem Leben als Travesti hat, konnte ich nichts anfangen“, fügt Porca hinzu. „Denn es ist doch wünschenswert, dass wir alle eine psychologische Begleitung zu unseren Behandlungen bekommen. Es ist sehr schwer, selbst eine Hormontherapie durchzuführen, ohne zu wissen, wie du dich über die körperlichen Merkmale hinaus veränderst, auch was die sozialen Konsequenzen der Transition betrifft“.

Auch wenn die Trans-Kliniken als eine gegen die strukturelle Transfeindlichkeit gerichtete Organisation gelten, sind sie in ihrer Wirkmächtigkeit limitiert. ANTRA weist auf wichtige politische Herausforderungen hin. Seit der Aktualisierung der WHO-Klassifikation von Krankheiten und verwandten Gesundheitsproblemen (ICD-11) im Jahr 2018 wird „Transsexualität“ als Genderinkongruenz und nicht mehr als psychische Störung gelistet – ein Erfolg, aber die Richtlinien des Gesundheitsministeriums blieben bisher unverändert. „Wir müssen darauf ein Auge haben. Seit der Verfassungsänderung zur Obergrenze für öffentliche Ausgaben sieht die Lage im Gesundheitsministerium nicht gut aus. Es sind keine weiteren Investitionen vorgesehen und die konstanten Angriffe auf die SUS lässt Rückschritte befürchten“. Im Webinar „Transkommunikation im Netz“ von 2021 hat sich Bianca Lopes, Vertreterin von ANTRA in Góias, auch zu territorialen Limitierungen der von den Trans-Kliniken angebotenen Dienste geäußert. „Es fehlt eine ausführliche soziodemographische Dokumentation zu Geschlechtsidentitäten und sexuellen Orientierungen. Ohne dieses Wissen ist der Erweiterung der Angebote auf andere Städte schwierig.“ Außerdem müssten die alltägliche Diskriminierung, die strukturelle Marginalisierung und die Gewalt gegenüber Travestis und trans* Personen in der Diskussion über den gerechten Zugang zur Hormontherapie und weiteren medizinischen Behandlungen eine zentrale Rolle spielen. Erst wenn diese Benachteiligungen vollständig berücksichtigt werden, kann sich die Gesundheitsversorgung entsprechend weiterentwickeln. Dass Brasilien überhaupt in der Lage ist, so einen institutionellen Service zu gewährleisten, ist das Ergebnis von politischem Aktivismus – und von diesem aus muss es sich auch weiterentwickeln.

Die Zukunft der Trans-Kliniken ist auch vom Ausgang der im Herbst anstehenden Wahlen in Brasilien abhängig. Bei einer Wiederwahl Bolsonaros könnte Gewalt gegen Travesti und trans* Personen noch weiter legitimiert werden. Und auch wenn einige der wichtigen Fortschritte für die Community unter den PT-Regierungen zustande kamen, ist fraglich, ob eine zukünftige PT-Regierung in der Lage wäre, sich gemeinsam mit Transaktvist*innen gegen die alarmierende Gewalt einzusetzen und das Fortbestehen der Trans-Kliniken zu garantieren und ihr Angebot zu verbessern.

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