Anspannung vor der zweiten Runde

Generalstreik 2015 Wie damals sind die Menschen heute wieder auf der Straße (Foto: Nerdoguate via wikimedia commons , CC BY-SA 4.0)

Es war eine riesige Überraschung: Mit knapp zwölf Prozent der Stimmen zog Bernardo Arévalo Ende Juni als Kandidat der Partei Semilla in die Stichwahl um die Präsidentschaft ein. Medienberichte und Meinungsumfragen waren stets davon ausgegangen, dass es die Kandidat*innen der Parteien UNE und Valor in die zweite Runde schaffen würden. Für letztere war mit Zury Ríos die Tochter des Putschistengenerals Efraín Ríos Montt, der 2013 wegen Völkermordes verurteilt wurde, angetreten. Für die zweite Wahlrunde reichten die Stimmen für Ríos jedoch nicht. Semilla-Kandidat Arévalo tritt daher bei der Stichwahl im August gegen Sandra Torres von der sozialdemokratischen UNE-Partei an, die mit 15 Prozent der Stimmen das beste Wahlergebnis erreichte und für die alten Strukturen steht, die das Land derzeit regieren. In Guatemala ziehen unabhängig von der Prozentzahl der Stimmen nur die beiden stärksten Kandidat*innen in die Stichwahl um das Präsident*innenamt ein.

Drei Kandidat*innen der Opposition waren im Vorfeld willkürlich von der Wahl ausgeschlossen worden. Auch wegen mangelnder Transparenz zu diesem Vorgang war die Wahl von Beginn an in Frage gestellt worden. Neben dem Präsident*innenamt wurden am 25. Juni auch Abgeordneten- und Bürgermeister*innenämter zur Wahl gestellt.

Die Bewegung Semilla ist eine sozialdemokratische Mitte-Links-Partei und entstand 2015 in einer Zeit der Massenmobilisierungen gegen Korruption und Straflosigkeit. Dass die Partei im Wahlkampf weitgehend unsichtbar gemacht und nicht zu den Favoriten gezählt wurde, zieht auch die mangelnde Glaubwürdigkeit offizieller Umfragen in Zweifel. Der Erfolg von Semilla bei den Wahlen zeigt in diesem Kontext einen kulturellen und generationsbedingten Wandel, den Guatemala derzeit durchlebt – vor allem aber einen Überdruss gegenüber dem herrschenden politischen System.

Nach Auszählung von über 8o Prozent der Stimmen machte Semilla das Wahlergebnis auf einer Pressekonferenz offiziell. Am nächsten Tag gab das Oberste Wahlgericht (TSE), die nach guatemaltekischem Recht zuständige juristische Instanz, die vorläufigen Wahlergebnisse bekannt. Nur die offizielle Bestätigung des endgültigen Resultats stand zu diesem Zeitpunkt noch aus.

Die rechtsgerichtete politische Elite (von vielen in der Bevölkerung auch als „Pakt der Korrupten“ bezeichnet) fand jedoch schon bald Vorwände dafür, diese zu verzögern. So sei es unter anderem zu Unregelmäßigkeiten bei der Auszählung der Stimmen für die Bürgermeister*innenwahl in Guatemala-Stadt gekommen. Sie zog mit diesem Anliegen vor das Verfassungsgericht des Landes, obwohl dafür in erster Instanz das TSE zuständig gewesen wäre. Die unterlegene Partei Valor war die erste, die eine Klage gegen das Wahlergebnis einreichte. Verschiedene andere Parteien folgten. Ihr Ziel war es, die endgültige Bekanntgabe der Wahlergebnisse zu verlangsamen und eine Neuauszählung der Ergebnisse zu erreichen. Diese – zweifellos willkürliche, da dem guatemaltekischen Recht wider- sprechende – Maßnahme sorgte in der Bevölkerung für Überraschung und Empörung und löste Proteste und Aktionen in verschiedenen Teilen des Landes aus. Verfassungsrechtler*innen zufolge steht Guatemala damit am Rande eines technischen Staatsstreichs. Denn die Forderung nach Neuauszählung signalisiere, dass die „Justizdiktatur“ die Entscheidung der Guatemaltek*innen am 25. Juni an der Wahlurne, nicht respektiere.

Der Antrag auf Neuauszählung der Wahlergebnisse wurde letztlich zwar am 7. Juli vom Verfassungsgericht abgewiesen. Doch damit war es der Rechten nicht genug: Nur eine Woche später, am 13. Juli, wurde bekannt, dass ein Strafgericht auf Antrag von Rafael Curruchiche, Sonderstaatsanwalt für Korruptionsbekämpfung, die Auflösung des Rechtsstatus der Partei Semilla angeordnet hatte. Angeblich habe es während der Gründungsphase der Partei Unregelmäßigkeiten gegeben, so die fadenscheinige Begründung. Die Generalstaatsanwaltschaft ließ außerdem das Parteienregister des TSE durchsuchen. Curruchiches eigene Reputation in dem Fall ist zweifelhaft: Seit 2022 führt ihn beispielsweise die US-Regierung auf einer offiziellen Liste korrupter zentralamerikanischer Funktionär*innen.

Semilla ging gegen das Verbot der eigenen Partei postwendend vor dem Obersten Wahlgericht in Berufung. Dieses kassierte die vorherige Entscheidung am 14. Juli dann auch in letzter Instanz und legte fest, dass Semilla für die Präsidentschaftswahlen weiterhin zugelassen bleibt. Eine mehr als folgerichtige Entscheidung, denn zwischen zwei Wahlrunden erlaubt das guatemaltekische Wahlrecht Parteienverbote generell nicht. Die juristischen Angriffe auf Semilla zeigen jedoch, mit welchen Mitteln diejenigen, die aktuell an der Macht sind, versuchen, diese auch zu erhalten. Die Stichwahl um die Präsidentschaft ist für den 20. August angesetzt. Es bleibt zu hoffen, dass diese auch tatsächlich wie geplant stattfinden kann und es dem „Pakt der Korrupten“ nicht gelingt, den demokratischen Prozess weiter zu sabotieren und die öffentliche Meinung für seine Zwecke zu instrumentalisieren. Um Letzterem etwas entgegenzuhalten, formierten sich in mehreren guatemaltekischen Städten auch nach Bekanntgabe des offiziellen Wahlergebnisses unter dem Motto „Gerechtigkeit jetzt!“ Straßenproteste.

Diese Antwort der Bevölkerung kam vor allem von jungen Menschen: Sie machen auf der Straße und in den sozialen Netzwerken auf die juristischen Angriffe auf die Wahlergebnisse aufmerksam und verschaffen der Bewegung Semilla damit weitere Unterstützung. 26 Jahre nachdem der Bürgerkrieg in Guatemala mit einem Friedensabkommen beendet wurde, lautet ihre Kernforderung: Die Wahlen sollen „an der Wahlurne und nicht vor Gericht“ abgehalten werden. Auch indigene Bewegungen schlossen sich dieser Forderung an. In einer Pressekonferenz erklärten sie, damit nicht für eine bestimmte Partei kämpfen zu wollen, sondern für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie.

Giammatteis Vermächtnis

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Protest in Berlin Demo zum Amtsantritt der Regierung Giammattei im Jahr 2020 (Foto: Marcus Tragesser)

Im März hat das oberste Verfassungsgericht Guatemalas die Präsidentschaftskandidatur von Thelma Cabrera, der indigenen Anführerin der Volksbefreiungsbewegung (Movimiento para la liberación de los pueblos), und ihres Genossen Jordán Rodas, dem ehemaligen Staatsanwalt fur Menschenrechtsverteidigung, definitiv abgelehnt. Mit diesem Ereignis geht die Ära einer Regierung zu Ende, deren Politik eine Zunahme von staatlicher Gewalt, Extraktivismus sowie Korruption und Straflosigkeit bewirkt hat. Dies hat ständige Angriffe auf das demokratische System bedeutet. Die Wahlbehinderung zeigt sich dabei als letzte Phase der Entleerung der Garantiefunktion der demokratischen Institutionen.

Im Zuge der Gesundheitskrise zeigten die Unregelmäßigkeiten bei der Vergabe von Führungspositionen im Justizapparat deutlich die Unterordnung der Justiz unter die politische Macht der Regierung.
Angesichts der zahlreichen Mobilisierungen im ganzen Land ist die Wiederwahl von Dina Josefina Ocha und des Rechtsanwalts Luis Rosales Marroquín in das Verfassungsgericht im März 2021 ein Hinweis auf die Weigerung der Regierung, sich gegen Korruption und Straflosigkeit zu engagieren. Während Ocha beschuldigt wurde, mehrere Korruptionsfälle zu decken und die Beendigung der Mission der Internationalen Kommission gegen die Straffreiheit in Guatemala (CICIG) voranzutreiben, war Marroquín jahrelang der Verteidiger des ehemaligen Diktators Efraín Rios Montt. Wegen des Genozides gegen das Maya-Volk der Ixil in der Region Quiché wurde Ríos Montt verurteilt, dann aber in letzter Instanz für unschuldig erklärt.

Die Bestätigung von Consuelo Porras als Leiterin der Generalstaatsanwaltschaft im Mai 2022 spiegelt angesichts ihres Engagements gegen bestimmte Jurist*innen, die sich im Kampf gegen die Mafia engagiert haben, die Verbreitung von Korruption und Straflosigkeit wider. Andere Missstände zeigten sich bei der Wahl der Richter*innen des Obersten Gerichtshofs, beispielsweise bei der Kandidatur von Blanca Aída Stalling Dávila. Sie kam dem Gesetz nach nicht für eine zweite Amtszeit in Frage, zudem ermittelte die CICIG gegen sie wegen der Ausübung von Drucks auf die Justiz, um den Freispruch ihres Sohnes zu erreichen, gegen den wegen Bereicherung bei der Sozialversicherungsbehörde ermittelt wurde. Die Kooptierung der Justizorgane sowie der Wahlbehörde hat die aktuelle politische Konstellation begünstigt. In ihr spielen mehrere bekannte Persönlichkeiten eine Rolle, die beispielhaft für die Straflosigkeit stehen, die die guatemaltekische Politik in der Vergangenheit gekennzeichnet hat.

Die drei wichtigsten Präsidentschaftskandidat*innen – Zury Ríos für die Partei VIVA, Tochter des ehemaligen Diktators Ríos Montt, Sandra Torres für die Partei UNE, Exehefrau von Präsident Alvaro Colom Caballeros und nicht zuletzt Edmondo Mulet für die Partei CABAL – wurden alle der Verbindungen zum organisierten Verbrechen beschuldigt. Unabhängig davon bilden die politischen Profile der drei Kandidat*innen ein breites Spektrum von rechtsextrem bis moderat ab.

Die Kooptierung von Justizorganen und Kontrollinstitutionen ist jedoch nur eine der vielen Hinterlassenschaften der Regierung Giammattei. Während seiner Amtszeit war das Land nicht nur von einer Reihe von Maßnahmen betroffen, die unter dem Deckmantel der pandemischen Krise unangemessene Härten und Ungleichheiten verschärft haben, wie etwa dem ständigen Ausnahmezustand. Es kam auch zu einer Gewaltspirale, die unter dem Vorwand des Wirtschaftswachstums und der industriellen Entwicklung zum Verschwinden vieler indigener Gemeinschaften geführt hat.

#Wo ist das Geld hin?

Die Handhabung der Gesundheitskrise war durch einen Mangel an Impfstoffen und die Notlage eines zusammengesparten, unzureichend ausgestatteten öffentlichen Apparates gekennzeichnet. Dies bildete den Hintergrund für die zahlreichen Proteste, die die zu Ende gehende Legislaturperiode prägten. Um die Pandemie in den Griff zu bekommen, suchte die Regierung ihr Heil in einer zunehmenden Verschuldung. Die Weltbank bewilligte für den Zeitraum 2020-2022 ein Darlehen in Höhe von 750 Millionen US-Dollar, um die Effekte der Krise auf die besonders bedürftige Bevölkerung abzumildern und das Wirtschaftswachstum zu fördern. Hinzu kamen noch Darlehen anderer Institutionen wie des Internationalen Währungsfonds. Nach Angaben des Finanzministeriums liegt die Staatsverschuldung nun bei 32 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Wenige Monate nach dem Beginn der Pandemie forderten Proteste einer Bewegung unter dem Motto #dondeestaeldinero („Wo ist das Geld hin?“) den Rücktritt der Regierung und Klarheit über die Verwendung der Darlehen zur Linderung der Gesundheitskrise.

Wahrend es keine Aufklärung über die Verwendung der Covid-Kredite gegeben hat, besteht Gewissheit über die Zunahme der Gewalt gegen indigene Gemeinschaften durch die extraktivistische Politik. Die Beobachtungsstelle für die Bergbauindustrie berichtet von einem enormen Wachstum der Bergbauaktivitäten: Im Vergleich zum Vorjahr wurden allein 2023 mehr als 40 Anträge und vier neue Konzessionen registriert. Parallel dazu wurden neue Behörden gegründet, deren Ziel es ist, Enteignungen zu ermöglichen und das Privateigentum zu stärken. Zu diesen Institutionen gehören die Vereinigung zur Verteidigung des Privateigentums (ACDEPRO) und die Staatsanwaltschaft für widerrechtliche Aneignungen. Angesichts der derzeitigen Lage kann man in Guatemala schwerlich von demokratischen Wahlen reden. Unregelmäßigkeiten bei der Zulassung der Präsidentschaftskandidat*innen sowie die offensichtliche und eklatante Ausschaltung der Opposition aus dem Wahlkampf sind Merkmale für Wahlbetrug. Durch die Kooptierung der Institutionen hat die Regierung Giammattei das perfekte Klima geschaffen, um unter dem Deckmantel der Straffreiheit und der Korruption zu regieren. Kann man in einem Land noch von Demokratie sprechen, wenn die demokratischen Institutionen ihrer primären Funktion, des Schutzes der Verfassung, beraubt worden sind? Die derzeitige politische Konstellation erinnert eher an die Durchsetzung einer Diktatur unter dem Deckmantel der Demokratie.

In diesem Rahmen zeigt sich die Zukunft voller Ungewissheit, was die Widerstandsfähigkeit der Demokratie im Lande betrifft. Angesichts dieses Panoramas ist die Wahl der Parlamentsabgeordneten wahrscheinlich die einzige Maßnahme, um damit beginnen zu können, diesen Prozess wieder umzudrehen. Die solidarische internationale Begleitung ist heute so wichtig wie nie zuvor.

HERBE SCHLAPPE FÜR PRÄSIDENT LASSO

„Die Kandidaten von Correa” Wahlplakat der Revolución Ciudadana (Foto: Eva Gertz & Teresa Ellinger)

Im Mai nehmen sie ihre Arbeit auf: Die Präfekt*innen der 24 Provinzen, Bürgermeister*innen der 221 Kantone und 1527 Stadträt*innen, die in Ecuador am 5. Februar gewählt wurden. Die Funktionsträger*innen bilden die neuen, dezentralen autonomen Regierungen auf Provinz- und Lokalebene. Das politische System Ecuadors sieht neben der üblichen Gewaltenteilung von Judikative, Legislative und Exekutive noch zwei weitere Instanzen vor; den Bürger*innen-beteiligungsrat, für den sieben neue Mitglieder gewählt wurden und die nationale Wahlbehörde, die die Wahl organisiert.

In den Tagen vor der Wahl dominierte der Wahlkampf das öffentliche Leben in Ecuador. Werbeveranstaltungen, Informationsstände und kleine Demonstrationen der Parteien stauten den Verkehr, Plakate und Fahnen schmückten Hauswände und Landstraßen. Hausbesuche der Kandidat*innen in den jeweiligen Landkreisen, Sachspenden und finanzielle Angebote waren weitere Strategien im Werben um Wähler*innen. Auch aus entlegenen Ortschaften reisten die Menschen in die zuständigen Wahlzentren, denn es gibt eine Wahlpflicht für 18 bis 64-jährige Bürger*innen.

In Ecuador ist die Parteienlandschaft fragmentiert. Für Wahlen finden sich verschiedene Parteien zu Listen und Bündnissen zusammen, die oft nur temporär Bestand haben. Auch ist es üblich, dass einzelne Politiker*innen die Partei wechseln, sich Parteien aufteilen oder neugründen. Der Wahlkampf konzentrierte sich auf einzelne Kandidat*innen und Wahlplakate enthalten kaum Informationen über deren inhaltliche Ausrichtungen.

Für Lassos Partei CREO brachten die Wahlen erhebliche Verluste. CREO verlor auch die letzte Provinz, in der sie noch vertreten war, und erhielt keine einzige Präfektur. Zusätzlich scheiterte das zeitgleiche Referendum des Präsidenten in allen Punkten. Dagegen konnte die Partei Revolución Ciudadana (RC), die dem früheren Präsidenten Rafael Correa nahesteht, gleich neun Provinzen für sich gewinnen und stellt ab Mai die Bürgermeister der beiden größten Städte. Guayaquil, eine wichtige Hafenstadt in der Küstenregion Ecuadors, war bisher fest in den Händen des Partido Social Cristiano (PSC), der im Vergleich zu den vergangenen Lokalwahlen 2019 sechs Provinzen verlor. Mit Aquiles Álvarez tritt nach 30 Jahren das erste Mal ein Vertreter der RC das Bürgermeisterinnenamt an. Mit 25 Prozent der Stimmen wurde Pabel Muñoz von der RC zum neuen Bürgermeister von Quito gewählt. Er hatte sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit dem 2021 gerichtlich aus dem Amt enthobenen Jorge Yunda (Pachakutik) geliefert. Die Partei der Indigenen Organisationen, Pachakutik, gewann eine Provinz dazu und ging mit sechs Provinzen als zweitstärkste Kraft aus den Wahlen hervor.

Massiver Vertrauensverlust in Lassos Politik

„Gründe für das schlechte Ergebnis der amtierenden Regierung und den massiven Vertrauensverlust in die Politik sind die gesellschaftliche Situation der vergangenen Jahre sowie die Unfähigkeit der Regierung, die Forderungen aus der Bevölkerung zu beantworten“, sagte Politikwissenschaftlerin Maria Rosa Zury in einer Gesprächsrunde zu den Wahlergebnissen der Organisation La Raíz. Die Pandemie stürzte das Land in eine fatale Gesundheitskrise, in der der Zugang zu Medikamenten nicht gesichert werden konnte. Zudem gibt es eine massive Sicherheitskrise, die zu über 400 Toten in den Gefängnissen als Resultat von Zusammenstößen konkurrierender Drogenbanden geführt hat. Ein weiterer trauriger Indikator für die zunehmende Gewalt und Unsicherheit ist die Ermordung des Bürgermeisterkandidaten der RC, Omar Méndez, in Puerto López in der Küstenregion Manabí.

Referendum Wahlplakate in Ecuador (Foto: Eva Gertz & Teresa Ellinger)

Bereits vor der Pandemie hatten Korruptionsfälle, soziale Ungleichheit und Armut vor allem im ländlichen Raum zugenommen. Regierung und die politische Sphäre im Allgemeinen haben an Rückhalt und Glaubwürdigkeit verloren. Die Unfähigkeit, erfolgreiche Lösungen für die Krisen im Land zu präsentieren und umzusetzen, führte zu einem grundsätzlichen Misstrauen in die Regierung und dem Wunsch nach schnellen und sichtbaren Veränderungen. So wird nur das, was tatsächlich schnelle Verbesserung von Situationen herbeiführt, durch die Wählerschaft belohnt; es gebe keinen Vertrauensvorschuss auf langfristige Strategien und eine zukünftige Verbesserung der Situationen, so Zury. Das begünstigt kurzfristige Angebote und Entscheidungen und birgt die Gefahr, nachhaltige Strategien zu vernachlässigen.

Das starke Ergebnis der RC ist eine klare Positionierung der Bevölkerung gegen die aktuelle Regierung. So wird die RC, neben der indigenen Bewegung, im öffentlichen Diskurs als einzige Opposition zur neoliberalen Politik des aktuellen Präsidenten wahrgenommen. Der Zuspruch für den Correismus kann auch als nostalgische Haltung verstanden werden, so Historiker Fernando Muñoz-Miño in der Gesprächsrunde von La Raíz. So waren einige der Errungenschaften in Correas Amtszeit die Stabilisierung der politischen Institutionen und ein messbarer Rückgang der Armut. Trotz Kontroversen und Korruptionsvorwürfen gegen Rafael Correa scheint die RC der Bevölkerung aktuell mehr politische Perspektive zu bieten als die amtierende Regierung.

Präsident Lasso wollte seinen schwindenden Einfluss ebenfalls am 5. Februar durch ein Referendum stoppen. Dieses bestand aus acht Fragen zu vier Themenblöcken: Sicherheit, Nationalversammlung und politische Parteien, Staatsgefüge und Umwelt. Bei Zustimmung wären die jeweiligen verfassungsändernden Vorschläge bindend gewesen, auch bei Einwänden durch die Nationalversammlung.

Frage 1 schlug die Auslieferung von ecuadorianischen Staatsbürger*innen bei grenzüberschreitenden Straftaten vor. Aufgrund des anhaltenden Anstieges organisierter Gewalt wurde diese Frage im Vorfeld des Referendums besonders stark diskutiert. Durch eine Justizreform (Frage 2), die Verkleinerung der Nationalversammlung (Frage 3) und Mindestanforderungen in der Mitgliederzahl von Parteien (Frage 4) sollten Transparenz und Effizienz in der Regierung gefördert, sowie Unterhaltskosten für Abgeordnete eingespart werden. Frage 5 und 6 sollten den Bürger*innenbeteiligungsrat schwächen und wichtige Kontrollfunktionen an die Nationalversammlung abgegeben. Konkret ging es hierbei um die Kontrolle über öffentliche Finanzen, die Wahl von Richter*innen und die Durchführung von Referenden. In Frage 7 und 8 wurde die Sicherstellung von Entschädigung für Umweltschäden und die Einführung einer nationalen Wasserschutzbehörde vorgeschlagen, die dem Staat mehr Befugnisse und Verantwortung zuschreibt.

Der Correísmo meldet sich zurück

Vor der Abstimmung dominierte die Kampagne für das „Ja“ den öffentlichen Diskurs der traditionellen Medien. In populistischer Manier deklarierte Lasso die Ablehnung der Fragen als antipatriotisch und diffamierte so den politischen Diskurs. Erst ein wenig später tauchten Kampagnen für das „Nein“ auf, zuerst an Häuserwänden, dann zunehmend auch auf Social Media. Die Gegenkampagne wurden maßgeblich von Anhänger*innen des Correísmo, der politischen Strömung, die durch den ehemaligen Präsidenten Rafael Correas geprägt wurde, organisiert. Auch der indigene Dachverband CONAIE gehört zu den wenigen politischen Akteur*innen, die sich klar gegen die acht Punkte des Referendums positionierten. In Anbetracht der Dominanz der medialen Öffentlichkeit ist die eindeutige Ablehnung überraschend. In jeder einzelnen der acht Fragen gewann das „Nein“.

Das Ergebnis des Referendums ist zum einen Ausdruck des Unmuts über die Politik Lassos. Leonidas Isa Salazar, Präsident der CONAIE, sagte in einer Pressekonferenz nach den Wahlen, dass er das „Nein“ als Antwort derer verstehe, die unter der neoliberalen Politik der Regierung leiden. Als weiterer Grund für die Ablehnung zählt die schwer verständliche Formulierung und Komplexität der Fragen, die einem geringen Informationsangebot gegenüberstanden. Außerdem spielte die inhaltliche Ablehnung der Vorschläge, sowie eine grundsätzliche Skepsis, ob diese positive Veränderungen bewirken könnten, eine große Rolle.
Die politische Krise in Ecuador hält an. Präsident Lasso hat endgültig den Rückhalt der Bevölkerung verloren. Die miserablen Wahlergebnisse seiner Partei CREO sowie die fehlende Mehrheit im Parlament werden Lassos politische Handlungsfähigkeit erheblich einschränken. Ob er auf dieser Grundlage sein Amt bis zu den nächsten Präsidentschaftswahlen 2025 behalten kann, ist ungewiss. Eine wichtige Rolle werden seine Beziehungen zu Polizei und Militär spielen, die eine wichtige Stütze in der Machtausübung Ecuadors sind. Die Ergebnisse der Lokalwahlen lassen die erstarkte politische Linke wieder als eine ernstzunehmende Konkurrenz erscheinen. Jedoch teilt sich die Linke in eine national populäre Strömung (RC) und eine plurinationale, ökologische Vertretung indigener Interessen (Pachakutik). Dies könnte Platz für neoliberale und konservative Kräfte machen, wie es in der Geschichte Ecuadors bereits geschah, erklärt Muñoz-Miño.

SCHLUCHZEN, BETEN, AUTOBAHN BLOCKIEREN

Bolsonarist*innen blockieren Autobahnen Sie fordern ein Eingreifen des Militärs (Foto: Agência Brasil)

Wie der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro auf einen Wahlsieg seines Kontrahenten Lula da Silva reagieren würde, war die bange Frage vieler Brasilianer*innen vor und nach der Präsidentschaftswahl am 30. Oktober. Nicht wenige erwarteten zumindest einen ähnlichen Putschversuch, wie ihn Bolsonaros Vorbild Donald Trump am 6. Januar 2021 mit dem Marsch auf das Kapitol in Washington initiiert hatte. Doch nach dem Sieg von Lula passierte erst einmal: nichts. Keine Gratulation an den politischen Gegner, keine Stellungnahme des amtierenden Präsidenten am Wahlabend, nicht einmal Vorwürfe des Wahlbetrugs. Stattdessen meldete Bolsonaros Sprecher, lange nach Lulas Siegesrede, der Präsident sei nach der amtlichen Bekanntgabe der Ergebnisse „zu Bett gegangen”.

Danach: wieder nichts. Zwei lange Tage und Nächte wartete das Land, bis der Präsident sich erklärte. Seine Stellungnahme dauerte dann insgesamt unter zwei Minuten. In wenigen dürren Worten dankte er seinen 58 Millionen Wählern und erklärte, immer innerhalb der Verfassung gehandelt zu haben. Die „aktuellen Proteste einer sozialen Bewegung“ seien Ausdruck der Empörung darüber, wie der Wahlprozess verlaufen sei. Friedliche Proteste seien immer willkommen. Es sei jedoch wichtig, sich nicht „wie die Linke“ zu verhalten, die Eigentum zerstöre und das Recht einschränke, sich frei zu bewegen.

Von der offiziellen Anerkennung seiner Wahlniederlage kein Wort. Die Zusicherung der Machtübergabe überließ er seinem Kanzleramtsminister Ciro Nogueira, der noch weniger sagte. Voraussichtlich wird Bolsonaro im Januar nicht an der offiziellen Amtseinführung von Lula teilnehmen und auch darauf verzichten, ihm die Präsidentenschärpe umzulegen: ein symbolischer Akt des friedlichen Machttransfers. Auch Vizepräsident Hamilton Mourão, ein ehemaliger General, wird für die Zeremonie vermutlich nicht zur Verfügung stehen. Die Rechte verlegt sich auf Symbolpolitik.

Seit dem 1. November hat Bolsonaro nicht ein einziges Mal öffentlich gesprochen und nur sehr wenige offizielle Termine wahrgenommen. So wird seine Teilnahme an einer Zeremonie für Militärs am 5. Dezember selbst bei CNN Brasil zur Nachricht: „Bolsonaro hat geweint!“ In den sozialen Medien zirkuliert ein Video von einer öffentlichen Veranstaltung, bei der Hamilton Mourão ihn auffordert: „Sprich zu deinen Leuten!“ und Bolsonaro nur den Kopf schüttelt.

Vom „Mythos“ allein gelassen

Den ohnehin reichlich kursierenden Verschwörungstheorien gibt dieses Verhalten täglich neuen Stoff für Spekulationen. Eine der häufigeren: Der echte Präsident sei ersetzt worden durch einen Klon / einen Doppelgänger / einen Außerirdischen. Dass Bolsonaro praktisch von der Bildfläche verschwunden ist, seine Anhänger*innen weder in seinem eigenen Videokanal noch öffentlich anstachelt, tröstet, ermutigt oder zum Putsch aufruft, ist für sie Beweis genug für diese Theorie. Könnte ihr „Mythos“ sie so alleinlassen?

Bereits am Wahlabend wurden Szenen der abgrundtiefen Verzweiflung von Bolsonaros Anhängerschaft überall geteilt. Gruppen in gelben Trikots beteten schluchzend und auf Knien: „Herr erlöse dieses Land, hilf uns!“ Später teilten Einzelpersonen unter Tränen ihre Enttäuschung, oft religiös verbrämt, oft absurd. Wie im vielfach geteilten Video einer Frau, die zunächst den – auch zu dieser Jahreszeit nicht unüblichen – Regen filmte und dann erklärte, dass Gott über das Wahlergebnis weine. Lulas Aufrufen zur nationalen Versöhnung zum Trotz wurden die Verzweiflungsakte von PT-Anhänger*innen und auf Youtube voller Freude hämisch und erleichtert kommentiert.

Bolsonarist*innen blockieren Autobahnen Sie fordern ein Eingreifen des Militärs (Foto: Agência Brasil)

Weniger harmlos als die Betenden in gelben Trikots waren die zeitweise mehr als 190 Straßenblockaden durch Lkws, die in fast allen Bundesstaaten von Bolsonarist*innen nach der Wahl auf den Bundesstraßen errichtet wurden. Die Blockaden wurden von der Autobahnpolizei (PRF) zunächst geduldet, obwohl sie als Protest gegen eine legitime Wahl illegal waren und dort auch offen zum Putsch des Militärs aufgerufen oder der Hitlergruß gezeigt wurde. Die PRF hatte bereits am Wahltag versucht, tausende von Wähler*innen im Nordosten des Landes von den Wahlurnen fernzuhalten, indem sie stundenlang Kontrollen auf den Autobahnen durchführte. Erst eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofes (STF), der die PRF dazu verpflichtete, die Lkws innerhalb von 24 Stunden zu räumen, und den Leiter der PRF, Silvinei Vasques, persönlich mit einer Strafe von 100.000 Reais pro Stunde dafür haftbar machte, versetzte die Autobahnpolizei in Aktion.

Obwohl die Straßensperren langfristig Versorgungsengpässe hervorgerufen hätten, überwog in der Öffentlichkeit das Gespött. So lachte zumindest das halbe Land über den Bolsonaro-Fan im gelben T-Shirt, der sich an der Front eines Lkws festklammerte, während dieser mit erheblicher Geschwindigkeit aus einer Blockade herausfuhr. Das spektakuläre Handyvideo des Lkw-Fahrers ging bei Twitter viral und die Produktion zahlreicher Memes folgte sofort.

Aktuell hat sich der harte Kern der Bolsonarist*innen auf Mahnwachen vor Kasernen verlegt, bei denen – zeitweise von Tausenden, gerne auch auf Knien und begleitet von Vaterunser und Ave Maria – eine militärische Intervention gefordert wird. Dass das Militär sich bis heute „nicht loyal und patriotisch verhalte“, sondern die Legitimität der Wahl bestätigt hat, wird unter anderem damit erklärt, dass Saddam Hussein es gekauft habe. Auch um den ständigen Regen, der die Proteste unter Wasser setzt, ranken sich Verschwörungstheorien.

Letzter Ausweg: Lichtsignale ins All

Es trendet der Hashtag #BraszilWasStolen. Die ganz Verzweifelten versammelten sich am 20. November in Porto Alegre, um Lichtsignale ins All zu senden: Ein SOS mit Handytaschenlampen sollte die Hilfe von Außerirdischen mobilisieren.

// SIEG DER HOFFNUNG

So knapp der Sieg von Lula war, seine Bedeutung ist groß. Kaum auszumalen, was vier weitere Jahre Bolsonaro für Brasilien bedeutet hätten. Vier Jahre mehr Rassismus, Sexismus, Diskriminierung von Minderheiten, Vergiftung des öffentlichen Diskurses, Umweltzerstörung, kultureller Kahlschlag und desaströse Bildungs- und Gesundheitspolitik (die Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit). Bereits nach vier Jahren Regierungszeit des unfähigsten Präsidenten der jüngeren brasilianischen Geschichte hat das Land eine schwere Bürde zu tragen: Es ist tief gespalten.

Auch wenn Bolsonaro bisher seine Niederlage noch nicht öffentlich eingeräumt hat, hat er doch wenigstens seinen Kabinettschef Otro Nogueira – nach dessen Angaben – ermächtigt, die Regierungsübergabe einzuleiten. Doch wenn Bolsonaro im Januar das Feld räumt, ist das noch lange kein Grund zum Durchatmen. Die Saat des Bolsonarismus trägt mittlerweile im ganzen Land üble Früchte. Die extreme Rechte war mit ihrem Umbau der brasilianischen Gesellschaft teils erschreckend erfolgreich.

Das wichtigste Amt im Staat mag Lulas Arbeiterpartei PT zwar zurückerobert haben. Aber 13 von 27 brasilianischen Bundesstaaten werden bald von Bolsonaro nahestehenden Gouverneuren – alles Männer – regiert. Und im Kongress werden seine Verbündeten voraussichtlich über satte Mehrheiten verfügen. Bis zu 380 von 513 Vertreter*innen im Abgeordnetenhaus und 58 von 81 Senator*innen könnten bald die Linie des Rechtsradikalen unterstützen. Viele von ihnen haben ihre Mandate bei den gerade abgehaltenen Wahlen neu gewonnen. Lula wird zunächst alle Hände voll zu tun haben, den Trümmerhaufen abzutragen, den ihm sein Vorgänger hinterlassen hat. Der nach rechts gerückte Kongress wird ihm dabei erhebliche Zugeständnisse abverlangen, wenn er Gesetzesvorhaben durchsetzen will.

Außerhalb des Parlaments kommt erschwerend hinzu, dass das Vertrauen in die PT seit den Verstrickungen in die Korruptionsskandale Mensalão und Lava Jato bei vielen Brasilianer*innen nachhaltig gestört ist. Die Fundamentalopposition der fanatisierten Bolsonaristas wird innerhalb und außerhalb des Parlaments alles daransetzen, ihm und der von ihnen verteufelten PT mit Blockadepolitik, Fake News und schmierigen Tricks das Leben zur Hölle zu machen.

Lula weiß, dass er schnell liefern muss. Dass er aktuell rhetorisch als Versöhner auftritt, könnte deshalb auch politisch motiviert sein: Einerseits, um sich für Bündnisse mit Mitte-rechts-Parteien in Stellung zu bringen. Andererseits um die Parteibasis schon jetzt darauf vorzubereiten, dass es einige bittere Pillen zu schlucken geben wird.

Die PT sollte aus den vergangenen Legislaturperioden an der Macht von 2003 bis 2016 und den sechs Jahren danach unter den ultrarechten Präsidenten Temer und Bolsonaro Lehren ziehen: Den eigenen Kern darf die Partei nicht verleugnen. Und das spannungsreiche Zusammenspiel mit den regierungskritischen (linken) sozialen Bewegungen muss gesucht werden. Deren Potenzial ist nach wie vor groß, wurde aber viel zu wenig ausgeschöpft. Auch deshalb konnte sich die Rechte soziale Proteste zu eigen machen, das gesellschaftliche Klima vergiften und die PT-Präsidentin Dilma Rousseff 2016 trickreich zu Fall bringen. Was nach einer Quadratur des Kreises klingt, könnte letztlich Lulas einzige Hoffnung sein: Um das Land zu vereinen, muss die PT zunächst das brüchige Vertrauen ihrer eigenen Basis zurückgewinnen. Nur geschlossen kann es gelingen, die Bevölkerung wieder von einem nachhaltigen linken Projekt zu überzeugen.

„UM GANHO PARA ALÉM DO BRASIL“

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No Brasil, mulheres negras são, com 28 % da população, o maior grupo demográfico do país. Porém, depois da última eleição de 2018, elas ocupavam menos de 2% de cadeiras no congresso nacional. A questão da representatividade melhorou depois dessa eleição?
Não tivemos grandes mudanças. Passamos de 2,3% para 2,5%. Então ainda estamos no mesmo patamar. Nessas eleições, apesar de muitas mulheres negras terem sido eleitas, não são todas comprometidas com a agenda anti racista. Muitas vezes são asociadas com partidos de direita, são Bolsonaristas. Isso pode ser explicado com o fato que houve uma mudança na legislação eleitoral para impulsionar essas candidaturas de pessoas negras, os partidos se aproveitarem dessas regras e assim conseguirem mais recursos para o financiamento de campanhas.

Nessa eleição, o Mulheres Negras Decidem apoiou 27 mulheres negras com uma agenda políticaprogressista nas suas candidaturas, uma em cada estado brasileiro e também no Distrito Federal. Essas mulheres conseguiram se eleger?
Tivemos bons resultados, muitas delas receberam muitos votos. Mas das 27, infelizmente só duas foram eleitas, a Laura Sito do PT e a Camila Valadão do PSOL. Como mulher jovem negra, a Laura por exemplo conseguiu mais de 30.000 votos na eleição para a Assembleia Estadual no Rio Grande do Sul, um estado que historicamente tem muitas questões com racismo.

Vocês estão satisfeitas com esse resultado?
Em termos de quantidade de candidatas que foram eleitas é bem abaixo do que era esperado, considerando toda mobilização de centenas de grupos que apoiaram candidaturas negras. Mas as candidatas apoiadas pelos movimentos que se elegerem são pessoas que chegarão na próxima legislatura muito fortalecidas e com um apoio da sociedade civil. Elas vão precisar reverter alguns dos atrasos que foram aprovados em termos de legislação no governo Bolsonaro. Elas chegam muito fortes nesse sentido mesmo se não são tantas como nós queríamos. Nunca existiu uma mobilização tão forte quanto nessas eleições.

Como você se explica que a mobilização foi maior esse ano?
A sociedade brasileira se deu conta de que transformações sociais profundas só são possíveis fazendo política. O jeito com que Bolsonaro lidou com a pandemia mostrou a desigualdade no acesso de direitos que existe no Brasil. Isso mostrou a urgência de ter representantes com um perfil mais popular para atender as demandas da maioria da população.

Porque é necessário apoiar candidaturas de mulheres negras? 
São mulheres que têm perfis políticos muito fora do comum, de movimentos sociais de base, de religiões de matriz africana, mulheres quilombolas. Para essas mulheres não é fácil participar de uma disputa, primeiro dentro dos partidos e depois na campanha política em si. Porque os projetos políticos delas se preocupam com o aprofundamento da democracia e questionam o poder como ele está estabelecido. Então elas são muito atacadas. Ao mesmo tempo, votar nelas é uma coisa boa para todo mundo porque uma vez eleitas, elas produzem políticas públicas que são do interesse de todos.

Você pode dar um exemplo?
Um exemplo seria a recém eleita Deputada Estadual Laura Sito que defende agendas consideradas prioritárias pelos eleitores no Brasil, como a educação. Mas a Laura fala de uma educação inclusiva, anti racista e emancipadora. 

Como você está se sentindo depois do suspense que era o segundo turno da eleição?
Estou menos preocupada do que estava antes do segundo turno. As forças armadas não estão tão dispostas contra a democracia e a constituição como nós imaginávamos. As instituições reconheceram o resultado e os protestos golpistas têm sido condenados não só pelo TSE mas também pelo STF, pelo Congresso e também pelamídia. Vencemos a etapa institucional mas me preocupo com o reconhecimento pela população. Temos uma quantidade significativa de pessoas nas ruas defendendo atos golpistas e antidemocráticos. É uma disputa de mais longo prazo que depende das lideranças democráticas fortes nas assembléias regionais e no Congresso, de movimentos de base fortes para a politização das novas gerações e a recuperação do debate público das questões do dia a dia. 

Isso significa que o Bolsonarismo vai permanecer?
A extrema direita cresceu e se organizou durante o governo Bolsonaro. Mas ela vai bem além do Bolsonaro e da família dele, como também dos seus apoiadores políticos. Essas ideias autoritárias são uma questão global que encontrou um terreno muito fertil no Brasil.

Os governadores que foram eleitos em São Paulo, Minas Gerais e Rio de Janeiro estão bem próximos aBolsonaro. Isso dificulta o trabalho de movimentos e grupos sociais como o Mulheres Negras Decidem?
Nesses estados os movimentos já têm muita força, estrutura e recursos. O nosso desafio continua sendo principalmente em regiões nordestinas, norte e principalmente no Centro Oeste onde as estruturas são mais fragilizadas. 

Como os 51% dos brasileiros que foram votar e votaram no Lula deveriam lidar com os 49% das pessoas que votarem no Bolsonaro?
Isso será um grande desafio. O Presidente eleito Lula tem esse perfil de união e reconciliação, mas ele precisará muito da ajuda dos movimentos sociais para recuperar esse tecido social e promover unidade no Brasil. Quem apoia o Bolsonaro entende a importância da política também. Mas seus eleitores acreditam que existe uma luta do bem contra o mal. A questão agora é trabalhar para que essa compreensão seja desfeita. Trazer essas pessoas de volta para o debate sobre a realidade concreta que é uma dificuldade não só para os 49% mas para todo mundo. A realidade do brasileiro em média é de muita precariedade. Quanto mais cedo a gente conseguir voltar a discutir questões práticas do nosso dia a dia, para melhorar a situação de todo mundo, mais facilmente vamos conseguir lidar com essas diferenças.

O Presidente-eleito Lula precisará do apoio dos movimentos sociais. Vários grupos apoiaram a campanha dele, mas falam que vão virar oposição no momento em que ele tomará posse. Como seu governo poderia dar certo então?
No primeiro ano, os movimentos de base que apoiarem o Lula vão estar muito junto do governo. Vai ser um ano de reconhecimento do tamanho dos estragos que aconteceram e de planejar estratégias para reconstrução. Agora tudo vai depender muito de como vai ficar a configuração desse novo governo. Já saíram críticas sobre a configuração do grupo que está fazendo a transição do governo. Há poucas mulheres, não há pessoas negras. Ainda faltam alguns meses até o Lula anunciar os ministros. Será importante incluir mulheres, negros e indígenas. Isso aumentaria as possibilidades da cooperação entre governo e sociedade civil.

Quais são as suas expectativas para o novo governo Lula?
Essa questão da composição ministerial com muitas mulheres. Em cima disso, será importante, principalmente nos orgãos que cuidam da questão do enfrentamento do racismo, que ele coloque pessoas com perfil alinhado a agenda histórica dos movimentos negros. O Lula tem que escutar essas as sugestões que está recebendo para os cargos de confiança, como por exemplo, a Deputada Erica Malunguinho, uma mulher negra trans, para a Secretaria de Promoção da Igualdade Racial ou para a Fundação Palmares.

Qual foi o papel das mulheres nessas eleições?
Elas tinham um papel principalmente no trabalho de base. O número das abstenções diminui no segundo turno e as mulheres tiveram um papel muito importante nessa decisão de outras pessoas da família irem votar. Graças a elas o Lula também mudou o foco na campanha e falou mais sobre o futuro, oportunidades para os jovens. Esse grupo, entre 18 e 35 anos, estava muito em dúvida se era para votar no Lula ou Bolsonaro, mas votaram no Lula no segundo turno.

Também teve quase um quarto da população com direito a voto que não votou, votou nulo ou branco. Isso sinaliza que a democracia brasileira está em crise?
É um reflexo da crise de representatividade e de confiança nas instituições que está acontecendo pelo menos nos últimos dez anos. Uma parcela grande está desacreditada de qualquer possibilidade de mudança e uma outra é impossibilitada de participar do processo político porque está em situação de grande vulnerabilidade. 

Qual será o efeito dessa eleição no âmbito global?
Com a volta do governo Lula conseguimos recuperar questões que são de política global, especialmente em relação a região amazônica, mas também em saúde, direitos humanos e mediação de conflitos que são agendas que o Brasil liderava. Isso é um ganho para além do Brasil.

ANTIFEMINIST IM RATHAUS

Marcha Orgullo LGBT in Lima Queere Menschen fürchten einen Rollback in der Hauptstadt (Foto: Rasciel Naranjo via Wikimedia Commons , CC BY-SA 4.0)

Bürgermeisterkandidat Rafael López Aliaga versuchte bereits während seiner Präsidenschaftskandidatur 2021 Keiko Fujimori, Tochter des Exdiktators Alberto Fujimori, am rechten Rand zu überholen. Schon damals verglichen ihn viele mit dem Präsidenten Brasiliens, Jair Bolsonaro, aufgrund seines Hangs zu Verschwörungstheorien und seiner Wählerbasis aus neoliberalen Hardlinern und christlichen Fundamentalist*innen. Aliaga, Mitglied der erzkatholischen Gemeinschaft Opus Dei, sprach sich während des Wahlkampfs um das Präsidentenamt wiederholt gegen die gleichgeschlechtliche Ehe aus und kündigte an, minderjährigen Vergewaltigungsopfern die Abtreibung zu verweigern. Außerdem versprach er sexuelle Aufklärung in den Schulen abzuschaffen, ein Wahlversprechen mit dem er sich besonders die Anhängerschaft der Gruppe „Con mis hijos no te metas“ (Leg dich nicht mit meinen Kindern an) einheimste.

Als er 2021 mit 12 Prozent der gültigen Wahlstimmen nur knapp den Einzug in die zweite Runde verpasste, atmeten queer-feministische Gruppen vorerst auf. Diese Atempause könnte nun zu Ende sein, glaubt Jorge de La Cruz. Jorge, der sich zur LGBTQI-Bewegung der Hauptstadt zählt, sieht in der Wahl Aliagas auch eine Gegenbewegung zum Mobilisierungserfolg der LGBTQI-Bewegung der letzten Jahre. „Jedes Jahr sind wir sichtbarer geworden. Beim Pride-Marsch füllen wir mittlerweile einen der größten und wichtigsten öffentlichen Plätze Limas – den Campo de Marte. Ich glaube, dass das den Leuten zu denken gab. Schikanen waren zunehmend schlecht angesehen.“, so der 33-jährige Telefonservicearbeiter. „Doch nun ist ein Typ im Rathaus, der sagt wonach ihm der Sinn steht – ohne wirkliche Konsequenzen.“

Menschenrechtorganisationen zeigen sich darüber besorgt, dass unter Aliaga Errungenschaften in der Anerkennung sexueller Vielfalt torpediert werden könnten. Auch Jorge de la Cruz sieht besonders eine Gruppe in Gefahr: „Die, die am meisten unter Aliagas Regierung leiden werden, sind trans Frauen, die in der Sexarbeit arbeiten,“ ist er sicher. „Sie stehen nun unter der Administration eines Mannes, dem alle Mittel der Repression zur Verfügung stehen.“

López verfolgt Putschrhetorik gegen Castillo

Aliagas Partei gewann in 12 von 43 Limenser Distrikten und das Bürgermeisteramt – letzteres mit einem historisch niedrigen Wahlergebnis. Besonders wohlhabende Schichten der Stadt scheinen durch die Fortschrittsrhetorik Aliagas angesprochen worden zu sein. Aliaga begann während des Privatisierungsprozesses unter dem Diktator Alberto Fujimoris (1990 – 2000) ein Eisenbahnimperium in Cusco aufzubauen. Nun versprach er die Hauptstadt in eine „weltweite Potenz“ zu transformieren, umfassende Infrastrukturprojekte anzustoßen, darunter den Bau einer Seilbahn sowie den Ausbau von comedores populares (Volksküchen) mit ganzen 10% des Haushalts. Neben der Wählerschaft seiner ehemaligen Gegenkandidatin Keiko Fujimori unterstützten Aliaga in dieser Wahl auch Wähler*innen aus den ärmsten Sektoren der Stadt. Dies führt Jorge auf den Schulterschluss von Evangelikalen, die in den ärmeren Vierteln verankert sind, und Erzkatholiken in seiner Partei zurück. „Die Ober- und Mittelklasse hat sich von Aliagas Putsch-Diskurs mitreißen lassen.“, so Jorge. „Diese Sektoren müssten eigentlich wissen, dass er zwar eine Opposition bilden kann, aber er muss mit der Regierung zusammenarbeiten, um seine Projekte umzusetzen.“ Aliaga gilt als erklärter Gegner des derzeitigen Präsidenten, in dessen internen Kreisen er als „Putschisten-Schwein“ bezeichnet wird, in Anspielung auf seinen weitverbreiteten Spitznamen „Porky“. In einer seiner ersten Ansprachen nach der Bürgermeisterwahl wiederholte Aliaga seine Forderung, Castillo solle zurücktreten. Er erklärte außerdem, er wolle den Haushalt der Hauptstadt direkt mit dem Kongress koordinieren.

Exekutive und Legislative befinden sich seit mehreren Monaten in einer politischen Pattsituation (siehe LN Nr. 580/81 Dossier 20). Der rechtsdominierte Kongress versucht seit Langem, Castillo des Amtes zu entheben. Die neueste Entwicklung ist eine Verfassungsbeschwerde wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, die die Generalstaatsanwältin des Landes, Patricia Benavides, am 12. Oktober gegen Castillo eingereicht hat. Ein Unterausschuss für verfassungsrechtliche Anklagen des Parlaments prüft momentan den Bestand der Beschwerde. Auch konservative Rechtsexperten haben verlauten lassen, dass die Verfassungsklage auf Grundlage des Paragrafen 117 keinen Bestand haben wird. Der Paragraf schließt die Anklage während der Präsidentschaft aus – mit Ausnahme von vier Gründen, die in diesem Fall nicht zutreffen. Damit stellt die Anklage ein weiteres politisierbares, aber politisch folgenloses Manöver des Kongresses dar.

Wie Aliaga seinen Traum der Megabauprojekte ohne Kooperation mit der Exekutive umsetzen will, ist in der Tat fraglich. Von seinem Erfolg könnte abhängen, ob das Bürgermeisteramt erneut zum Sprungbrett für das Präsidentenamt wird. So versuchte der dreimalige Bürgermeister Limas aus der politischen Vorgängerpartei von Renovación Popular, Luis Castañeda (Solidaridad Nacional), zweimal den Sprung zur Präsidentschaft und blieb weit hinter anderen Kandidat*innen zurück. Ebenso wie ihre Vor­­gänger­partei ist Renovación Popular ein Haupt­stadt­phänomen, das auch bei diesen Wahlen kaum Stimmen außerhalb der Metropole für sich gewinnen konnte.

Außerhalb Limas triumphierten bei den Regional- und Kommunalwahlen am 2. Oktober erneut regionale Bewegungen über nationale Parteien. Die Bewegungen, die der Politologe Mauricio Zavaleta als „Koalitionen der Unabhängigen” bezeichnet, haben programmatisch oftmals wenig gemeinsam. Sie schließen sich kurzzeitig zur Aufstellung politisch unverbrämter Kandidat*innen zusammen. Damit stellen regionale Bewegungen nun knapp 60% der Bürgermeisterämter des Landes, wobei fast ausschließlich alle an Männer gingen.

Die Proteste gegen die OAS kommen zu einer politisch heiklen Zeit

Die Regional- und Kommunalwahlen bestätigen aufs Neue das konservative und wirtschaftsliberale Wahlverhalten der Hauptstädter*innen. Im Süden und Hochland haben unabhängige und linke Kandidat*innen bessere Chancen. Dieser Umstand hat in den vergangenen Jahren wiederholt die Wahl der Diktatorentochter Keiko Fujimori ins Präsidentenamt verhindert. Kandi­dat*innen ihrer Partei Fuerza Popular flogen aus sämtlichen Regionalregierungen, ebenso die Partei des derzeitigen Präsidenten Pedro Castillo. Falls sich das Votum der Regionen in der kommenden Präsidentschaftswahl ebenso fragmentiert, wie es bei den Gegenkandidat*innen Aliagas geschehen ist, und die Zahl der Nicht-Wähler*innen noch weiter ansteigt, ist nicht auszuschließen, dass es eine Metropolenkandidat*in ins Präsidentschaftsamt schafft.

Bis dahin steht Lima eine konservative Welle bevor. Diese wurde bereits wenige Tage nach der Wahl durch die Demonstration mehrerer Tausend Menschen gegen die Generalversammlung der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) eingeläutet. Die Versammlung, die in Lima unter dem Motto „Gemeinsam gegen Ungleichheit und Diskriminierung“ abgehalten wurde, zog den Protest verschiedener ultrakonservativer Evangelikaler und christlicher Gruppen auf sich, die Plakate wie „OAS, hört auf zu intervenieren“, „Peru widersetzt sich der Gender-Ideologie”, „Ja zum Leben, nein zur Abtreibung“ hochhielten.

Die Proteste gegen das interamerikanische Gremium kommen zu einer politisch heiklen Zeit. Mitte Oktober bat Präsident Castillo die OAS um Hilfe im Umgang mit der gegen ihn eingereichten Verfassungsbeschwerde. In seinem Schreiben bat der Präsident die Interamerikanische Demokratische Charta zu aktivieren, um die demokratischen Institutionen des Landes zu schützen. Perus jüngere Geschichte ist gekennzeichnet von Amtsenthebungsverfahren, in denen strafrechtliche Er­mittlungen von der Opposition genutzt werden, um dem Präsidenten das Vertrauen zu entziehen. Mittlerweile wurde die Anfrage von der OAS angenommen und eine hochrangige Gruppe aus Vertreter*innen der Mitgliedsstaaten entsendet. Es wird sich zeigen, ob es Aliaga gelingt, das Anti-OAS-Sentiment seiner Anhänger*innenschaft zu instrumentalisieren, sobald die Ergebnisse der unabhängigen Kommission vorliegen.

DAS PHÄNOMEN LULA

Lula in Aktion Ob es der charismatische Politiker schafft, Bolsonaro aus dem Amt zu jagen? (Foto: Jeso Carneiro CC BY-NC 2.0)

Wer schon einmal Luiz Inácio Lula da Silva vor einer großen Menschenmenge hat sprechen hören, wird dies niemals wieder vergessen. Er verfügt über die Gabe, jede*m und jede*r Einzelnen in der Menge das Gefühl zu geben, sich mit ihm in einem kleinen, eher intimen Raum zu befinden – sagen wir in einer Gruppe von 20 Personen. Er liebt die persönliche Ansprache, selbst bei einer Menge von mehreren Zehntausend. Da bittet er die Gruppe mit den großen Transparenten, diese einzurollen, damit „die companheiros und companheiras, die hinter Euch stehen, auch etwas sehen und hören können.“ Nicht ohne zuerst zu sagen, dass die Transparente großartig aussehen und er hofft, dass sie gut erhalten zurückkommen und noch bei vielen Demonstrationen nützlich sein werden.

Überhaupt das Persönliche: Lula ist ein Erzähler. Einen Tag nach der Präsidentschaftswahl am 2. Oktober 2022 gibt er eine Pressekonferenz mit dem Vorsitzenden der sozialdemokratischen PDT, Carlos Lupi. Es geht um die Unterstützung der PDT für Lula bei der Stichwahl am 30. Oktober. Für die PDT ist diese Unterstützung ein bisschen heikel, sind doch Lula und der PDT- Präsidentschaftskandidat Ciro Gomes seit 2018 so zerstritten, dass selbst der alles umarmende ehemalige Präsident keine Versöhnung erreichte. Am Ende der Pressekonferenz erzählt Lula, wie er 1989 „im allerschwersten Moment meines Lebens” zum Gründer und damaligen Präsidentschaftskandidaten der PDT, Leonel Brizola, fuhr und diesen um Unterstützung im zweiten Wahlgang bat. Es ist eine richtige Geschichte, fast ein kleines Drama, mit Kampf des Helden, Höhepunkt und Happy End, die Lula mit viel Gefühl vorträgt. Am Ende erscheint so die aktuelle Entscheidung der PDT in einem ganz anderen (historischen) Licht.

Die „rosa Dekade“ der linken Regierungen in Lateinamerika ist auch eine Phase charismatischer Führungsfiguren. Lula kann unter seinen Anhänger*innen und insbesondere unter der Bevölkerung des armen brasilianischen Nordostens wahre Begeisterungsstürme entfachen – bis heute. Für sie ist er nicht nur ein Präsident zum Anfassen, sondern das fleischgewordene Versprechen einer besseren Welt. Seine Verehrung kommt der für den Ex-Präsidenten Hugo Chávez in Venezuela sicher sehr nahe.

Lula hatte einen langen Weg bis ins Präsidentenamt hinter sich. Die von ihm 1980 mitgegründete Arbeiterpartei PT ähnelte in den Anfangsjahren weniger einer der üblichen politischen Parteien, sondern mehr einer sozialen Bewegung, wie der Soziologe Emir Sader schon 1991 analysierte: Neben radikalen Gewerkschafter*innen sammelten sich darin auch Landlose, politisch Aktive aus den Favelas und viele Anhänger*innen der Befreiungstheologie. Die PT sah sich zwar ausdrücklich nicht in der Tradition der Linken des Landes, die von den kommunistischen Parteien geprägt war. Doch sie vertrat eine antikapitalistische Haltung und das Ziel, ein brasilianisches Modell des Sozialismus zu entwickeln. Das war für das von Militärdiktatur und Antikommunismus geprägte Brasilien zu radikal. Drei Mal kandidierte Lula als Vertreter der Arbeiter*innenbewegung für das Präsidentenamt, 1989, 1994 und 1998. Jedes Mal verlor er gegen einen bürgerlichen Gegenkandidaten, trotz seiner großen Popularität und seiner Fähigkeit, die Massen zu mobilisieren.

Im Wahlkampf von 2002 hatte Lula ein anderes Angebot an die Nation. Die bekannte Journalistin Eliane Brum, die unter anderem für El País aus Brasilien berichtet, analysierte seine Haltung 2002 so: „Lula machte immer klar, dass er nicht an einer Revolution interessiert war. Was er suchte, war Inklusion.“ In einem „Brief an das brasilianische Volk verpflichtete sich Lula – nicht gegenüber dem Volk, sondern gegenüber dem Markt – die grundlegenden Linien der liberalen ökonomischen Politik der Regierung Fernando Henrique Cardoso beizubehalten.“ Hohe Rohstoffpreise ermöglichten ihm tatsächlich eine Politik der „Inklusion“ der Armen Brasiliens: Es war genug für alle da. Soziale Programme konnten umgesetzt werden und der Mindestlohn stieg kontinuierlich, ohne dass auf der anderen Seite die Steuern der Reichen erhöht werden mussten.

Der Charismatiker Lula entfacht immer noch wahre Begeisterungsstürme

Lula schied 2010 mit einer Rekordzustimmungsrate von 87 Prozent aus dem Amt. Viele seiner Regierungsprogramme waren sehr erfolgreich, allen voran das Programm „Fome Zero“ (Null Hunger), das er vom ersten Tag seiner Regierung an verfolgte und das in eine Art Sozialhilfe („Bolsa Família“) und verschiedene andere Maßnahmen mündete. Zum Beispiel in die „Merenda Escolar“, die jedem Schulkind eine warme Mahlzeit am Tag garantierte und zusätzlich die lokale Landwirtschaft förderte. Wie wichtig diese Maßnahmen zur Beendigung der absoluten Armut waren, zeigen heute die Folgen von sechs Jahren neoliberaler Politik unter den Präsidenten Michel Temer und Jair Bolsonaro, die die erfolgreichen Programme der PT gezielt abschafften. Sie brachten Brasilien zurück auf die „Weltkarte des Hungers“, unter dem heute geschätzte 33 Millionen Brasilianer*innen leiden.

Viele Programme der PT-Regierungen fallen jedoch unter die Rubrik „Ja, aber“. Ja, die familiäre Landwirtschaft wurde in einem bisher nie dagewesenen Umfang gefördert – doch die reiche Agroindustrie erhielt deutlich mehr Subventionen. Ja, das Wohnungsbauprogramm „Minha Casa Minha Vida“ war erfolgreich und durch die veränderten Gesetze zu Konsumkrediten konnten viele Menschen erstmals einen großen Fernseher oder ein Auto erwerben. Doch gleichzeitig wurde viel zu wenig Geld in die notwendige Infrastruktur investiert, vor allem in die Abwasserentsorgung, aber auch in das Gesundheits- und das Bildungssystem. Das schürte die Unzufriedenheit. „Wir wollen ein Bildungssystem nach Fifa-Standard“, forderten die Studierenden 2014 vor der Austragung der WM in Brasilien, als Milliarden Reais in den Bau später nicht oder schlecht genutzter Stadien investiert wurden.

Besonders eklatant war die fehlende Bereitschaft zu echten strukturellen Veränderungen in den Bereichen der Agrarpolitik, der Medien und der juristischen Anerkennung indigener Gebiete. Das Versprechen einer echten Agrarreform war fester Bestandteil der politischen Forderungen der PT, in der von Beginn an viele Aktivist*innen der Landlosenbewegung engagiert waren. Gleichzeitig ist die Verteilung des Landbesitzes eine zentrale Machtfrage, die bis auf die Kolonialzeit zurückgeht. Die PT-Regierungen blieben hinter den eigenen Versprechungen weit zurück. Weitreichende Folgen hatte auch die Fortsetzung des Systems Rede Globo: Der größte private Medienkonzern kassierte weiterhin Millionen an Werbeeinnahmen für die Verbreitung staatlicher Informationen und Kampagnen, aber 2015 und 2016 trug Globo entscheidend zur Diskreditierung der PT und der Absetzung von Lulas Nachfolgerin Dilma Rousseff bei. Der Aufbau eines öffentlich-rechtlichen Mediensystems wurde verpasst und unter keinem anderen Präsidenten wurden so viele Basis- und Stadtteilradios geschlossen wie unter Lula.

„Korruption“ ist und bleibt die offene Flanke der PT


1988 war in Brasilien eine äußerst fortschrittliche Verfassung verabschiedet worden, an der Lula als Abgeordneter des Parlaments selbst mitgearbeitet hatte. Heute – 34 Jahre später – ist sie überall dort, wo sie entscheidende Machtfragen berührt, nicht oder nur wenig umgesetzt worden. Sie sieht unter anderem eine „Demarkation“, also die juristische Anerkennung der indigenen Gebiete, auf die die mehr als 200 indigenen Völker Brasiliens historisch begründet Anspruch erheben können, vor. Auch wenn es hier größere Fortschritte gab – vor allem die Anerkennung von Raposa do Sol mit 1,7 Millionen Hektar im Jahr 2005 – ist die Demarkation bis heute nicht abgeschlossen. Auch die Abholzung des tropischen Regenwalds wurde von 2004 bis 2014 zwar signifikant reduziert, doch die Megaprojekte des Wasserkraftwerks Belo Monte und der Umleitung des Rio São Francisco im Nordosten des Landes ließen, zusätzlich zum Extraktivismus als Wirtschaftsmotor, die ökologische Bilanz der PT-Regierungen verheerend aussehen. Sie trieben einen tiefen Keil zwischen die Partei und ökologisch orientierte Basisbewegungen und Persönlichkeiten. Viele Gründungsmitglieder und Unterstützer*innen der ersten Stunde kündigten ihre Gefolgschaft auf. Die politische und soziale Arbeit in den Stadtteilen und Gemeinden machten jetzt andere, vor allem die evangelikalen Kirchen und weitere Anhänger der Rechten. In der Linken und den sozialen Bewegungen Brasiliens wird der Verzicht auf die Basisarbeit, der mit einem ebenfalls kritisch betrachteten Wandel der PT zur Funktionär*innenpartei einherging, als entscheidender Faktor gesehen, warum der Bolsonarismus und die Ideologien, die ihn tragen, in Brasilien so stark werden konnten.

Um Lula und der PT gerecht zu werden, muss allerdings der politische Gesamtkontext betrachtet werden: Die PT hatte zu keinem Zeitpunkt eine Mehrheit im Parlament, sondern war für jedes einzelne Gesetzesvorhaben auf die Stimmen von Mitte-rechts-Parteien angewiesen. Lula hatte von Beginn an nicht auf den Druck von der Straße gesetzt, sondern die sozialen Bewegungen kooptiert und beschwichtigt: Sie bezeichnen 2003 noch heute als „Jahr der historischen Geduld“. Und er musste innerhalb des bestehenden politischen Systems weiterarbeiten, das den Stimmenkauf als Schmiermittel für Gesetzesvorhaben perfektioniert hatte. Damit war seine Regierung von Anfang an angreifbar. Bereits 2005 hatte die PT mit dem Mensalão ihren ersten Korruptionsskandal.

Korruptionsvorwürfe sind und bleiben die offene Flanke der PT und der diesjährigen Kandidatur Lulas für die Präsidentschaft. Das Gerichtsurteil, das ihn 2018 wegen angeblicher Bestechlichkeit ins Gefängnis und um die Präsidentschaftskandidatur brachte, ist inzwischen annulliert und die Befangenheit des ermittelnden Richters Sergio Moro von The Intercept Brasil hinlänglich belegt. Der Vorwurf der Korruption bleibt aber die Trumpfkarte, die die bürgerliche Rechte jederzeit ausspielen kann.

Dennoch verkörpert Lula heute für viele Brasilianer*innen – 48,43 Prozent derjenigen, die eine gültige Wähler*innenstimme im ersten Wahlgang abgegeben haben – ebenso eine bessere Vergangenheit wie eine bessere Zukunft. Mit einer radikalisierten, bolsonaristischen Rechten und eher mäßigen Rohstoffpreisen stehen die Chancen auf eine erfolgreiche Politik der Inklusion und Versöhnung allerdings sehr viel schlechter als 2003.

Das Dossier “Sein oder Schein? – Die neue progressive Welle in Lateinamerika” liegt der Oktober/November 2022-Ausgabe bei und kann hier kostenlos heruntergeladen werden.

ZWISCHEN FURCHT UND HOFFNUNG

Demokratie Ein zweite Regierung Bolsonaro hätte erheblich mehr Potential, ihre sinistre politische Agenda durchzusetzen (Foto: Annelize Tozetto, Mídia Ninja via Flickr, CC BY-NC 2.0)

Nach viel Regen und Kälte schien in São Paulo endlich mal wieder die Sonne. Die Stimmung am 2. Oktober war gut – insbesondere unter den Wähler*innen von Luiz Inácio Lula da Silva. Die letzten Umfragen vor der Wahl ließen einen Wahlsieg Lulas im ersten Wahlgang möglich erscheinen. Die Hoffnung wuchs, die Schreckensherrschaft von Jair Bolsonaro noch an diesem Tag beenden zu können. Leider kam es anders. Eine schlechte Nachricht nach der anderen verdarb die Stimmung. Die entscheidende: Bolsonaro schnitt erheblich besser ab als erwartet und zuvor durch die Umfragen suggeriert.

Nach der endgültigen Auszählung aller Stimmen des ersten Wahlgangs erhielt Bolsonaro 43,2 Prozent der Stimmen, Lula 48,4 Prozent. Immerhin ein Vorsprung des Kandidaten der Arbeiterpartei (PT) von fast fünf Millionen Stimmen. Nachdem der erste Schreck abgeschüttelt war, versuchten sowohl die PT-Führung als auch viele andere Linke in den sozialen Netzwerken wieder gute Stimmung und Optimismus zu verbreiten. Verständlich und notwendig, um die Mobilisierung für den zweiten Wahlgang am 30. Oktober zu stärken. Lula hat zwar den Sieg im ersten Durchgang verpasst, aber nur knapp. In den ersten Umfragen zum zweiten Wahlgang liegt er deutlich vor Bolsonaro. Eine am 10. Oktober veröffentlichte Umfrage von Ipec sieht Lula bei 51 Prozent und Bolsonaro bei 42 Prozent der gültigen Stimmen, in einer Umfrage von Datafolha am 14. Oktober beträgt der Vorsprung von Lula nur fünf Prozent. Doch die Umfragen sind tendenziell im zweiten Wahlgang genauer, weil das Szenario übersichtlicher ist. Dies beflügelt einen vorsichtigen Optimismus.

Lula hat also weiterhin gute Chancen, die Wahl zu gewinnen. Hinzu kommt, dass bei den letzten Präsidentschaftswahlen immer der Kandidat gewonnen hat, der im ersten Durchgang vorne lag. Positiv für Lula ist auch auch die Tatsache, dass die drittplatzierte Kandidatin bei den Wahlen (Simone Tebet von der Mitte-Rechts-Partei MDB mit 4,3 Prozent der Stimmen) nun mit klaren und deutlichen Worten ihre Unterstützung für Lula verkündet hat. Auch wenn ein Sieg Lulas im zweiten Wahlgang kein Selbstlauf ist, so bleibt er doch Favorit. Aber es gibt auch gute Gründe für Vorsicht und Pessimismus. Anders als bei früheren Wahlen liegt nun der amtierende Präsident zurück. Und der hat bereits eine Reihe von Maßnahmen angekündigt, die helfen könnten, das Blatt noch zu wenden. So werden die Transferleistungen für die ärmsten Teile der Bevölkerung (Auxílio Brasil) vorgezogen, um sie noch vor den Wahlen auszuzahlen. Preise für Gas und Benzin sollen weiter sinken. Und tatsächlich mehren sich die Zeichen für eine leichte wirtschaftliche Erholung nach einer langen Rezession. Für 2022 wird nun ein Wirtschaftswachstum von 2,7 Prozent vorausgesagt und die Inflationsrate sinkt auf 5,5 Prozent.

Die Opposition hält diese Entwicklung der jüngeren Zeit angesichts der katastrophalen Gesamtbilanz der Regierungszeit Bolsonaros für irrelevant. Auch die Anhebung des Auxílio Brasil bereits vor dem ersten Wahlgang schien bisher nicht die gewünschte Wirkung zu zeigen. Aber ein Indikator mahnt zur Vorsicht: Auch wenn Lula wieder im gesamten Nordosten Brasiliens deutlich gewonnen hat, so hat Bolsonaro doch besser abgeschnitten als vor vier Jahren. Seine Stimmengewinne in den ärmeren Teilen Brasiliens könnten darauf hindeuten, dass die Transfermaßnahmen als Wahlgeschenke doch teilweise wirken und somit durchaus Einfluss auf den zweiten Wahlgang haben könnten. Bedenklich ist auch, dass in den letzten Umfragen die Ablehnung Bolsonaros sinkt und die Zustimmung zu seiner Regierung leicht steigt.

Die große Differenz zwischen den Wahlumfragen und dem Ergebnis zeigt auch, dass die Resilienz und die Mobilisierungsbasis des Bolsonarismus offensichtlich unterschätzt wurde und sowohl von Meinungsforschungsinstituten wie von politischen Analysen nur unzureichend erfasst wird. Etwa 40 Prozent der brasilianischen Bevölkerung hat sich offensichtlich in eine riesige Blase oder Parallelwelt zurückgezogen, schaut kein Fernsehen mehr (außer den religiösen Sendern) und informiert sich nicht über Zeitungen. Gleichzeitig verbringen in fast keinem Land der Welt die Menschen so viel Zeit in sozialen Netzwerken wie in Brasilien und nutzen so häufig WhatsApp und Telegram.

Der 2. Oktober war auch Wahltag für Senat und Bundesparlament, sowie für Gouverneure und Landesparlamente. Hier steht ein Ergebnis bereits fest: Der Bolsonarismus und die extreme Rechte sind als klare Sieger hervorgegangen. Die Partei Bolsonaros, die sich liberal nennende PL, wird mit 99 Abgeordneten die stärkste Fraktion im Abgeordnetenhaus in Brasília stellen. Wichtige Minister*innen Bolsonaros wurde zu Senator*innen gewählt, darunter Damares Alves, die Vertreterin der Evangelikalen, als auch Tereza Cristina Corrêa da Costa Dias, die ehemalige Landwirtschaftsministerin und Vorsprecherin des Agrobusiness sowie der Vizepräsdent Bolsonaros, General Hamilton Mourão. Bei den Gouverneurswahlen von São Paulo lag der Kandidat der PT, Fernando Haddad, in allen Umfragen vorn, aber am Wahlabend führte der Kandidat und Ex-Minister Bolsonaros, Tarcísio Freitas. Als Minister für Infrastruktur gehörte Freitas zum sogenannten „technischen Flügel“ des Kabinetts von Bolsonaro und profilierte sich eher als Macher, der nicht durch demagogische Ausfälle auffiel. Ein bitteres Ergebnis war auch die Wahl des ehemaligen Bundesumweltministers und Zerstörers der Umweltpolitik Brasiliens, Ricardo Sales, zum Bundesabgeordneten. Zwei weitere Kandidaten, die Bolsonaro unterstützen, haben bereits den ersten Durchgang der Gouverneurswahlen in Minas Gerais und Rio de Janeiro gewonnen. Wird Tarcísio Freitas in São Paulo ebenfalls gewählt, dann würden die drei bevölkerungsreichsten Bundesstaaten Brasiliens von Anhängern Bolsonaros regiert. Freitas und der Gouverneur von Minas Gerais, Romeu Zema, wären auch starke Kandidaten, um eine „Neue Rechte“ ohne Bolsonaro anzuführen.

Insgesamt hat sich mit dieser Wahl ein politisches Bündnis von Evangelikalen, Agrobusiness und Bolsonarismus gefestigt und seine Hegemonie im rechten Lager konsolidiert. Es vereint eine konservative moralische Agenda (gegen Abtreibung und „Genderideologie“), die Befürwortung von Polizeigewalt und die Ablehnung von Menschenrechten, die Glorifizierung des Agrobusiness und die Feindschaft gegenüber indigenen und traditionellen Gemeinschaften, die zusammen mit der Umweltgesetzgebung als Entwicklungshemmnis denunziert werden. Diese „Neue Rechte“ gewinnt durch die Wahl an Konturen und geht über den klassischen Bolsonarismus hinaus. Auch bei eine Wahlniederlage Bolsonaros wird die „Neue Rechte“ kaum wieder verschwinden und eine radikale Opposition gegen eine PT-geführte Regierung machen.

Zum Gesamtergebnis der Parlaments­wahlen gehört aber auch, dass die PT Stim­­­­­­­­­­­­­­­­­men hinzugewonnen hat und die zweitstärkste Fraktion im Bundesparlament stellen wird. Ihr linker Bündnispartner, die PSOL, konnte insgesamt Gewinne und einige bemerkenswerte Ergebnisse erzielen. So wurde Guilherme Bou­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­los, Führungspersönlichkeit der Obdachlosenbewegung MTST, in São Paulo mit den meisten Stimmen zum Abgeordneten ins Bundesparlament gewählt. Ebenfalls über die Liste der PSOL gelangen nun zwei prominente Vertreterinnen der indigenen Bewegung ins Parlament, Sonia Guajarara und Celia Xakriaba. Bemerkenswert ist auch das gute Abschneiden von Erika Hilton, die als trans Person ins Bundesparlament einzieht. Und mit der ehemaligen Umweltministerin der Regierung Lula, Marina Silva, ist eine prominente Umweltschützerin ins Parlament gewählt worden.

Das Bild ist also uneinheitlich und spiegelt die tiefe Spaltung der brasilianischen Gesellschaft wider. Aber das Pendel ist in diesen Wahlen, soweit es das Parlament betrifft, nach rechts geschlagen. Bolsonaro und seine engen Verbündeten verfügen über 37 Prozent der Abgeordneten, das linke Lager um die PT über 28 Prozent. Beide sind daher davon abhängig, ihre Basis zu erweitern. Damit kommt das sogenannte Centrão ins Spiel, ein diffuses Lager von Abgeordneten aus verschiedenen Parteien ohne klare ideologische Ausrichtung, aber mit dem Interesse, an der Macht und den Töpfen der Regierung teilzuhaben. Bolsonaro hatte bereits mit diesem Lager ein Bündnis geschlossen und dafür einen hohen Preis gezahlt, ein Teil des Haushaltes ist nun für dessen Anliegen reserviert. Das Bündnis würde Bolsonaro daher erheblich leichter fallen als Lula. Damit erscheint ein Schreckensszenario möglich: Eine zweite Regierung Bolsonaro, die über eine Zweidrittelmehrheit im Parlament verfügt und damit die Verfassung ändern könnte. Vor allem aber könnte sie den Obersten Gerichtshof (STF) umstrukturieren, der zu einem großen Hassobjekt Bolsonaros geworden ist, weil der STF sich nicht der Regierung untergeordnet hat. Eines jedenfalls steht fest: Ein zweite Regierung Bolsonaro hätte erheblich mehr Potential, ihre sinistre politische Agenda durchzusetzen. Amazoniens Ökosystem würde weitere vier Jahre Bolsonaro wohl kaum überleben.

Lulas Sieg bei den Präsidentschaftswahlen ist die letzte Chance, den Durchmarsch der extremen Rechten zu verhindern. Zwar müsste Lula erhebliche Zugeständnis machen, um die Abgeordneten des Centrão auf seine Seite zu ziehen, aber unmöglich ist das nicht. Lula stände vor einer schweren Aufgabe und würde viele Erwartungen der brasilianischen Linken nicht erfüllen, das ist allen klar. Aber angesichts der Bedrohung durch Bolsonaro treten solche Überlegungen in den Hintergrund.

Doch erst muss die Wahl gewonnen werden. Bolsonaro versucht durch Lügen („Lula will die Kirchen schließen“), Schmutzkampagnen (angeblicher Missbrauch von Kindern) und Wahlgeschenke das Blatt noch einmal zu wenden. Dies spielt sich wieder vorwiegend über WhatsApp ab, ohne Faktencheck oder Korrekturen. Dort gibt es auch eine positive Entwicklung: Durch das gute Abschneiden Bolsonaros und seiner Verbündeten sind plötzlich die Stimmen verstummt, die das elektronischen Wahlverfahren anzweifelten und einen großen Betrug zugunsten Lulas an die Wand malten. Es wird Bolsonaro nun schwerer fallen, einen Wahlsieg Lulas im zweiten Wahlgang anzuzweifeln. Aber Achtung, Spoiler: Bolsonaro hat keine Angst vor dem Absurden.

RINGEN UM DEN ERHALT DER DEMOKRATIE

Elektronische Wahlurnen Sicher und bewährt -Bolsonaro will sie abschaffen (Foto: Marcelo Camargo / Agencia Brasil)

Nahezu verzweifelt versuchte William Bonner, TV-Moderator des größten brasilianischen Senders Rede Globo, Jair Bolsonaro im August während der traditionellen Interview-Runde mit den Kandidat*innen der Präsidentschaftswahl das Bekenntnis abzuringen, dass er eine Wahlniederlage akzeptieren werde. Doch der amtierende Präsident insistierte: Er werde die Ergebnisse nur dann akzeptieren, wenn die Wahlen „sauber“ seien. Auf das Gegenargument Bonners, dass das brasilianische Wahlsystem anerkanntermaßen „sauber, transparent und mit überprüfbaren Ergebnissen an den Urnen“ funktioniere, reagierte Bolsonaro gereizt und verlangte, das Thema zu wechseln.

Der Wahlkampf läuft bisher nicht zufriedenstellend für den rechtsradikalen Präsidenten Brasiliens. Anfang September veröffentlichte das führende Meinungsforschungsinstitut Datafolha als Umfrageergebnis erneut einen soliden Vorsprung seines Gegenkandidaten Lula da Silva von der Arbeiterpartei PT: 45 Prozent für Lula gegenüber 32 Prozent für Bolsonaro. Am 5. September kam das Institut ipec im Auftrag von Rede Globo zu sehr ähnlichen Ergebnissen: 44 Prozent zu 31 Prozent. Selbst bei einer Fehlerquote von zwei Prozent wären dies rund zehn Prozentpunkte Vorsprung für Lula im ersten Wahlgang am 2. Oktober.

Obwohl die Umfrageergebnisse für Lula schon einmal besser waren – zwischen Mai und Juni erhielt er im Durchschnitt 47 Prozent und Bolsonaro nur 28 Prozent– scheint alles auf eine Stichwahl zwischen ihm und Bolsonaro hinzudeuten. Und im zweiten Wahlgang am 30. Oktober würde Lula nach allen bisherigen Umfragen rund 52 Prozent der Stimmen erhalten, Bolsonaro jedoch höchstens 36 Prozent. Alle anderen Kandidat*innen liegen deutlich unter zehn Prozent, am meisten Zustimmung kann Ciro Gomes von der sozialdemokratischen PDT mit acht Prozent verzeichnen. Da bei den Kandidat*innen mit geringer Zustimmung (ein bis fünf Prozent) aktuell ein bisschen Bewegung nach oben besteht, wird ein zweiter Wahlgang wahrscheinlicher. Gleichzeitig ist die Anzahl der Unentschlossenen in den letzten Wochen von neun auf drei Prozent gesunken.

Delegitimierung des brasilianischen Wahlsystems durch den Präsidenten

Nicht überraschend also, dass sich die Wahlkampfmanager*innen des rechtsradikalen Präsidenten für die verbleibenden dreieinhalb Wochen vor der Wahl Gedanken über einen Strategiewechsel machen. Selbst die Wiedereinführung einer Art von Sozialhilfe, des Auxílio Brasil von 600 Reais (rund 120 Euro), und die Reduzierung des Benzinpreises haben seiner Kandidatur nicht den erwarteten Aufwind verschafft. Da sich der Rechtsradikale bisher im Wahlkampf relativ moderat präsentiert hat, um die Wählerschaft der Mitte nicht abzuschrecken, wird nun erwogen, den „echten Bolsonaro“ wieder aus dem Schafspelz zu ziehen – vor allem um Nichtwähler*innen zu mobilisieren.

Die Fähigkeit, Massen zu mobilieiren, haben Lula und Bolsonaro nicht verloren

Den Nationalfeiertag am 7. September nutzte Bolsonaro daher als willkommene Gelegenheit für den Wahlkampf. Er schlüpfte dabei ganz nach seinem Belieben abwechselnd in die Rolle des Präsidenten und die des Kandidaten: mal präsidial mit Schärpe bei der Abnahme der Militärparade in Brasília, mal kämpferisch mit Bomberjacke auf einem „privaten“ Fahrzeug in Rio de Janeiro vor zehntausenden von Anhänger*innen. Dabei stellte er eindrucksvoll unter Beweis, dass er nach wie vor Massen mobilisieren und begeistern kann. „Bolsonaro sucht am 7. September die Kraft, die ihm in den Umfragen fehlt,“ titelte dazu die Zeitschrift Veja.

In den bürgerlichen Medien wurde Bolsonaros Missbrauch des Nationalfeiertages für seinen Wahlkampf kritisiert. Verbietet doch das brasilianische Wahlgesetz die Nutzung offizieller Ämter für Kampagnen. Das oberste Wahlgericht kann Kandidat*innen, die dies missachten, von der Wahl ausschließen, anschließend dürfen sie acht Jahre lang nicht kandidieren. Doch obwohl der zuständige oberste Richter „eine Untersuchung des Verhaltens des Kandidaten Bolsonaro“ ankündigte, scheint eine Ahndung angesichts der von Bolsonaro getroffenen Vorsichtsmaßnahmen wenig wahrscheinlich, trotz oder gerade wegen dessen andauernder Angriffe auf das Justizsystem. Auch dies hoben viele Kommentator*innen ausdrücklich hervor: Bolsonaro habe den obersten Gerichtshofes STF während seiner Ansprachen nicht direkt angegriffen. Es war allerdings auch nicht mehr notwendig: Der Präsident gab die Stichworte und die Menge grölte die Slogans; auch viele Transparente und Schilder seiner Anhänger*innen richteten sich gegen den STF. Die Erosion der Glaubwürdigkeit der Justiz ist dem Rechtsradikalen im Vorfeld der Wahlen jedenfalls geglückt.

Auch die Gefahr eines Putsches im Fall einer Wahlniederlage scheint nicht gebannt: „Ich ziehe einen Putsch der Rückkehr der PT vor. Das ist eine Million Mal besser. Und mit Sicherheit wird niemand aufhören, mit Brasilien Geschäfte zu machen, so wie sie es mit verschiedenen Diktaturen überall auf der Welt machen“, schrieb José Koury, Besitzer der Einkaufsmeile Barra World Shopping, in einem privaten Chat am 31.7.2022. Veröffentlicht wurden diese und ähnliche Nachrichten von namhaften Unternehmern im August von Guilherme Amado, Journalist der Website Metrópoles. Mit dabei war auch Luciano Hang, Gründer der Kette Havan, der laut Forbes 2021 über ein Vermögen von rund drei Milliarden Euro verfügte. Er hatte, neben vielen anderen Unternehmer*innen, die massiven Whatsapp-Kampagnen finanziert, die Bolsonaro 2018 zu seinem Sieg verhalfen – was ebenfalls gegen die Wahlgesetze verstieß, aber juristisch nicht weiter verfolgt wurde.

“Ein Putsch ist eine Million Mal besser als die Rückkehr des PT”

Doch im aktuellen Fall scheint die Justiz tätig zu werden, obwohl José Koury leugnete, den zitierten Text verfasst zu haben. Dieser sei sinnentstellt wiedergegeben worden und die Planung einer Konspiration in einem Kreis von 200 Mitgliedern einer Chatgruppe sei ohnehin lächerlich. Alexandre de Moraes, Richter am STF, hob am 6. September das Recht auf Geheimhaltung persönlicher Nachrichten der Unternehmer auf und blockierte ihre Accounts. Grundlage für die Entscheidung war eine Anzeige der Koalition für die Verteidigung des Wahlsystems, zu der sich mehr als 200 Organisationen und soziale Bewegungen zusammengeschlossen haben.

Die Koalition hat im Vorfeld der Wahlen mehr als eine Million Unterschriften für einen „Brief an die Brasilianerinnen und Brasilianer“ organisiert. Angelehnt war er an das gleichnamige Dokument aus dem Jahr 1977 von Goffredo da Silva Telles Jr., in dem die damalige Militärregierung kritisiert wurde und das einen Meilenstein im Kampf gegen die Diktatur darstellte. Die Veröffentlichung des aktuellen Briefes wurde Mitte August von landesweiten Demonstrationen in mehr als 50 Städten begleitet, in denen zur Verteidigung der Demokratie und des brasilianischen Wahlsystems mit seinen elektronischen Urnen aufgerufen wurde. Ein Höhepunkt war die Verlesung des Briefes an der juristischen Fakultät in São Paulo, an der auch Vertreter*innen bürgerlicher Parteien und der Unternehmerschaft teilnahmen.

Auch Lula da Silva und Ciro Gomes unterzeichneten den „Brief an die Brasilianerinnen und Brasilianer“ – die Gemeinsamkeiten der beiden Mitte-links-Kandidaten im Wahlkampf enden an diesem Punkt aber bereits. Seit 2018 im Streit, hatte Ciro Gomes bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt eine Beteiligung an einem Wahlbündnis für Lula abgelehnt. In den vergangenen Wochen hat er den Ton verschärft und in den sozialen Medien den Gesundheitszustand von Lula infrage gestellt. Dieser ätzte zurück, dass er Online-Kampagnen gar nicht nötig habe, da er fortwährend auf Großveranstaltungen „direkt mit dem Volk“ kommuniziere. Tatsächlich hat Lulas Fähigkeit, Massen zu mobilisieren, nicht nachgelassen und er absolviert ein beeindruckendes Wahlkampfprogramm, bei dem er täglich auch mit Vertreter*innen der sozialen Bewegungen spricht. In Interviews und Debatten hat er dagegen die Haltung eines Staatsmanns eingenommen, dem kleinere Streitereien egal sind.

Aktuell sind Lula und die PT vor allem daran interessiert, die Wahl bereits im ersten Wahlgang zu entscheiden und möglichst viele Wählerstimmen für die zeitgleich stattfindenden Wahlen für das nationale Parlament und die Regierungen der Bundesstaaten zu gewinnen. Die neun Prozent Wählerstimmen, die Ciro Gomes voraussichtlich erhalten wird, machen einen zweiten Wahlgang mit all seinen Unwägbarkeiten deutlich wahrscheinlicher. Und dies ist nicht nur für die PT gefährlich: Denn was sich der Kandidat Bolsonaro in den vier Wochen zwischen dem ersten und dem zweiten Wahlgang einfallen lässt, um die Wahlen zu delegitimieren, könnte eine weitere, ernste Bedrohung der brasilianischen Demokratie bedeuten.

„WIR MÜSSEN POLITISCHE RÄUME EROBERN“

Foto: ,Mídia NINJA , , CC BY-SA

Der Marsch der Schwarzen Frauen gilt für viele als Initiator des „neuen“ Schwarzen Feminismus in Brasilien. Wie ist er entstanden?
Tatsächlich wurde der Marcha das Mulheres Negras gegründet, um im November 2015 die große Demonstration in Brasília zu organisieren, mit 50.000 Schwarzen Frauen. Das war eine Idee der Schwarzen Aktivistin Nila Bentes, die dafür seit 2011 warb. Aber die Planung brauchte ihre Zeit. Schließlich ist es nicht einfach, dass Frauen, die hart arbeiten und Kinder zu versorgen haben, drei Tage für eine Demonstration unterwegs sind. Für viele war diese Erfahrung in Brasília sehr motivierend und wir beschlossen, nach der Demonstration weiter zusammenzuarbeiten. Etwas mehr als zwei Jahre später, im März 2018, wurde die Abgeordnete und Menschenrechtsaktivistin Marielle Franco ermordet. Auch das war eine Botschaft an Schwarze Frauen, die bisher nicht an politischem Aktivismus interessiert waren: Wenn wir nicht umgebracht werden wollen, müssen wir politische Räume erobern und uns Gehör verschaffen.

Inzwischen ist aus der Marcha das Mulheres Negras ein dauerhaft arbeitendes Netzwerk geworden. Wie organisiert Ihr Euch in São Paulo?
Wir sind ein Bündnis mehrerer Kollektive, also Frauengruppen. Manche sind autonome Feministinnen, andere sind, wie ich auch, noch im Movimento Negro Unificado (Vereinigte Schwarze Bewegung, Anm. d. Red.) oder in linken Parteien aktiv. Seit 2016 organisieren wir am 25. Juli eine Demonstration am Tag der Tereza de Benguela, dem Kampftag des Schwarzen Feminismus, der an die Anführerin eines Quilombo im 18. Jahrhundert im heutigen Mato Grosso erinnert.

Macht Ihr über die Demonstrationen hinaus alltägliche Organisierungsarbeit?
In den Außenbezirken von São Paulo organisieren wir jedes Jahr in einer anderen Region Fortbildungsprogramme. Derzeit sind wir im Stadtteil Tiradentes aktiv, 35 Kilometer vom Stadtzentrum von São Paulo entfernt, eine der Regionen mit dem schlechtesten Human Development Index und dem höchsten Anteil Schwarzer Bevölkerung. In der Fortbildung lehren wir neben feministischer Bildungsarbeit auch die Geschichte der Schwarzen Kämpfe in Brasilien. Auch wenn die Schwarze Bevölkerung inzwischen über die Hälfte der brasilianischen Bevölkerung ausmacht, haben wir seit Jahrhunderten gelernt, unser Schwarzsein zu leugnen, um überhaupt Zugang zu vielen Rechten zu bekommen. Aber die eigene Identität zu negieren, trägt – oft unbewusst – dazu bei, den Rassismus in Brasilien aufrechtzuerhalten. Wir machen die Fortbildung in einem Frauenhaus, das es schon 15 Jahre gibt. Aber derzeit greift es die Anhängerschaft von Bolsonaro aus der Nachbarschaft an und überhäuft es mit polizeilichen Anzeigen zum Beispiel wegen Lärms.

Wie konnte es zu dem Einfluss des Bolsonarismus auch in diesen peripheren Stadtteilen kommen?
Meiner Meinung nach hat die Linke einen nicht zu unterschätzenden Anteil an der Stärke des Bolsonarismus. Denn sie hat den Themen, die sie als „identitätspolitisch“ abqualifiziert hat, wie der Kampf gegen Rassismus und Sexismus, viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Die Kirchen, und ganz besonders die evangelikalen, die in diesem Teil der Bevölkerung inzwischen sehr einflussreich sind, tun dies hingegen sehr direkt, indem sie sagen: Frauen sollen sich unterordnen und in Brasilien gibt es keinen Rassismus. Die Linke hat darin versagt, zwischen den religiösen Bedürfnissen und den evangelikalen Institutionen und ihren Strategien zu unterscheiden. Sie hat sich von diesen Gläubigen zurückgezogen, statt den Austausch zu suchen – und hat lange noch nicht einmal den enormen Rückschritt im politischen Bewusstsein der Menschen wahrgenommen. Ohne einen solchen Dialog wird es jedoch in Brasilien keine gesellschaftlichen Veränderungen geben.

Wie gestaltet sich denn das alltägliche Zusammenleben in den peripheren Nachbarschaften in diesen politisch polarisierten Zeiten?
Auf der einen Seite gibt es in der breiten, nichtorganisierten Bevölkerung inzwischen viele junge Leute, die sich für den Schwarzen Feminismus begeistern. Wir sehen das in den öffentlichen Schulen. Die Schüler*innen bekennen sich offen dazu, Lesben, trans, Feminist*innen und Antirassist*innen zu sein. Ihre Lebenshaltungen sind radikaler geworden, sie haben mehr Wissen über ihre Rechte. Gleichzeitig gibt es weiter viele Formen der alltäglichen Solidarität, über die gesellschaftliche Polarisierung hinweg. Wenn ich arbeite und mein Kind bei jemandem lassen muss, ist es egal, ob die Nachbarin, die sich kümmert, Feministin oder Evangelikale ist. Zudem gibt es immer noch eine gewisse Angst davor, über Politik zu sprechen. Das ist das Erbe von 21 Jahren Militärdiktatur.

Hat die politische Polarisierung während der Präsidentschaft von Bolsonaro zugenommen?
Besonders zu Beginn von Bolsonaros Amtszeit waren die Gräben weitaus weniger tief, als während der Militärdiktatur. Selbst damals haben wir uns in der Familie und Nachbarschaft nicht völlig zerstritten, auch wenn wir viel diskutiert haben. Nach vier Jahren Bolsonaro, seinen Putsch-Drohungen und durch die Pandemie sind die Konflikte stärker geworden. Die politische Gewalt geht weiter von rechts aus: Die Morde an der Capoeirista Moa do Katendê, dem kongolesischen Geflüchteten Moïse Kabamgabe und an etlichen trans Frauen sind dafür beispielhaft. Letztendlich ist die rechte Gewalt jedoch für uns nichts Neues, sie reicht weit in die Geschichte zurück: Brasilien entstand schließlich auf der Grundlage der Sklaverei, der Vergewaltigungen, der Folter und der Verstümmelung, auch wenn es sich immer gerne als friedlich, demokratisch und nicht rassistisch versteht.

Ist der Feminismus in Brasilien heute ein anderer als vor zehn Jahren?
Jein. Für uns sind Bündnisse mit anderen Feminismen zentral. Im Grunde machen wir heute aber das weiter, was Schwarze Feministinnen schon seit den 1970er Jahren tun: Wir beteiligen uns an allen 8. März-Demonstrationen und anderen feministischen Kampagnen. Aber wir fordern ein, gegen einen strukturellen Rassismus einzutreten, der oftmals reproduziert wird, ohne dass es viele überhaupt merken. Wir dagegen spüren das sehr deutlich! Wir müssen immer noch einfordern, dass es nicht diese typischen Zuschreibungen einer „spezifischen Frage“ in den feministischen Deklarationen und Reden gibt: Erst wird „allgemein“ gesprochen und dann wird hinzugefügt: „Auch die Schwarzen Frauen …“ Auch wenn sich ein bisschen was bewegt hat, bleibt es ein harter Kampf. Ebenso gibt es immer noch bestimmte Sektoren des Feminismus, die keine trans Frauen akzeptieren. Eine solche Haltung wird innerhalb des Schwarzen Feminismus sehr selten vertreten. Ich denke, das liegt daran, dass wir selbst Formen der Entmenschlichung erfahren haben und mehr Empathie entwickeln können. Dasselbe gilt auch für unsere Zusammenarbeit mit indigenen Frauen, mit denen wir Allianzen aufbauen, auch wenn wir sehr unterschiedlich sind. Die gemeinsame Geschichte der Kolonisierung, Sklaverei und der Vergewaltigungen macht uns zu Geschwistern.

Was unterscheidet den Schwarzen Feminismus von anderen feministischen Kämpfen?
Der Schwarze Feminismus entwickelt zu vielen feministischen Themen eine andere Perspektive, zum Beispiel wenn in den Kämpfen für Abtreibungsrechte oft relativ abstrakt von Wahlfreiheit gesprochen wird. Wir fordern eine Perspektive der reproduktiven Gerechtigkeit ein, also wahrzunehmen, dass sich die Entscheidung für oder gegen Kinder nicht trennen lässt von den sozioökonomischen Lebensbedingungen der Frauen, egal ob sie sich dringend eine Abtreibung wünschen oder Mutter sein wollen. All dies geschieht in einem Kontext, in dem es der brasilianische Staat armen und Schwarzen Frauen erschwert oder gar unmöglich macht, Mutter zu sein. Manche verlieren ihre Kinder wegen Polizeigewalt, andere sind gezwungen, ihre Kinder alleine zu Hause zu lassen, wenn sie arbeiten gehen. Wenn wir nicht diskutieren, dass es oft harte Lebensbedingungen sind, in denen Frauen reproduktive Entscheidungen treffen, wird aus der Abtreibungsforderung ein beschränktes liberales Programm.

Das Konzept der reproduktiven Gerechtigkeit, das von Schwarzen Feministinnen in den USA vertreten wird, ist also für Euch eine wichtige Referenz?
Ja, für den Marcha das Mulheres Negras ist das eine wichtige Debatte. Eine unserer Forderungen ist weiterhin die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs. Erstaunlicherweise sind die Diskussionen in unseren Versammlungen dazu sehr entspannt und friedlich, auch wenn zum Netzwerk evangelikale Frauen, Frauen aus dem Candomblé (afro-brasilianische Religion, Anm. d. Red.), Pfarrerinnen ebenso wie Atheistinnen gehören. All diese Frauen kennen Erfahrungen alltäglicher Gewalt und Ungleichheit. Sie ziehen ihre Kinder allein auf; sie halten den Haushalt mit einem einzigen Mindestlohn aufrecht. Auch Frauen, die nicht politisiert sind, wissen, dass es hier um etwas ganz Essenzielles geht, selbst wenn viele kein Mikrofon in die Hand nehmen würden, um für die Legalisierung der Abtreibung einzutreten.

Wie positioniert Ihr Euch in diesen sehr angespannten Wahlkampfzeiten?
Wir unterstützen ganz klar die Kandidatur von Lula. Das ist eine Überlebensstrategie, auch wenn nicht alle von uns PT-Anhänger*innen sind. Bereits 2015 übergaben wir der damaligen Präsidentin Dilma Rousseff bei dem Marcha das Mulheres Negras in Brasília einen Forderungskatalog, der weiterhin gültig ist – schließlich hatte sie kaum Zeit darauf zu reagieren, es war kurz vor dem Impeachment. Hier zeigen wir alle Problemlagen auf, mit denen die Schwarze Bevölkerung und insbesondere die Schwarzen Frauen – sozusagen die Basis der Basis – alltäglich konfrontiert sind. Selbst wenn sich damals nach etwas mehr als 12 Jahren progressiver Regierungen unsere Situation in mancher Hinsicht verbessert hatte: Die strukturellen Bedingungen des Rassismus waren gleichgeblieben. Wir fordern Reparationen für viele Dimensionen der Gewalt, eine Politik der Abschaffung von Gefängnissen und wir sprechen weiterhin von Genozid, was inzwischen auch von der Linken häufiger anerkannt wird als früher.

Was fordert Ihr heute konkret von der zukünftigen Regierung?
Wir müssen an den bisherigen Reformen unter den PT-Regierungen ansetzen und deren Umsetzung einfordern und ausweiten. Ein Beispiel ist die Bolsa Familia (eine Form der Sozialhilfe, Anm. d. Red.), die viel zu gering bemessen war, aber immerhin unter dem Druck der sozialen Bewegungen an Frauen ausgezahlt wurde und es mancher ermöglichte, aus häuslicher Gewalt auszubrechen. Viele fortschrittliche politische Maßnahmen müssen überhaupt erst implementiert und der Schwarzen Bevölkerung zugänglich gemacht werden, von der Maria da Penha-Politik gegen Femizide, bis zum System der öffentlichen Gesundheitsversorgung, das unter Bolsonaro mehr oder weniger völlig kollabiert ist. Um einer enorm ungleichen Sterblichkeit bei vielen Krankheiten entgegenzuwirken, braucht es Ansätze in der Gesundheitsversorgung, die sensibel für Rassismus und Geschlechterdiskriminierung sind. Und es braucht das Ende einer rassistischen Schulbildung, die weiter dazu führt, dass es niemanden interessiert, wenn Schwarze Menschen ermordet werden.

Welche Aktivitäten plant Ihr für die heiße Phase des Wahlkampfs bis Anfang Oktober?
Es wird Demonstrationen geben und auch die Unterstützung von Wahlkampagnen verschiedener Kandidaturen. Wir haben einen Aufruf der sozialen Bewegungen mitformuliert und verbreiten ihn. Ich unterstütze zwar Kandidaturen in der PSOL, halte es aber für sehr wichtig, auf der Seite der Bewegungen aktiv zu sein und eine Gegenmacht gegenüber den Leuten in den Institutionen aufzubauen. Ohne diesen Druck von außen ist nichts zu erreichen. Wir brauchen immer einen Fuß außerhalb der Regierungen, Parteien, Parlamente und Behörden – sonst weiß der Fuß, den wir in den Institutionen haben, ganz schnell nicht mehr, in welche Richtung er gehen soll.

HER MIT DEM GUTEN LEBEN

Viele Analyst*innen hatten nach der ersten Wahlrunde behauptet, Petro habe sein gesamtes Potenzial ausgeschöpft. Ein linker Kandidat in Kolumbien könne kaum mit mehr als den in der ersten Runde erhaltenen 8 Millionen Stimmen und dem Rückhalt von 40,3 Prozent der Wähler*innen rechnen. Dennoch gewann Petro in der Stichwahl überraschend 2,7 Millionen dazu und fuhr dadurch mit 50,4 Prozent der Stimmen einen knappen Wahlsieg gegen eine vereinte Rechte ein.

Hernández versuchte dieses Streben nach einem Neuanfang in einem für seine 77 Jahre sehr hippen TikTok-Wahlkampf mit harscher Kritik am Establishment und an Korruption zu verkörpern. Allerdings erschien dieses Versprechen im Vergleich zu Petro und Márquez deutlich unglaubwürdiger. Der in der internationalen Presse oft mit Donald Trump verglichene Hernández war auch wegen eines während des Wahlkampfs laufenden Korruptionsprozesses aus seiner Zeit als Bürgermeister von Bucaramanga aufgefallen. Weitere Skandale betrafen ein Lob für Adolf Hitler als großen deutschen Denker, Schläge gegen einen Abgeordneten der Opposition aus seiner Zeit als Bürgermeister, misogyne und xenophobe Äußerungen über venezolanische geflüchtete Frauen (sie seien „Gebärfabriken armer Kinder”), sowie über Frauen, die im Idealfall nicht arbeiten, sondern zu Hause die Familie versorgen sollen. Nicht zuletzt wird auch seine Weigerung, Petro in einer Debatte vor laufenden Kameras gegenüberzutreten, bei einem großen Teil der unentschlossenen Wähler*innen dafür gesorgt haben, die Eignung des 77-Jährigen anzuzweifeln.

Es wäre verkürzt, den Wahlerfolg Petros lediglich mit der Schwäche seiner Gegner zu erklären. Zwar ist die Rechte durch die laufenden Prozesse gegen Ex-Präsident Álvaro Uribe und eine negative Regierungsbilanz des Amtsinhabers Iván Duque geschwächt. Entscheidend für den Wahlsieg Petros waren allerdings − ähnlich wie in Chile − die vorangegangenen Proteste im November 2019 und April und Mai 2021. Die paros nacionales (dt. Generalstreiks) richteten sich gegen die neoliberale Austeritätspolitik der Duque-Regierung, darunter die höhere Besteuerung der Mittel- und Unterschicht sowie die Reform des Gesundheitssystems nach US-amerikanischem Vorbild. Die monatelangen Proteste wurden mit massiver Polizeigewalt und Militarisierung von Seiten des Staates unterdrückt und veränderten die Stimmung im Land.

„Wie konnten wir erlauben, dass das geschehen ist”

Zusätzlich spielten die besonders durch strukturellen Rassismus und Repression betroffenen Gebiete der Schwarzen und indigenen Bevölkerung eine zentrale Rolle, wie beispielsweise das stark indigen geprägte Valle del Cauca nahe der afrokolumbianisch geprägten Stadt Cali. Die Allianz der Bevölkerung in den von staatlicher Gewalt betroffenen, strukturell benachteiligten urbanen Vierteln und der ländlichen Regionen brachte eine neue Solidarität und neue Diskussionen über die Identität des Landes in Gang. Sinnbildlich dafür waren die in Kolumbien so nie dagewesenen Bilder von gestürzten Statuen von Konquistadoren im ganzen Land und von in Cali einfahrenden, mit der indigenen Wiphala- und Mizak-Flagge geschmückten Bussen voller indigener Demonstrant*innen aus dem Umland.

Die Taktik des linken Wahlbündnisses Pacto Histórico (dt. Historischer Pakt), nicht wie in vergangenen Anläufen grüne oder liberale Vize-Präsidentschaftskandidat*innen zu berufen, erwies sich als Erfolgsrezept. Durch die Wahl von Francia Márquez, einer afrokolumbianischen Umweltaktivistin und ehemaligen Goldminenarbeiterin und Hausangestellten, die bei den Abstimmungen innerhalb des Pacto Histórico den zweiten Platz belegt hatte, schaffte es das Bündnis, einer bisher kaum auf nationaler Ebene präsenten Schicht eine Stimme zu verleihen.

Der Wahlsieg steht für viele im Zeichen der Hoffnung auf Versöhnung

So betonte Márquez in der Wahlnacht in ihrer Ansprache, in Anspielung auf Martin Luther Kings I-Have-a-Dream-Rede, dass sie davon träume in einem Land zu leben, in dem Frieden herrscht. Ihr Ausspruch „vivir sabroso” (dt. etwa „gehaltvoll leben“) beschreibt nämlich nicht – wie von Gegner*innen oft behauptet – ein Leben mit Geld, sondern steht sinnbildlich für ihren Traum eines Lebens ohne Angst und eines Kolumbiens, in dem niemand wegen seiner politischen Ansichten in Gefahr lebt. Es ist dieser Traum einer sanften Politik der Versöhnung, der sich nach den jahrelangen Kämpfen und der exzessiven Repression der letzten Jahre mit allein 154 ermordeten sozialen Aktivist*innen im vergangenen Jahr und 80 Toten durch Polizeigewalt während der Proteste, für viele Menschen in Kolumbien wie eine Umarmung voller Hoffnung anfühlt.

Wie sehr die Gewalt das Land in den letzten Jahren geprägt hat, wurde zwei Wochen nach der Wahl im Abschlussbericht der Wahrheitskommission deutlich. „Wie konnten wir erlauben, dass das geschehen ist. Und wie können wir es wagen, es weiterhin zuzulassen”, kommentierte der Vorsitzende der Wahrheitskommission Francisco de Roux die Veröffentlichung des Berichts. 450.664 Tote insgesamt, davon der größte Anteil durch die dem Staat nahestehenden rechten Paramilitärs, waren die Bilanz aus über 60 Jahren Bürgerkrieg in Kolumbien.

Der Sieg Petros und Márquez’ ist angesichts der Geschichte und des Zulaufs von 2,7 Millionen Stimmen zwischen der ersten und der zweiten Wahlrunde nur dadurch zu verstehen, dass sie es geschafft haben ein Angebot zu machen, das sowohl linke als auch liberale Stimmen des Landes vereint. Die Linie, den „Kapitalismus weiterzuentwickeln”, wie es Petro in seiner Rede zum Wahlsieg angekündigt hat, ist aus linker Sicht antikapitalistisch und als Kampfansage an den Neoliberalismus zu verstehen. Gleichermaßen ist sie auch ein Hinweis an Liberale, den Kapitalismus nicht abschaffen zu wollen, sondern ihn ähnlich wie die von den Grünen in Deutschland ausgerufene „sozial-ökologische Transformation” zu reformieren und an neue Herausforderungen sozialer und ökologischer Natur anzupassen. Es bleibt abzuwarten, ob dieser Schachzug, liberale und linke Stimmen zu vereinen, in den nächsten Jahren glücken wird. Zusammen mit dem Freudentaumel des Wahlsiegs und der durchfeierten Wahlnacht, die in den großen Städten des Landes wie ein WM-Sieg gefeiert wurde, ist die mit etwas Skepsis begleitete Hoffnung auf Frieden die vorherrschende Stimmung einer neuen Ära, die in Kolumbien begonnen hat.

„PETRO IST KEIN MESSIAS“

Edna Martínez (Foto: privat)

Welche Erwartungen hegen Sie an diese erste linke Regierung Kolumbiens?
Mit der Regierung Petro/Márquez tritt eine progressive sozialdemokratische Regierung an, mit einem Schwerpunkt auf Menschenrechten, sozialer Gerechtigkeit, Umweltschutz. Das ist das Ergebnis eines über 200 Jahre währenden Kampfes. Kolumbien wurde in seiner ganzen republikanischen Geschichte politisch und ökonomisch von einer Handvoll Familien beherrscht, die das Land als ihren Privatbesitz betrachtet haben, als ihre Finca, als ihre Hacienda. Sie haben sich viel mehr Rechte eingeräumt als den normalen Bürger*innen.

Der Sieg von Petro und Márquez ist auch das Ergebnis des Kampfes und der Mobilisierung durch die sozialen Bewegungen, insbesondere der afrokolumbianischen und indigenen Bewegungen, die sich seit Beginn des Kolonialismus vor über 500 Jahren zur Wehr gesetzt haben – gegen die rassistische, koloniale und patriarchale Weltordnung. Sie stehen für das Recht auf Überleben und auf eine eigene Weltanschauung ein. Sie wenden sich gegen einen unersättlichen, zerstörerischen Kapitalismus. Ein Wirtschaftssystem, das auf Ausbeutung von Menschen setzt, auf die Versklavung von Menschen, auf den Ausschluss von Menschen.

War es vor dem zweiten Wahlgang am 19. Juni zu erwarten, dass Kolumbien 212 Jahre nach der formellen Unabhängigkeit zum ersten Mal ein linkes Duo zum Staatsoberhaupt wählen würde?
Ich denke, dass der Sieg von Petro absehbar war. Vor allem die beiden letzten Generalstreiks 2019 und 2021 waren Anzeichen dafür, dass eine Mehrheit der Kolumbianer*innen einen grundlegenden Wandel einfordert (siehe auch LN 564). Vor allem der Generalstreik 2021 mit der massiven Präsenz der Bevölkerung auf den Straßen mit der Forderung nach einer sozialen, politischen und wirtschaftlichen Transformation war ein starkes Indiz für einen Wechsel.

Ein anderes Element war der Rückschritt im Friedensprozess unter der jetzigen Regierung nach dem Abkommen mit der FARC-Guerilla 2016. Die Reintegration und die Demobilisierung der ehemaligen FARC-Kämpfer*innen kommt nicht wie verabredet voran. Das hat der kolumbianischen Gesellschaft die Einsicht vermittelt, dass es auch an vielen, anderen Ecken soziale Probleme gibt, die seit vielen Jahrzehnten nicht angegangen, sondern zugedeckt wurden. Früher wurde der Kampf gegen die Guerilla und den „Terrorismus“ vorgeschoben, um soziale Probleme unbearbeitet zu lassen. Die Aufstandsbekämpfung war das zentrale Thema in den Medien, die sozialen Probleme, die grundlegenden strukturellen Probleme in der Gesellschaft wurden vernachlässigt. Seit 2016 sind sie stärker in den medialen Fokus gerückt, auch dank der Generalstreiks.

Das Duo Petro/Márquez erhielt im zweiten Wahlgang 11,2 Millionen Stimmen, nachdem es im ersten Wahlgang als einzige linke Option „nur“ 8,5 Millionen Stimmen erhalten hatte. Wie erklärt sich dieser enorme Anstieg?
Die Rolle von Francia Márquez war hier sehr wichtig. Sie hat es geschafft, Wähler*innen zu überzeugen, zu interessieren, zu mobilisieren, die Petro nicht vertrauten, die Petro aus unterschiedlichsten Gründen nicht als gute Option für einen echten Wandel sahen. Márquez hat dem politischen Projekt des Pacto Histórico (dt. Historischen Pakts) mehr Kontur gegeben, mehr inhaltliche Tiefe und Struktur. Sie repräsentiert den ausgeschlossenen Teil Kolumbiens, die Kolumbianer*innen, die unter der sozialen Ungleichheit am meisten zu leiden haben, die, die unter dem bewaffneten, internen Konflikt am meisten gelitten haben. Sie repräsentiert das Kolumbien der Überlebenden. Sie spricht in einer einfachen Sprache, vermittelt aber grundlegende Zusammenhänge. Sie tritt entschieden und radikal für die Verteidigung des Territoriums der indigenen und afrokolumbianischen Gemeinden ein, für die Menschenrechte, für den Umweltschutz. Ein großer Teil des Stimmenzuwachses dürfte auf die Person Francias und ihre schlüssige Position zurückgehen. Márquez hatte ja schon bei der bündnisinternen Vorwahl um die Präsidentschaft ihre Zugkraft gezeigt, bei ihrem ersten Auftritt auf der politischen Bühne überhaupt: Sie wurde im März mit fast 900.000 Stimmen Zweite hinter Petro, dabei hatte sie kaum Geld für Wahlkampf, nur ein kleines Team und auch nur sechs Monate für ihre Kandidatur geworben.

Neben Márquez war sicher auch die gute Organisation der sozialen Bewegungen entscheidend: Sie haben mobilisiert, sie haben unentschiedene Wähler*innen überzeugt, selbst Wähler*innen, die die Absicht hatten, den rechten Rodolfo Hernández zu wählen. Auf den Mingas (kollektiver Arbeitseinsatz oder politische Versammlung, Anm. d. Red.), in der Nachbarschaft, in den Familien – überall wurde Überzeugungsarbeit geleistet. Dort wurde mit Argumenten geworben und versucht, Konfrontationen zu vermeiden. Petro hat ja den Slogan von der „Politik der Liebe“ ausgegeben, statt der vorherrschenden „Politik des Hasses“. So wurde friedfertig für das politische Projekt des Pacto Histórico geworben. Mit Erfolg.

Die Entscheidung Petros, auf Francia Márquez als Vize zu setzen, war demnach entscheidend für den Wahlsieg?
Ja, ich bin sicher, dass Petro seinen Erfolg der Strahlkraft von Márquez verdankt. Alle Analysen belegen, dass die afrokolumbianischen Stimmen, die der Indigenen und der Marginalisierten hauptsächlich auf die Anziehungskraft von Márquez zurückgehen. In den afrokolumbianischen Regionen hat Petro die meisten Stimmen erhalten und ebendort hat Francia ihren Wahlkampf gemacht.

Die Erwartungen der 11,2 Millionen Wähler*innen sind hoch. Petro will das Land befrieden, der rücksichtslosen Ausbeutung von Rohstoffen ein Ende setzen und den Unternehmen höhere Steuern auferlegen, um Mittel für die Sozialpolitik zu generieren. Welchen Widerstand erwarten sie von der kolumbianischen Rechten?
Die Sicht der kolumbianischen Rechten findet sich in den herrschenden Medien. Sie sieht das Land als Privatbesitz. Die politische und ökonomische Elite Kolumbiens wird sich dem Wandel sicher widersetzen. Das ist absehbar. Weniger klar ist noch, wie sich die USA und die Europäische Union zum politischen Projekt von Petro positionieren werden. Die historischen Erfahrungen auf dem amerikanischen Kontinent zeigen, dass die USA und auch die EU maßgeblich entscheiden, inwiefern sozialer Fortschritt zugelassen wird oder nicht. Es ist die Frage, ob die USA und die EU einen sozialen und demokratischen Wandel in Kolumbien unterstützen oder nicht. Ob sie die Entscheidung von 11,2 Millionen Kolumbianer*innen respektieren und unterstützen, ein gerechteres Land haben zu wollen. Tun sie das, wird sich der Spielraum für die extreme kolumbianische Rechte reduzieren. Ansonsten haben sie freie Bahn, wie extreme Rechte in anderen Ländern mit Falschinformationen Panik zu schüren, mit Desinvestitionen die Wirtschaft zu schädigen und so weiter. Meine große Sorge gilt der Haltung der USA und der EU. Diese beiden haben bisher von der kolumbianischen Rohstoffausbeutung profitiert, die Petro nun begrenzen und höher besteuern will. Das trifft multinationale Unternehmen, die sich um Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung in Kolumbien nicht geschert, sondern von der Gewalt sogar profitiert haben, weil sie ihr Geschäftsmodell ermöglichten. Wenn Petro sich durchsetzt, werden Rohstoffe künftig nicht mehr fast verschenkt, sondern teurer.

Welche Rolle spielen die sozialen Bewegungen im Pacto Histórico, in dem sich Parteien, Gewerkschaften und soziale Bewegungen zusammengeschlossen haben?
Aus meiner Sicht ist der Pakt vor allem ein Pakt der sozialen Bewegungen. Er ist ein Pakt der Konvergenz vieler politischer Akteur*innen, die den Status quo der kolumbianischen Politik satt haben. Die sozialen Bewegungen sind gewiss der Protagonist dieses Sieges. Die Menschen sind der Institutionen müde, zu denen auch die Parteien und die Gewerkschaften gehören. Es war die organisatorische und mobilisatorische Fähigkeit der sozialen Bewegungen, die den Sieg ermöglicht hat. Die der afrokolumbianischen Bewegung, der indigenen Bewegung, der Frauenbewegung, der Bewegung der Angehörigen von Ermordeten, der Jugend- und Studentenbewegung und der LGBTQ-Bewegung. Sie haben ihre Talente, Kräfte und Energie gebündelt. Das war der Schlüssel zum Erfolg.

In Chile hat der linke Reformer Gabriel Boric im März sein Amt als Präsident angetreten. Die sozialen Bewegungen beschuldigen ihn bereits der Unentschlossenheit. Wie stellen Sie sich eine konstruktive Interaktion zwischen den sozialen Bewegungen und einer linken Regierung in Kolumbien vor?
Was die sozialen Bewegungen in Kolumbien ganz klar kommuniziert haben, ist: Petro ist kein Messias. Sie haben klar kommuniziert, dass die Probleme Kolumbiens auf Jahrzehnten und Jahrhunderten von Fehlentwicklungen beruhen. Die tiefe gesellschaftliche Ungleichheit und institutionelle Krise lässt sich nicht in vier Jahren gerade rücken. Das braucht Zeit und Geduld. Die kommende Regierung repräsentiert jedoch im Gegensatz zu ihren Vorgängern im Großen und Ganzen die Interessen der bisher Vernachlässigten. Das ist ein Wert an sich. Die sozialen Bewegungen können künftig auf die Straßen gehen, ohne eine brutale Repression befürchten zu müssen wie bisher. Sie können für ihre Rechte eintreten und Kritik üben an der Regierung. Ich kann den Fall von Boric in Chile nicht konkret beurteilen. Aber auch da ist klar, dass eine linke Regierung nicht in wenigen Monaten korrigieren kann, was Jahrzehnte schief gelaufen ist. Was wir in der Vergangenheit in Lateinamerika immer wieder beobachten konnten, war, dass progressive Regierungen die sozialen Bewegungen kooptiert haben. Das hat die sozialen Kämpfe deutlich geschwächt. Eine konkrete Antwort auf die Frage nach einer konstruktiven Interaktion von sozialen Bewegungen und linken Regierungen kann ich nicht geben. Die Erfahrungen sind auch von Land zu Land verschieden. Mal sehen, wie es in Kolumbien laufen wird. Klar ist: Der Wahlsieg wurde mit einer progressiven Agenda erzielt, mit Rechten und Menschenrechten im Zentrum. Das ist ein gigantischer Erfolg in einem Land, das immer von der Rechten regiert wurde und das immer mit Billigung und Förderung durch die USA. Die USA standen immer hinter den ultrakonservativen Sektoren Kolumbiens. Nun gibt es in Kolumbien einen Paradigmenwechsel: Verkörpert wird er durch Francia Márquez, der ersten Schwarzen Frau an der zweiten Stelle des Staates. Das hat nicht nur symbolische und emotionale Auswirkungen, sondern verändert auch das Verständnis, was Politik ist und wie sie gemacht wird. Mit Márquez werden die Schwarzen anerkannt, werden die Frauen anerkannt, werden die Umweltschützer anerkannt, werden die Anti-Rassisten anerkannt. Das macht einen gewaltigen Unterschied.

LULA FOR PRESIDENT?

Tintenfisch mit Gurke An der Seite von „Tintenfisch“ Lula tritt Alckmin als Vize an – er hat in der Vergangenheit den Spitznamen chuchu bekommen – ein geschmackloses Gemüse (Foto: www.lula.com.br)

Am 26. Mai veröffentlichte das als sehr zuverlässig geltende Wahlforschungsinstitut Datafolha eine neue Umfrage zu den Präsidentschaftswahlen. Danach liegt Lula mit 48 Prozent deutlich vor Bolsonaro, der lediglich auf 27 Prozent der Stimmen kommt. Ein Wahlsieg von Lula bereits im ersten Wahlgang wäre damit möglich. Die Umfrage bestätigt ein sich immer mehr konsolidierendes Szenario: Die Präsidentschaftswahl läuft auf ein Duell zwischen Lula und Bolsonaro hinaus, alle anderen Kandidat*innen bleiben im einstelligen Bereich. Damit dürften alle Versuche, einen sogenannten „Dritten Weg“ jenseits der bestehenden Polarisierung zu finden, als gescheitert gelten. Im linken Lager wurde das Ergebnis der Umfrage mit großer Erleichterung aufgenommen. Denn in den vorangegangen Umfragen hatte sich der Abstand zwischen Lula und Bolsonaro zusehends verringert, Bolsonaro holte auf. Dieser Trend ist nach den aktuellen Ergebnissen von Datafolha nun anscheinend gebrochen. Es ist schwer zu sagen, worauf dies zurückzuführen ist. Sicher ist, dass die wirtschaftliche Entwicklung den Amtsinhaber nicht begünstigt. Die Wirtschaftskrise hält an, die Inflation steigt unaufhörlich. Die offizielle Inflationsrate liegt nun bei sieben Prozent, aber der Preisindex für Konsumgüter ist um zwölf Prozent gestiegen. Dies trifft insbesondere die Ärmsten, die Verschlechterung der Lebenslage ist spürbar. Traurigster Indikator dafür ist die Wiederkehr des Hungers in Brasilien. Eine neue Studie geht davon aus, dass im Jahr 2020 rund 55 Prozent der brasilianischen Bevölkerung von Ernährungsunsicherheit betroffen sind, das heißt 116,7 Millionen Menschen. Von diesen 116,7 Millionen sind 19 Millionen, also neun Prozent der Gesamtbevölkerung, von Hunger betroffen und weitere 11,5 Millionen Menschen ohne regelmäßigen und gesicherten Zugang zu Nahrung (siehe LN 563). Dies ist ein Ergebnis der Streichung zahlreicher Sozialprogramme durch die Regierung Bolsonaro. Auf jeden Fall bedeuten die Umfragewerte Rückenwind für die Strategie von Lula und der PT. Anders als bei den letzten Wahlen tritt Lula nun mit einem Wahlbündnis an, das über die üblichen Verdächtigen aus dem linken Lager hinausgeht. Tatsächlich war früh klar, dass die kleineren linken Parteien Lulas Kandidatur unterstützen werden. Auch die sozialistische PSOL wird Lula bereits im ersten Wahlgang unterstützen und keinen eigenen Kandidaten aufstellen. Bei den letzten Präsidentschaftswahlen 2018 war sie mit dem populären Guilherme Boulos von der Bewegung der Wohnungslosen MTST angetreten, der nun für das Bundesparlament kandidieren wird.

Alckmins Nominierung als Lulas Vize ist ein Signal an das bürgerliche Lager

Ein überraschender und möglicherweise wahlentscheidender Schachzug gelang Lula und der PT aber mit der Nominierung von Geraldo Alckmin als Kandidaten für das Amt des Vizepräsidenten. Alckmin war in den letzten Jahrzehnten der wichtigste Politiker der PSDB, dem historischen Widersacher der PT. Präsidentschaftswahlen waren in Brasilien lange Zeit ein Duell zwischen den Kandidat*innen der PT und der PSDB; 2006 unterlag Alckmin Lula bei den Präsidentschaftswahlen. Nach dem katastrophalen Abschneiden der PSDB bei den Präsidentschaftswahlen 2018 hat sich die Partei aber in rivalisierende Lager aufgespalten. Alckmin wechselte zur PSB, einer Partei, die zwar den Sozialismus im Namen führt, aber in vielen Bundesstaaten ein Sammelbecken ohne klares politisches Profil bildet. Alckmin ist jeglicher linker Sympathien unverdächtig, seine Nominierung ist genau das Signal an das bürgerliche Lager, das sich Lula und die Mehrheit seiner Partei wünschen: Unser Bündnis umfasst ein weites politisches Spektrum, niemand – außer der Familie Bolsonaros und dem härtesten Kern seiner Anhänger – müsse vor einer Präsidentschaft Lulas Angst haben, so die Botschaft.

Neidisch schaute die Linke Brasiliens nach Kolumbien

Unter den linken Strömungen der PT und in der PSOL wurde die Nominierung Alckmins hingegen mit Misstrauen und offener Ablehnung aufgenommen. „Wir glauben, dass Alckmin keine Stimmen bringt. Er ist ein Neoliberaler, ein Unterstützer des Putsches (gegen Dilma Rousseff, Anm. d. Red.) und er hat unzählige Male die PT und Lula beleidigt“, kritisierte Valter Pomar, prominenter Vertreter der PT-Linken. Neidisch schaute die Linke Brasiliens nach Kolumbien und wünschte der PT den Mut, eine Frau wie Francia Marquéz auszuwählen. Doch es half alles nichts – mit großer Mehrheit bestätigte der Vorstand der PT Anfang Mai die Kandidatur Alckmins. Die Kritiker*innen haben die Entscheidung zähneknirschend akzeptiert und die Unterstützung der Kandidatur Lulas nicht von der Entscheidung der PT für Alckmin abhängig gemacht. Lula com chuchu (Tintenfisch mit Gurke) heißt daher das Motto der Stunde: Alckmin hat in der Vergangenheit den Spitznamen chuchu bekommen, ein als besonders geschmacklos geltendes Gemüse. Auch wenn in den aktuellen Umfragen Bolsonaro klar hinter Lula liegt – er ist und bleibt der einzige Kandidat, der Aussichten hat, Lula zu schlagen. Deshalb wird immer wieder davor gewarnt, Bolsonaro zu unterschätzen und zu siegesgewiss zu sein. Die Tatsache, dass Bolsonaro trotz der desaströsen Bilanz seiner Regierung über ein stabiles Fundament von etwa 30 Prozent der Wähler*innen verfügt, zeigt, dass der Bolsonarismus inzwischen fest in der brasilianischen Gesellschaft verwurzelt ist und wohl auch auch bei einer Niederlage die kommenden Wahlen überleben würde. Die gesellschaftlichen Gruppen, die den Bolsonarismus speisen, sind die extrem konservativen Evangelikalen und alle diejenigen, die sich durch „Genderideologie“, Feminismus, Menschenrechte und Kommunismus bedroht und von der traditionellen Politik verraten fühlen. Die Zustimmung zu Bolsonaro ist bei Männern höher als bei Frauen und steigt parallel zum Einkommen. Auf dieser Basis wird Bolsonaro seinen Wahlkampf als moralischen Kreuzzug gegen das Böse führen und Themen wie die Verteufelung der Entkriminalisierung von Abtreibung, der Rechte von LGBTIQ* aber auch die Verbindungen der PT zu den als „kommunistisch“ bezeichneten Regierungen von Venezuela, Kuba und Nicaragua in den Mittelpunkt stellen. Lula und die PT hingegen werden genau diese Themen meiden und die wirtschaftliche Lage, die Inflation sowie die zunehmende Verelendung thematisieren und immer wieder zeigen, dass unter Lulas Präsidentschaft alles besser war.

„Leute, wir können jetzt nicht über Abtreibung reden!“

Die Frage der Abtreibung zeigt, wieviel von der PT in diesem Wahlkampf zu erwarten ist. Lula hatte im April bei einer Veranstaltung erklärt, Abtreibung solle zu eine Frage der öffentlichen Gesundheitsfürsorge werden. Nach heftigen Reaktionen erklärte er, dass er persönlich gegen Abtreibung sei, und seitdem wird das Thema von der PT vermieden. Symptomatisch ist die Äußerung der populären Schauspielerin und Lula-Unterstützerin Maria Ribeiro, die vor allem durch den Film Tropa de Elite bekannt wurde: „Leute, wir können jetzt nicht über Abtreibung reden. Darüber sprechen wir nächstes Jahr, verstanden? Wir müssen diese Wahl gewinnen.“ Lulas Wahlsieg hängt davon ab, dass es ihm gelingt, das konservative Lager zu spalten und zumindest zum Teil für sich zu gewinnen. Die Konservativen sind die entscheidende Zielgruppe des Wahlkampfes und für sie ist die Nominierung Alckmins das richtige Signal. Die Linke werde ohnehin Lula wählen, zumal wenn die Alternative Bolsonaro lautet – so das Kalkül von Lula und der PT.

Überschattet wird der beginnende Wahlkampf von einer weiteren Frage: Ist der amtierende Präsident überhaupt bereit, ein anderes Wahlergebnis als seinen Sieg zu akzeptieren? Seit Anfang Mai hat Bolsonaro die Angriffe gegen die demokratischen Institutionen verstärkt, insbesondere gegen den Obersten Gerichtshof STF. Er sät immer wieder Zweifel an dem elektronischen Wahlverfahren und beschwört das Gespenst von Wahlfälschungen. Damit ist die Gefahr eines Putsches in der brasilianischen Presse erneut omnipräsent. So bereitet Bolsonaro das Terrain dafür vor, im Falle einer Wahlniederlage den demokratischen Prozess zu delegitimieren. Das alles erinnert natürlich an die Rhetorik von Donald Trump. Allerdings gibt es einen wichtigen Unterschied: Bolsonaro hat die Unterstützung (weiter Teile) des Militärs und anderer bewaffneter Gruppen aus Militärpolizei, Sicherheitsdiensten und Milizen. Keine andere gesellschaftliche Gruppe hat so von der Regierung Bolsonaros profitiert wie die Militärs. 6.000 Angehörige der Streitkräfte haben gutbezahlte Posten in der Regierung erhalten, mehr als in den Zeiten der Militärdiktatur. Die Gehälter der Militärs wurden angehoben und in den Wahlkampf wird Bolsonaro wohl mit einem loyalen Militär als Kandidat für die Vizepräsidentschaft gehen. Zudem rühmt er sich, dass unter seiner Regierung der Zugang zu Waffen erleichtert wurde. Im Mai dieses Jahres wiederholte Bolsonaro einen seiner Lieblingssprüche: „Das bewaffnete Volk wird niemals versklavt sein. Die Waffe in der Hand der aufrechten Bürger wird nicht nur die Familie, sondern auch das Vaterland verteidigen.“ Und er fügte hinzu: „Meine Regierung ist radikal gegen Abtreibung, Genderideologie und den Kommunismus, und Gott steht über allen.“ Unter den Menschen Angst zu verbreiten, gehört zu den speziellen Fähigkeiten Bolsonaros. Brasiliens Demokratie steht vor schweren Zeiten.

“KÖNNEN WIR NOCH WEITERE VIER JAHRE SO LEBEN?”

Foto: Katie Mähler @katie_maehler

Anfang Oktober sind Wahlen in Brasilien. Welche Erwartungen habt ihr mit Blick auf dieses Ereignis?
Alice: Ich hoffe sehr, dass ein anderer Kandidat als Bolsonaro gewinnt. Ich habe natürlich meine Präferenzen und konkrete Vorstellungen für die Zukunft, aber wie heißt es so schön: Das Leben ist kein Wunschkonzert. Auch wenn ein Kandidat erklärt, die indigenen Völker zu unterstützen, bedeutet das nicht unbedingt viel. Wir benötigen konkrete Aktionen. Während der Vorgängerregierungen hatten wir bereits bemerkt, dass es zwischen der indigenen Bewegung und der brasilianischen Politik eine tiefe Spaltung gibt. Und das müssen wir ein für alle Mal verändern. Ich hoffe wirklich sehr, dass die neue Regierung kompromissbereit sein wird und Verantwortung übernimmt. Denn bei Wahlkundgebungen ist es sehr einfach, Unterstützung zu zeigen. Doch sie in die Praxis umzusetzen und das Leben der Indigenen etwas zu erleichtern sowie endlich die Anerkennung der indigenen Territorien umzusetzen, das wäre für uns alle ideal.

Wie sind eure Erfahrungen als indigene Frauen und politische Führungspersönlichkeiten der Pataxó und der Uru Eu Wau Wau?
Tejubi: Bisher ist das eine gute Erfahrung für mich. Es ist zum Beispiel das erste Mal, dass ich als Vertreterin meines Volkes so weit gereist bin. Dass meine Tochter so weit weg ist, macht mir etwas Angst, weil ich oft an die Invasionen in unser Land denke und weiß, dass immer etwas Schlimmes passieren kann. Ich muss aber sagen, dass es nicht immer einfach war, mein Volk zu vertreten, denn ich wurde häufig diskriminiert und habe gehört, dass Frauen diese Aufgaben nicht übernehmen können. Aber ich stehe hier, um zu zeigen, dass wir es doch können.
Alice: Das ist ein extrem komplexes Thema. Wir sprechen von indigenen Völkern, die immer noch vom Patriarchat und gewissermaßen auch vom Machismo dominiert werden. Die Pataxós haben heute eine größere Offenheit, so sehe ich es, da es seit vielen Jahren Frauen gibt, die Führungspersönlichkeiten und Caciques sind. Diese Entwicklung nimmt zu. Heute sehe ich mehr Mädchen, die sich in politischen Räumen beteiligen und ihre Communities vertreten können. Das ist auch für uns sehr wichtig, denn wir bewegen uns von einer Position, in der wir nur als Frauen oder Mütter gesehen werden, zu einer anderen, in der wir eine politische, individuelle Person sein dürfen. Dabei geht es nicht nur um Zugang zur Politik, sondern auch um andere Möglichkeiten, wie zum Beispiel ein Studium. Das stärkt alle indigenen Frauen.

Wie blickt ihr auf die indigenen Kämpfe der letzten Jahre, in denen die Regierung Bolsonaro die territorialen Besetzungen und den Genozid an den indigenen Völkern vorangetrieben hat?
Alice: Der Genozid ist das Hauptmerkmal der Regierung von Bolsonaro. Ich habe noch nie eine solche Gesetzlosigkeit erlebt, sie erstickt die indigene Bevölkerung langsam. Die Suizidrate von Indigenen ist gestiegen, ebenso wie die von LGBT. Die Lage ist chaotisch, vor allem in Bezug auf die Pandemie. Es macht uns extrem traurig – umso mehr, wenn wir daran denken, dass Bolsonaro erneut kandidieren will. Falls er gewinnt, was werden wir tun, um mit seiner Politik umgehen zu können? Denn ehrlich gesagt, ist der Schaden nach vier Jahren seiner Regierung äußerst groß. Ich frage mich, ob wir noch weitere vier Jahre so leben können.
Tejubi: Seit Bolsonaro an der Macht ist, stellen alle fest, dass die Besetzungen in den indigenen Territorien beträchtlich zugenommen haben. Ich denke gerade an eine Geschichte, die bei uns passiert ist. Einige Invasoren sind in unser Land eingedrungen. Meine Verwandten sind zu ihnen gegangen und haben von ihnen gehört: „Das ist ein Befehl von oben. Wichtige Menschen haben uns erlaubt, das Land hier zu besetzen”. Wir Indigene und viele andere Brasilianer haben nur Probleme seit dem Beginn von Bolsonaros Amtszeit. Aber manche nehmen die Katastrophe nicht wahr, denn die Mehrheit seiner Unterstützer besitzen Land und Vieh und befürworten die Abschaffung indigener Territorien völlig.
Alice: Die Regierung Bolsonaro verfolgt eine politische Agenda, die sich gegen die indigenen Völker richtet und gegen die Menschen aus Favelas. Es ist für uns sehr schwer zu akzeptieren, dass das bestehende brasilianische System nur weiße Personen berücksichtigt, die über Privilegien und Ressourcen verfügen. Alle Vorstellungen von Entwicklung, die aktuell von der Regierung vertreten werden, basieren darauf. Auf Geld, auf Entwaldung, kurz: auf allem, was wir bekämpfen und seit langem versuchen zu verändern.

Welche Rolle spielte der digitale Aktivismus in euren politischen Kämpfen?
Alice: Ich arbeite heutzutage mit sozialen Medien. Sie sind ein Werkzeug mit großem Potenzial, das der indigenen Bewegung viel geben kann, denn sie dienen dazu, Menschen, die keinen Zugang zu unseren Communities haben, über unsere Bewegung und unsere Realität zu infor-*mieren. Es gibt eine riesige, nicht nur geographische, Distanz zwischen indigenen Dörfern und den Städten in Brasilien und dies hat natürlich Konsequenzen. Wir müssen aber gut aufpassen, denn dieses Werkzeug hat andererseits auch negative Effekte. Es gibt eine neue Generation, die langsam diesen virtuellen Raum besetzt, der ursprünglich nicht für uns geschaffen worden ist. Hier in Deutschland und Europa ist das Engagement über die sozialen Medien sehr stark, viele zeigen großes Interesse für die indigene Bewegung in Brasilien. Diese Annäherung wurde nur dank des Internets ermöglicht.
Tejubi: Alice ist die Influencerin von uns beiden (Gelächter).
Alice: Ich sehe mich nicht als Influencerin, denn ich beeinflusse Menschen nicht. Vielmehr kläre ich sie auf, denn das interessiert mich. Ich will nicht sagen, was die anderen tun sollten. “Influence” ist ein Begriff, der für die Kommerzialisierung konzipiert wurde und ich denke einfach anders.
Tejubi: Das Internet war für uns von Uru Eu Wau Wau sehr wichtig, denn so konnten wir etwas bekannter werden. Wir haben gelernt, Drohnen und GPS zu nutzen, um ein Harpyie-Nest (seltener, tropischer Greifvogel, der in den höchsten Baumkronen nistet, Anm. d. Red.) zu beobachten. Dies haben wir der FUNAI (Nationale Behörde für Indigene, Anm. d. Red.) gezeigt, um zu dokumentieren, dass dort Entwaldung stattfindet. Obwohl sie dem widersprochen haben – sie wären dort gewesen und hätten nichts gefunden, sagten sie – haben wir angefangen zu posten, was in unserem Territorium geschieht, und hoffen nun, dass uns dies helfen kann.

Wie stellt ihr euch das Engagement der jungen Generationen gegen die Entwaldung und für die Umwelt vor?
Alice: Junge Menschen können etwas tun, auch auf autonome Art und Weise. Mein Großvater hat mir immer gesagt, dass die Jugendlichen von heute die Führungsfiguren von morgen sein werden. In dieser Hinsicht ist unsere Bewegung sehr gewachsen und das ist extrem positiv. Ich hoffe, dass wir mehr Zugang zu Möglichkeiten erhalten sowie weniger Vorurteile und Diskriminierungen erleben werden, denn wir sind dagegen nicht immun. Unsere Jugend braucht auch mehr Engagement der neuen Generationen anderer Länder, um die echten Probleme besser angehen zu können.

In Bezug auf eure Reise nach Europa: Wie schätzt ihr die Möglichkeiten ein, mit internationalen Akteuren zu kooperieren?
Tejubi: Ich hoffe, dass unsere Reise nach Europa positive Folgen haben wird. Mein Volk würde sich sehr darüber freuen, wenn ich mit konkreten Ergebnissen zurückkehren könnte. Ich denke dabei an die Ermordung zweier meiner Onkel, die keine juristischen Konsequenzen hatte. Der eine war Lehrer und Mitglied einer Monitoring-Gruppe, er wurde vor zwei Jahren ermordet. Der andere erst vor drei Monaten, wahrscheinlich von einem Goldgräber in Guajará-Mirim. Wir haben dazu noch nichts erfahren, weder von Seiten der FUNAI, noch der Polizei. Es ist sehr schwierig für mich, wenn mich meine Großmutter fragt, ob ich hier schon etwas erreichen konnte, um die Verbrechen aufzuklären.
Alice: Ich finde es auf jeden Fall positiv und notwendig, die Realität unseres Kampfes in einem internationalen Kontext darstellen zu können. Beispielsweise können durch Kunst unsere Gefühle und andere Aspekte unserer Bewegung sehr effektiv kommuniziert werden. Auch wenn wir in den letzten Jahren mehr Raum in der nationalen wie internationalen Politik einnehmen konnten, kommen wir in vielerlei Hinsicht immer noch zuletzt, was sehr schade ist.

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