LULA 2023

Nach dem Putschversuch Räumung des Camps der Bolsonaristas (Foto: Fernando Frazão, Agência Brasil)

Das Jahr 2023 begann in Brasilien mit einem großen Fest der Demokratie. Endlich war die vierjährige Schreckensherrschaft des rechtsradikalen Jair Bolsonaro beendet. Die Feier zum Amtsantritt von Lula da Silva am 1. Januar war voller symbolischer Gesten und ein gelungenes Signal für die Hoffnungen, die die neue Regierung repräsentiert. Acht Menschen, die für die Gesamtheit aller Brasilianer*innen und die Zivilgesellschaft stehen – darunter Raoni Metuktire, indigener Anführer der Kayapó, und Aline Sousa, Wertstoffsammlerin aus Brasília – überreichten Lula die Präsidentenschärpe. Auch die Regierungsbildung ist hoffnungsvoll: Zum ersten Mal in der Geschichte Brasiliens gibt es mit Sônia Guajajara eine Ministerin für indigene Völker. Die Schwester der 2018 ermordeten Stadträtin Marielle Franco, Anielle Franco, wird Ministerin für die Gleichstellung ethnischer Gruppen. Mit der Ernennung der international hoch angesehenen Marina Silva zur Umweltministerin zeigt der Präsident, dass es ihm mit dem Kampf gegen Entwaldung ernst ist. Lula gibt damit ein starkes Signal für grundlegende Änderungen – und seine Person verleiht dem Glaubwürdigkeit.

Aber am 8. Januar erreichten ganz andere Bilder aus Brasilien die Welt: Anhänger*innen Bolsonaros stürmten das Parlament, den Obersten Gerichtshof und den Palast Planalto, Sitz aller amtierenden Präsident*innen. Die live übertragenen Bilder waren kaum zu glauben. Denn die radikalen Anhänger*innen Bolsonaros hatten nicht nur praktisch freien Zugang, sie wurden von der Polizei sogar zu den Gebäuden begleitet. Und erst nachdem sie diese gründlich verwüstet hatten, wurden sie schließlich von der Polizei vertrieben, wobei aber der größte Teil der Anti-Demokrat*innen ungehindert in das Protestcamp vor einer Militärkaserne abziehen konnte. Dort verhinderten Militärs jegliche Festnahmen durch die Polizei. Erst Stunden später wurden rund 1 200 von ihnen polizeilich festgenommen, auf Anweisung des Obersten Richters Alexandre de Moraes.

Inzwischen gibt es ein klareres Bild davon, was am 8. Januar passierte

Präsident Lula hielt sich während der Verwüstung des Regierungsviertels im Bundesstaat São Paulo auf. Er reagierte sofort mit einem Dekret für die Intervention der Bundesbehörden und der Entlassung des für öffentliche Sicherheit zuständigen Sekretärs des Hauptstadt-Distriktes Brasília, Anderson Torres. Torres ist inzwischen in Haft, ebenso wie der ebenfalls entlassene Kommandant der Militärpolizei im Regierungsbezirk, Fábio Augusto Vieira. Der Gouverneur von Brasília, Ibanais Rocha, ein Anhänger Bolsonaros, wurde vom Obersten Gerichtshof für 90 Tage von seinem Amt suspendiert.

Inzwischen ist es möglich, ein etwas klareres Bild von den Ereignissen des 8. Januars zu gewinnen. Die Absicht der Anti-Demokrat*innen war es offensichtlich, eine Art Aufstand im gesamten Land anzustacheln und die Militärs zum Eingreifen zu bewegen, um die in ihren Augen illegale Regierung Lula zu stürzen. Dieser Plan ist kläglich gescheitert. Weder gab es landesweit signifikante Unterstützungsaktionen, noch intervenierten die Militärs. Die Polizei reagierte, wenn auch spät, und einige der Vandalen landeten nun sogar hinter Gittern. Nach ersten Umfragen lehnen 93 Prozent der Brasilianer*innen die Aktionen des 8. Januars ab. Kurzfristig kann dies sogar der Regierung Lula nützen: Auch Gouverneur*innen, die mit Unterstützung Bolsonaros gewählt wurden, distanzierten sich. Die Regierung hat nun die Legitimität, gegen radikale Bolsonaristas vorzugehen und die noch verbliebenen Protestcamps zu räumen.

Dennoch bestehen Gründe zur Besorgnis. Denn die Ereignisse des 8. Januars werfen auch ein Licht auf die enge Verbindung von Teilen der Streitkräfte mit dem Bolsonarismo. Militärs waren massiv an der Regierung Bolsonaro beteiligt und unterstützen diesen offensichtlich aktiv und aus voller Überzeugung. Nicht zuletzt das Bekenntnis Bolsonaros zur Militärdiktatur als einer positiven Epoche Brasiliens und seine Huldigung von Foltergenerälen fanden Zustimmung bei vielen Militärs, die die Einrichtung einer Wahrheits- kommission über die Verbrechen der Militärdiktatur unter der Regierung von Dilma Rousseff als Demütigung empfanden und diese mit allen Mitteln bekämpften.

Die Regierung Bolsonaro war mit einem enormen Anwachsen der politischen Rolle der Militärs verbunden. Aber die Bedeutung des Militärs fußt auf dem Artikel 142 der Verfassung von 1988, der als Rolle der Streitkräfte eben nicht nur die Landesverteidigung, sondern auch die Garantie der Verfassung definiert. Auf diesen Artikel berufen sich die Bolsonaristas, wenn sie eine Intervention der Militärs fordern. In der Praxis ist in den vergangenen Jahren aber etwas anderes relevanter, nämlich die „Garantie von Gesetz und Ordnung” (GLO). Dieses Instrument ermöglichte es dem Präsidenten oder der Präsidentin, die Militärs für innenpolitische Aufgaben einzusetzen. Unter der Regierung Dilma Rousseff wurde dies häufig praktiziert, zum Beispiel bei Unterdrückung der Proteste im Jahre 2013 oder im Vorfeld der Mega-Events der Fifa-WM (2014) und den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro (2016). Das GLO diente aber auch bei einer militärpolizeilichen Intervention in der Favela Maré in Rio de Janeiro zur Repression. Einen weiteren Schritt zum Aufstieg der Militärs leitete Präsident Michel Temer (2016-2018) ein, als dieser eine Militärintervention im Bundesstaat Rio de Janeiro dekretierte und den General Braga Neto mit umfassenden Vollmachten ausstattete. Braga Neto wurde später zu einem engen Verbündeten Bolsonaros und dessen Kandidat für die Vizepräsidentschaft. Bolsonaro schließlich brach mit der republikanischen Tradition, das Verteidigungsministerium mit einem zivilen Politiker zu besetzen.

Die Absicht war, eine Art Aufstand im gesamten Land anzustacheln

Die Aufgabe der Regierung Lula ist es nun, diesen unguten Geist der politisierten Militärs wieder einzufangen. „Das Problem ist, dass wir jetzt wissen, wie sie denken und wie sie agieren – und dass dies völlig anders ist als das, was die demokratische Allianz denkt. Es wird eine schwierige Beziehung werden“, kommentierte der Militärspezialist Martins Filho die jüngsten Ereignisse gegenüber den Medien. Dennoch gehen praktisch alle Beobachter*innen davon aus, dass kurzfristig keine Gefahr eines Putsches besteht. Lulas selbst hat den Oberkommandeur des Heeres zügig ersetzt. Der neue General hat zumindest die unpolitische Rolle der Streitkräfte betont. Bolsonaristas und die verbündeten Militärs bereiten jetzt vermutlich eine längerfristige Strategie vor, die bereits beim Sturz der Regierung Dilmas erfolgreich war: systematische Delegitimierung der Regierung und Rückeroberung der Straße mit andauernden Protesten. Dagegen gibt es nur eine wirksame Gegenwehr – den Erfolg der Regierung Lula.

Angesichts der politischen Wirren rund um den 8. Januar sind andere Themen in den Hintergrund getreten. Aber mit seinen ersten Aktionen zeigt Lula, dass jetzt ganz andere Zeiten begonnen haben. Nach Meldungen über die katastrophale Lage im Gebiet der indigenen Yanomami, die besonders schwer von der Invasion des illegalen Goldbergbaus betroffen sind, reiste er in das indigene Gebiet und versprach Sofortmaßnahmen gegen Hunger, Gesundheitsnotstand und zur Verbesserung der medizinischen Versorgung. Brasilien hat wieder einen Präsidenten, der zu Empathie fähig ist. Zumindest im Kampf gegen Abholzung und Klimawandel hat ein klarer Kurswechsel bereits begonnen. Es sei möglich, bis 2030 die Entwaldung auf null zu senken (Desmatamento Zero), so Lula.

Dies ist für die internationale Wahrnehmung der Regierung sicherlich von großer Bedeutung. Für den innenpolitischen Erfolg Lulas werden aber die Ergebnisse von Wirtschafts- und Sozialpolitik entscheidend sein. Für eine wichtige Aufgabe gibt es sogar gute Gründe für Optimismus: Lula hat bereits in seinen ersten Regierungen bewiesen, mit welchen Maßnahmen der Kampf gegen den Hunger erfolgreich sein kann. Bewährte Programme wie die Förderung von Schulspeisungen und den Aufkauf der Produktion von Kleinbäuer*innen können jetzt wieder aufgenommen werden. Aber eine große sozialpolitische Transformation ist von der Regierung Lula und der breiten und heterogenen Koalition, die sie trägt, kaum zu erwarten. Es erweist sich als schwierig, für dringende sozialpolitische Maßnahmen Ausnahmen von der per Gesetz definierten Haushaltsbremse mit einem ziemlich konservativen Kongress auszuhandeln. Dies zeigte sich bei den Verhandlungen um die Fortsetzung der Sozialzahlungen an infolge der Pandemie besonders Bedürftige. Aber auch an der Erhöhung der Mindestlöhne, die geringer ausgefallenen ist als von Sozialverbänden erhofft wurde, trotz der Reallohnverluste während der vier Jahre unter Bolsonaro. Haushaltspolitisch ist das Budget auf Kante genäht. Aber die dauerhafte Konsolidierung demokratischer Strukturen, Erfolge im Kampf gegen Hunger und Entwaldung, die politische Marginalisierung des Bolsonarismo, all das ist möglich und wäre nicht wenig.

„UM GANHO PARA ALÉM DO BRASIL“

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No Brasil, mulheres negras são, com 28 % da população, o maior grupo demográfico do país. Porém, depois da última eleição de 2018, elas ocupavam menos de 2% de cadeiras no congresso nacional. A questão da representatividade melhorou depois dessa eleição?
Não tivemos grandes mudanças. Passamos de 2,3% para 2,5%. Então ainda estamos no mesmo patamar. Nessas eleições, apesar de muitas mulheres negras terem sido eleitas, não são todas comprometidas com a agenda anti racista. Muitas vezes são asociadas com partidos de direita, são Bolsonaristas. Isso pode ser explicado com o fato que houve uma mudança na legislação eleitoral para impulsionar essas candidaturas de pessoas negras, os partidos se aproveitarem dessas regras e assim conseguirem mais recursos para o financiamento de campanhas.

Nessa eleição, o Mulheres Negras Decidem apoiou 27 mulheres negras com uma agenda políticaprogressista nas suas candidaturas, uma em cada estado brasileiro e também no Distrito Federal. Essas mulheres conseguiram se eleger?
Tivemos bons resultados, muitas delas receberam muitos votos. Mas das 27, infelizmente só duas foram eleitas, a Laura Sito do PT e a Camila Valadão do PSOL. Como mulher jovem negra, a Laura por exemplo conseguiu mais de 30.000 votos na eleição para a Assembleia Estadual no Rio Grande do Sul, um estado que historicamente tem muitas questões com racismo.

Vocês estão satisfeitas com esse resultado?
Em termos de quantidade de candidatas que foram eleitas é bem abaixo do que era esperado, considerando toda mobilização de centenas de grupos que apoiaram candidaturas negras. Mas as candidatas apoiadas pelos movimentos que se elegerem são pessoas que chegarão na próxima legislatura muito fortalecidas e com um apoio da sociedade civil. Elas vão precisar reverter alguns dos atrasos que foram aprovados em termos de legislação no governo Bolsonaro. Elas chegam muito fortes nesse sentido mesmo se não são tantas como nós queríamos. Nunca existiu uma mobilização tão forte quanto nessas eleições.

Como você se explica que a mobilização foi maior esse ano?
A sociedade brasileira se deu conta de que transformações sociais profundas só são possíveis fazendo política. O jeito com que Bolsonaro lidou com a pandemia mostrou a desigualdade no acesso de direitos que existe no Brasil. Isso mostrou a urgência de ter representantes com um perfil mais popular para atender as demandas da maioria da população.

Porque é necessário apoiar candidaturas de mulheres negras? 
São mulheres que têm perfis políticos muito fora do comum, de movimentos sociais de base, de religiões de matriz africana, mulheres quilombolas. Para essas mulheres não é fácil participar de uma disputa, primeiro dentro dos partidos e depois na campanha política em si. Porque os projetos políticos delas se preocupam com o aprofundamento da democracia e questionam o poder como ele está estabelecido. Então elas são muito atacadas. Ao mesmo tempo, votar nelas é uma coisa boa para todo mundo porque uma vez eleitas, elas produzem políticas públicas que são do interesse de todos.

Você pode dar um exemplo?
Um exemplo seria a recém eleita Deputada Estadual Laura Sito que defende agendas consideradas prioritárias pelos eleitores no Brasil, como a educação. Mas a Laura fala de uma educação inclusiva, anti racista e emancipadora. 

Como você está se sentindo depois do suspense que era o segundo turno da eleição?
Estou menos preocupada do que estava antes do segundo turno. As forças armadas não estão tão dispostas contra a democracia e a constituição como nós imaginávamos. As instituições reconheceram o resultado e os protestos golpistas têm sido condenados não só pelo TSE mas também pelo STF, pelo Congresso e também pelamídia. Vencemos a etapa institucional mas me preocupo com o reconhecimento pela população. Temos uma quantidade significativa de pessoas nas ruas defendendo atos golpistas e antidemocráticos. É uma disputa de mais longo prazo que depende das lideranças democráticas fortes nas assembléias regionais e no Congresso, de movimentos de base fortes para a politização das novas gerações e a recuperação do debate público das questões do dia a dia. 

Isso significa que o Bolsonarismo vai permanecer?
A extrema direita cresceu e se organizou durante o governo Bolsonaro. Mas ela vai bem além do Bolsonaro e da família dele, como também dos seus apoiadores políticos. Essas ideias autoritárias são uma questão global que encontrou um terreno muito fertil no Brasil.

Os governadores que foram eleitos em São Paulo, Minas Gerais e Rio de Janeiro estão bem próximos aBolsonaro. Isso dificulta o trabalho de movimentos e grupos sociais como o Mulheres Negras Decidem?
Nesses estados os movimentos já têm muita força, estrutura e recursos. O nosso desafio continua sendo principalmente em regiões nordestinas, norte e principalmente no Centro Oeste onde as estruturas são mais fragilizadas. 

Como os 51% dos brasileiros que foram votar e votaram no Lula deveriam lidar com os 49% das pessoas que votarem no Bolsonaro?
Isso será um grande desafio. O Presidente eleito Lula tem esse perfil de união e reconciliação, mas ele precisará muito da ajuda dos movimentos sociais para recuperar esse tecido social e promover unidade no Brasil. Quem apoia o Bolsonaro entende a importância da política também. Mas seus eleitores acreditam que existe uma luta do bem contra o mal. A questão agora é trabalhar para que essa compreensão seja desfeita. Trazer essas pessoas de volta para o debate sobre a realidade concreta que é uma dificuldade não só para os 49% mas para todo mundo. A realidade do brasileiro em média é de muita precariedade. Quanto mais cedo a gente conseguir voltar a discutir questões práticas do nosso dia a dia, para melhorar a situação de todo mundo, mais facilmente vamos conseguir lidar com essas diferenças.

O Presidente-eleito Lula precisará do apoio dos movimentos sociais. Vários grupos apoiaram a campanha dele, mas falam que vão virar oposição no momento em que ele tomará posse. Como seu governo poderia dar certo então?
No primeiro ano, os movimentos de base que apoiarem o Lula vão estar muito junto do governo. Vai ser um ano de reconhecimento do tamanho dos estragos que aconteceram e de planejar estratégias para reconstrução. Agora tudo vai depender muito de como vai ficar a configuração desse novo governo. Já saíram críticas sobre a configuração do grupo que está fazendo a transição do governo. Há poucas mulheres, não há pessoas negras. Ainda faltam alguns meses até o Lula anunciar os ministros. Será importante incluir mulheres, negros e indígenas. Isso aumentaria as possibilidades da cooperação entre governo e sociedade civil.

Quais são as suas expectativas para o novo governo Lula?
Essa questão da composição ministerial com muitas mulheres. Em cima disso, será importante, principalmente nos orgãos que cuidam da questão do enfrentamento do racismo, que ele coloque pessoas com perfil alinhado a agenda histórica dos movimentos negros. O Lula tem que escutar essas as sugestões que está recebendo para os cargos de confiança, como por exemplo, a Deputada Erica Malunguinho, uma mulher negra trans, para a Secretaria de Promoção da Igualdade Racial ou para a Fundação Palmares.

Qual foi o papel das mulheres nessas eleições?
Elas tinham um papel principalmente no trabalho de base. O número das abstenções diminui no segundo turno e as mulheres tiveram um papel muito importante nessa decisão de outras pessoas da família irem votar. Graças a elas o Lula também mudou o foco na campanha e falou mais sobre o futuro, oportunidades para os jovens. Esse grupo, entre 18 e 35 anos, estava muito em dúvida se era para votar no Lula ou Bolsonaro, mas votaram no Lula no segundo turno.

Também teve quase um quarto da população com direito a voto que não votou, votou nulo ou branco. Isso sinaliza que a democracia brasileira está em crise?
É um reflexo da crise de representatividade e de confiança nas instituições que está acontecendo pelo menos nos últimos dez anos. Uma parcela grande está desacreditada de qualquer possibilidade de mudança e uma outra é impossibilitada de participar do processo político porque está em situação de grande vulnerabilidade. 

Qual será o efeito dessa eleição no âmbito global?
Com a volta do governo Lula conseguimos recuperar questões que são de política global, especialmente em relação a região amazônica, mas também em saúde, direitos humanos e mediação de conflitos que são agendas que o Brasil liderava. Isso é um ganho para além do Brasil.

„WIR WÜNSCHEN UNS EINEN BOYKOTT”

LUANA CARVALHO AGUIAR LEITE
vertritt den Bundesstaat Rio de Janeiro in der nationalen Direktion der Landlosenbewegung MST (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra), eine der größten sozialen Bewegungen Lateinamerikas. Carvalho hat Agrarwissenschaften und Pädagogik studiert und ist seit zwölf Jahren in der MST aktiv, wo sie sich besonders der kleinbäuerlichen und ökologischen Landwirtschaft sowie der Bildung im ländlichen Raum des Bundesstaats von Rio de Janeiro widmet.
(Foto: privat)


Wie bewertet die MST die Gesetzesänderungen der Bolsonaro-Regierung?
Bolsonaro agiert auf verschiedenen Ebenen, um Brasilien zu einem autoritären Staat zu machen: die Veränderungen in der Rentenversicherung, die Rücknahme von Arbeitsrechten, die Attacken auf das öffentliche, kostenlose und laizistische Bildungswesen. Eine ganze Reihe von Privatisierungen liefert außerdem unsere Souveränität dem internationalen Kapital unter Führung der USA aus. Auch die Militärbasis Alcântara in Maranhao, über die ein Abkommen mit den USA abgeschlossen werden soll, ist Ausdruck dessen.

Welche Veränderungen treffen die MST am stärksten?
Bolsonaro versucht, einen Wertekonsens in der Gesellschaft zu erzeugen, der nicht nur Linke, sondern alle Regierungskritiker kriminalisiert. Uns direkt betrifft vor allem Bolsonaros Legitimierung von Gewalt, etwa wenn er betont, dass ein Großgrundbesitzer sich mit Gewalt „verteidigen“ darf, wenn er sich von einer Landbesetzung bedroht fühlt. Alte Fälle von vor 20 Jahren werden plötzlich wiederaufgenommen, zwei unserer Mitstreiter müssen sich jetzt wegen der „Mitgliedschaft in einer kriminellen Organisation” verantworten – ein ganz anderer juristischer Vorwurf als Landfriedensbruch. Alles mit dem Ziel, die MST weiter zu kriminalisieren

Und im Bereich der Agrarreform?
INCRA, das staatliche Organ zur Umsetzung der Agrarreform, soll ins Landwirtschaftsministerium überführt werden, dessen Leiterin – selbst Vetreterin der Agrarindustrie – gegen die Reform ist. Heute ist die Hauptaufgabe der INCRA, die bestehenden Agrarreform-Siedlungen zu privatisieren. Es gibt eine Direktive, dass die INCRA die langwierigen Enteignungsprozesse von Großgrundbesitzern einfach ruhen lässt, obwohl genau das ihre Aufgabe wäre. Die INCRA verhält sich bei vielen Anträgen auf Rückübereignung „neutral”, anstatt Widerspruch einzulegen. Kürzlich habe ich erfahren, dass im Bundesstaat Pernambuco die Rückübereignung des Landes des seit 21 Jahren bestehenden Assentamentos Paulo Freire vor Gericht beantragt wurde. In Siedlungen wie diese hat der Staat investiert und eine gewisse Infrastruktur geschaffen: Straßen, Strom oder Wasserversorgung. Plötzlich besteht die Möglichkeit, dass sich die ehemaligen Besitzer dieses aufgewertete Land wiederaneignen können.

Was können die sozialen Bewegungen jetzt tun?
Wir mussten eine ideologische Niederlage hinnehmen. Deswegen müssen wir jetzt gemeinsam mit den Landarbeitern die Idee der sozialen Transformation rekonstruieren. Es wird langfristig nicht reichen, Bolsonaro zu entfernen. Wir befinden uns in der Phase eines konsistenten Projektes der Rechten und des internationalen Kapitals, die aus der Krise von 2008 resultiert. Brasilien ist für die Bewältigung dieser Krise entscheidend, denn es besitzt natürliche Bodenschätze im Überfluss. Wir müssen jetzt mit Konfrontation und sehr viel Basisarbeit reagieren und mit einer Bildungsoffensive, um die mystische Vision des Projektes der Arbeiterklasse zurückzugewinnen.

Wie kam es zu dieser ideologischen Niederlage?
Damit meine ich nicht erst den Wahlsieg Bolsonaros im Jahr 2018. Schon seit der zweiten Amtszeit von Dilma Rousseff 2014 hat sich die Rechte mit der extremen Rechten und dem internationalen Kapital verbündet, um die Macht zu übernehmen.
Ein symbolischer Moment war die Ermordung von Marielle Franco Anfang 2018, symbolisch, weil der Linken die Botschaft übermittelt wurde, dass das neoliberale Projekt ohne Rücksicht auf Verluste umgesetzt wird. Dass die Menschenrechte nur noch eine untergeordnete Bedeutung haben. Nicht einmal einen Monat später wurde der ehemalige Präsident Lula da Silva verhaftet. Der Prozess gegen ihn war ein Scheinprozess, eine Attacke gegen die noch junge und instabile brasilianische Demokratie, die der kapitalistische Staat in Zeiten der Krise dekonstruieren möchte.

Was erwartet die MST von Europa?
Die Beobachtung von Menschenrechtsverletzungen und der Protest dagegen sind von fundamentaler Bedeutung. Unsere internationalen Netzwerke dienen uns als Sicherheitsnetz. Weil Bolsonaro sich nicht um internationale Vereinbarungen schert, verhindert auch nur der internationale Protest bestimmte Aktionen der Regierung. Im Fall der Brände in Amazonien gab es schnell internationale Reaktionen, sodass sich Bolsonaro dazu verpflichtet fühlte, bald ein Statement in den sozialen Medien abzugeben.
Wir würden uns außerdem wünschen, dass über einen Boykott von brasilianischen Produkten nachgedacht wird. Die Exportprodukte der Agrar­­industrie – Fleisch, Soja, Mais, Zellulose – sie repräsentieren aus unserer Sicht die heutige Regierung. Sie sind Produkte des Rassismus, des Machismus, der Gewalt auf dem Land und der sozialen Ungleichheit. Jetzt wäre genau der richtige Moment für eine große internationale Boykott-Kampagne dieser Exportprodukte.
Die europäischen Regierungen sollten besser reflektieren, dass Bolsonaro zwar demokratisch gewählt wurde, wir aber heute in einem sehr autoritären Staat leben. Man kann nicht von Faschismus reden, aber dieser Staat trägt sehr viele Kennzeichen des Faschismus: Wir haben keinen demokratischen Rechtsstaat mehr, die Menschenrechtsverletzungen finden auf einem ganz anderen Niveau statt, Bolsonaros Maßnahmen sind nicht von der Verfassung, von der Justiz oder den Gesetzen gedeckt. Deshalb sind wir auch gegen das Mercosur-Abkommen und erwarten von den europäischen Staaten, dass sie diesen Vertrag nicht unterzeichnen. Stattdessen sollten sie Sanktionen erlassen. Denn wenn es sich auf die Einnahmen auswirkt, wird gerade das Agrobusiness Bolsonaro unter Druck setzen. Sie wissen, bis zu welchem Punkt sie gehen können und dass die internationalen Gesetze respektiert werden müssen.

 

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