Der schleichende Putsch der Korrupten

Gegen Straflosigkeit und Korruption Demonstration für einen “Wandel” in Guatemala (Foto: Sara Mayer)

„Du bleibst dünn, während die da oben sich die Taschen füllen” sang ein Demonstrant am 4. Oktober vor Menschen, die sich vor dem Gebäude der Generalstaatsanwaltschaft versammelt hatten. Die dort Demonstrierenden wollten zeigen, dass sie die Korruption und die Allianzen der Regierungspartei mit Kriminellen und einflussreichen Unternehmen satt hatten. An jenem 4. Oktober ahnten sie noch nicht, dass sich ihre Mobilisierung zu landesweiten Protesten ausdehnen und über Monate anhalten würde. Guatemala steckt in einer historisch einzigartigen politischen Krise. Streikende hatten Teile des Landes stillgelegt, zeitweise mehr als 80 Straßen blockiert und vor dem Gebäude der Generalstaatsanwaltschaft ein Protestcamp errichtet. Hier harren Demonstrierende seither Tag und Nacht aus. Regelmäßig werden Protestzüge und Kundgebungen abgehalten, um dem Wahlsieger Bernardo Arévalo und der ihm nahestehenden, sozialdemokratischen Partei Semilla den Rücken zu stärken.

Die Botschaft lautet: Das Volk lässt sich nicht unterdrücken und es wird auch nicht zulassen, dass eine korrupte Elite den Amtsantritt des demokratisch gewählten Präsidenten am 14. Januar verhindert. Am 8. Dezember forderte der Leiter der Sonderstaatsanwaltschaft gegen Straflosigkeit, Rafael Curruchiche, die Wahlen vom August wegen angeblicher Unregelmäßigkeiten in den Wahlakten für ungültig zu erklären und verschanzte sich mit seinen Anhänger*innen in den Büroräumen. Blanca Alfaro, die Präsidentin des Obersten Wahlgerichtes (TSE), stellte daraufhin klar, dass die Wahlergebnisse gültig und unveränderbar sind und dass nur das Verfassungsgericht die Wahl annulieren könnte.

Gegenwärtig sind zwei Szenarien vorstellbar: Das erste, weniger wahrscheinliche ist, dass der Staatsstreich Realität wird. Das zweite Szenario geht davon aus, dass die traditionellen Machthaber alles tun werden, um Bernardo Arévalo das Regieren in der kommenden Legislaturperiode unmöglich zu machen. „Das Volk wird nicht zulassen, dass der rechtmäßig gewählte Präsident davon abgehalten wird, die Regierungsgeschäfte aufzunehmen“, sagt der stellvertretende Vorsitzende der Partei Semilla, Román Wilfredo Castellanos Caal, gegenüber LN. Die sozialen Proteste seien „fundamental” für die Abwehr des Putsches. Der Zusammenschluss der Zivilgesellschaft zeige, dass sich das Volk weder manipulieren noch seiner Wahlen berauben lasse. Castellanos ist überzeugt, dass der Amtsantritt Arévalos nicht zu verhindern ist. Es gebe trotz „der Tyrannei der Staatsanwaltschaft und der korrupten Institutionen noch staatliche Einrichtungen im Land, die im Sinne einer demokratischen Ordnung funktionieren.” Diese seien bereit, sich einer korrupten Elite entgegenzustellen. Dennoch müsse man damit rechnen, dass die Gegner Arévalos alles tun werden, um dem künftigen Präsidenten den Alltag zu erschweren.

Während Román Castellanos die Einheit des guatemaltekischen Volkes hervorhebt, erinnert Miguel Oxlaj, Aktivist der indigenen Kaqchikel, an den Rassismus, der in Guatemala weiterhin fortbestehe. Die Indigenen versammeln sich momentan zwar hinter dem designierten Präsidenten, um die Demokratie zu schützen. Allerdings hätten sie Arévalo nur gewählt, da er „der Beste aus einer schlechten Auswahl“ gewesen sei. Nach dessen Amtsübernahme müsse man sich zusammensetzen, um über die Situation der Indigenen zu sprechen. Hohe Erwartungen hat Oxlaj nicht.

Am 4. Dezember versammelten sich Zehntausende vor der Generalstaatsanwaltschaft, um gegen den soeben verkündeten Staatshaushalt für 2024 zu protestieren. Der Kongress hatte den Haushalt in einer Nacht-und-Nebel-Aktion gegen die Einwände von Abgeordneten der Partei Semilla verabschiedet. Im letzten Moment wurde eine Vielzahl an Änderungen vorgenommen, die das Volk weiter benachteiligen und bestimmte Wirtschaftssektoren wie etwa Bauunternehmen begünstigen. Arévalo kritisierte, dass die Abgeordneten einen „falschen und illegalen Haushalt” beschlossen hätten und bat den noch amtierenden Staatschef Alejandro Giammattei, einen „fairen und trans­parenten Übergangsprozess zum Wohle des Volkes” zu gewährleisten. Ein solcher Etat ist vor allem geeignet, der neuen Regierung das Leben schwer zu machen. So wird die korrupte Justiz mit reichlich Geldern ausgestattet, Mittel für Gesundheit und Bildung dagegen gekürzt.

Die Stimmung im Volk kippte Ende September, als Angehörige der Generalstaatsanwaltschaft im Namen einer „Rettung der Demokratie” in das TSE eindrangen und die Akten der Wahlergebnisse der Präsidentschaftswahl beschlagnahmten. Das TSE hatte zuvor die Rechtmäßigkeit der Wahlergebnisse offiziell bestätigt. Die Erklärung vom 8. Dezember kommt nun für Aravelos Wähler*innen einem versuchten Staatsstreich gleich.

Am 2. Oktober begannen indigene Gemeinschaften der Region Totonicapán, sich gegen das Vorgehen des alten Establishments aufzulehnen. Sie forderten den Rücktritt der korrupten Schlüsselfiguren, die für die Beschlagnahmung verantwortlich waren: Rafael Curruchiche, die Gene­ralstaatsanwältin Consuelo Porras sowie der verantwortliche Richter Fredy Orellana. Dieser Widerstand wuchs zügig zu einer landesweiten Bewegung heran, der sich neben der Landbevölkerung und der Arbeiterklasse auch Hauptstädter*innen anschlossen.

Schon 2015 hatte es Widerstand gegen die Korruption gegeben. Dieses Mal ist die Situation jedoch anders: Die Bewegung wird nun vor allem von Indigenen angeführt und am Leben gehalten, ist streng organisiert und das Herz des Protestes befindet sich in der Hauptstadt. Es sind auch die indigenen Autoritäten, die sich gegenüber den Vereinten Nationen auf international geltendes Recht berufen, und auch die Europäische Union und die USA um Hilfe und Sanktionen gegen die Korrupten gebeten haben. Zumindest zeigt sich die internationale Gemeinschaft inzwischen besorgt um die Vorkommnisse in Guatemala. Die Organisation amerikanischer Staaten bezeichnete die Erklärung der Generalstaatsanwaltschaft als „Verletzung der verfassungsmäßigen Ordnung, des Rechtsstaates und der Menschenrechte der Bevölkerung Guatemalas”.

Der Preis, den insbesondere die ländliche indigene Bevölkerung für den Widerstand bezahlt, ist hoch: Viele protestieren seit über 60 Tagen rund um die Uhr und ließen in ihren Heimatdörfern alles stehen und liegen, um für die Zukunft Guatemalas einzustehen. Zwar haben sich viele der landesweiten Blockaden inzwischen aufgelöst, dafür etablierte sich der Dauerprotest vor der Generalstaatsanwaltschaft.

Bereits im September hatte der designierte Regierungschef vor einem „Staatsstreich in Zeitlupe“ gewarnt. Die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte hatte vor „Übergriffen, Stigmatisierung und möglichen Anschlägen” gegen Arévalo und seine Vizepräsidentin Karin Herrera gewarnt. Während Arévalos Unterstützer*innen alles unternehmen, um seinen Amtsantritt zu sichern, legen ihm seine Gegner*innen Steine in den Weg. Der im Eiltempo festgesetzte Staatshaushalt ist nur ein Beispiel. Zunächst war die Generalstaats­anwaltschaft mit dem Versuch gescheitert, die Partei Semilla zu suspendieren, inzwischen ist es ihr aber gelungen, der Partei die Rechtspersönlichkeit abzusprechen. Gleichzeitig wolle sie strafrechtliche Ermittlungen gegen die politische Bewegung des künftigen Präsidenten einleiten und verlangte Mitte November die Aufhebung der Immunität Arévalos und Herreras vom Obersten Gerichtshof. Im Interview mit LN erklärte Román Castellanos, dass es sich hier um einen Putschplan handle, der „den Willen des Volkes verhöhnt“.

Viele sprechen inzwischen von einer „Justizdiktatur” in Guatemala

Indessen ließ die Generalstaatsanwaltschaft landesweit mindestens 30 Razzien in Privathaushalten durchführen und erließ zeitgleich 27 Haftbefehle gegen Unterstützer*innen Arévalos sowie Mitglieder von Semilla. Sechs Personen, die im Jahr 2022 die Universität San Carlos besetzt hatten, wurden festgenommen. Ihnen wurden mehrere Delikte, unter anderem die Bildung einer Vereinigung mit illegalen Absichten, vorgeworfen. Die Akademiker*innen hatten gegen den neuen Leiter der Bildungseinrichtung protestiert, dessen Wahl sie als unrechtmäßig empfanden.

Die Inhaftierten wurden mehrere Tage festgehalten und es wurde größtenteils hinter verschlossenen Türen und unter Ausschluss der Medien verhandelt. Der als korrupt geltende Richter Victor Cruz befand die Verhafteten zweier Delikte schuldig und entließ sie gegen Bezahlung eines Bußgeldes in einen „Hausarrest“. Das Verfahren soll fortgesetzt werden, Román Castellanos spricht von einem weiteren Versuch, die Partei Semilla zu schwächen. So versuche die Generalstaatsanwaltschaft, Semilla mit der Übernahme der Universität in Verbindung zu bringen. Der Prozess zeige, dass der Richter Verpflichtungen gegenüber den traditionellen Machthabern zu erfüllen habe.

Ein bedeutender Teil der Bevölkerung spricht inzwischen von einer „Justizdiktatur”. Politische Aktivist*innen fühlen sich nicht mehr sicher, ziehen sich zurück, tauchen unter oder entscheiden sich für das Exil. Aktuell unternähme Semilla alle möglichen Schritte, um den schleichenden Staatsstreich aufzuhalten, so Castellanos. Neben den rechtlichen Schritten führe die Partei Gespräche mit den wichtigsten Sektoren der Gesellschaft, zu denen die indigenen Gemeinschaften und Angehörige des privaten und öffentlichen Sektors zählen, um „die Demokratie auf den Beinen zu halten”, versichert der Abgeordnete. Das progressive Medium Prensa Comunitaria verkündete in den sozialen Medien, dass Richter Cruz mehrere unabhängige Medien des Landes aufgefordert habe, Informationen über bestimmte Journalisten*innen preiszugeben und sein Vorgehen der Öffentlichkeit nicht mitzuteilen. Auch gegen indigene Autoritäten, die eine führende Rolle in den aktuell stattfindenden Protesten einnehmen, wird laut Prensa Comunitaria ermittelt.

Kritische Stimmen wandern in Guatemala auf gefährlichen Pfaden: Diejenigen, die Kriminellen und Korrupten zu Leibe rücken, werden eingesperrt. So geschehen im Falle des Gründers der unabhängigen, inzwischen eingestellten Zeitung El Periódico, José Rubén Zamora: der Redakteur und Hauptkritiker der amtierenden Regierung wurde im Juni zu sechs Jahren Haft wegen Geldwäsche verurteilt- trotz internationaler Kritik und offensichtlichen Unregelmäßigkeiten bei der Urteilsfindung. Wie es um die Pressefreiheit in Guatemala steht, zeigte ein durch ein Datenleck bekannt gewordenes Dokument des Verteidigungsministeriums, das Journalist*innen als „Risiko für die nationale Sicherheit“ einordnete.

Guatemala ist auf der Straße

Die Revoluzzersöhne Jacobo Árbenz Villanova (Mitte links) und Bernardo Arévalo de León (Mitte rechts) (Foto: Edwin Bercian)

Wie jedes Jahr wurde in Guatemala auch am diesjährigen 20. Oktober der Tag der Revolution gefeiert. An diesem Datum wird dem sogenannten guatemaltekischen Frühling gedacht, der 1944 mit dem Sturz der Militärdiktatur von Federico Ponce Vaides begann und zehn Jahre dauerte. An diesem 20. Oktober schwang in der Erinnerung an die Revolution auch die Hoffnung mit, Jahrzehnte der Korruption und Plünderung hinter sich zu lassen.

Grund der Hoffnung ist der Erfolg des Sohnes von Juan José Arévalo, Bernardo Arévalo de León, bei den jüngsten Präsidentschaftswahlen. Bei den demokratischen Wahlen von 1944 wurde Juan José Arévalo als Kandidat der Partei Frente Popular Libertador mit einer Zustimmung von über 85 Prozent gewählt. Der Pädagoge, Doktor der Philosophie und Erziehungswissenschaften wird als Held der Revolution bei den jährlich stattfindenden Demonstrationen am 20. Oktober geehrt. Der guatemaltekische Frühling aber endete mit dem erzwungenen Rücktritt und Exil seines Nachfolgers Jacobo Árbenz Guzmán.

Bernardo Arévalo de León wiederum gewann am 20. August dieses Jahres die Stichwahl um das Präsidentenamt, der Amtsantritt soll am 14. Januar 2024 stattfinden. Seine Kandidatur hatte dem Land die Hoffnung auf den Frühling zurückgebracht: Bernardo Arévalo und seine sozialdemokratische Partei Movimiento Semilla erlangten landesweit große Aufmerksamkeit durch ihr Versprechen, die Korruption zu bekämpfen, begleitet von einer bescheidenen Wahlkampagne in einem Land, das gemäß dem Korruptionswahrnehmungsindex von 2022 zu den dreißig korruptesten Ländern der Welt gehört.

Doch mit der Hoffnung sind auch die Gegner wieder aufgetaucht. Unter dem bekannten Vorwurf des „Kommunismus“ werden Bernardo Arévalo und seine Partei angegriffen und kritisiert. So hat auch die amtierende Regierung von Alejandro Giammattei eine Offensive gegen die Partei gestartet, um zu verhindern, dass Arévalo sein Amt antritt. Die Generalstaatsanwaltschaft, die zu einem effektiven Instrument der Unterdrückung geworden ist, hat mehrere Verfahren eröffnet, um Mitglieder der Partei zu kriminalisieren. Juan Alberto Fuentes Knight, einer der Gründer der Partei, hat das Land vor wenigen Monaten aufgrund der Verfolgung, dem das Gründungskomitee ausgesetzt ist, verlassen. Gegen Cinthya Rojas Donis und Jaime Gudiel Arias wurde wegen der Beteiligung an der Gründung der Partei Haftbefehl erlassen. Ende Oktober wurde zudem aufgrund eines Kommentars auf der Plattform X die Aufhebung der Immunität des Abgeordneten Samuel Pérez beantragt.

Im Angesicht dieser Ereignisse gewann der 20. Oktober eine neue Bedeutung. Bernardo Arévalo trägt das Erbe seines Vaters Juan José Arévalo in die Gegenwart. Die Hoffnung auf den Straßen wird jedoch begleitet von Unsicherheit aufgrund der Angriffe derjenigen, die eine Veränderung der aktuellen Machtstrukturen verhindern wollen. Die Demonstrierenden fordern die Anerkennung der jüngsten Wahlergebnisse und den Rücktritt der Leitfiguren der Generalstaatsanwaltschaft, die versuchen, diese Ergebnisse zu sabotieren.

Bereits in den frühen Morgenstunden dieses 20. Oktobers versammelten sich Bürger*innen aus verschiedenen Landesteilen und zogen im Gedenken an das furchtbare Feuer vom 8. März, bei dem 41 Mädchen in einem staatlichen Kinderheim starben, in Richtung des sogenannten Platzes der Mädchen im Zentrum der Hauptstadt. Angehörige indigener Gruppen, Student*innen und zivilgesellschaftliche Organisationen versammelten sich vor dem Nationalpalast, um Respekt für die Demokratie, die Wahlergebnisse und die Erinnerung an den guatemaltekischen Frühling einzufordern.

„Das Volk hat gewählt und Euch zum Teufel geschickt“

Besonders kritisiert wurde, dass Guatemala nicht die notwendigen Mindestbedingungen und Chancen auf ein würdevolles Leben für zukünftige Generationen bietet. Die Parole „Wegen unserer Kinder, wegen unserer Migranten” spielt darauf an, dass sich viele überwiegend junge Guatemaltek*innen deshalb zur Migration gezwungen sehen. Eine der Haupteinnahmequellen des Landes sind Auslandsüberweisungen. Die Devisen, die Migrant*innen regelmäßig nach Guatemala schicken, machen 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts des Landes aus. Wie Daten der Bank von Guatemala zeigen, ist dies mehr als der Beitrag der stärksten Wirtschaftssektoren, wie die verarbeitende Industrie, Landwirtschaft und Viehzucht, Autohandel und -reparatur.

Auf Konfrontation Polizei und Protestierende beim landesweiten Streik (Foto: Edwin Berci‡n)

„Das Volk hat gewählt und Euch zum Teufel geschickt“ war eine weitere Parole, die laut in den Straßen hallte. Die Demonstrierenden machten lautstark darauf aufmerksam, dass die Vertreter*innen des Staates bereits gewählt wurden und diese Ergebnisse respektiert werden müssen. Die noch amtierenden Regierungsvertreter*innen werden als Teil des Korruptionsproblems gesehen, es fehlt ihnen an Rückhalt in der Bevölkerung.

Die Märsche waren von historischer Symbolik geprägt. In einem Moment trafen sich auf einer Brücke im Stadtzentrum, unter der ein Teil der Menschen herzog, Sympathisant*innen der Oktoberrevolution und Demonstrierende, die Respekt für die Demokratie forderten. Bernardo Arévalo hielt zusammen mit Jacobo Árbenz Villanova, dem Sohn von Jacobo Árbenz Guzmán eine Rede, die auf den Sturz der autoritären Regierung im Frühling 1944 anspielte. Neben der Erinnerung an die Hoffnungsmomente vor 79 Jahren betonte Arévalo, dass die gegenwärtige Situation des Landes typisch für einen historischen Moment sei, und dass diese Unsicherheit eine neue Ära, einen neuen Frühling, ankündige. Er zollte den Guatemaltek*innen Respekt, die in Anbetracht der aktuellen Lage ihre Stimme erhoben haben. Er bezeichnete sie als das Volk, das sich gegen die Tyrannei der Korruption erhebt und seit dem 2. Oktober friedlichen Widerstand vor verschiedenen Vertretungen der Generalstaatsanwaltschaft im ganzen Land leistet. Schließlich bekräftigte er sein Vorhaben, die Korruption von der Exekutive aus zu bekämpfen, um dem Volk die ihm genommenen Chancen zurückzugeben. So soll ein pluralistischer und inklusiver Staat entstehen, der den Menschen eine Perspektive abseits der Migration bietet.

Seit mittlerweile mehr als einem Monat wird in vielen Teilen des Landes auf diese Weise friedlicher Widerstand geleistet. Guatemala erlebt einen kritischen Moment in der Gestaltung seiner Zukunft. Die Beteiligung indigener Gruppen war entscheidend für die Mobilisierung der Bevölkerung, sich für die Verteidigung der Demokratie einzusetzen. Diese turbulenten Zeiten werden darüber entscheiden, ob die Demokratie lebensfähig ist und das aktuelle System ablösen kann. Das guatemaltekische Volk kämpft weiter und wird nicht aufgeben.

Der Löwe ist auf dem Sprung

Inszenierung als Gegner des Establishments Milei hat die Nase voll von den “bürokratischen Faulpelzen” (in Argentinien ñoquis genannt) (Foto: Marcus Christoph)

„Wenn ihr mir 20 Jahre gebt, sind wir Deutschland. Wenn ihr mir 35 Jahre gebt, sind wir die Vereinigten Staaten.” Javier Milei, der sich selbst als Löwe und König einer verlorenen Welt stilisiert, richtete sich mit dieser vollmundigen Ankündigung an die Zuschauer*innen bei der ersten Debatte der Präsidentschaftskandidat*innen. Diese fand am 1. Oktober in Santiago del Estero im Norden Argentiniens statt, am 8. Oktober soll (nach Redaktionsschluss) in Buenos Aires eine weitere folgen. Dass in Argentinien mehr als zwei aufeinanderfolgende Amtszeiten, also mehr als acht Jahre ohne Unterbrechung, in der Verfassung für eine Präsidentschaft nicht erlaubt sind, dürfte dem 52-jährigen Anarcho-Kapitalisten Milei egal sein. Ähnlich wie der Autokrat Najib Bukele in El Salvador wird der derzeit für die ultrarechte La Libertad Avanza (Die Freiheit schreitet voran, LLA) im Abgeordnetenhaus sitzende Milei versuchen, sich die Verfassung untertan zu machen, sollte er es in die Casa Rosada schaffen.

Beim ersten Wahlgang am 22. Oktober, bei dem es für die Präsidentschaft mehr als 45 Prozent der Stimmen oder mindestens 40 Prozent der Stimmen plus zehn Prozentpunkte Vorsprung bedarf, wird Milei der Sprung in die Casa Rosada, den Dienstsitz des argentinischen Präsidenten, laut Umfragen nicht gelingen. Ob bei einer Stichwahl am 19. November im zweiten Anlauf, steht in den Sternen. Ein am 1. Oktober von El País vorgelegter Querschnitt aus 18 Umfragen sieht Milei mit 35,3 Prozent vor dem Rechtsperonisten Sergio Massa mit 30 Prozent und der ehemaligen Innenministerin der rechten Regierung Macri, Patricia Bullrich, mit 25,9 Prozent. Weit abgeschlagen und ohne Chance auf die Stichwahl folgen der peronistische Gouverneur Juan Schiaretti aus Cordóba mit 3,4 und die trotzkistische Myriam Bregman mit 2,6 Prozent.

Diese Umfragen wurden allesamt vor dem Korruptionsskandal rund um Martín Insaurralde gemacht, der seit dem 30. September die Schlagzeilen beherrscht. Der bis dato Stabschef der peronistischen Regierung der Provinz Buenos Aires musste zurücktreten, nachdem eine Reihe von Fotos und Videos aufgetaucht war, auf denen er in Begleitung eines Models während eines Luxusurlaubs auf einer Yacht in Marbella zu sehen war. Laut seiner Steuererklärung ist Insaurralde arm wie eine Kirchenmaus. Von diesem Skandal profitiert Milei auf alle Fälle. Ob Massa auch zu Lasten von Bullrich deswegen Stimmen verliert, darüber gehen die Meinungen auseinander.

Dass Milei Deutschland und die USA als Vorbild wirtschaftlicher Stärke nennt, hat einen Anflug von Größenwahnsinn angesichts der aktuellen Lage. Die wirtschaftliche Gegenwart ist düster und steht im Zentrum der politischen Auseinandersetzung im Wahlkampf, zumal mit Sergio Massa der seit Anfang August 2022 amtierende Minister für Wirtschaft, Produktion und Landwirtschaft selbst für das höchste Staatsamt kandidiert. Somit steht er in zentraler Mitverantwortung für die Inflation, die mit zuletzt 124,4 Prozent immer weitere Höhen erklimmt. Dasselbe gilt für die Armutsrate: Mehr als 40 Prozent der Argentinier*innen werden von der Statistikbehörde INDEC inzwischen als arm geführt — damit nähert sich die Zahl der größten Krise dieses Jahrhunderts an, als 2001/2002 mehr als die Hälfte aller Argentinier*innen in die Armut abrutschte. Damals gab es auf der Straße nur noch einen Slogan für die politische Klasse „Que se vayan todos“ (Alle sollen abhauen). An diesen knüpft Milei an, stellt sich als Außenseiter dar, der mit der „Politikerkaste“ samt Korruption und Vetternwirtschaft aufräumen will.

Gegenkandidat Sergio Massa gehört fraglos zum peronistischen Establishment. Der ehemalige Bürgermeister von Tigre war 2015 maßgeblich mitverantwortlich für die Spaltung des peronistischen Lagers, als er selbst neben der offiziellen Kandidatur von Daniel Scioli seinen Hut für die Präsidentschaft in den Ring warf und damit indirekt dem neoliberalen Mauricio Macri zum Sieg verhalf. 2019 gelang es dem amtierenden Präsidenten Alberto Fernández, Sergio Massa wieder mit ins peronistische Boot zu holen, wofür Massa als Gegenleistung den Vorsitz des Abgeordnetenhauses erhielt. Nun soll er im Namen der Peronisten für die Unión por la Patria (Union für das Vaterland, UxP) die Präsidentschaft holen.

Anfang August 2022 rückte Massa als Superminister ins Kabinett auf, mit dem Ziel, der Wirtschaftskrise Herr zu werden. Das hat definitiv nicht geklappt. Die Wirtschaft stagniert, während die Preise steigen und der Wert des Peso immer weiter verfällt. Massa kündigte zuletzt erneut Maßnahmen an, die die Auswirkungen der Inflation abmildern sollen. Beispielsweise wurde ab September die Mindestrente auf umgerechnet rund 230 Euro erhöht und die Bezieherinnen staatlicher Renten und Pensionen erhalten für die drei Monate September, Oktober und November Zuschläge von rund 100 Euro monatlich.

Argentiniens Arme und große Teile der Mittelschicht gehen weiter schweren Zeiten entgegen

Die Spielräume für Massa sind eng, weil über allem die Vereinbarung mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) steht. Diese sieht vor, das primäre Haushaltsdefizit – also ohne Einberechnung des Schuldendienstes – 2023 auf 1,9 Prozent zu senken und bis 2024 auszugleichen. Argentinien liegt dabei nicht auf Kurs, bekam aber vom IWF Ende August trotzdem eine neue Tranche von 7,5 Milliarden US-Dollar bewilligt, die in den Schuldendienst fließt und somit die Zahlungsunfähigkeit verhindert. Einerseits zeigte der IWF Verständnis, dass Argentinien die Ziele wegen des massiven Einbruchs bei den Agrarexporten wegen der langanhaltenden Dürre nicht einhalten konnte, andererseits gab es die neue Finanzspritze nur gegen neue Auflagen. Unter anderem müssen die Energietarife weiter angehoben werden und der Erhöhung von Pensionen und Gehältern wurden enge Grenzen gesetzt, die im letzten Maßnahmenpaket mit den dürftigen Erhöhungen sichtbar wurden. Immerhin wurden die Ausgaben von Sozialprogrammen dieses Mal nicht direkt vom IWF-Rotstift getroffen.

Massa ging in der Fernsehdebatte auf den IWF ein. Er räumte zwar eigene Fehler ein, lastete die Hauptverantwortung an der argentinischen Misere aber der Vorgängerregierung von Mauricio Macri (2015-2019) an, weil sie das Land unverantwortlich verschuldet habe. 2018 wurden Macri vom IWF auf Empfehlung von Donald Trump dubioserweise 57 Milliarden Dollar zugesagt, um mit besseren Karten in den Wahlkampf 2019 ziehen zu können. Abgewählt wurde er trotzdem und eine interne Untersuchungskommission des IWF kam Ende 2021 zu dem Schluss, dass der Kredit gemessen an den eigenen, üblichen Vergabekriterien eine Fehlentscheidung gewesen sei. Schon nach der Vereinbarung mit dem IWF hatte Massa verkündet: „Wir haben einen großen Schritt gemacht, um die Hypothek, die Mauricio Macri Argentinien hinterlassen hat, abzuarbeiten, aber sie besteht weiterhin. Argentinien wird erst wieder autonom sein, wenn wir uns ihrer entledigt haben.” Bei der Fernsehdebatte kritisierte er, dass der IWF die Wirtschaftspolitik diktiere.

Der selbsterklärte „Marktanarchist“ Javier Milei ist bereits mit dem IWF im Austausch über seine radikalen Liberalisierungs- und Deregulierungsvorhaben. „Wir haben vereinbart, dass die IWF-Analysten uns ihre Arbeitspapiere zur Verfügung stellen werden,“ sagte Milei nach einem ersten virtuellen Treffen. Milei will im Falle seiner Präsidentschaft in den ersten 100 Tagen die Dollarisierung der Wirtschaft in Gang setzen und deshalb die Zentralbank abschaffen, den Wechselkurs freigeben und die Exportsteuern abschaffen. Wie im Chile Pinochets (1973-90) ist Milton Friedman, nach dem auch einer der fünf Hunde Mileis benannt ist, und seine ultraliberale Chicagoer Schule das theoretische Referenzmodell. Grundstein des Plans, den Mileis Wirtschaftsteam ausarbeitet, ist ein Währungsstabilitätsfonds, der die Verbindlichkeiten der staatlichen Banken während der Schocktherapie abdecken soll. Der Fonds soll mindestens 26 Milliarden US-Dollar umfassen und in einem Finanzplatz außerhalb Argentiniens eingerichtet werden, um potenzielle Anlegerinnen mit Rechtssicherheit im Falle eines Zahlungsausfalls zu locken. Als Sicherheiten für die Investmentfonds sind die Schuldverschreibungen der Regierung gegenüber der Zentralbank und der Rentenkassen vorgesehen.

Mileis Wirtschaftspläne sind Zukunftsmusik, von der nicht klar ist, ob sie je gespielt wird. Es ist indes kein Zufall, dass in seinem Wirtschaftsteam sich mit Roque Fernández just der ehemalige Chef der argentinischen Zentralbank (1991-1996) befindet, der in der neoliberalen Ära von Carlos Menem (1989-1999) schon einmal das Ansinnen einer totalen Dollarisierung Argentiniens verfolgte und damals am Widerstand des IWF scheiterte.

Mileis wirtschaftspolitische Ausrichtung ähnelt der ultraliberalen in der Zeit von Menem, der dem rechten Flügel der Peronisten angehörte. Damals wurde zeitweise der Peso fix an den Dollar gebunden und damit zwar die Inflation gebrochen, aber um einen hohen Preis. Die Überbewertung des Pesos zerstörte die Wettbewerbsfähigkeit großer Teile der argentinischen Industrie, Hunderttausende verloren ihre Jobs, die Staatsverschuldung explodierte und mündete zwei Jahre nach dem Abgang von Menem in die tiefe Krise 2001/2002.

Wie auch immer die kommenden Präsidentschaftswahlen in Argentinien ausgehen werden und wer auch immer dann am 10. Dezember 2023 den Staffelstab von Alberto Fernández übernimmt: Argentiniens Arme und große Teile der Mittelschicht werden weiter schweren Zeiten entgegen gehen. Für den Fall, dass wirklich Milei das Ruder übernimmt und seine Vorschläge der sozialen Kürzungen umsetzt, sind eskalierende Armut und soziale Proteste gleichermaßen sicher. Auf alle Fälle sicherer als seine Wahl zum Präsidenten.

Anspannung vor der zweiten Runde

Generalstreik 2015 Wie damals sind die Menschen heute wieder auf der Straße (Foto: Nerdoguate via wikimedia commons , CC BY-SA 4.0)

Es war eine riesige Überraschung: Mit knapp zwölf Prozent der Stimmen zog Bernardo Arévalo Ende Juni als Kandidat der Partei Semilla in die Stichwahl um die Präsidentschaft ein. Medienberichte und Meinungsumfragen waren stets davon ausgegangen, dass es die Kandidat*innen der Parteien UNE und Valor in die zweite Runde schaffen würden. Für letztere war mit Zury Ríos die Tochter des Putschistengenerals Efraín Ríos Montt, der 2013 wegen Völkermordes verurteilt wurde, angetreten. Für die zweite Wahlrunde reichten die Stimmen für Ríos jedoch nicht. Semilla-Kandidat Arévalo tritt daher bei der Stichwahl im August gegen Sandra Torres von der sozialdemokratischen UNE-Partei an, die mit 15 Prozent der Stimmen das beste Wahlergebnis erreichte und für die alten Strukturen steht, die das Land derzeit regieren. In Guatemala ziehen unabhängig von der Prozentzahl der Stimmen nur die beiden stärksten Kandidat*innen in die Stichwahl um das Präsident*innenamt ein.

Drei Kandidat*innen der Opposition waren im Vorfeld willkürlich von der Wahl ausgeschlossen worden. Auch wegen mangelnder Transparenz zu diesem Vorgang war die Wahl von Beginn an in Frage gestellt worden. Neben dem Präsident*innenamt wurden am 25. Juni auch Abgeordneten- und Bürgermeister*innenämter zur Wahl gestellt.

Die Bewegung Semilla ist eine sozialdemokratische Mitte-Links-Partei und entstand 2015 in einer Zeit der Massenmobilisierungen gegen Korruption und Straflosigkeit. Dass die Partei im Wahlkampf weitgehend unsichtbar gemacht und nicht zu den Favoriten gezählt wurde, zieht auch die mangelnde Glaubwürdigkeit offizieller Umfragen in Zweifel. Der Erfolg von Semilla bei den Wahlen zeigt in diesem Kontext einen kulturellen und generationsbedingten Wandel, den Guatemala derzeit durchlebt – vor allem aber einen Überdruss gegenüber dem herrschenden politischen System.

Nach Auszählung von über 8o Prozent der Stimmen machte Semilla das Wahlergebnis auf einer Pressekonferenz offiziell. Am nächsten Tag gab das Oberste Wahlgericht (TSE), die nach guatemaltekischem Recht zuständige juristische Instanz, die vorläufigen Wahlergebnisse bekannt. Nur die offizielle Bestätigung des endgültigen Resultats stand zu diesem Zeitpunkt noch aus.

Die rechtsgerichtete politische Elite (von vielen in der Bevölkerung auch als „Pakt der Korrupten“ bezeichnet) fand jedoch schon bald Vorwände dafür, diese zu verzögern. So sei es unter anderem zu Unregelmäßigkeiten bei der Auszählung der Stimmen für die Bürgermeister*innenwahl in Guatemala-Stadt gekommen. Sie zog mit diesem Anliegen vor das Verfassungsgericht des Landes, obwohl dafür in erster Instanz das TSE zuständig gewesen wäre. Die unterlegene Partei Valor war die erste, die eine Klage gegen das Wahlergebnis einreichte. Verschiedene andere Parteien folgten. Ihr Ziel war es, die endgültige Bekanntgabe der Wahlergebnisse zu verlangsamen und eine Neuauszählung der Ergebnisse zu erreichen. Diese – zweifellos willkürliche, da dem guatemaltekischen Recht wider- sprechende – Maßnahme sorgte in der Bevölkerung für Überraschung und Empörung und löste Proteste und Aktionen in verschiedenen Teilen des Landes aus. Verfassungsrechtler*innen zufolge steht Guatemala damit am Rande eines technischen Staatsstreichs. Denn die Forderung nach Neuauszählung signalisiere, dass die „Justizdiktatur“ die Entscheidung der Guatemaltek*innen am 25. Juni an der Wahlurne, nicht respektiere.

Der Antrag auf Neuauszählung der Wahlergebnisse wurde letztlich zwar am 7. Juli vom Verfassungsgericht abgewiesen. Doch damit war es der Rechten nicht genug: Nur eine Woche später, am 13. Juli, wurde bekannt, dass ein Strafgericht auf Antrag von Rafael Curruchiche, Sonderstaatsanwalt für Korruptionsbekämpfung, die Auflösung des Rechtsstatus der Partei Semilla angeordnet hatte. Angeblich habe es während der Gründungsphase der Partei Unregelmäßigkeiten gegeben, so die fadenscheinige Begründung. Die Generalstaatsanwaltschaft ließ außerdem das Parteienregister des TSE durchsuchen. Curruchiches eigene Reputation in dem Fall ist zweifelhaft: Seit 2022 führt ihn beispielsweise die US-Regierung auf einer offiziellen Liste korrupter zentralamerikanischer Funktionär*innen.

Semilla ging gegen das Verbot der eigenen Partei postwendend vor dem Obersten Wahlgericht in Berufung. Dieses kassierte die vorherige Entscheidung am 14. Juli dann auch in letzter Instanz und legte fest, dass Semilla für die Präsidentschaftswahlen weiterhin zugelassen bleibt. Eine mehr als folgerichtige Entscheidung, denn zwischen zwei Wahlrunden erlaubt das guatemaltekische Wahlrecht Parteienverbote generell nicht. Die juristischen Angriffe auf Semilla zeigen jedoch, mit welchen Mitteln diejenigen, die aktuell an der Macht sind, versuchen, diese auch zu erhalten. Die Stichwahl um die Präsidentschaft ist für den 20. August angesetzt. Es bleibt zu hoffen, dass diese auch tatsächlich wie geplant stattfinden kann und es dem „Pakt der Korrupten“ nicht gelingt, den demokratischen Prozess weiter zu sabotieren und die öffentliche Meinung für seine Zwecke zu instrumentalisieren. Um Letzterem etwas entgegenzuhalten, formierten sich in mehreren guatemaltekischen Städten auch nach Bekanntgabe des offiziellen Wahlergebnisses unter dem Motto „Gerechtigkeit jetzt!“ Straßenproteste.

Diese Antwort der Bevölkerung kam vor allem von jungen Menschen: Sie machen auf der Straße und in den sozialen Netzwerken auf die juristischen Angriffe auf die Wahlergebnisse aufmerksam und verschaffen der Bewegung Semilla damit weitere Unterstützung. 26 Jahre nachdem der Bürgerkrieg in Guatemala mit einem Friedensabkommen beendet wurde, lautet ihre Kernforderung: Die Wahlen sollen „an der Wahlurne und nicht vor Gericht“ abgehalten werden. Auch indigene Bewegungen schlossen sich dieser Forderung an. In einer Pressekonferenz erklärten sie, damit nicht für eine bestimmte Partei kämpfen zu wollen, sondern für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie.

Giammatteis Vermächtnis

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Protest in Berlin Demo zum Amtsantritt der Regierung Giammattei im Jahr 2020 (Foto: Marcus Tragesser)

Im März hat das oberste Verfassungsgericht Guatemalas die Präsidentschaftskandidatur von Thelma Cabrera, der indigenen Anführerin der Volksbefreiungsbewegung (Movimiento para la liberación de los pueblos), und ihres Genossen Jordán Rodas, dem ehemaligen Staatsanwalt fur Menschenrechtsverteidigung, definitiv abgelehnt. Mit diesem Ereignis geht die Ära einer Regierung zu Ende, deren Politik eine Zunahme von staatlicher Gewalt, Extraktivismus sowie Korruption und Straflosigkeit bewirkt hat. Dies hat ständige Angriffe auf das demokratische System bedeutet. Die Wahlbehinderung zeigt sich dabei als letzte Phase der Entleerung der Garantiefunktion der demokratischen Institutionen.

Im Zuge der Gesundheitskrise zeigten die Unregelmäßigkeiten bei der Vergabe von Führungspositionen im Justizapparat deutlich die Unterordnung der Justiz unter die politische Macht der Regierung.
Angesichts der zahlreichen Mobilisierungen im ganzen Land ist die Wiederwahl von Dina Josefina Ocha und des Rechtsanwalts Luis Rosales Marroquín in das Verfassungsgericht im März 2021 ein Hinweis auf die Weigerung der Regierung, sich gegen Korruption und Straflosigkeit zu engagieren. Während Ocha beschuldigt wurde, mehrere Korruptionsfälle zu decken und die Beendigung der Mission der Internationalen Kommission gegen die Straffreiheit in Guatemala (CICIG) voranzutreiben, war Marroquín jahrelang der Verteidiger des ehemaligen Diktators Efraín Rios Montt. Wegen des Genozides gegen das Maya-Volk der Ixil in der Region Quiché wurde Ríos Montt verurteilt, dann aber in letzter Instanz für unschuldig erklärt.

Die Bestätigung von Consuelo Porras als Leiterin der Generalstaatsanwaltschaft im Mai 2022 spiegelt angesichts ihres Engagements gegen bestimmte Jurist*innen, die sich im Kampf gegen die Mafia engagiert haben, die Verbreitung von Korruption und Straflosigkeit wider. Andere Missstände zeigten sich bei der Wahl der Richter*innen des Obersten Gerichtshofs, beispielsweise bei der Kandidatur von Blanca Aída Stalling Dávila. Sie kam dem Gesetz nach nicht für eine zweite Amtszeit in Frage, zudem ermittelte die CICIG gegen sie wegen der Ausübung von Drucks auf die Justiz, um den Freispruch ihres Sohnes zu erreichen, gegen den wegen Bereicherung bei der Sozialversicherungsbehörde ermittelt wurde. Die Kooptierung der Justizorgane sowie der Wahlbehörde hat die aktuelle politische Konstellation begünstigt. In ihr spielen mehrere bekannte Persönlichkeiten eine Rolle, die beispielhaft für die Straflosigkeit stehen, die die guatemaltekische Politik in der Vergangenheit gekennzeichnet hat.

Die drei wichtigsten Präsidentschaftskandidat*innen – Zury Ríos für die Partei VIVA, Tochter des ehemaligen Diktators Ríos Montt, Sandra Torres für die Partei UNE, Exehefrau von Präsident Alvaro Colom Caballeros und nicht zuletzt Edmondo Mulet für die Partei CABAL – wurden alle der Verbindungen zum organisierten Verbrechen beschuldigt. Unabhängig davon bilden die politischen Profile der drei Kandidat*innen ein breites Spektrum von rechtsextrem bis moderat ab.

Die Kooptierung von Justizorganen und Kontrollinstitutionen ist jedoch nur eine der vielen Hinterlassenschaften der Regierung Giammattei. Während seiner Amtszeit war das Land nicht nur von einer Reihe von Maßnahmen betroffen, die unter dem Deckmantel der pandemischen Krise unangemessene Härten und Ungleichheiten verschärft haben, wie etwa dem ständigen Ausnahmezustand. Es kam auch zu einer Gewaltspirale, die unter dem Vorwand des Wirtschaftswachstums und der industriellen Entwicklung zum Verschwinden vieler indigener Gemeinschaften geführt hat.

#Wo ist das Geld hin?

Die Handhabung der Gesundheitskrise war durch einen Mangel an Impfstoffen und die Notlage eines zusammengesparten, unzureichend ausgestatteten öffentlichen Apparates gekennzeichnet. Dies bildete den Hintergrund für die zahlreichen Proteste, die die zu Ende gehende Legislaturperiode prägten. Um die Pandemie in den Griff zu bekommen, suchte die Regierung ihr Heil in einer zunehmenden Verschuldung. Die Weltbank bewilligte für den Zeitraum 2020-2022 ein Darlehen in Höhe von 750 Millionen US-Dollar, um die Effekte der Krise auf die besonders bedürftige Bevölkerung abzumildern und das Wirtschaftswachstum zu fördern. Hinzu kamen noch Darlehen anderer Institutionen wie des Internationalen Währungsfonds. Nach Angaben des Finanzministeriums liegt die Staatsverschuldung nun bei 32 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Wenige Monate nach dem Beginn der Pandemie forderten Proteste einer Bewegung unter dem Motto #dondeestaeldinero („Wo ist das Geld hin?“) den Rücktritt der Regierung und Klarheit über die Verwendung der Darlehen zur Linderung der Gesundheitskrise.

Wahrend es keine Aufklärung über die Verwendung der Covid-Kredite gegeben hat, besteht Gewissheit über die Zunahme der Gewalt gegen indigene Gemeinschaften durch die extraktivistische Politik. Die Beobachtungsstelle für die Bergbauindustrie berichtet von einem enormen Wachstum der Bergbauaktivitäten: Im Vergleich zum Vorjahr wurden allein 2023 mehr als 40 Anträge und vier neue Konzessionen registriert. Parallel dazu wurden neue Behörden gegründet, deren Ziel es ist, Enteignungen zu ermöglichen und das Privateigentum zu stärken. Zu diesen Institutionen gehören die Vereinigung zur Verteidigung des Privateigentums (ACDEPRO) und die Staatsanwaltschaft für widerrechtliche Aneignungen. Angesichts der derzeitigen Lage kann man in Guatemala schwerlich von demokratischen Wahlen reden. Unregelmäßigkeiten bei der Zulassung der Präsidentschaftskandidat*innen sowie die offensichtliche und eklatante Ausschaltung der Opposition aus dem Wahlkampf sind Merkmale für Wahlbetrug. Durch die Kooptierung der Institutionen hat die Regierung Giammattei das perfekte Klima geschaffen, um unter dem Deckmantel der Straffreiheit und der Korruption zu regieren. Kann man in einem Land noch von Demokratie sprechen, wenn die demokratischen Institutionen ihrer primären Funktion, des Schutzes der Verfassung, beraubt worden sind? Die derzeitige politische Konstellation erinnert eher an die Durchsetzung einer Diktatur unter dem Deckmantel der Demokratie.

In diesem Rahmen zeigt sich die Zukunft voller Ungewissheit, was die Widerstandsfähigkeit der Demokratie im Lande betrifft. Angesichts dieses Panoramas ist die Wahl der Parlamentsabgeordneten wahrscheinlich die einzige Maßnahme, um damit beginnen zu können, diesen Prozess wieder umzudrehen. Die solidarische internationale Begleitung ist heute so wichtig wie nie zuvor.

HERBE SCHLAPPE FÜR PRÄSIDENT LASSO

„Die Kandidaten von Correa” Wahlplakat der Revolución Ciudadana (Foto: Eva Gertz & Teresa Ellinger)

Im Mai nehmen sie ihre Arbeit auf: Die Präfekt*innen der 24 Provinzen, Bürgermeister*innen der 221 Kantone und 1527 Stadträt*innen, die in Ecuador am 5. Februar gewählt wurden. Die Funktionsträger*innen bilden die neuen, dezentralen autonomen Regierungen auf Provinz- und Lokalebene. Das politische System Ecuadors sieht neben der üblichen Gewaltenteilung von Judikative, Legislative und Exekutive noch zwei weitere Instanzen vor; den Bürger*innen-beteiligungsrat, für den sieben neue Mitglieder gewählt wurden und die nationale Wahlbehörde, die die Wahl organisiert.

In den Tagen vor der Wahl dominierte der Wahlkampf das öffentliche Leben in Ecuador. Werbeveranstaltungen, Informationsstände und kleine Demonstrationen der Parteien stauten den Verkehr, Plakate und Fahnen schmückten Hauswände und Landstraßen. Hausbesuche der Kandidat*innen in den jeweiligen Landkreisen, Sachspenden und finanzielle Angebote waren weitere Strategien im Werben um Wähler*innen. Auch aus entlegenen Ortschaften reisten die Menschen in die zuständigen Wahlzentren, denn es gibt eine Wahlpflicht für 18 bis 64-jährige Bürger*innen.

In Ecuador ist die Parteienlandschaft fragmentiert. Für Wahlen finden sich verschiedene Parteien zu Listen und Bündnissen zusammen, die oft nur temporär Bestand haben. Auch ist es üblich, dass einzelne Politiker*innen die Partei wechseln, sich Parteien aufteilen oder neugründen. Der Wahlkampf konzentrierte sich auf einzelne Kandidat*innen und Wahlplakate enthalten kaum Informationen über deren inhaltliche Ausrichtungen.

Für Lassos Partei CREO brachten die Wahlen erhebliche Verluste. CREO verlor auch die letzte Provinz, in der sie noch vertreten war, und erhielt keine einzige Präfektur. Zusätzlich scheiterte das zeitgleiche Referendum des Präsidenten in allen Punkten. Dagegen konnte die Partei Revolución Ciudadana (RC), die dem früheren Präsidenten Rafael Correa nahesteht, gleich neun Provinzen für sich gewinnen und stellt ab Mai die Bürgermeister der beiden größten Städte. Guayaquil, eine wichtige Hafenstadt in der Küstenregion Ecuadors, war bisher fest in den Händen des Partido Social Cristiano (PSC), der im Vergleich zu den vergangenen Lokalwahlen 2019 sechs Provinzen verlor. Mit Aquiles Álvarez tritt nach 30 Jahren das erste Mal ein Vertreter der RC das Bürgermeisterinnenamt an. Mit 25 Prozent der Stimmen wurde Pabel Muñoz von der RC zum neuen Bürgermeister von Quito gewählt. Er hatte sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit dem 2021 gerichtlich aus dem Amt enthobenen Jorge Yunda (Pachakutik) geliefert. Die Partei der Indigenen Organisationen, Pachakutik, gewann eine Provinz dazu und ging mit sechs Provinzen als zweitstärkste Kraft aus den Wahlen hervor.

Massiver Vertrauensverlust in Lassos Politik

„Gründe für das schlechte Ergebnis der amtierenden Regierung und den massiven Vertrauensverlust in die Politik sind die gesellschaftliche Situation der vergangenen Jahre sowie die Unfähigkeit der Regierung, die Forderungen aus der Bevölkerung zu beantworten“, sagte Politikwissenschaftlerin Maria Rosa Zury in einer Gesprächsrunde zu den Wahlergebnissen der Organisation La Raíz. Die Pandemie stürzte das Land in eine fatale Gesundheitskrise, in der der Zugang zu Medikamenten nicht gesichert werden konnte. Zudem gibt es eine massive Sicherheitskrise, die zu über 400 Toten in den Gefängnissen als Resultat von Zusammenstößen konkurrierender Drogenbanden geführt hat. Ein weiterer trauriger Indikator für die zunehmende Gewalt und Unsicherheit ist die Ermordung des Bürgermeisterkandidaten der RC, Omar Méndez, in Puerto López in der Küstenregion Manabí.

Referendum Wahlplakate in Ecuador (Foto: Eva Gertz & Teresa Ellinger)

Bereits vor der Pandemie hatten Korruptionsfälle, soziale Ungleichheit und Armut vor allem im ländlichen Raum zugenommen. Regierung und die politische Sphäre im Allgemeinen haben an Rückhalt und Glaubwürdigkeit verloren. Die Unfähigkeit, erfolgreiche Lösungen für die Krisen im Land zu präsentieren und umzusetzen, führte zu einem grundsätzlichen Misstrauen in die Regierung und dem Wunsch nach schnellen und sichtbaren Veränderungen. So wird nur das, was tatsächlich schnelle Verbesserung von Situationen herbeiführt, durch die Wählerschaft belohnt; es gebe keinen Vertrauensvorschuss auf langfristige Strategien und eine zukünftige Verbesserung der Situationen, so Zury. Das begünstigt kurzfristige Angebote und Entscheidungen und birgt die Gefahr, nachhaltige Strategien zu vernachlässigen.

Das starke Ergebnis der RC ist eine klare Positionierung der Bevölkerung gegen die aktuelle Regierung. So wird die RC, neben der indigenen Bewegung, im öffentlichen Diskurs als einzige Opposition zur neoliberalen Politik des aktuellen Präsidenten wahrgenommen. Der Zuspruch für den Correismus kann auch als nostalgische Haltung verstanden werden, so Historiker Fernando Muñoz-Miño in der Gesprächsrunde von La Raíz. So waren einige der Errungenschaften in Correas Amtszeit die Stabilisierung der politischen Institutionen und ein messbarer Rückgang der Armut. Trotz Kontroversen und Korruptionsvorwürfen gegen Rafael Correa scheint die RC der Bevölkerung aktuell mehr politische Perspektive zu bieten als die amtierende Regierung.

Präsident Lasso wollte seinen schwindenden Einfluss ebenfalls am 5. Februar durch ein Referendum stoppen. Dieses bestand aus acht Fragen zu vier Themenblöcken: Sicherheit, Nationalversammlung und politische Parteien, Staatsgefüge und Umwelt. Bei Zustimmung wären die jeweiligen verfassungsändernden Vorschläge bindend gewesen, auch bei Einwänden durch die Nationalversammlung.

Frage 1 schlug die Auslieferung von ecuadorianischen Staatsbürger*innen bei grenzüberschreitenden Straftaten vor. Aufgrund des anhaltenden Anstieges organisierter Gewalt wurde diese Frage im Vorfeld des Referendums besonders stark diskutiert. Durch eine Justizreform (Frage 2), die Verkleinerung der Nationalversammlung (Frage 3) und Mindestanforderungen in der Mitgliederzahl von Parteien (Frage 4) sollten Transparenz und Effizienz in der Regierung gefördert, sowie Unterhaltskosten für Abgeordnete eingespart werden. Frage 5 und 6 sollten den Bürger*innenbeteiligungsrat schwächen und wichtige Kontrollfunktionen an die Nationalversammlung abgegeben. Konkret ging es hierbei um die Kontrolle über öffentliche Finanzen, die Wahl von Richter*innen und die Durchführung von Referenden. In Frage 7 und 8 wurde die Sicherstellung von Entschädigung für Umweltschäden und die Einführung einer nationalen Wasserschutzbehörde vorgeschlagen, die dem Staat mehr Befugnisse und Verantwortung zuschreibt.

Der Correísmo meldet sich zurück

Vor der Abstimmung dominierte die Kampagne für das „Ja“ den öffentlichen Diskurs der traditionellen Medien. In populistischer Manier deklarierte Lasso die Ablehnung der Fragen als antipatriotisch und diffamierte so den politischen Diskurs. Erst ein wenig später tauchten Kampagnen für das „Nein“ auf, zuerst an Häuserwänden, dann zunehmend auch auf Social Media. Die Gegenkampagne wurden maßgeblich von Anhänger*innen des Correísmo, der politischen Strömung, die durch den ehemaligen Präsidenten Rafael Correas geprägt wurde, organisiert. Auch der indigene Dachverband CONAIE gehört zu den wenigen politischen Akteur*innen, die sich klar gegen die acht Punkte des Referendums positionierten. In Anbetracht der Dominanz der medialen Öffentlichkeit ist die eindeutige Ablehnung überraschend. In jeder einzelnen der acht Fragen gewann das „Nein“.

Das Ergebnis des Referendums ist zum einen Ausdruck des Unmuts über die Politik Lassos. Leonidas Isa Salazar, Präsident der CONAIE, sagte in einer Pressekonferenz nach den Wahlen, dass er das „Nein“ als Antwort derer verstehe, die unter der neoliberalen Politik der Regierung leiden. Als weiterer Grund für die Ablehnung zählt die schwer verständliche Formulierung und Komplexität der Fragen, die einem geringen Informationsangebot gegenüberstanden. Außerdem spielte die inhaltliche Ablehnung der Vorschläge, sowie eine grundsätzliche Skepsis, ob diese positive Veränderungen bewirken könnten, eine große Rolle.
Die politische Krise in Ecuador hält an. Präsident Lasso hat endgültig den Rückhalt der Bevölkerung verloren. Die miserablen Wahlergebnisse seiner Partei CREO sowie die fehlende Mehrheit im Parlament werden Lassos politische Handlungsfähigkeit erheblich einschränken. Ob er auf dieser Grundlage sein Amt bis zu den nächsten Präsidentschaftswahlen 2025 behalten kann, ist ungewiss. Eine wichtige Rolle werden seine Beziehungen zu Polizei und Militär spielen, die eine wichtige Stütze in der Machtausübung Ecuadors sind. Die Ergebnisse der Lokalwahlen lassen die erstarkte politische Linke wieder als eine ernstzunehmende Konkurrenz erscheinen. Jedoch teilt sich die Linke in eine national populäre Strömung (RC) und eine plurinationale, ökologische Vertretung indigener Interessen (Pachakutik). Dies könnte Platz für neoliberale und konservative Kräfte machen, wie es in der Geschichte Ecuadors bereits geschah, erklärt Muñoz-Miño.

SCHLUCHZEN, BETEN, AUTOBAHN BLOCKIEREN

Bolsonarist*innen blockieren Autobahnen Sie fordern ein Eingreifen des Militärs (Foto: Agência Brasil)

Wie der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro auf einen Wahlsieg seines Kontrahenten Lula da Silva reagieren würde, war die bange Frage vieler Brasilianer*innen vor und nach der Präsidentschaftswahl am 30. Oktober. Nicht wenige erwarteten zumindest einen ähnlichen Putschversuch, wie ihn Bolsonaros Vorbild Donald Trump am 6. Januar 2021 mit dem Marsch auf das Kapitol in Washington initiiert hatte. Doch nach dem Sieg von Lula passierte erst einmal: nichts. Keine Gratulation an den politischen Gegner, keine Stellungnahme des amtierenden Präsidenten am Wahlabend, nicht einmal Vorwürfe des Wahlbetrugs. Stattdessen meldete Bolsonaros Sprecher, lange nach Lulas Siegesrede, der Präsident sei nach der amtlichen Bekanntgabe der Ergebnisse „zu Bett gegangen”.

Danach: wieder nichts. Zwei lange Tage und Nächte wartete das Land, bis der Präsident sich erklärte. Seine Stellungnahme dauerte dann insgesamt unter zwei Minuten. In wenigen dürren Worten dankte er seinen 58 Millionen Wählern und erklärte, immer innerhalb der Verfassung gehandelt zu haben. Die „aktuellen Proteste einer sozialen Bewegung“ seien Ausdruck der Empörung darüber, wie der Wahlprozess verlaufen sei. Friedliche Proteste seien immer willkommen. Es sei jedoch wichtig, sich nicht „wie die Linke“ zu verhalten, die Eigentum zerstöre und das Recht einschränke, sich frei zu bewegen.

Von der offiziellen Anerkennung seiner Wahlniederlage kein Wort. Die Zusicherung der Machtübergabe überließ er seinem Kanzleramtsminister Ciro Nogueira, der noch weniger sagte. Voraussichtlich wird Bolsonaro im Januar nicht an der offiziellen Amtseinführung von Lula teilnehmen und auch darauf verzichten, ihm die Präsidentenschärpe umzulegen: ein symbolischer Akt des friedlichen Machttransfers. Auch Vizepräsident Hamilton Mourão, ein ehemaliger General, wird für die Zeremonie vermutlich nicht zur Verfügung stehen. Die Rechte verlegt sich auf Symbolpolitik.

Seit dem 1. November hat Bolsonaro nicht ein einziges Mal öffentlich gesprochen und nur sehr wenige offizielle Termine wahrgenommen. So wird seine Teilnahme an einer Zeremonie für Militärs am 5. Dezember selbst bei CNN Brasil zur Nachricht: „Bolsonaro hat geweint!“ In den sozialen Medien zirkuliert ein Video von einer öffentlichen Veranstaltung, bei der Hamilton Mourão ihn auffordert: „Sprich zu deinen Leuten!“ und Bolsonaro nur den Kopf schüttelt.

Vom „Mythos“ allein gelassen

Den ohnehin reichlich kursierenden Verschwörungstheorien gibt dieses Verhalten täglich neuen Stoff für Spekulationen. Eine der häufigeren: Der echte Präsident sei ersetzt worden durch einen Klon / einen Doppelgänger / einen Außerirdischen. Dass Bolsonaro praktisch von der Bildfläche verschwunden ist, seine Anhänger*innen weder in seinem eigenen Videokanal noch öffentlich anstachelt, tröstet, ermutigt oder zum Putsch aufruft, ist für sie Beweis genug für diese Theorie. Könnte ihr „Mythos“ sie so alleinlassen?

Bereits am Wahlabend wurden Szenen der abgrundtiefen Verzweiflung von Bolsonaros Anhängerschaft überall geteilt. Gruppen in gelben Trikots beteten schluchzend und auf Knien: „Herr erlöse dieses Land, hilf uns!“ Später teilten Einzelpersonen unter Tränen ihre Enttäuschung, oft religiös verbrämt, oft absurd. Wie im vielfach geteilten Video einer Frau, die zunächst den – auch zu dieser Jahreszeit nicht unüblichen – Regen filmte und dann erklärte, dass Gott über das Wahlergebnis weine. Lulas Aufrufen zur nationalen Versöhnung zum Trotz wurden die Verzweiflungsakte von PT-Anhänger*innen und auf Youtube voller Freude hämisch und erleichtert kommentiert.

Bolsonarist*innen blockieren Autobahnen Sie fordern ein Eingreifen des Militärs (Foto: Agência Brasil)

Weniger harmlos als die Betenden in gelben Trikots waren die zeitweise mehr als 190 Straßenblockaden durch Lkws, die in fast allen Bundesstaaten von Bolsonarist*innen nach der Wahl auf den Bundesstraßen errichtet wurden. Die Blockaden wurden von der Autobahnpolizei (PRF) zunächst geduldet, obwohl sie als Protest gegen eine legitime Wahl illegal waren und dort auch offen zum Putsch des Militärs aufgerufen oder der Hitlergruß gezeigt wurde. Die PRF hatte bereits am Wahltag versucht, tausende von Wähler*innen im Nordosten des Landes von den Wahlurnen fernzuhalten, indem sie stundenlang Kontrollen auf den Autobahnen durchführte. Erst eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofes (STF), der die PRF dazu verpflichtete, die Lkws innerhalb von 24 Stunden zu räumen, und den Leiter der PRF, Silvinei Vasques, persönlich mit einer Strafe von 100.000 Reais pro Stunde dafür haftbar machte, versetzte die Autobahnpolizei in Aktion.

Obwohl die Straßensperren langfristig Versorgungsengpässe hervorgerufen hätten, überwog in der Öffentlichkeit das Gespött. So lachte zumindest das halbe Land über den Bolsonaro-Fan im gelben T-Shirt, der sich an der Front eines Lkws festklammerte, während dieser mit erheblicher Geschwindigkeit aus einer Blockade herausfuhr. Das spektakuläre Handyvideo des Lkw-Fahrers ging bei Twitter viral und die Produktion zahlreicher Memes folgte sofort.

Aktuell hat sich der harte Kern der Bolsonarist*innen auf Mahnwachen vor Kasernen verlegt, bei denen – zeitweise von Tausenden, gerne auch auf Knien und begleitet von Vaterunser und Ave Maria – eine militärische Intervention gefordert wird. Dass das Militär sich bis heute „nicht loyal und patriotisch verhalte“, sondern die Legitimität der Wahl bestätigt hat, wird unter anderem damit erklärt, dass Saddam Hussein es gekauft habe. Auch um den ständigen Regen, der die Proteste unter Wasser setzt, ranken sich Verschwörungstheorien.

Letzter Ausweg: Lichtsignale ins All

Es trendet der Hashtag #BraszilWasStolen. Die ganz Verzweifelten versammelten sich am 20. November in Porto Alegre, um Lichtsignale ins All zu senden: Ein SOS mit Handytaschenlampen sollte die Hilfe von Außerirdischen mobilisieren.

// SIEG DER HOFFNUNG

So knapp der Sieg von Lula war, seine Bedeutung ist groß. Kaum auszumalen, was vier weitere Jahre Bolsonaro für Brasilien bedeutet hätten. Vier Jahre mehr Rassismus, Sexismus, Diskriminierung von Minderheiten, Vergiftung des öffentlichen Diskurses, Umweltzerstörung, kultureller Kahlschlag und desaströse Bildungs- und Gesundheitspolitik (die Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit). Bereits nach vier Jahren Regierungszeit des unfähigsten Präsidenten der jüngeren brasilianischen Geschichte hat das Land eine schwere Bürde zu tragen: Es ist tief gespalten.

Auch wenn Bolsonaro bisher seine Niederlage noch nicht öffentlich eingeräumt hat, hat er doch wenigstens seinen Kabinettschef Otro Nogueira – nach dessen Angaben – ermächtigt, die Regierungsübergabe einzuleiten. Doch wenn Bolsonaro im Januar das Feld räumt, ist das noch lange kein Grund zum Durchatmen. Die Saat des Bolsonarismus trägt mittlerweile im ganzen Land üble Früchte. Die extreme Rechte war mit ihrem Umbau der brasilianischen Gesellschaft teils erschreckend erfolgreich.

Das wichtigste Amt im Staat mag Lulas Arbeiterpartei PT zwar zurückerobert haben. Aber 13 von 27 brasilianischen Bundesstaaten werden bald von Bolsonaro nahestehenden Gouverneuren – alles Männer – regiert. Und im Kongress werden seine Verbündeten voraussichtlich über satte Mehrheiten verfügen. Bis zu 380 von 513 Vertreter*innen im Abgeordnetenhaus und 58 von 81 Senator*innen könnten bald die Linie des Rechtsradikalen unterstützen. Viele von ihnen haben ihre Mandate bei den gerade abgehaltenen Wahlen neu gewonnen. Lula wird zunächst alle Hände voll zu tun haben, den Trümmerhaufen abzutragen, den ihm sein Vorgänger hinterlassen hat. Der nach rechts gerückte Kongress wird ihm dabei erhebliche Zugeständnisse abverlangen, wenn er Gesetzesvorhaben durchsetzen will.

Außerhalb des Parlaments kommt erschwerend hinzu, dass das Vertrauen in die PT seit den Verstrickungen in die Korruptionsskandale Mensalão und Lava Jato bei vielen Brasilianer*innen nachhaltig gestört ist. Die Fundamentalopposition der fanatisierten Bolsonaristas wird innerhalb und außerhalb des Parlaments alles daransetzen, ihm und der von ihnen verteufelten PT mit Blockadepolitik, Fake News und schmierigen Tricks das Leben zur Hölle zu machen.

Lula weiß, dass er schnell liefern muss. Dass er aktuell rhetorisch als Versöhner auftritt, könnte deshalb auch politisch motiviert sein: Einerseits, um sich für Bündnisse mit Mitte-rechts-Parteien in Stellung zu bringen. Andererseits um die Parteibasis schon jetzt darauf vorzubereiten, dass es einige bittere Pillen zu schlucken geben wird.

Die PT sollte aus den vergangenen Legislaturperioden an der Macht von 2003 bis 2016 und den sechs Jahren danach unter den ultrarechten Präsidenten Temer und Bolsonaro Lehren ziehen: Den eigenen Kern darf die Partei nicht verleugnen. Und das spannungsreiche Zusammenspiel mit den regierungskritischen (linken) sozialen Bewegungen muss gesucht werden. Deren Potenzial ist nach wie vor groß, wurde aber viel zu wenig ausgeschöpft. Auch deshalb konnte sich die Rechte soziale Proteste zu eigen machen, das gesellschaftliche Klima vergiften und die PT-Präsidentin Dilma Rousseff 2016 trickreich zu Fall bringen. Was nach einer Quadratur des Kreises klingt, könnte letztlich Lulas einzige Hoffnung sein: Um das Land zu vereinen, muss die PT zunächst das brüchige Vertrauen ihrer eigenen Basis zurückgewinnen. Nur geschlossen kann es gelingen, die Bevölkerung wieder von einem nachhaltigen linken Projekt zu überzeugen.

„UM GANHO PARA ALÉM DO BRASIL“

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No Brasil, mulheres negras são, com 28 % da população, o maior grupo demográfico do país. Porém, depois da última eleição de 2018, elas ocupavam menos de 2% de cadeiras no congresso nacional. A questão da representatividade melhorou depois dessa eleição?
Não tivemos grandes mudanças. Passamos de 2,3% para 2,5%. Então ainda estamos no mesmo patamar. Nessas eleições, apesar de muitas mulheres negras terem sido eleitas, não são todas comprometidas com a agenda anti racista. Muitas vezes são asociadas com partidos de direita, são Bolsonaristas. Isso pode ser explicado com o fato que houve uma mudança na legislação eleitoral para impulsionar essas candidaturas de pessoas negras, os partidos se aproveitarem dessas regras e assim conseguirem mais recursos para o financiamento de campanhas.

Nessa eleição, o Mulheres Negras Decidem apoiou 27 mulheres negras com uma agenda políticaprogressista nas suas candidaturas, uma em cada estado brasileiro e também no Distrito Federal. Essas mulheres conseguiram se eleger?
Tivemos bons resultados, muitas delas receberam muitos votos. Mas das 27, infelizmente só duas foram eleitas, a Laura Sito do PT e a Camila Valadão do PSOL. Como mulher jovem negra, a Laura por exemplo conseguiu mais de 30.000 votos na eleição para a Assembleia Estadual no Rio Grande do Sul, um estado que historicamente tem muitas questões com racismo.

Vocês estão satisfeitas com esse resultado?
Em termos de quantidade de candidatas que foram eleitas é bem abaixo do que era esperado, considerando toda mobilização de centenas de grupos que apoiaram candidaturas negras. Mas as candidatas apoiadas pelos movimentos que se elegerem são pessoas que chegarão na próxima legislatura muito fortalecidas e com um apoio da sociedade civil. Elas vão precisar reverter alguns dos atrasos que foram aprovados em termos de legislação no governo Bolsonaro. Elas chegam muito fortes nesse sentido mesmo se não são tantas como nós queríamos. Nunca existiu uma mobilização tão forte quanto nessas eleições.

Como você se explica que a mobilização foi maior esse ano?
A sociedade brasileira se deu conta de que transformações sociais profundas só são possíveis fazendo política. O jeito com que Bolsonaro lidou com a pandemia mostrou a desigualdade no acesso de direitos que existe no Brasil. Isso mostrou a urgência de ter representantes com um perfil mais popular para atender as demandas da maioria da população.

Porque é necessário apoiar candidaturas de mulheres negras? 
São mulheres que têm perfis políticos muito fora do comum, de movimentos sociais de base, de religiões de matriz africana, mulheres quilombolas. Para essas mulheres não é fácil participar de uma disputa, primeiro dentro dos partidos e depois na campanha política em si. Porque os projetos políticos delas se preocupam com o aprofundamento da democracia e questionam o poder como ele está estabelecido. Então elas são muito atacadas. Ao mesmo tempo, votar nelas é uma coisa boa para todo mundo porque uma vez eleitas, elas produzem políticas públicas que são do interesse de todos.

Você pode dar um exemplo?
Um exemplo seria a recém eleita Deputada Estadual Laura Sito que defende agendas consideradas prioritárias pelos eleitores no Brasil, como a educação. Mas a Laura fala de uma educação inclusiva, anti racista e emancipadora. 

Como você está se sentindo depois do suspense que era o segundo turno da eleição?
Estou menos preocupada do que estava antes do segundo turno. As forças armadas não estão tão dispostas contra a democracia e a constituição como nós imaginávamos. As instituições reconheceram o resultado e os protestos golpistas têm sido condenados não só pelo TSE mas também pelo STF, pelo Congresso e também pelamídia. Vencemos a etapa institucional mas me preocupo com o reconhecimento pela população. Temos uma quantidade significativa de pessoas nas ruas defendendo atos golpistas e antidemocráticos. É uma disputa de mais longo prazo que depende das lideranças democráticas fortes nas assembléias regionais e no Congresso, de movimentos de base fortes para a politização das novas gerações e a recuperação do debate público das questões do dia a dia. 

Isso significa que o Bolsonarismo vai permanecer?
A extrema direita cresceu e se organizou durante o governo Bolsonaro. Mas ela vai bem além do Bolsonaro e da família dele, como também dos seus apoiadores políticos. Essas ideias autoritárias são uma questão global que encontrou um terreno muito fertil no Brasil.

Os governadores que foram eleitos em São Paulo, Minas Gerais e Rio de Janeiro estão bem próximos aBolsonaro. Isso dificulta o trabalho de movimentos e grupos sociais como o Mulheres Negras Decidem?
Nesses estados os movimentos já têm muita força, estrutura e recursos. O nosso desafio continua sendo principalmente em regiões nordestinas, norte e principalmente no Centro Oeste onde as estruturas são mais fragilizadas. 

Como os 51% dos brasileiros que foram votar e votaram no Lula deveriam lidar com os 49% das pessoas que votarem no Bolsonaro?
Isso será um grande desafio. O Presidente eleito Lula tem esse perfil de união e reconciliação, mas ele precisará muito da ajuda dos movimentos sociais para recuperar esse tecido social e promover unidade no Brasil. Quem apoia o Bolsonaro entende a importância da política também. Mas seus eleitores acreditam que existe uma luta do bem contra o mal. A questão agora é trabalhar para que essa compreensão seja desfeita. Trazer essas pessoas de volta para o debate sobre a realidade concreta que é uma dificuldade não só para os 49% mas para todo mundo. A realidade do brasileiro em média é de muita precariedade. Quanto mais cedo a gente conseguir voltar a discutir questões práticas do nosso dia a dia, para melhorar a situação de todo mundo, mais facilmente vamos conseguir lidar com essas diferenças.

O Presidente-eleito Lula precisará do apoio dos movimentos sociais. Vários grupos apoiaram a campanha dele, mas falam que vão virar oposição no momento em que ele tomará posse. Como seu governo poderia dar certo então?
No primeiro ano, os movimentos de base que apoiarem o Lula vão estar muito junto do governo. Vai ser um ano de reconhecimento do tamanho dos estragos que aconteceram e de planejar estratégias para reconstrução. Agora tudo vai depender muito de como vai ficar a configuração desse novo governo. Já saíram críticas sobre a configuração do grupo que está fazendo a transição do governo. Há poucas mulheres, não há pessoas negras. Ainda faltam alguns meses até o Lula anunciar os ministros. Será importante incluir mulheres, negros e indígenas. Isso aumentaria as possibilidades da cooperação entre governo e sociedade civil.

Quais são as suas expectativas para o novo governo Lula?
Essa questão da composição ministerial com muitas mulheres. Em cima disso, será importante, principalmente nos orgãos que cuidam da questão do enfrentamento do racismo, que ele coloque pessoas com perfil alinhado a agenda histórica dos movimentos negros. O Lula tem que escutar essas as sugestões que está recebendo para os cargos de confiança, como por exemplo, a Deputada Erica Malunguinho, uma mulher negra trans, para a Secretaria de Promoção da Igualdade Racial ou para a Fundação Palmares.

Qual foi o papel das mulheres nessas eleições?
Elas tinham um papel principalmente no trabalho de base. O número das abstenções diminui no segundo turno e as mulheres tiveram um papel muito importante nessa decisão de outras pessoas da família irem votar. Graças a elas o Lula também mudou o foco na campanha e falou mais sobre o futuro, oportunidades para os jovens. Esse grupo, entre 18 e 35 anos, estava muito em dúvida se era para votar no Lula ou Bolsonaro, mas votaram no Lula no segundo turno.

Também teve quase um quarto da população com direito a voto que não votou, votou nulo ou branco. Isso sinaliza que a democracia brasileira está em crise?
É um reflexo da crise de representatividade e de confiança nas instituições que está acontecendo pelo menos nos últimos dez anos. Uma parcela grande está desacreditada de qualquer possibilidade de mudança e uma outra é impossibilitada de participar do processo político porque está em situação de grande vulnerabilidade. 

Qual será o efeito dessa eleição no âmbito global?
Com a volta do governo Lula conseguimos recuperar questões que são de política global, especialmente em relação a região amazônica, mas também em saúde, direitos humanos e mediação de conflitos que são agendas que o Brasil liderava. Isso é um ganho para além do Brasil.

ANTIFEMINIST IM RATHAUS

Marcha Orgullo LGBT in Lima Queere Menschen fürchten einen Rollback in der Hauptstadt (Foto: Rasciel Naranjo via Wikimedia Commons , CC BY-SA 4.0)

Bürgermeisterkandidat Rafael López Aliaga versuchte bereits während seiner Präsidenschaftskandidatur 2021 Keiko Fujimori, Tochter des Exdiktators Alberto Fujimori, am rechten Rand zu überholen. Schon damals verglichen ihn viele mit dem Präsidenten Brasiliens, Jair Bolsonaro, aufgrund seines Hangs zu Verschwörungstheorien und seiner Wählerbasis aus neoliberalen Hardlinern und christlichen Fundamentalist*innen. Aliaga, Mitglied der erzkatholischen Gemeinschaft Opus Dei, sprach sich während des Wahlkampfs um das Präsidentenamt wiederholt gegen die gleichgeschlechtliche Ehe aus und kündigte an, minderjährigen Vergewaltigungsopfern die Abtreibung zu verweigern. Außerdem versprach er sexuelle Aufklärung in den Schulen abzuschaffen, ein Wahlversprechen mit dem er sich besonders die Anhängerschaft der Gruppe „Con mis hijos no te metas“ (Leg dich nicht mit meinen Kindern an) einheimste.

Als er 2021 mit 12 Prozent der gültigen Wahlstimmen nur knapp den Einzug in die zweite Runde verpasste, atmeten queer-feministische Gruppen vorerst auf. Diese Atempause könnte nun zu Ende sein, glaubt Jorge de La Cruz. Jorge, der sich zur LGBTQI-Bewegung der Hauptstadt zählt, sieht in der Wahl Aliagas auch eine Gegenbewegung zum Mobilisierungserfolg der LGBTQI-Bewegung der letzten Jahre. „Jedes Jahr sind wir sichtbarer geworden. Beim Pride-Marsch füllen wir mittlerweile einen der größten und wichtigsten öffentlichen Plätze Limas – den Campo de Marte. Ich glaube, dass das den Leuten zu denken gab. Schikanen waren zunehmend schlecht angesehen.“, so der 33-jährige Telefonservicearbeiter. „Doch nun ist ein Typ im Rathaus, der sagt wonach ihm der Sinn steht – ohne wirkliche Konsequenzen.“

Menschenrechtorganisationen zeigen sich darüber besorgt, dass unter Aliaga Errungenschaften in der Anerkennung sexueller Vielfalt torpediert werden könnten. Auch Jorge de la Cruz sieht besonders eine Gruppe in Gefahr: „Die, die am meisten unter Aliagas Regierung leiden werden, sind trans Frauen, die in der Sexarbeit arbeiten,“ ist er sicher. „Sie stehen nun unter der Administration eines Mannes, dem alle Mittel der Repression zur Verfügung stehen.“

López verfolgt Putschrhetorik gegen Castillo

Aliagas Partei gewann in 12 von 43 Limenser Distrikten und das Bürgermeisteramt – letzteres mit einem historisch niedrigen Wahlergebnis. Besonders wohlhabende Schichten der Stadt scheinen durch die Fortschrittsrhetorik Aliagas angesprochen worden zu sein. Aliaga begann während des Privatisierungsprozesses unter dem Diktator Alberto Fujimoris (1990 – 2000) ein Eisenbahnimperium in Cusco aufzubauen. Nun versprach er die Hauptstadt in eine „weltweite Potenz“ zu transformieren, umfassende Infrastrukturprojekte anzustoßen, darunter den Bau einer Seilbahn sowie den Ausbau von comedores populares (Volksküchen) mit ganzen 10% des Haushalts. Neben der Wählerschaft seiner ehemaligen Gegenkandidatin Keiko Fujimori unterstützten Aliaga in dieser Wahl auch Wähler*innen aus den ärmsten Sektoren der Stadt. Dies führt Jorge auf den Schulterschluss von Evangelikalen, die in den ärmeren Vierteln verankert sind, und Erzkatholiken in seiner Partei zurück. „Die Ober- und Mittelklasse hat sich von Aliagas Putsch-Diskurs mitreißen lassen.“, so Jorge. „Diese Sektoren müssten eigentlich wissen, dass er zwar eine Opposition bilden kann, aber er muss mit der Regierung zusammenarbeiten, um seine Projekte umzusetzen.“ Aliaga gilt als erklärter Gegner des derzeitigen Präsidenten, in dessen internen Kreisen er als „Putschisten-Schwein“ bezeichnet wird, in Anspielung auf seinen weitverbreiteten Spitznamen „Porky“. In einer seiner ersten Ansprachen nach der Bürgermeisterwahl wiederholte Aliaga seine Forderung, Castillo solle zurücktreten. Er erklärte außerdem, er wolle den Haushalt der Hauptstadt direkt mit dem Kongress koordinieren.

Exekutive und Legislative befinden sich seit mehreren Monaten in einer politischen Pattsituation (siehe LN Nr. 580/81 Dossier 20). Der rechtsdominierte Kongress versucht seit Langem, Castillo des Amtes zu entheben. Die neueste Entwicklung ist eine Verfassungsbeschwerde wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, die die Generalstaatsanwältin des Landes, Patricia Benavides, am 12. Oktober gegen Castillo eingereicht hat. Ein Unterausschuss für verfassungsrechtliche Anklagen des Parlaments prüft momentan den Bestand der Beschwerde. Auch konservative Rechtsexperten haben verlauten lassen, dass die Verfassungsklage auf Grundlage des Paragrafen 117 keinen Bestand haben wird. Der Paragraf schließt die Anklage während der Präsidentschaft aus – mit Ausnahme von vier Gründen, die in diesem Fall nicht zutreffen. Damit stellt die Anklage ein weiteres politisierbares, aber politisch folgenloses Manöver des Kongresses dar.

Wie Aliaga seinen Traum der Megabauprojekte ohne Kooperation mit der Exekutive umsetzen will, ist in der Tat fraglich. Von seinem Erfolg könnte abhängen, ob das Bürgermeisteramt erneut zum Sprungbrett für das Präsidentenamt wird. So versuchte der dreimalige Bürgermeister Limas aus der politischen Vorgängerpartei von Renovación Popular, Luis Castañeda (Solidaridad Nacional), zweimal den Sprung zur Präsidentschaft und blieb weit hinter anderen Kandidat*innen zurück. Ebenso wie ihre Vor­­gänger­partei ist Renovación Popular ein Haupt­stadt­phänomen, das auch bei diesen Wahlen kaum Stimmen außerhalb der Metropole für sich gewinnen konnte.

Außerhalb Limas triumphierten bei den Regional- und Kommunalwahlen am 2. Oktober erneut regionale Bewegungen über nationale Parteien. Die Bewegungen, die der Politologe Mauricio Zavaleta als „Koalitionen der Unabhängigen” bezeichnet, haben programmatisch oftmals wenig gemeinsam. Sie schließen sich kurzzeitig zur Aufstellung politisch unverbrämter Kandidat*innen zusammen. Damit stellen regionale Bewegungen nun knapp 60% der Bürgermeisterämter des Landes, wobei fast ausschließlich alle an Männer gingen.

Die Proteste gegen die OAS kommen zu einer politisch heiklen Zeit

Die Regional- und Kommunalwahlen bestätigen aufs Neue das konservative und wirtschaftsliberale Wahlverhalten der Hauptstädter*innen. Im Süden und Hochland haben unabhängige und linke Kandidat*innen bessere Chancen. Dieser Umstand hat in den vergangenen Jahren wiederholt die Wahl der Diktatorentochter Keiko Fujimori ins Präsidentenamt verhindert. Kandi­dat*innen ihrer Partei Fuerza Popular flogen aus sämtlichen Regionalregierungen, ebenso die Partei des derzeitigen Präsidenten Pedro Castillo. Falls sich das Votum der Regionen in der kommenden Präsidentschaftswahl ebenso fragmentiert, wie es bei den Gegenkandidat*innen Aliagas geschehen ist, und die Zahl der Nicht-Wähler*innen noch weiter ansteigt, ist nicht auszuschließen, dass es eine Metropolenkandidat*in ins Präsidentschaftsamt schafft.

Bis dahin steht Lima eine konservative Welle bevor. Diese wurde bereits wenige Tage nach der Wahl durch die Demonstration mehrerer Tausend Menschen gegen die Generalversammlung der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) eingeläutet. Die Versammlung, die in Lima unter dem Motto „Gemeinsam gegen Ungleichheit und Diskriminierung“ abgehalten wurde, zog den Protest verschiedener ultrakonservativer Evangelikaler und christlicher Gruppen auf sich, die Plakate wie „OAS, hört auf zu intervenieren“, „Peru widersetzt sich der Gender-Ideologie”, „Ja zum Leben, nein zur Abtreibung“ hochhielten.

Die Proteste gegen das interamerikanische Gremium kommen zu einer politisch heiklen Zeit. Mitte Oktober bat Präsident Castillo die OAS um Hilfe im Umgang mit der gegen ihn eingereichten Verfassungsbeschwerde. In seinem Schreiben bat der Präsident die Interamerikanische Demokratische Charta zu aktivieren, um die demokratischen Institutionen des Landes zu schützen. Perus jüngere Geschichte ist gekennzeichnet von Amtsenthebungsverfahren, in denen strafrechtliche Er­mittlungen von der Opposition genutzt werden, um dem Präsidenten das Vertrauen zu entziehen. Mittlerweile wurde die Anfrage von der OAS angenommen und eine hochrangige Gruppe aus Vertreter*innen der Mitgliedsstaaten entsendet. Es wird sich zeigen, ob es Aliaga gelingt, das Anti-OAS-Sentiment seiner Anhänger*innenschaft zu instrumentalisieren, sobald die Ergebnisse der unabhängigen Kommission vorliegen.

DAS PHÄNOMEN LULA

Lula in Aktion Ob es der charismatische Politiker schafft, Bolsonaro aus dem Amt zu jagen? (Foto: Jeso Carneiro CC BY-NC 2.0)

Wer schon einmal Luiz Inácio Lula da Silva vor einer großen Menschenmenge hat sprechen hören, wird dies niemals wieder vergessen. Er verfügt über die Gabe, jede*m und jede*r Einzelnen in der Menge das Gefühl zu geben, sich mit ihm in einem kleinen, eher intimen Raum zu befinden – sagen wir in einer Gruppe von 20 Personen. Er liebt die persönliche Ansprache, selbst bei einer Menge von mehreren Zehntausend. Da bittet er die Gruppe mit den großen Transparenten, diese einzurollen, damit „die companheiros und companheiras, die hinter Euch stehen, auch etwas sehen und hören können.“ Nicht ohne zuerst zu sagen, dass die Transparente großartig aussehen und er hofft, dass sie gut erhalten zurückkommen und noch bei vielen Demonstrationen nützlich sein werden.

Überhaupt das Persönliche: Lula ist ein Erzähler. Einen Tag nach der Präsidentschaftswahl am 2. Oktober 2022 gibt er eine Pressekonferenz mit dem Vorsitzenden der sozialdemokratischen PDT, Carlos Lupi. Es geht um die Unterstützung der PDT für Lula bei der Stichwahl am 30. Oktober. Für die PDT ist diese Unterstützung ein bisschen heikel, sind doch Lula und der PDT- Präsidentschaftskandidat Ciro Gomes seit 2018 so zerstritten, dass selbst der alles umarmende ehemalige Präsident keine Versöhnung erreichte. Am Ende der Pressekonferenz erzählt Lula, wie er 1989 „im allerschwersten Moment meines Lebens” zum Gründer und damaligen Präsidentschaftskandidaten der PDT, Leonel Brizola, fuhr und diesen um Unterstützung im zweiten Wahlgang bat. Es ist eine richtige Geschichte, fast ein kleines Drama, mit Kampf des Helden, Höhepunkt und Happy End, die Lula mit viel Gefühl vorträgt. Am Ende erscheint so die aktuelle Entscheidung der PDT in einem ganz anderen (historischen) Licht.

Die „rosa Dekade“ der linken Regierungen in Lateinamerika ist auch eine Phase charismatischer Führungsfiguren. Lula kann unter seinen Anhänger*innen und insbesondere unter der Bevölkerung des armen brasilianischen Nordostens wahre Begeisterungsstürme entfachen – bis heute. Für sie ist er nicht nur ein Präsident zum Anfassen, sondern das fleischgewordene Versprechen einer besseren Welt. Seine Verehrung kommt der für den Ex-Präsidenten Hugo Chávez in Venezuela sicher sehr nahe.

Lula hatte einen langen Weg bis ins Präsidentenamt hinter sich. Die von ihm 1980 mitgegründete Arbeiterpartei PT ähnelte in den Anfangsjahren weniger einer der üblichen politischen Parteien, sondern mehr einer sozialen Bewegung, wie der Soziologe Emir Sader schon 1991 analysierte: Neben radikalen Gewerkschafter*innen sammelten sich darin auch Landlose, politisch Aktive aus den Favelas und viele Anhänger*innen der Befreiungstheologie. Die PT sah sich zwar ausdrücklich nicht in der Tradition der Linken des Landes, die von den kommunistischen Parteien geprägt war. Doch sie vertrat eine antikapitalistische Haltung und das Ziel, ein brasilianisches Modell des Sozialismus zu entwickeln. Das war für das von Militärdiktatur und Antikommunismus geprägte Brasilien zu radikal. Drei Mal kandidierte Lula als Vertreter der Arbeiter*innenbewegung für das Präsidentenamt, 1989, 1994 und 1998. Jedes Mal verlor er gegen einen bürgerlichen Gegenkandidaten, trotz seiner großen Popularität und seiner Fähigkeit, die Massen zu mobilisieren.

Im Wahlkampf von 2002 hatte Lula ein anderes Angebot an die Nation. Die bekannte Journalistin Eliane Brum, die unter anderem für El País aus Brasilien berichtet, analysierte seine Haltung 2002 so: „Lula machte immer klar, dass er nicht an einer Revolution interessiert war. Was er suchte, war Inklusion.“ In einem „Brief an das brasilianische Volk verpflichtete sich Lula – nicht gegenüber dem Volk, sondern gegenüber dem Markt – die grundlegenden Linien der liberalen ökonomischen Politik der Regierung Fernando Henrique Cardoso beizubehalten.“ Hohe Rohstoffpreise ermöglichten ihm tatsächlich eine Politik der „Inklusion“ der Armen Brasiliens: Es war genug für alle da. Soziale Programme konnten umgesetzt werden und der Mindestlohn stieg kontinuierlich, ohne dass auf der anderen Seite die Steuern der Reichen erhöht werden mussten.

Der Charismatiker Lula entfacht immer noch wahre Begeisterungsstürme

Lula schied 2010 mit einer Rekordzustimmungsrate von 87 Prozent aus dem Amt. Viele seiner Regierungsprogramme waren sehr erfolgreich, allen voran das Programm „Fome Zero“ (Null Hunger), das er vom ersten Tag seiner Regierung an verfolgte und das in eine Art Sozialhilfe („Bolsa Família“) und verschiedene andere Maßnahmen mündete. Zum Beispiel in die „Merenda Escolar“, die jedem Schulkind eine warme Mahlzeit am Tag garantierte und zusätzlich die lokale Landwirtschaft förderte. Wie wichtig diese Maßnahmen zur Beendigung der absoluten Armut waren, zeigen heute die Folgen von sechs Jahren neoliberaler Politik unter den Präsidenten Michel Temer und Jair Bolsonaro, die die erfolgreichen Programme der PT gezielt abschafften. Sie brachten Brasilien zurück auf die „Weltkarte des Hungers“, unter dem heute geschätzte 33 Millionen Brasilianer*innen leiden.

Viele Programme der PT-Regierungen fallen jedoch unter die Rubrik „Ja, aber“. Ja, die familiäre Landwirtschaft wurde in einem bisher nie dagewesenen Umfang gefördert – doch die reiche Agroindustrie erhielt deutlich mehr Subventionen. Ja, das Wohnungsbauprogramm „Minha Casa Minha Vida“ war erfolgreich und durch die veränderten Gesetze zu Konsumkrediten konnten viele Menschen erstmals einen großen Fernseher oder ein Auto erwerben. Doch gleichzeitig wurde viel zu wenig Geld in die notwendige Infrastruktur investiert, vor allem in die Abwasserentsorgung, aber auch in das Gesundheits- und das Bildungssystem. Das schürte die Unzufriedenheit. „Wir wollen ein Bildungssystem nach Fifa-Standard“, forderten die Studierenden 2014 vor der Austragung der WM in Brasilien, als Milliarden Reais in den Bau später nicht oder schlecht genutzter Stadien investiert wurden.

Besonders eklatant war die fehlende Bereitschaft zu echten strukturellen Veränderungen in den Bereichen der Agrarpolitik, der Medien und der juristischen Anerkennung indigener Gebiete. Das Versprechen einer echten Agrarreform war fester Bestandteil der politischen Forderungen der PT, in der von Beginn an viele Aktivist*innen der Landlosenbewegung engagiert waren. Gleichzeitig ist die Verteilung des Landbesitzes eine zentrale Machtfrage, die bis auf die Kolonialzeit zurückgeht. Die PT-Regierungen blieben hinter den eigenen Versprechungen weit zurück. Weitreichende Folgen hatte auch die Fortsetzung des Systems Rede Globo: Der größte private Medienkonzern kassierte weiterhin Millionen an Werbeeinnahmen für die Verbreitung staatlicher Informationen und Kampagnen, aber 2015 und 2016 trug Globo entscheidend zur Diskreditierung der PT und der Absetzung von Lulas Nachfolgerin Dilma Rousseff bei. Der Aufbau eines öffentlich-rechtlichen Mediensystems wurde verpasst und unter keinem anderen Präsidenten wurden so viele Basis- und Stadtteilradios geschlossen wie unter Lula.

„Korruption“ ist und bleibt die offene Flanke der PT


1988 war in Brasilien eine äußerst fortschrittliche Verfassung verabschiedet worden, an der Lula als Abgeordneter des Parlaments selbst mitgearbeitet hatte. Heute – 34 Jahre später – ist sie überall dort, wo sie entscheidende Machtfragen berührt, nicht oder nur wenig umgesetzt worden. Sie sieht unter anderem eine „Demarkation“, also die juristische Anerkennung der indigenen Gebiete, auf die die mehr als 200 indigenen Völker Brasiliens historisch begründet Anspruch erheben können, vor. Auch wenn es hier größere Fortschritte gab – vor allem die Anerkennung von Raposa do Sol mit 1,7 Millionen Hektar im Jahr 2005 – ist die Demarkation bis heute nicht abgeschlossen. Auch die Abholzung des tropischen Regenwalds wurde von 2004 bis 2014 zwar signifikant reduziert, doch die Megaprojekte des Wasserkraftwerks Belo Monte und der Umleitung des Rio São Francisco im Nordosten des Landes ließen, zusätzlich zum Extraktivismus als Wirtschaftsmotor, die ökologische Bilanz der PT-Regierungen verheerend aussehen. Sie trieben einen tiefen Keil zwischen die Partei und ökologisch orientierte Basisbewegungen und Persönlichkeiten. Viele Gründungsmitglieder und Unterstützer*innen der ersten Stunde kündigten ihre Gefolgschaft auf. Die politische und soziale Arbeit in den Stadtteilen und Gemeinden machten jetzt andere, vor allem die evangelikalen Kirchen und weitere Anhänger der Rechten. In der Linken und den sozialen Bewegungen Brasiliens wird der Verzicht auf die Basisarbeit, der mit einem ebenfalls kritisch betrachteten Wandel der PT zur Funktionär*innenpartei einherging, als entscheidender Faktor gesehen, warum der Bolsonarismus und die Ideologien, die ihn tragen, in Brasilien so stark werden konnten.

Um Lula und der PT gerecht zu werden, muss allerdings der politische Gesamtkontext betrachtet werden: Die PT hatte zu keinem Zeitpunkt eine Mehrheit im Parlament, sondern war für jedes einzelne Gesetzesvorhaben auf die Stimmen von Mitte-rechts-Parteien angewiesen. Lula hatte von Beginn an nicht auf den Druck von der Straße gesetzt, sondern die sozialen Bewegungen kooptiert und beschwichtigt: Sie bezeichnen 2003 noch heute als „Jahr der historischen Geduld“. Und er musste innerhalb des bestehenden politischen Systems weiterarbeiten, das den Stimmenkauf als Schmiermittel für Gesetzesvorhaben perfektioniert hatte. Damit war seine Regierung von Anfang an angreifbar. Bereits 2005 hatte die PT mit dem Mensalão ihren ersten Korruptionsskandal.

Korruptionsvorwürfe sind und bleiben die offene Flanke der PT und der diesjährigen Kandidatur Lulas für die Präsidentschaft. Das Gerichtsurteil, das ihn 2018 wegen angeblicher Bestechlichkeit ins Gefängnis und um die Präsidentschaftskandidatur brachte, ist inzwischen annulliert und die Befangenheit des ermittelnden Richters Sergio Moro von The Intercept Brasil hinlänglich belegt. Der Vorwurf der Korruption bleibt aber die Trumpfkarte, die die bürgerliche Rechte jederzeit ausspielen kann.

Dennoch verkörpert Lula heute für viele Brasilianer*innen – 48,43 Prozent derjenigen, die eine gültige Wähler*innenstimme im ersten Wahlgang abgegeben haben – ebenso eine bessere Vergangenheit wie eine bessere Zukunft. Mit einer radikalisierten, bolsonaristischen Rechten und eher mäßigen Rohstoffpreisen stehen die Chancen auf eine erfolgreiche Politik der Inklusion und Versöhnung allerdings sehr viel schlechter als 2003.

Das Dossier “Sein oder Schein? – Die neue progressive Welle in Lateinamerika” liegt der Oktober/November 2022-Ausgabe bei und kann hier kostenlos heruntergeladen werden.

ZWISCHEN FURCHT UND HOFFNUNG

Demokratie Ein zweite Regierung Bolsonaro hätte erheblich mehr Potential, ihre sinistre politische Agenda durchzusetzen (Foto: Annelize Tozetto, Mídia Ninja via Flickr, CC BY-NC 2.0)

Nach viel Regen und Kälte schien in São Paulo endlich mal wieder die Sonne. Die Stimmung am 2. Oktober war gut – insbesondere unter den Wähler*innen von Luiz Inácio Lula da Silva. Die letzten Umfragen vor der Wahl ließen einen Wahlsieg Lulas im ersten Wahlgang möglich erscheinen. Die Hoffnung wuchs, die Schreckensherrschaft von Jair Bolsonaro noch an diesem Tag beenden zu können. Leider kam es anders. Eine schlechte Nachricht nach der anderen verdarb die Stimmung. Die entscheidende: Bolsonaro schnitt erheblich besser ab als erwartet und zuvor durch die Umfragen suggeriert.

Nach der endgültigen Auszählung aller Stimmen des ersten Wahlgangs erhielt Bolsonaro 43,2 Prozent der Stimmen, Lula 48,4 Prozent. Immerhin ein Vorsprung des Kandidaten der Arbeiterpartei (PT) von fast fünf Millionen Stimmen. Nachdem der erste Schreck abgeschüttelt war, versuchten sowohl die PT-Führung als auch viele andere Linke in den sozialen Netzwerken wieder gute Stimmung und Optimismus zu verbreiten. Verständlich und notwendig, um die Mobilisierung für den zweiten Wahlgang am 30. Oktober zu stärken. Lula hat zwar den Sieg im ersten Durchgang verpasst, aber nur knapp. In den ersten Umfragen zum zweiten Wahlgang liegt er deutlich vor Bolsonaro. Eine am 10. Oktober veröffentlichte Umfrage von Ipec sieht Lula bei 51 Prozent und Bolsonaro bei 42 Prozent der gültigen Stimmen, in einer Umfrage von Datafolha am 14. Oktober beträgt der Vorsprung von Lula nur fünf Prozent. Doch die Umfragen sind tendenziell im zweiten Wahlgang genauer, weil das Szenario übersichtlicher ist. Dies beflügelt einen vorsichtigen Optimismus.

Lula hat also weiterhin gute Chancen, die Wahl zu gewinnen. Hinzu kommt, dass bei den letzten Präsidentschaftswahlen immer der Kandidat gewonnen hat, der im ersten Durchgang vorne lag. Positiv für Lula ist auch auch die Tatsache, dass die drittplatzierte Kandidatin bei den Wahlen (Simone Tebet von der Mitte-Rechts-Partei MDB mit 4,3 Prozent der Stimmen) nun mit klaren und deutlichen Worten ihre Unterstützung für Lula verkündet hat. Auch wenn ein Sieg Lulas im zweiten Wahlgang kein Selbstlauf ist, so bleibt er doch Favorit. Aber es gibt auch gute Gründe für Vorsicht und Pessimismus. Anders als bei früheren Wahlen liegt nun der amtierende Präsident zurück. Und der hat bereits eine Reihe von Maßnahmen angekündigt, die helfen könnten, das Blatt noch zu wenden. So werden die Transferleistungen für die ärmsten Teile der Bevölkerung (Auxílio Brasil) vorgezogen, um sie noch vor den Wahlen auszuzahlen. Preise für Gas und Benzin sollen weiter sinken. Und tatsächlich mehren sich die Zeichen für eine leichte wirtschaftliche Erholung nach einer langen Rezession. Für 2022 wird nun ein Wirtschaftswachstum von 2,7 Prozent vorausgesagt und die Inflationsrate sinkt auf 5,5 Prozent.

Die Opposition hält diese Entwicklung der jüngeren Zeit angesichts der katastrophalen Gesamtbilanz der Regierungszeit Bolsonaros für irrelevant. Auch die Anhebung des Auxílio Brasil bereits vor dem ersten Wahlgang schien bisher nicht die gewünschte Wirkung zu zeigen. Aber ein Indikator mahnt zur Vorsicht: Auch wenn Lula wieder im gesamten Nordosten Brasiliens deutlich gewonnen hat, so hat Bolsonaro doch besser abgeschnitten als vor vier Jahren. Seine Stimmengewinne in den ärmeren Teilen Brasiliens könnten darauf hindeuten, dass die Transfermaßnahmen als Wahlgeschenke doch teilweise wirken und somit durchaus Einfluss auf den zweiten Wahlgang haben könnten. Bedenklich ist auch, dass in den letzten Umfragen die Ablehnung Bolsonaros sinkt und die Zustimmung zu seiner Regierung leicht steigt.

Die große Differenz zwischen den Wahlumfragen und dem Ergebnis zeigt auch, dass die Resilienz und die Mobilisierungsbasis des Bolsonarismus offensichtlich unterschätzt wurde und sowohl von Meinungsforschungsinstituten wie von politischen Analysen nur unzureichend erfasst wird. Etwa 40 Prozent der brasilianischen Bevölkerung hat sich offensichtlich in eine riesige Blase oder Parallelwelt zurückgezogen, schaut kein Fernsehen mehr (außer den religiösen Sendern) und informiert sich nicht über Zeitungen. Gleichzeitig verbringen in fast keinem Land der Welt die Menschen so viel Zeit in sozialen Netzwerken wie in Brasilien und nutzen so häufig WhatsApp und Telegram.

Der 2. Oktober war auch Wahltag für Senat und Bundesparlament, sowie für Gouverneure und Landesparlamente. Hier steht ein Ergebnis bereits fest: Der Bolsonarismus und die extreme Rechte sind als klare Sieger hervorgegangen. Die Partei Bolsonaros, die sich liberal nennende PL, wird mit 99 Abgeordneten die stärkste Fraktion im Abgeordnetenhaus in Brasília stellen. Wichtige Minister*innen Bolsonaros wurde zu Senator*innen gewählt, darunter Damares Alves, die Vertreterin der Evangelikalen, als auch Tereza Cristina Corrêa da Costa Dias, die ehemalige Landwirtschaftsministerin und Vorsprecherin des Agrobusiness sowie der Vizepräsdent Bolsonaros, General Hamilton Mourão. Bei den Gouverneurswahlen von São Paulo lag der Kandidat der PT, Fernando Haddad, in allen Umfragen vorn, aber am Wahlabend führte der Kandidat und Ex-Minister Bolsonaros, Tarcísio Freitas. Als Minister für Infrastruktur gehörte Freitas zum sogenannten „technischen Flügel“ des Kabinetts von Bolsonaro und profilierte sich eher als Macher, der nicht durch demagogische Ausfälle auffiel. Ein bitteres Ergebnis war auch die Wahl des ehemaligen Bundesumweltministers und Zerstörers der Umweltpolitik Brasiliens, Ricardo Sales, zum Bundesabgeordneten. Zwei weitere Kandidaten, die Bolsonaro unterstützen, haben bereits den ersten Durchgang der Gouverneurswahlen in Minas Gerais und Rio de Janeiro gewonnen. Wird Tarcísio Freitas in São Paulo ebenfalls gewählt, dann würden die drei bevölkerungsreichsten Bundesstaaten Brasiliens von Anhängern Bolsonaros regiert. Freitas und der Gouverneur von Minas Gerais, Romeu Zema, wären auch starke Kandidaten, um eine „Neue Rechte“ ohne Bolsonaro anzuführen.

Insgesamt hat sich mit dieser Wahl ein politisches Bündnis von Evangelikalen, Agrobusiness und Bolsonarismus gefestigt und seine Hegemonie im rechten Lager konsolidiert. Es vereint eine konservative moralische Agenda (gegen Abtreibung und „Genderideologie“), die Befürwortung von Polizeigewalt und die Ablehnung von Menschenrechten, die Glorifizierung des Agrobusiness und die Feindschaft gegenüber indigenen und traditionellen Gemeinschaften, die zusammen mit der Umweltgesetzgebung als Entwicklungshemmnis denunziert werden. Diese „Neue Rechte“ gewinnt durch die Wahl an Konturen und geht über den klassischen Bolsonarismus hinaus. Auch bei eine Wahlniederlage Bolsonaros wird die „Neue Rechte“ kaum wieder verschwinden und eine radikale Opposition gegen eine PT-geführte Regierung machen.

Zum Gesamtergebnis der Parlaments­wahlen gehört aber auch, dass die PT Stim­­­­­­­­­­­­­­­­­men hinzugewonnen hat und die zweitstärkste Fraktion im Bundesparlament stellen wird. Ihr linker Bündnispartner, die PSOL, konnte insgesamt Gewinne und einige bemerkenswerte Ergebnisse erzielen. So wurde Guilherme Bou­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­los, Führungspersönlichkeit der Obdachlosenbewegung MTST, in São Paulo mit den meisten Stimmen zum Abgeordneten ins Bundesparlament gewählt. Ebenfalls über die Liste der PSOL gelangen nun zwei prominente Vertreterinnen der indigenen Bewegung ins Parlament, Sonia Guajarara und Celia Xakriaba. Bemerkenswert ist auch das gute Abschneiden von Erika Hilton, die als trans Person ins Bundesparlament einzieht. Und mit der ehemaligen Umweltministerin der Regierung Lula, Marina Silva, ist eine prominente Umweltschützerin ins Parlament gewählt worden.

Das Bild ist also uneinheitlich und spiegelt die tiefe Spaltung der brasilianischen Gesellschaft wider. Aber das Pendel ist in diesen Wahlen, soweit es das Parlament betrifft, nach rechts geschlagen. Bolsonaro und seine engen Verbündeten verfügen über 37 Prozent der Abgeordneten, das linke Lager um die PT über 28 Prozent. Beide sind daher davon abhängig, ihre Basis zu erweitern. Damit kommt das sogenannte Centrão ins Spiel, ein diffuses Lager von Abgeordneten aus verschiedenen Parteien ohne klare ideologische Ausrichtung, aber mit dem Interesse, an der Macht und den Töpfen der Regierung teilzuhaben. Bolsonaro hatte bereits mit diesem Lager ein Bündnis geschlossen und dafür einen hohen Preis gezahlt, ein Teil des Haushaltes ist nun für dessen Anliegen reserviert. Das Bündnis würde Bolsonaro daher erheblich leichter fallen als Lula. Damit erscheint ein Schreckensszenario möglich: Eine zweite Regierung Bolsonaro, die über eine Zweidrittelmehrheit im Parlament verfügt und damit die Verfassung ändern könnte. Vor allem aber könnte sie den Obersten Gerichtshof (STF) umstrukturieren, der zu einem großen Hassobjekt Bolsonaros geworden ist, weil der STF sich nicht der Regierung untergeordnet hat. Eines jedenfalls steht fest: Ein zweite Regierung Bolsonaro hätte erheblich mehr Potential, ihre sinistre politische Agenda durchzusetzen. Amazoniens Ökosystem würde weitere vier Jahre Bolsonaro wohl kaum überleben.

Lulas Sieg bei den Präsidentschaftswahlen ist die letzte Chance, den Durchmarsch der extremen Rechten zu verhindern. Zwar müsste Lula erhebliche Zugeständnis machen, um die Abgeordneten des Centrão auf seine Seite zu ziehen, aber unmöglich ist das nicht. Lula stände vor einer schweren Aufgabe und würde viele Erwartungen der brasilianischen Linken nicht erfüllen, das ist allen klar. Aber angesichts der Bedrohung durch Bolsonaro treten solche Überlegungen in den Hintergrund.

Doch erst muss die Wahl gewonnen werden. Bolsonaro versucht durch Lügen („Lula will die Kirchen schließen“), Schmutzkampagnen (angeblicher Missbrauch von Kindern) und Wahlgeschenke das Blatt noch einmal zu wenden. Dies spielt sich wieder vorwiegend über WhatsApp ab, ohne Faktencheck oder Korrekturen. Dort gibt es auch eine positive Entwicklung: Durch das gute Abschneiden Bolsonaros und seiner Verbündeten sind plötzlich die Stimmen verstummt, die das elektronischen Wahlverfahren anzweifelten und einen großen Betrug zugunsten Lulas an die Wand malten. Es wird Bolsonaro nun schwerer fallen, einen Wahlsieg Lulas im zweiten Wahlgang anzuzweifeln. Aber Achtung, Spoiler: Bolsonaro hat keine Angst vor dem Absurden.

RINGEN UM DEN ERHALT DER DEMOKRATIE

Elektronische Wahlurnen Sicher und bewährt -Bolsonaro will sie abschaffen (Foto: Marcelo Camargo / Agencia Brasil)

Nahezu verzweifelt versuchte William Bonner, TV-Moderator des größten brasilianischen Senders Rede Globo, Jair Bolsonaro im August während der traditionellen Interview-Runde mit den Kandidat*innen der Präsidentschaftswahl das Bekenntnis abzuringen, dass er eine Wahlniederlage akzeptieren werde. Doch der amtierende Präsident insistierte: Er werde die Ergebnisse nur dann akzeptieren, wenn die Wahlen „sauber“ seien. Auf das Gegenargument Bonners, dass das brasilianische Wahlsystem anerkanntermaßen „sauber, transparent und mit überprüfbaren Ergebnissen an den Urnen“ funktioniere, reagierte Bolsonaro gereizt und verlangte, das Thema zu wechseln.

Der Wahlkampf läuft bisher nicht zufriedenstellend für den rechtsradikalen Präsidenten Brasiliens. Anfang September veröffentlichte das führende Meinungsforschungsinstitut Datafolha als Umfrageergebnis erneut einen soliden Vorsprung seines Gegenkandidaten Lula da Silva von der Arbeiterpartei PT: 45 Prozent für Lula gegenüber 32 Prozent für Bolsonaro. Am 5. September kam das Institut ipec im Auftrag von Rede Globo zu sehr ähnlichen Ergebnissen: 44 Prozent zu 31 Prozent. Selbst bei einer Fehlerquote von zwei Prozent wären dies rund zehn Prozentpunkte Vorsprung für Lula im ersten Wahlgang am 2. Oktober.

Obwohl die Umfrageergebnisse für Lula schon einmal besser waren – zwischen Mai und Juni erhielt er im Durchschnitt 47 Prozent und Bolsonaro nur 28 Prozent– scheint alles auf eine Stichwahl zwischen ihm und Bolsonaro hinzudeuten. Und im zweiten Wahlgang am 30. Oktober würde Lula nach allen bisherigen Umfragen rund 52 Prozent der Stimmen erhalten, Bolsonaro jedoch höchstens 36 Prozent. Alle anderen Kandidat*innen liegen deutlich unter zehn Prozent, am meisten Zustimmung kann Ciro Gomes von der sozialdemokratischen PDT mit acht Prozent verzeichnen. Da bei den Kandidat*innen mit geringer Zustimmung (ein bis fünf Prozent) aktuell ein bisschen Bewegung nach oben besteht, wird ein zweiter Wahlgang wahrscheinlicher. Gleichzeitig ist die Anzahl der Unentschlossenen in den letzten Wochen von neun auf drei Prozent gesunken.

Delegitimierung des brasilianischen Wahlsystems durch den Präsidenten

Nicht überraschend also, dass sich die Wahlkampfmanager*innen des rechtsradikalen Präsidenten für die verbleibenden dreieinhalb Wochen vor der Wahl Gedanken über einen Strategiewechsel machen. Selbst die Wiedereinführung einer Art von Sozialhilfe, des Auxílio Brasil von 600 Reais (rund 120 Euro), und die Reduzierung des Benzinpreises haben seiner Kandidatur nicht den erwarteten Aufwind verschafft. Da sich der Rechtsradikale bisher im Wahlkampf relativ moderat präsentiert hat, um die Wählerschaft der Mitte nicht abzuschrecken, wird nun erwogen, den „echten Bolsonaro“ wieder aus dem Schafspelz zu ziehen – vor allem um Nichtwähler*innen zu mobilisieren.

Die Fähigkeit, Massen zu mobilieiren, haben Lula und Bolsonaro nicht verloren

Den Nationalfeiertag am 7. September nutzte Bolsonaro daher als willkommene Gelegenheit für den Wahlkampf. Er schlüpfte dabei ganz nach seinem Belieben abwechselnd in die Rolle des Präsidenten und die des Kandidaten: mal präsidial mit Schärpe bei der Abnahme der Militärparade in Brasília, mal kämpferisch mit Bomberjacke auf einem „privaten“ Fahrzeug in Rio de Janeiro vor zehntausenden von Anhänger*innen. Dabei stellte er eindrucksvoll unter Beweis, dass er nach wie vor Massen mobilisieren und begeistern kann. „Bolsonaro sucht am 7. September die Kraft, die ihm in den Umfragen fehlt,“ titelte dazu die Zeitschrift Veja.

In den bürgerlichen Medien wurde Bolsonaros Missbrauch des Nationalfeiertages für seinen Wahlkampf kritisiert. Verbietet doch das brasilianische Wahlgesetz die Nutzung offizieller Ämter für Kampagnen. Das oberste Wahlgericht kann Kandidat*innen, die dies missachten, von der Wahl ausschließen, anschließend dürfen sie acht Jahre lang nicht kandidieren. Doch obwohl der zuständige oberste Richter „eine Untersuchung des Verhaltens des Kandidaten Bolsonaro“ ankündigte, scheint eine Ahndung angesichts der von Bolsonaro getroffenen Vorsichtsmaßnahmen wenig wahrscheinlich, trotz oder gerade wegen dessen andauernder Angriffe auf das Justizsystem. Auch dies hoben viele Kommentator*innen ausdrücklich hervor: Bolsonaro habe den obersten Gerichtshofes STF während seiner Ansprachen nicht direkt angegriffen. Es war allerdings auch nicht mehr notwendig: Der Präsident gab die Stichworte und die Menge grölte die Slogans; auch viele Transparente und Schilder seiner Anhänger*innen richteten sich gegen den STF. Die Erosion der Glaubwürdigkeit der Justiz ist dem Rechtsradikalen im Vorfeld der Wahlen jedenfalls geglückt.

Auch die Gefahr eines Putsches im Fall einer Wahlniederlage scheint nicht gebannt: „Ich ziehe einen Putsch der Rückkehr der PT vor. Das ist eine Million Mal besser. Und mit Sicherheit wird niemand aufhören, mit Brasilien Geschäfte zu machen, so wie sie es mit verschiedenen Diktaturen überall auf der Welt machen“, schrieb José Koury, Besitzer der Einkaufsmeile Barra World Shopping, in einem privaten Chat am 31.7.2022. Veröffentlicht wurden diese und ähnliche Nachrichten von namhaften Unternehmern im August von Guilherme Amado, Journalist der Website Metrópoles. Mit dabei war auch Luciano Hang, Gründer der Kette Havan, der laut Forbes 2021 über ein Vermögen von rund drei Milliarden Euro verfügte. Er hatte, neben vielen anderen Unternehmer*innen, die massiven Whatsapp-Kampagnen finanziert, die Bolsonaro 2018 zu seinem Sieg verhalfen – was ebenfalls gegen die Wahlgesetze verstieß, aber juristisch nicht weiter verfolgt wurde.

“Ein Putsch ist eine Million Mal besser als die Rückkehr des PT”

Doch im aktuellen Fall scheint die Justiz tätig zu werden, obwohl José Koury leugnete, den zitierten Text verfasst zu haben. Dieser sei sinnentstellt wiedergegeben worden und die Planung einer Konspiration in einem Kreis von 200 Mitgliedern einer Chatgruppe sei ohnehin lächerlich. Alexandre de Moraes, Richter am STF, hob am 6. September das Recht auf Geheimhaltung persönlicher Nachrichten der Unternehmer auf und blockierte ihre Accounts. Grundlage für die Entscheidung war eine Anzeige der Koalition für die Verteidigung des Wahlsystems, zu der sich mehr als 200 Organisationen und soziale Bewegungen zusammengeschlossen haben.

Die Koalition hat im Vorfeld der Wahlen mehr als eine Million Unterschriften für einen „Brief an die Brasilianerinnen und Brasilianer“ organisiert. Angelehnt war er an das gleichnamige Dokument aus dem Jahr 1977 von Goffredo da Silva Telles Jr., in dem die damalige Militärregierung kritisiert wurde und das einen Meilenstein im Kampf gegen die Diktatur darstellte. Die Veröffentlichung des aktuellen Briefes wurde Mitte August von landesweiten Demonstrationen in mehr als 50 Städten begleitet, in denen zur Verteidigung der Demokratie und des brasilianischen Wahlsystems mit seinen elektronischen Urnen aufgerufen wurde. Ein Höhepunkt war die Verlesung des Briefes an der juristischen Fakultät in São Paulo, an der auch Vertreter*innen bürgerlicher Parteien und der Unternehmerschaft teilnahmen.

Auch Lula da Silva und Ciro Gomes unterzeichneten den „Brief an die Brasilianerinnen und Brasilianer“ – die Gemeinsamkeiten der beiden Mitte-links-Kandidaten im Wahlkampf enden an diesem Punkt aber bereits. Seit 2018 im Streit, hatte Ciro Gomes bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt eine Beteiligung an einem Wahlbündnis für Lula abgelehnt. In den vergangenen Wochen hat er den Ton verschärft und in den sozialen Medien den Gesundheitszustand von Lula infrage gestellt. Dieser ätzte zurück, dass er Online-Kampagnen gar nicht nötig habe, da er fortwährend auf Großveranstaltungen „direkt mit dem Volk“ kommuniziere. Tatsächlich hat Lulas Fähigkeit, Massen zu mobilisieren, nicht nachgelassen und er absolviert ein beeindruckendes Wahlkampfprogramm, bei dem er täglich auch mit Vertreter*innen der sozialen Bewegungen spricht. In Interviews und Debatten hat er dagegen die Haltung eines Staatsmanns eingenommen, dem kleinere Streitereien egal sind.

Aktuell sind Lula und die PT vor allem daran interessiert, die Wahl bereits im ersten Wahlgang zu entscheiden und möglichst viele Wählerstimmen für die zeitgleich stattfindenden Wahlen für das nationale Parlament und die Regierungen der Bundesstaaten zu gewinnen. Die neun Prozent Wählerstimmen, die Ciro Gomes voraussichtlich erhalten wird, machen einen zweiten Wahlgang mit all seinen Unwägbarkeiten deutlich wahrscheinlicher. Und dies ist nicht nur für die PT gefährlich: Denn was sich der Kandidat Bolsonaro in den vier Wochen zwischen dem ersten und dem zweiten Wahlgang einfallen lässt, um die Wahlen zu delegitimieren, könnte eine weitere, ernste Bedrohung der brasilianischen Demokratie bedeuten.

„WIR MÜSSEN POLITISCHE RÄUME EROBERN“

Foto: ,Mídia NINJA , , CC BY-SA

Der Marsch der Schwarzen Frauen gilt für viele als Initiator des „neuen“ Schwarzen Feminismus in Brasilien. Wie ist er entstanden?
Tatsächlich wurde der Marcha das Mulheres Negras gegründet, um im November 2015 die große Demonstration in Brasília zu organisieren, mit 50.000 Schwarzen Frauen. Das war eine Idee der Schwarzen Aktivistin Nila Bentes, die dafür seit 2011 warb. Aber die Planung brauchte ihre Zeit. Schließlich ist es nicht einfach, dass Frauen, die hart arbeiten und Kinder zu versorgen haben, drei Tage für eine Demonstration unterwegs sind. Für viele war diese Erfahrung in Brasília sehr motivierend und wir beschlossen, nach der Demonstration weiter zusammenzuarbeiten. Etwas mehr als zwei Jahre später, im März 2018, wurde die Abgeordnete und Menschenrechtsaktivistin Marielle Franco ermordet. Auch das war eine Botschaft an Schwarze Frauen, die bisher nicht an politischem Aktivismus interessiert waren: Wenn wir nicht umgebracht werden wollen, müssen wir politische Räume erobern und uns Gehör verschaffen.

Inzwischen ist aus der Marcha das Mulheres Negras ein dauerhaft arbeitendes Netzwerk geworden. Wie organisiert Ihr Euch in São Paulo?
Wir sind ein Bündnis mehrerer Kollektive, also Frauengruppen. Manche sind autonome Feministinnen, andere sind, wie ich auch, noch im Movimento Negro Unificado (Vereinigte Schwarze Bewegung, Anm. d. Red.) oder in linken Parteien aktiv. Seit 2016 organisieren wir am 25. Juli eine Demonstration am Tag der Tereza de Benguela, dem Kampftag des Schwarzen Feminismus, der an die Anführerin eines Quilombo im 18. Jahrhundert im heutigen Mato Grosso erinnert.

Macht Ihr über die Demonstrationen hinaus alltägliche Organisierungsarbeit?
In den Außenbezirken von São Paulo organisieren wir jedes Jahr in einer anderen Region Fortbildungsprogramme. Derzeit sind wir im Stadtteil Tiradentes aktiv, 35 Kilometer vom Stadtzentrum von São Paulo entfernt, eine der Regionen mit dem schlechtesten Human Development Index und dem höchsten Anteil Schwarzer Bevölkerung. In der Fortbildung lehren wir neben feministischer Bildungsarbeit auch die Geschichte der Schwarzen Kämpfe in Brasilien. Auch wenn die Schwarze Bevölkerung inzwischen über die Hälfte der brasilianischen Bevölkerung ausmacht, haben wir seit Jahrhunderten gelernt, unser Schwarzsein zu leugnen, um überhaupt Zugang zu vielen Rechten zu bekommen. Aber die eigene Identität zu negieren, trägt – oft unbewusst – dazu bei, den Rassismus in Brasilien aufrechtzuerhalten. Wir machen die Fortbildung in einem Frauenhaus, das es schon 15 Jahre gibt. Aber derzeit greift es die Anhängerschaft von Bolsonaro aus der Nachbarschaft an und überhäuft es mit polizeilichen Anzeigen zum Beispiel wegen Lärms.

Wie konnte es zu dem Einfluss des Bolsonarismus auch in diesen peripheren Stadtteilen kommen?
Meiner Meinung nach hat die Linke einen nicht zu unterschätzenden Anteil an der Stärke des Bolsonarismus. Denn sie hat den Themen, die sie als „identitätspolitisch“ abqualifiziert hat, wie der Kampf gegen Rassismus und Sexismus, viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Die Kirchen, und ganz besonders die evangelikalen, die in diesem Teil der Bevölkerung inzwischen sehr einflussreich sind, tun dies hingegen sehr direkt, indem sie sagen: Frauen sollen sich unterordnen und in Brasilien gibt es keinen Rassismus. Die Linke hat darin versagt, zwischen den religiösen Bedürfnissen und den evangelikalen Institutionen und ihren Strategien zu unterscheiden. Sie hat sich von diesen Gläubigen zurückgezogen, statt den Austausch zu suchen – und hat lange noch nicht einmal den enormen Rückschritt im politischen Bewusstsein der Menschen wahrgenommen. Ohne einen solchen Dialog wird es jedoch in Brasilien keine gesellschaftlichen Veränderungen geben.

Wie gestaltet sich denn das alltägliche Zusammenleben in den peripheren Nachbarschaften in diesen politisch polarisierten Zeiten?
Auf der einen Seite gibt es in der breiten, nichtorganisierten Bevölkerung inzwischen viele junge Leute, die sich für den Schwarzen Feminismus begeistern. Wir sehen das in den öffentlichen Schulen. Die Schüler*innen bekennen sich offen dazu, Lesben, trans, Feminist*innen und Antirassist*innen zu sein. Ihre Lebenshaltungen sind radikaler geworden, sie haben mehr Wissen über ihre Rechte. Gleichzeitig gibt es weiter viele Formen der alltäglichen Solidarität, über die gesellschaftliche Polarisierung hinweg. Wenn ich arbeite und mein Kind bei jemandem lassen muss, ist es egal, ob die Nachbarin, die sich kümmert, Feministin oder Evangelikale ist. Zudem gibt es immer noch eine gewisse Angst davor, über Politik zu sprechen. Das ist das Erbe von 21 Jahren Militärdiktatur.

Hat die politische Polarisierung während der Präsidentschaft von Bolsonaro zugenommen?
Besonders zu Beginn von Bolsonaros Amtszeit waren die Gräben weitaus weniger tief, als während der Militärdiktatur. Selbst damals haben wir uns in der Familie und Nachbarschaft nicht völlig zerstritten, auch wenn wir viel diskutiert haben. Nach vier Jahren Bolsonaro, seinen Putsch-Drohungen und durch die Pandemie sind die Konflikte stärker geworden. Die politische Gewalt geht weiter von rechts aus: Die Morde an der Capoeirista Moa do Katendê, dem kongolesischen Geflüchteten Moïse Kabamgabe und an etlichen trans Frauen sind dafür beispielhaft. Letztendlich ist die rechte Gewalt jedoch für uns nichts Neues, sie reicht weit in die Geschichte zurück: Brasilien entstand schließlich auf der Grundlage der Sklaverei, der Vergewaltigungen, der Folter und der Verstümmelung, auch wenn es sich immer gerne als friedlich, demokratisch und nicht rassistisch versteht.

Ist der Feminismus in Brasilien heute ein anderer als vor zehn Jahren?
Jein. Für uns sind Bündnisse mit anderen Feminismen zentral. Im Grunde machen wir heute aber das weiter, was Schwarze Feministinnen schon seit den 1970er Jahren tun: Wir beteiligen uns an allen 8. März-Demonstrationen und anderen feministischen Kampagnen. Aber wir fordern ein, gegen einen strukturellen Rassismus einzutreten, der oftmals reproduziert wird, ohne dass es viele überhaupt merken. Wir dagegen spüren das sehr deutlich! Wir müssen immer noch einfordern, dass es nicht diese typischen Zuschreibungen einer „spezifischen Frage“ in den feministischen Deklarationen und Reden gibt: Erst wird „allgemein“ gesprochen und dann wird hinzugefügt: „Auch die Schwarzen Frauen …“ Auch wenn sich ein bisschen was bewegt hat, bleibt es ein harter Kampf. Ebenso gibt es immer noch bestimmte Sektoren des Feminismus, die keine trans Frauen akzeptieren. Eine solche Haltung wird innerhalb des Schwarzen Feminismus sehr selten vertreten. Ich denke, das liegt daran, dass wir selbst Formen der Entmenschlichung erfahren haben und mehr Empathie entwickeln können. Dasselbe gilt auch für unsere Zusammenarbeit mit indigenen Frauen, mit denen wir Allianzen aufbauen, auch wenn wir sehr unterschiedlich sind. Die gemeinsame Geschichte der Kolonisierung, Sklaverei und der Vergewaltigungen macht uns zu Geschwistern.

Was unterscheidet den Schwarzen Feminismus von anderen feministischen Kämpfen?
Der Schwarze Feminismus entwickelt zu vielen feministischen Themen eine andere Perspektive, zum Beispiel wenn in den Kämpfen für Abtreibungsrechte oft relativ abstrakt von Wahlfreiheit gesprochen wird. Wir fordern eine Perspektive der reproduktiven Gerechtigkeit ein, also wahrzunehmen, dass sich die Entscheidung für oder gegen Kinder nicht trennen lässt von den sozioökonomischen Lebensbedingungen der Frauen, egal ob sie sich dringend eine Abtreibung wünschen oder Mutter sein wollen. All dies geschieht in einem Kontext, in dem es der brasilianische Staat armen und Schwarzen Frauen erschwert oder gar unmöglich macht, Mutter zu sein. Manche verlieren ihre Kinder wegen Polizeigewalt, andere sind gezwungen, ihre Kinder alleine zu Hause zu lassen, wenn sie arbeiten gehen. Wenn wir nicht diskutieren, dass es oft harte Lebensbedingungen sind, in denen Frauen reproduktive Entscheidungen treffen, wird aus der Abtreibungsforderung ein beschränktes liberales Programm.

Das Konzept der reproduktiven Gerechtigkeit, das von Schwarzen Feministinnen in den USA vertreten wird, ist also für Euch eine wichtige Referenz?
Ja, für den Marcha das Mulheres Negras ist das eine wichtige Debatte. Eine unserer Forderungen ist weiterhin die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs. Erstaunlicherweise sind die Diskussionen in unseren Versammlungen dazu sehr entspannt und friedlich, auch wenn zum Netzwerk evangelikale Frauen, Frauen aus dem Candomblé (afro-brasilianische Religion, Anm. d. Red.), Pfarrerinnen ebenso wie Atheistinnen gehören. All diese Frauen kennen Erfahrungen alltäglicher Gewalt und Ungleichheit. Sie ziehen ihre Kinder allein auf; sie halten den Haushalt mit einem einzigen Mindestlohn aufrecht. Auch Frauen, die nicht politisiert sind, wissen, dass es hier um etwas ganz Essenzielles geht, selbst wenn viele kein Mikrofon in die Hand nehmen würden, um für die Legalisierung der Abtreibung einzutreten.

Wie positioniert Ihr Euch in diesen sehr angespannten Wahlkampfzeiten?
Wir unterstützen ganz klar die Kandidatur von Lula. Das ist eine Überlebensstrategie, auch wenn nicht alle von uns PT-Anhänger*innen sind. Bereits 2015 übergaben wir der damaligen Präsidentin Dilma Rousseff bei dem Marcha das Mulheres Negras in Brasília einen Forderungskatalog, der weiterhin gültig ist – schließlich hatte sie kaum Zeit darauf zu reagieren, es war kurz vor dem Impeachment. Hier zeigen wir alle Problemlagen auf, mit denen die Schwarze Bevölkerung und insbesondere die Schwarzen Frauen – sozusagen die Basis der Basis – alltäglich konfrontiert sind. Selbst wenn sich damals nach etwas mehr als 12 Jahren progressiver Regierungen unsere Situation in mancher Hinsicht verbessert hatte: Die strukturellen Bedingungen des Rassismus waren gleichgeblieben. Wir fordern Reparationen für viele Dimensionen der Gewalt, eine Politik der Abschaffung von Gefängnissen und wir sprechen weiterhin von Genozid, was inzwischen auch von der Linken häufiger anerkannt wird als früher.

Was fordert Ihr heute konkret von der zukünftigen Regierung?
Wir müssen an den bisherigen Reformen unter den PT-Regierungen ansetzen und deren Umsetzung einfordern und ausweiten. Ein Beispiel ist die Bolsa Familia (eine Form der Sozialhilfe, Anm. d. Red.), die viel zu gering bemessen war, aber immerhin unter dem Druck der sozialen Bewegungen an Frauen ausgezahlt wurde und es mancher ermöglichte, aus häuslicher Gewalt auszubrechen. Viele fortschrittliche politische Maßnahmen müssen überhaupt erst implementiert und der Schwarzen Bevölkerung zugänglich gemacht werden, von der Maria da Penha-Politik gegen Femizide, bis zum System der öffentlichen Gesundheitsversorgung, das unter Bolsonaro mehr oder weniger völlig kollabiert ist. Um einer enorm ungleichen Sterblichkeit bei vielen Krankheiten entgegenzuwirken, braucht es Ansätze in der Gesundheitsversorgung, die sensibel für Rassismus und Geschlechterdiskriminierung sind. Und es braucht das Ende einer rassistischen Schulbildung, die weiter dazu führt, dass es niemanden interessiert, wenn Schwarze Menschen ermordet werden.

Welche Aktivitäten plant Ihr für die heiße Phase des Wahlkampfs bis Anfang Oktober?
Es wird Demonstrationen geben und auch die Unterstützung von Wahlkampagnen verschiedener Kandidaturen. Wir haben einen Aufruf der sozialen Bewegungen mitformuliert und verbreiten ihn. Ich unterstütze zwar Kandidaturen in der PSOL, halte es aber für sehr wichtig, auf der Seite der Bewegungen aktiv zu sein und eine Gegenmacht gegenüber den Leuten in den Institutionen aufzubauen. Ohne diesen Druck von außen ist nichts zu erreichen. Wir brauchen immer einen Fuß außerhalb der Regierungen, Parteien, Parlamente und Behörden – sonst weiß der Fuß, den wir in den Institutionen haben, ganz schnell nicht mehr, in welche Richtung er gehen soll.

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