
Im Mittelpunkt stand am 17. August die Präsidentschaftswahl, doch knapp acht Millionen stimmberechtige Bolivianer*innen wählten auch 130 Mitglieder des Abgeordnetenhauses und 36 Senator*innen für die nächsten fünf Jahre. Meinungsumfragen, die in Bolivien allerdings nur begrenzt aussagekräftig sind, hatten zuvor ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Jorge „Tuto“ Quiroga von der rechten Freien Allianz (AL) und dem liberalen Unternehmer Samuel Doria Medina von der Vereinten Allianz (AU) prognostiziert. Doria Medina erhielt 19,7 Prozent und scheiterte damit auch bei seiner vierten Kandidatur für die Präsidentschaft.
Der amtierende Präsident Luis Arce von der Bewegung zum Sozialismus (MAS) verzichtete auf eine erneute Kandidatur. Ihm wird die schwere Wirtschaftskrise in Bolivien angelastet, seine Kandidatur wäre chancenlos gewesen. Die vergangenen drei Jahre hatten Arce und der langjährige Präsident Evo Morales (2006-2019) um die Macht in der MAS gestritten. Morales wollte erneut antreten, doch das Plurinationale Verfassungsgericht (Tribunal Constitucional Plurinacional, TCP) verwehrte ihm die Kandidatur mit der Begründung, dass die Verfassung von 2009 maximal zwei Amtsperioden erlaube – und Morales hatte bereits für zwei Amtszeiten seit Inkrafttreten dieser Verfassung regiert, insgesamt sogar für drei.
MAS stürzt mit ihrem Kandidaten Eduardo Del Castillo auf 3,2 Prozent ab
Die MAS zerfiel vor der Wahl in drei Strömungen: Morales rief zur Abgabe ungültiger Stimmen („Voto Nulo“) auf, um auf diese Weise die Unterstützung für ihn zu demonstrieren – und tatsächlich waren 19,9 Prozent der Stimmzettel ungültig, in den Wahlen davor hatte deren Anteil nie über vier Prozent gelegen. Senatspräsident Andrónico Rodriguez, der sich mit seinem früheren politischen Förderer Morales überworfen hatte, trat für die Alianza Popular an und erreichte 8,5 Prozent. Die MAS selbst stürzte mit ihrem Kandidaten Eduardo Del Castillo auf 3,2 Prozent ab. Damit ist die einst mächtige MAS im Senat nicht mehr vertreten und hat nur noch zwei Sitze im Abgeordnetenhaus. Rechte Parteien dominieren nun beide Kammern des Parlaments, doch der künftige Präsident ist auf Koalitionen angewiesen.
Die Stichwahl, die durch die Verfassung von 2009 eingeführt wurde, bringt keine echte Richtungsentscheidung, sondern die Wahl zwischen zwei rechten Kandidaten. Der 58 Jahre alte Rodrigo Paz inszenierte sich als Außenseiter, obwohl er Teil des politischen Establishments ist: Paz war Bürgermeister der Stadt Tarija im Süden Boliviens, seit 2020 ist er Senator für das Departamento Tarija, außerdem ist er der Sohn des ehemaligen Staatspräsidenten Jaime Paz (1989-1993). Dennoch verkörpert Paz eine gewisse Erneuerung aus der konservativen Mitte. Auf Reisen durch das ganze Land suchte er den direkten Kontakt zur Bevölkerung, während seine Konkurrenten wochenlang in den Städten auf riesigen Werbetafeln warben und viel Geld in Social Media investierten.
Das Duo verspricht Korruptionsbekämpfung und „Kapitalismus für alle“
Stimmen brachte Paz auch sein Kandidat für die Vizepräsidentschaft, Edmand Lara. Der 39-jährige Rechtsanwalt und ehemalige Polizist wurde als „Capitán Lara“ durch Videos auf TikTok bekannt. Lara war als Hauptmann verhaftet und entlassen worden, nachdem er Bestechung und Erpressung durch seine Vorgesetzten angeprangert hatte. Das Duo verspricht Korruptionsbekämpfung und „Kapitalismus für alle“. Im Kampf gegen die Wirtschaftskrise verspricht Paz eine Dezentralisierung des Staates, erschwingliche Kredite und die Schaffung eines Stabilisierungsfonds mit Kryptowährungen. Damit punktete das Duo auch bei Indigenen Mittelschichten und in ländlichen Regionen des Hochlands, einstigen Hochburgen der MAS. In seinem eigenen Departamento Tarija landeten Paz und die PDC dagegen nur auf Platz drei, zudem ermittelt dort die Staatsanwaltschaft gegen ihn wegen Korruption bei Bauprojekten während seiner Zeit als Bürgermeister.
Der 65 Jahre alte ultrarechte Wirtschaftswissenschaftler Quiroga steht dagegen für den Neoliberalismus, der Bolivien Anfang der 2000er in eine tiefe Krise stürzte. Vor mehr als einem Vierteljahrhundert diente Quiroga als Vizepräsident unter der vorherigen Militärdiktatur Hugo Banzers, nach dessen Rücktritt 2001 war er ein Jahr lang Übergangpräsident. Sein Kandidat für die Vizepräsidentschaft, Juan Pablo Velasco, ist ein 38 Jahre alter Digitalunternehmer und politischer Quereinsteiger. Dieser hatte für Aufmerksamkeit und Verwunderung gesorgt, als er versprach, die Arbeit im Staatsdienst wieder „sexy” machen zu wollen.
Quiroga kündigt einen „radikalen Wechsel“ an und verspricht drastische Kürzungen im Staatshaushalt, er will staatliche Unternehmen privatisieren, Subventionen senken und die Beziehungen zu Kuba, Venezuela und Nicaragua abbrechen. Das Duo erhielt vor allem Stimmen in Boliviens Wirtschaftsmetropole Santa Cruz de la Sierra und den Departamentos im östlichen Tiefland.
Wenn es Paz gelingt, einen Großteil der Wähler*innen von Doria Medina, Rodríguez und Del Castillo auf seine Seite zu ziehen, sind seine Chancen auf einen Wahlsieg gut. Wer auch immer gewinnt und am 8. November die Präsidentschaft übernimmt, erbt eine schwere Wirtschaftskrise: Der Dollar, mit dem viele Waren des täglichen Lebens importiert werden, ist knapp. Deshalb fehlt es auch an Benzin und Diesel. Die Preise für Lebensmittel und Medikamente steigen, die Inflationsrate lag im Juli bei fast 25 Prozent im Jahresvergleich.
Die politische Landschaft Boliviens ist fragmentiert. Die einst dominierende MAS ist geschwächt, gegen Morales liegt ein Haftbefehl wegen Missbrauchs einer Minderjährigen vor. Unklar ist, wie sich soziale Organisationen, Gewerkschaften, bäuerliche und Indigene Gemeinschaften sowie die junge Generation Boliviens positionieren. Entscheidend wird, ob soziale Errungenschaften wie der Plurinationale Staat verteidigt oder von der Rechten zurückgedrängt werden – und welche Maßnahmen gegen die Krise greifen, ohne Armut und gesellschaftliche Benachteiligungen weiter zu verschärfen.





























