Bolivien rückt nach rechts

Im Mittelpunkt stand am 17. August die Präsidentschaftswahl, doch knapp acht Millionen stimmberechtige Bolivianer*innen wählten auch 130 Mitglieder des Abgeordnetenhauses und 36 Senator*innen für die nächsten fünf Jahre. Meinungsumfragen, die in Bolivien allerdings nur begrenzt aussagekräftig sind, hatten zuvor ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Jorge „Tuto“ Quiroga von der rechten Freien Allianz (AL) und dem liberalen Unternehmer Samuel Doria Medina von der Vereinten Allianz (AU) prognostiziert. Doria Medina erhielt 19,7 Prozent und scheiterte damit auch bei seiner vierten Kandidatur für die Präsidentschaft.

Der amtierende Präsident Luis Arce von der Bewegung zum Sozialismus (MAS) verzichtete auf eine erneute Kandidatur. Ihm wird die schwere Wirtschaftskrise in Bolivien angelastet, seine Kandidatur wäre chancenlos gewesen. Die vergangenen drei Jahre hatten Arce und der langjährige Präsident Evo Morales (2006-2019) um die Macht in der MAS gestritten. Morales wollte erneut antreten, doch das Plurinationale Verfassungsgericht (Tribunal Constitucional Plurinacional, TCP) verwehrte ihm die Kandidatur mit der Begründung, dass die Verfassung von 2009 maximal zwei Amtsperioden erlaube – und Morales hatte bereits für zwei Amtszeiten seit Inkrafttreten dieser Verfassung regiert, insgesamt sogar für drei.

MAS stürzt mit ihrem Kandidaten Eduardo Del Castillo auf 3,2 Prozent ab


Die MAS zerfiel vor der Wahl in drei Strömungen: Morales rief zur Abgabe ungültiger Stimmen („Voto Nulo“) auf, um auf diese Weise die Unterstützung für ihn zu demonstrieren – und tatsächlich waren 19,9 Prozent der Stimmzettel ungültig, in den Wahlen davor hatte deren Anteil nie über vier Prozent gelegen. Senatspräsident Andrónico Rodriguez, der sich mit seinem früheren politischen Förderer Morales überworfen hatte, trat für die Alianza Popular an und erreichte 8,5 Prozent. Die MAS selbst stürzte mit ihrem Kandidaten Eduardo Del Castillo auf 3,2 Prozent ab. Damit ist die einst mächtige MAS im Senat nicht mehr vertreten und hat nur noch zwei Sitze im Abgeordnetenhaus. Rechte Parteien dominieren nun beide Kammern des Parlaments, doch der künftige Präsident ist auf Koalitionen angewiesen.

Die Stichwahl, die durch die Verfassung von 2009 eingeführt wurde, bringt keine echte Richtungsentscheidung, sondern die Wahl zwischen zwei rechten Kandidaten. Der 58 Jahre alte Rodrigo Paz inszenierte sich als Außenseiter, obwohl er Teil des politischen Establishments ist: Paz war Bürgermeister der Stadt Tarija im Süden Boliviens, seit 2020 ist er Senator für das Departamento Tarija, außerdem ist er der Sohn des ehemaligen Staatspräsidenten Jaime Paz (1989-1993). Dennoch verkörpert Paz eine gewisse Erneuerung aus der konservativen Mitte. Auf Reisen durch das ganze Land suchte er den direkten Kontakt zur Bevölkerung, während seine Konkurrenten wochenlang in den Städten auf riesigen Werbetafeln warben und viel Geld in Social Media investierten.

Das Duo verspricht Korruptionsbekämpfung und „Kapitalismus für alle“


Stimmen brachte Paz auch sein Kandidat für die Vizepräsidentschaft, Edmand Lara. Der 39-jährige Rechtsanwalt und ehemalige Polizist wurde als „Capitán Lara“ durch Videos auf TikTok bekannt. Lara war als Hauptmann verhaftet und entlassen worden, nachdem er Bestechung und Erpressung durch seine Vorgesetzten angeprangert hatte. Das Duo verspricht Korruptionsbekämpfung und „Kapitalismus für alle“. Im Kampf gegen die Wirtschaftskrise verspricht Paz eine Dezentralisierung des Staates, erschwingliche Kredite und die Schaffung eines Stabilisierungsfonds mit Kryptowährungen. Damit punktete das Duo auch bei Indigenen Mittelschichten und in ländlichen Regionen des Hochlands, einstigen Hochburgen der MAS. In seinem eigenen Departamento Tarija landeten Paz und die PDC dagegen nur auf Platz drei, zudem ermittelt dort die Staatsanwaltschaft gegen ihn wegen Korruption bei Bauprojekten während seiner Zeit als Bürgermeister.

Der 65 Jahre alte ultrarechte Wirtschaftswissenschaftler Quiroga steht dagegen für den Neoliberalismus, der Bolivien Anfang der 2000er in eine tiefe Krise stürzte. Vor mehr als einem Vierteljahrhundert diente Quiroga als Vizepräsident unter der vorherigen Militärdiktatur Hugo Banzers, nach dessen Rücktritt 2001 war er ein Jahr lang Übergangpräsident. Sein Kandidat für die Vizepräsidentschaft, Juan Pablo Velasco, ist ein 38 Jahre alter Digitalunternehmer und politischer Quereinsteiger. Dieser hatte für Aufmerksamkeit und Verwunderung gesorgt, als er versprach, die Arbeit im Staatsdienst wieder „sexy” machen zu wollen.

Quiroga kündigt einen „radikalen Wechsel“ an und verspricht drastische Kürzungen im Staatshaushalt, er will staatliche Unternehmen privatisieren, Subventionen senken und die Beziehungen zu Kuba, Venezuela und Nicaragua abbrechen. Das Duo erhielt vor allem Stimmen in Boliviens Wirtschaftsmetropole Santa Cruz de la Sierra und den Departamentos im östlichen Tiefland.
Wenn es Paz gelingt, einen Großteil der Wähler*innen von Doria Medina, Rodríguez und Del Castillo auf seine Seite zu ziehen, sind seine Chancen auf einen Wahlsieg gut. Wer auch immer gewinnt und am 8. November die Präsidentschaft übernimmt, erbt eine schwere Wirtschaftskrise: Der Dollar, mit dem viele Waren des täglichen Lebens importiert werden, ist knapp. Deshalb fehlt es auch an Benzin und Diesel. Die Preise für Lebensmittel und Medikamente steigen, die Inflationsrate lag im Juli bei fast 25 Prozent im Jahresvergleich.

Die politische Landschaft Boliviens ist fragmentiert. Die einst dominierende MAS ist geschwächt, gegen Morales liegt ein Haftbefehl wegen Missbrauchs einer Minderjährigen vor. Unklar ist, wie sich soziale Organisationen, Gewerkschaften, bäuerliche und Indigene Gemeinschaften sowie die junge Generation Boliviens positionieren. Entscheidend wird, ob soziale Errungenschaften wie der Plurinationale Staat verteidigt oder von der Rechten zurückgedrängt werden – und welche Maßnahmen gegen die Krise greifen, ohne Armut und gesellschaftliche Benachteiligungen weiter zu verschärfen.


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

Ein Land am Scheideweg

Verblassendes Erbe Evo Morales will zwar erneut zur Wahl antreten, doch legal wäre das nicht. (Foto: Nicolai Koch)

Trotz allem kam die Ankündigung von Luis Arce Mitte Mai überraschend: Der amtierende bolivianische Präsident kündigte an, bei der bevorstehenden Präsidentschaftswahl nicht erneut als Kandidat anzutreten. Zu groß war wohl der Unmut von Seiten der Bevölkerung. „Viele Menschen sind sehr beunruhigt und enttäuscht, weil wir mehrere Jahre in Frieden und Ruhe gelebt haben. Jetzt stehen wir vor komplizierten Jahren“, sagt Luis Flores Vásquez, der seit fast zehn Jahren als freier Journalist in Bolivien arbeitet. „Ich glaube, die Menschen haben Zweifel, Unsicherheiten. Sie wissen nicht, was passieren wird, und sie wissen nicht, wen sie wählen werden. Es fehlt an einer Vision für das Land.“

Seit Monaten leidet Bolivien unter einem akuten Mangel an US-Dollar. Dies hat zu einem wachsenden Schwarzmarkt der US-Währung geführt, wobei der inoffizielle Kurs den offiziellen um das Zwei- bis Dreifache übersteigt. Es trifft die Wirtschaft und das Alltagsleben der Bolivianer*innen besonders hart, da das Land stark auf US-Dollar für Importe angewiesen ist. So wird beispielsweise ein Großteil des Benzins aus dem Ausland bezogen. Das hat zu erheblichen Komplikationen geführt: Seit Monaten bilden sich jeden Tag lange Warteschlangen an den Tankstellen, mit Wartezeiten von bis zu vier Stunden.

Auch die zivile Infrastruktur ist direkt betroffen: Am Busbahnhof von La Paz fuhr wegen des Treibstoffmangels zwischenzeitlich nur etwa jeder fünfte Bus. Gleichzeitig waren in Santa Cruz nur etwa 40 Prozent der Krankenwagen im Einsatz. Zudem sind die Lebensmittelpreise in den vergangenen Monaten spürbar gestiegen – die kumulierte Inflation des ersten Halbjahres 2025 lag bei alarmierenden 15,53 Prozent.

Vor diesem Hintergrund fiel es schwer, sich Arce als zukünftigen Präsidenten vorzustellen. Doch neben der wachsenden Unzufriedenheit in der Bevölkerung, hat Arce auch mit innerparteilichen Konflikten in seiner politischen Heimat, der Bewegung zum Sozialismus (MAS), zu kämpfen. Die MAS prägte die politische Landschaft in den letzten 20 Jahren wie wenig andere Parteien in den Ländern Lateinamerikas. Erwähnenswert ist vor allem die ungewöhnliche Parteistruktur, denn die MAS entstand aus dem Zusammenschluss der bäuerlichen Landrechtsbewegung ASP und unterschiedlichen volksnahen politischen Parteien, gesellschaftlichen Organisationen, Gewerkschaften und Nachbarschaftsorganisationen, was die sozialistische Partei bis heute prägt.

Aus den Kreisen der Kokabauernbewegung erschien Mitte der 90er-Jahre der schlagfertige und charismatisch wirkende Evo Morales auf der politischen Bühne. Nach einigen Jahren als Parlamentsabgeordneter für die MAS wurde er als Kandidat für die Präsidentschaftswahlen aufgestellt. 2002 verpasste er den Wahlsieg knapp, gewann aber 2005 mit einer absoluten Mehrheit von 53 Prozent die Wahlen und wurde der erste Indigene Präsident des lateinamerikanischen Landes. „Evo ist ein Wendepunkt in der Geschichte Boliviens. In den ersten 180 Jahren wurde das Land von der weißen, kolonialen Elite regiert. Seit 2005 ist es so, dass ‘einer von uns’ dieses Land regieren kann“, betont Vásquez. „Heute gibt es viele Beamt*innen und Politiker*innen, die Mamani, Quispe oder Condori heißen. Wenn du früher in eine teure Diskothek gegangen bist, haben sie dich mit diesem Nachnamen rausgeworfen. Heute werden sie dich nicht einfach so rausschmeißen, denn du könntest der Sohn eines MAS-Senators sein.“

In den ersten Jahren seiner Präsidentschaft florierte das Land und die Wirtschaft. Die versprochene Verstaatlichung der Gasindustrie füllte die Staatskassen gewaltig. Unter Morales investierte die Regierung im großen Stil in Bildungseinrichtungen, bessere Löhne und ein gut strukturiertes Rentensystem. Das BIP des Landes wuchs zwischen 2004 und 2017 um durchschnittlich 4,8 Prozent, während der Anteil der Menschen, die in extremer Armut leben, von 36 Prozent mehr als halbiert wurde auf 17 Prozent.

MAS-Partei vor dem Absturz?

Gerade in den vergangenen Jahren Morales’ Amtszeit bis zur Absetzung 2019 gab es einige Kontroversen, darunter große Korruptionsfälle, den geplanten Bau einer Autobahn mitten durch das Regenwald- und Indigenenschutzgebiet TIPNIS (siehe LN 536) oder seine umstrittene Entscheidung, ein drittes Mal als Kandidat bei den Wahlen antreten zu wollen, obwohl die von ihm eingeführte Verfassung von 2009 nur zwei aufeinanderfolgende Amtszeiten ermöglicht. Vásquez sieht die Figur Evo Morales entsprechend ambivalent: „Er war notwendig und wichtig im Hinblick auf die Geschichte und die Rebellionen der Indigenen Bevölkerung. Aber er endete in einem diktatorischen Regime, das vor allem nach Macht strebte. Seine Person ist ihm wichtiger als sein eigenes linkes Konzept.“

Morales damaliger Parteifreund und Ex-Wirtschaftsminister Luis Arce gewann 2021 die Wahlen. Doch die beiden Politiker zerstritten sich, woraufhin sich die Partei in zwei Lager spaltete: die Arcistas (Anhänger*innen Luis Arces) und Evistas (Unterstützer*innen von Evo Morales). Der endgültige Bruch erfolgte dann im Februar dieses Jahres, als Morales aus der MAS austrat. Jetzt, etwa einen Monat vor den Wahlen, steht die Partei vor einem Machtvakuum: Viele der Evistas sind mit ihrem Anführer ausgetreten; der Block der Arcistas wirkt schwach und muss sich neu organisieren.

Als Nachfolge für Arce hat die MAS den aktuellen Innenminister Eduardo del Castillo aufgestellt, eine eher unbekannte Persönlichkeit aus den Reihen der Partei. In welcher ernsten Lage er und die MAS sich befinden, zeigen erste Umfragen, die in den letzten Wochen veröffentlicht wurden. Dort kommt er nur auf etwa eins bis zwei Prozent der Stimmen. Die MAS scheint am Ende zu sein.

Überraschungsoption Andrónico Rodríguez

Aus dem Chaos der MAS-Partei heraus scheint jedoch eine neue politische Bewegung zu entstehen. Der derzeitige Senatspräsident, Andrónico Rodríguez, präsentiert sich als neue linke Option. Mit seinen 36 Jahren gehört er zur neuen Generation der politischen Linken und tritt für die Alianza Popular (dt.: Volksallianz) an. Ex-Präsident Evo Morales und ihn verbindet eine gemeinsame Vergangenheit. So war Rodríguez bis vor kurzem Vizepräsident der „Sechs Föderationen der Tropen Cochabambas”, den regionalen Verbänden der Kokabauer*innen, dessen Vorsitz Evo Morales innehat. Nachdem Rodriguez jedoch seine Kandidatur zur Präsidentschaft verkündete, kam es zum Bruch zwischen ihm und seinem Mentor Morales. Denn seine Kandidatur war nicht mit dem Tropenverband abgesprochen. „Es gibt hier keinen Plan B, der einzige Kandidat ist Evo”, hatte der Ex-Präsident immer wieder betont.

Im Unterschied zu seinem Mentor Morales gilt Rodríguez als weniger provokativ, dialogorientierter und kompromissbereiter. Für Vásquez ist er der Einzige, der die gesamte Linke vereinen könnte. Einen endgültigen Bruch zwischen ihm und Morales versucht Rodríguez anscheinend zu vermeiden. Bei einer Pressekonferenz zum Auftakt seiner Kandidatur sagte er über seinen früheren Förderer: „Auch wenn er nicht mehr an mich denkt oder mich nicht mehr liebt, werde ich immer an ihn denken. Ich werde weder undankbar noch illoyal sein.”

Diese Aussagen könnten damit zusammenhängen, dass Morales einen Großteil der Indigenen, ländlichen Wählerschaft hinter sich hat. Je nach Umfrage geben zwischen 15 und 25 Prozent der Bolivianer*innen an, bei der Wahl im August einen leeren oder ungültigen Stimmzettel abzugeben oder noch unentschlossen zu sein. Es ist davon auszugehen, dass ein beträchtlicher Anteil dieser Wählergruppe Morales-Anhänger*innen sind, die nur für ihn und für keinen anderen Kandidaten stimmen würden. Vásquez rechnet sogar mit mehr als 30 Prozent der Wähler*innen, die weiterhin hinter Morales stehen. „Diese Monate sind für Andrónico Rodríguez von grundlegender Bedeutung, denn in erster Linie geht es darum, ob er immer noch an Evos Seite stehen wird oder nicht.“ Ohne seine Stimmen dürfte es für Rodríguez schwierig werden, vor allem in einer möglichen Stichwahl zu bestehen. Denn auf Seiten der politischen Rechten gibt es namhafte Konkurrenz. Ursprünglich planten die Mitte-rechts-Parteien, als geeinte Kraft und mit einem Kandidaten bei den Wahlen anzutreten. Dazu wurde ein Einheitsabkommen der moderat-konservativen bis stramm rechten politischen Granden Boliviens unterzeichnet. Selbstbewusst wurde angekündigt, „den schändlichen Kreislauf der MAS zu beenden”. Doch keine vier Monate später zerbrach der Einheitspakt an Uneinigkeiten über die Finanzierung interner Meinungsumfragen.

Versuch einer vereinten Front von rechts gegen die MAS zerbricht an Geldfragen (Foto: Nicolai Koch)

Daran beteiligt waren vorrangig Samuel Doria Medina und Jorge Quiroga Ramírez, die als aussichtsreichste Kandidaten gelten. Beide eint, dass sie lange im politischen Geschäft aktiv sind. Doria Medina war von 1991 bis 1993 Planungsminister Boliviens und scheiterte 2014 bei den Präsidentschaftswahlen deutlich an Amtsinhaber Evo Morales. Darüber hinaus ist er dem Land als Geschäftsmann bekannt: Er besaß Anteile an der bolivianischen Zementgesellschaft SOBOCE und brachte die Fast-Food-Franchises Burger King und Subway nach Bolivien. 2014 zog er sich dann teilweise aus der Wirtschaft zurück, um sich komplett der Politik und seiner gegründeten Partei Frente de Unidad Nacional (dt.: Front der Nationalen Einheit) zu widmen.

Jorge Quiroga Ramírez, von seinen Anhänger*innen meistens nur Tuto genannt, erlangte seine politische Bekanntheit primär durch seine Zeit als Vizepräsident unter dem ehemaligen Militärdiktator Hugo Banzer. In den 70er-Jahren putschte dieser sich als Militäroffizier an die Macht. Nach seiner Absetzung 1978 und der Wiedereinführung der Demokratie kandidierte er 1997 für die Präsidentschaftswahlen – mit Jorge Quiroga Ramírez als Vizepräsidenten.

Wirtschaftspolitisch unterscheiden sich die Programme von Doria Medina und Tuto kaum. Beide wollen einige der verstaatlichten Unternehmen wieder privatisieren, ausländische Investitionen ins Land bringen und eine Abkehr von den Subventionen für Benzin. Sie streben an, den Dollarkurs zu stabilisieren und das Unternehmertum zu fördern – also ein klassisch (neo-)liberales Programm. Für Vásquez unterscheiden sich beide Kandidaten in ihrer Radikalität: „Samuel Doria Medina ist wahrscheinlich der Gemäßigtste von allen Mitte-rechts-Kandidaten. Tuto aber halte ich für ein sehr gefährliches Element für das Land. Er ist absolut pro-USA und hat Kontakte zu vielen rechten bis rechtsextremen internationalen Kreisen. Er würde über Leichen gehen, um seine Ziele zu erreichen.“ Neben Quiroga Ramírez und Doria Medina bewirbt sich auch der rechtspopulistische Manfred Reyes Villa für die Präsidentschaft. Schon 2003 kandidierte er, landete aber auf dem dritten Platz. Seit 2021 ist er Bürgermeister von Cochabamba, der viertgrößten Stadt Boliviens. Ihm werden wenige Chancen zugerechnet, da er über das Departamento Cochabamba hinaus keinen großen Anhang hat. In aktuellen Umfragen landet er abgeschlagen auf dem vierten Platz.

Rechte Kandidaten wollen Politik nach Vorbild Argentiniens

Als Außenseiter mit Potenzial gilt Jaime Dunn. Er versucht sich neben all den schon bekannten Männern als personifizierten Neuanfang im Kandidatenpool zu profilieren. Im Stile des argentinischen Präsidenten Javier Milei predigt er vollständig gegen eine Einmischung des Staates in die Wirtschaft. Dunn gilt als nahbarer Wirtschaftsexperte – kompetent, aber verständlich in seinen Erklärungen. In der aktuellen Wirtschaftskrise wirkt diese Kombination besonders anziehend. Dass er bei den bevorstehenden Wahlen für eine Überraschung sorgen könnte, kann nicht ausgeschlossen werden.

Derweil versucht Ex-Präsident Morales weiterhin, an den Wahlen teilzunehmen – ungeachtet dessen, dass ein Urteil des Verfassungsgerichts erneut bestätigt hat, dass er nach seinen insgesamt drei Amtszeiten gemäß der Verfassung nicht erneut antreten darf. Nichtsdestotrotz blockierten seine Anhänger*innen in den vergangenen Wochen zahlreiche bedeutende Autobahnen, die die Großstädte miteinander verbinden. Sie forderten die Zulassung ihres Anführers als Kandidat für die Wahlen und eine Lösung für den Dollar- und Treibstoffmangel. In der Ortschaft Llallagua im Departamento Potosí kam es Mitte Juni zu besonders heftigen Zusammenstößen zwischen Polizei und Morales-Anhänger*innen. Dabei kamen ein 18-jähriger Schüler und drei Polizisten ums Leben. Es ist der bisherige traurige Höhepunkt der Auseinandersetzungen. Ereignisse wie diese sieht Vásquez mit Sorge: „Ich hoffe, dass nicht noch mehr Menschen getötet werden. Denn es sind nicht die Politiker*innen, es sind immer die Ärmeren, die sterben.“


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

„Die Menschen wenden sich von der Politik ab“

Foto: Privat.

Thaís Rodríguez: ist Journalistin, Dokumentarfilmerin, Menschenrechtsverteidigerin und Aktivistin der politischen Strömung Comunes. Comunes vereint Linke aus rund zehn Bundesstaaten Venezuelas, die sich zusammengefunden haben, um angesichts der dramatischen Lage für eine gemeinsame Perspektive zu kämpfen.

Am Sonntag, dem 25. Mai, war Wahltag. Wie hast du diesen Tag erlebt?
Ich will ganz offen sein: Ich habe nicht gewählt. Bei dieser Wahl gab es keine Option, die meine Werte oder Interessen als Bürgerin repräsentiert hätte. Ich hatte eine Reise geplant, und am Sonntag fuhren wir früh zurück. Ich bin einen großen Teil des Landes abgefahren – von Apure, durch Guárico bis nach Caracas – und überall waren die Wahllokale leer. Ich habe nur ein paar Busse der PSUV gesehen – das ist die einzige Wahlmaschinerie, die es im Land noch gibt. Die andere große Wahlmaschinerie war die von María Corina Machado im letzten Jahr, aber deren Team sitzt jetzt entweder im Gefängnis oder ist auf der Flucht.

In welchem Kontext fanden die Wahlen statt?
Es war ein extrem repressiver Kontext. Am 19. Mai dieses Jahres zählten Menschenrechtsorganisationen wie das Foro Penal und Provea 900 politische Gefangene – allein in der Woche vor der Wahl wurden 15 weitere Personen festgenommen.
Außerdem wurde es linken und mitte-links Parteien systematisch unmöglich gemacht, an der Wahl teilzunehmen – noch mehr als im Juli letzten Jahres. Der Partei Centrados, die damals noch antreten durfte, wurde diesmal die Wahlbeteiligung verweigert, und ihr Leiter Enrique Márquez wurde am 7. Januar verhaftet – in einer Art gewaltsamen Verschwindenlassens, da man zwar inoffiziell weiß, wo er festgehalten wird, es jedoch keine offizielle Mitteilung über seinen Aufenthalt gibt.
Und wenn man Demokratie weiterdenkt als nur den Urnengang: Die Leute äußern sich nicht mehr frei, weil sie Angst haben, abgehört, schikaniert oder sogar kriminalisiert zu werden. Die große Mehrheit der Festgenommenen gehören zum armen Teil der Bevölkerung – oft wurden sie nur festgenommen, weil sie protestiert oder sich mit jemandem aus dem Regierungsapparat gestritten haben. Die Repression trifft also vor allem Unschuldige – und das ist ein besonderes Merkmal dieser Maduro-Regierung. Es ist ein Kontext von Wahlenthaltung, massiver Repression und wachsender wirtschaftlicher Ungleichheit.

Die Regierung hat die Wahlen vorgezogen. Warum gerade jetzt und was bedeutet das für die Macht und Regierung in Venezuela?
Die Regierung bemüht sich ständig, neue Ereignisse zu schaffen, um die Vergangenheit in Vergessenheit geraten zu lassen. Zugleich orientiert sie sich an der aktuellen Kräftebalance, an den Verhandlungen mit den USA und am Kurs von María Corina Machado.
Sie ist derzeit die zentrale Figur der Opposition und hatte zum Wahlboykott aufgerufen – damit hat sie der Regierung de facto freie Hand gelassen.
Ihr Narrativ lautet, dass die Bevölkerung gesiegt habe, weil es dem Regime durch seine Enthaltung die Legitimität verweigert habe. Doch das bleibt symbolisch. Für das tägliche Leben der Menschen hat das keine greifbaren Folgen.
Das Narrativ der Regierung hingegen – dass sie einen überwältigenden Wahlsieg errungen habe – hat sehr reale Konsequenzen: Es erlaubt ihr, die totale Hegemonie über den Staat zu erlangen.
Hätte María Corina zum Beispiel angekündigt, diesmal anzutreten, hätte die Regierung die Wahlen womöglich gar nicht abgehalten. Doch das spielt keine Rolle, solange der Nationale Wahlrat vollständig unter Kontrolle der Regierung steht und das Wahlsystem ausgehöhlt ist.

Einige Oppositionspolitiker*innen haben dennoch kandidiert. Warum?
Angetreten sind die Regierungspartei und andere Gruppen, die umgangssprachlich als Alacranes oder Skorpione bezeichnet werden – also Gruppen, die sich als Opposition darstellen, aber unter Kontrolle der Regierung stehen. Ich würde nicht sagen, dass Henrique Capriles (ehemaliger Präsidentschaftskandidat und Kandidat bei dieser Parlamentswahl, Anm. d. Red.) ein alacrán ist, aber Tatsache ist, dass er teilnimmt und damit die Wahlen legitimiert. Sie begründen ihre Teilnahme damit, dass man das Feld nicht kampflos der Regierung überlassen dürfe und dass man Unmut auch durch die Wahl ausdrücken müsse. Aber in einem System, in dem die Regierung entscheidet, wer kandidieren darf und wer nicht, kann man nicht von Demokratie sprechen-

Mütter für die Wahrheit. Foto: Thaís Rodiguez.

Wie organisiert sich die regierungskritische Linke in dieser Situation?
Man kann einiges tun, doch es erfordert große Vorsicht und umfassende Sicherheitsvorkehrungen. Organisierung muss aus den dringendsten Bedürfnissen der Bevölkerung heraus entstehen. Viele Menschen wenden sich von der Politik ab, weil sie nicht erkennen können, dass diese ihre alltäglichen Probleme löst.
Ein zentrales Thema ist der Lohn. Die Gewerkschaftsbewegung wird seit Jahren kriminalisiert und muss sich neu formieren. In den letzten Jahren wurden über 300 Arbeiter*innen strafrechtlich verfolgt – die Hälfte davon allein deshalb, weil sie sich in ihrem Betrieb für bessere Arbeitsbedingungen eingesetzt haben. Die andere Hälfte wurde unter Korruptionsvorwürfen instrumen­ta­­lisiert, während die eigentlichen Verantwort­lichen unbehelligt blieben.
Eine ganze Generation junger Beschäftigter kennt keine Tarifverträge, keine Abfindungen, kein Weihnachtsgeld und keinen Urlaub. Das ist dramatisch. Die regierungskritische Linke muss sich in diesen Bereichen engagieren – nicht nur anführen, sondern begleiten. Denn viele Menschen wollen sich nicht mehr einfach bevormunden lassen. Engagement muss von unten kommen und organisch wachsen.

Wie würdest du die aktuelle Situation der Löhne und der Wirtschaft beschreiben?
Seit Jahren gab es keine Lohnerhöhung mehr. Der reale Mindestlohn liegt bei etwa 1,50 US-Dollar pro Stunde – wenn überhaupt. Die Regierung verteilt zwar viele Bonuszahlungen, aber die haben keine Auswirkungen auf Urlaub, Weihnachtsgeld oder Abfindungen.
Im Land gibt es Ressourcen – trotz aller Einschränkungen durch Sanktionen. Aber sie werden extrem ungleich verteilt: Nur 18 Prozent der Einnahmen gehen an die Arbeitenden, fast 80 Prozent an die neue Bourgeoisie – oft dieselben Politiker*innen der PSUV, die heute eigene Unternehmen besitzen. Die Torte ist kleiner geworden, die Verteilung noch ungerechter.

Am Anfang hast du über ein Klima der Repression gesprochen. Wie organisiert ihr euch dagegen?
Man muss sich organisieren, denn die Repression wird weitergehen. Früher war sie selektiv – oft traf es Unschuldige, etwa Arbeiterinnen ohne politische Bindung. Heute ist sie flächendeckend und systematisch. Das ist die einzige Möglichkeit für eine Diktatur oder Defacto-Regierung, sich trotz massiver Ablehnung an der Macht zu halten. Man muss sich für die Freilassung der Gefangenen einsetzen, für Menschenrechte, gegen Folter, für Meinungsfreiheit, für das Recht auf Gewerkschaften und Parteien, für politische Teilhabe und für das Recht, überhaupt ein Leben zu führen. Denn in Venezuela kann heute jeder willkürlich als Terroristin kriminalisiert werden, einfach, weil man zur falschen Zeit am falschen Ort war.

Proteste in Venezuela. Foto: Thaís Rodiguez.

Du begleitest auch das Komitee der Mütter zur Verteidigung der Wahrheit. Kannst du uns mehr darüber erzählen?
Das Komitee entstand im vergangenen Jahr mit Müttern aus Caracas, deren minderjährige Kinder festgenommen worden waren. Anfangs herrschte große Angst. Sie wurden bedroht: „Wenn ihr an die Öffentlichkeit geht, kommen eure Kinder nie wieder frei“ – das sagten ihnen Gefängniswärter, Richter und Staatsanwälte. Keiner der Jugendlichen erhielt eine eigene Verteidigung. Nach 15 Tagen hieß es plötzlich, die Jugendlichen würden wegen Terrorismus zu zehn Jahren Haft verurteilt. Aus purer Verzweiflung gingen einige Mütter an die Öffentlichkeit – das sorgte landesweit und international für große Aufmerksamkeit. Als der Generalstaatsanwalt darauf angesprochen wurde, tat er so, als wisse er von nichts. Ab diesem Moment schlossen sich immer mehr Mütter dem Komitee an. Inzwischen sind fast 200 Fälle dokumentiert – alle nach dem 28. Juli 2024. Die meisten Minderjährigen wurden im Dezember freigelassen, aber fünf sind noch immer in Haft. Insgesamt wurden fast 160 von ihnen gefoltert. Irgendwann muss es Gerechtigkeit geben. Die Menschenrechtsarbeit in diesem repressiven Klima muss dringend gestärkt werden.

Nach der letzten Wahl schien das Land wie gelähmt. Wie hast du wieder Hoffnung gefasst?
Es ist normal, pessimistisch zu werden, ich selbst war es in den Wochen nach dem 28. Juli 2024. Dann kamen die ersten Kontakte zu den Müttern, und das hat mir wieder Halt gegeben.
Es geht darum, sich zu organisieren, ein soziales Netz zu knüpfen, das bereit ist, zu kämpfen, Hoffnung zu schöpfen, und den Menschen eine neue Erzählung zu geben.
Viele sehen keinen Ausweg, keine Alternative. Wir müssen diese Alternative formulieren.
Maria Corina bleibt bei der Ablehnung, weil sie gar keine Ansprache an die Arbeiter*innen haben kann – ihre Interessen ähneln in vielem denen der Regierung. Deshalb müssen wir präsent sein und sagen: Die Alternative liegt in unseren Rechten. Solange es Leben gibt, gibt es auch den Willen, weiterzumachen.


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

„Wir verteidigen die Verfassung“

„Was die Machthaber stört, ist organisatorische Stärke“. Leonidas Iza möchte eine vereinte Linke. Foto: Fernando Lagla via Flickr (CC BY-SA 2.0)

Was haben Sie auf persönlicher Ebene während Ihrer Kandidatur als Präsidentschaftskandidat gelernt?
Ich durfte sowohl eine Führungspersönlichkeit als auch ein Kandidat sein. Aber in unserer kollektiven Gemeinschaftslogik ist man am Ende nur einer mehr im Prozess. Die „liberale Demokratie“ individualisiert das Recht auf Beteiligung. Mein Beitrag als Individuum besteht darin, mich nicht in diese individualisierte liberale Demokratie hineinziehen zu lassen. Während der Wahlkampagne, als ich durch die Anden, die Küste und das Amazonasgebiet fuhr, sagten die Leute: „Mach weiter, Genosse, wir unterstützen dich.“ Ich sagte: „Genossen, ihr unterstützt nicht mich, wir unterstützen uns gegenseitig.“ Veränderungen kommen nicht von starken Führungspersonen, sondern durch kollektive Beiträge. Mein Ziel war es, diese Logik zu verkörpern.
Andererseits gibt es auch das Problem der Angriffe. Die Personen in Machtpositionen greifen nicht die Organisation an, sie individualisieren und sagen zum Beispiel: „Leonidas Iza ist ein Terrorist, er ist ein Vandale.“ Sie verhindern, dass dieser Konflikt kollektiv ausgetragen wird. Das ist ungeheuer kolonial, denn sie glauben, dass die Führungspersonen den anderen Befehle geben.

Zwei Wochen vor dem zweiten Wahlgang unterzeichneten die Indigene Partei Pachakutik und die Partei Revolución Cuidadana das historische „Abkommen für das Leben“, in dem Noboas Gegenkandidatin Luisa González unterstützt wurde. Was ist Ihrer Meinung nach über den Wahlkontext hinaus der Beitrag dieses Abkommens?
Das Abkommen gibt die Möglichkeit, die Vielfalt von verschiedenen Denkweisen, die in der Bevölkerung neu entstanden sind, als Einheit aufzubauen. Es integriert verschiedene Visionen. Unsere Vision ist eine plurinationale und interkulturelle Linke, die Vielfalt nicht verleugnet. Die nicht verleugnet, dass sie Indigen ist, dass sie Afro ist, dass sie montubio (ethnische Gruppe, die in den ländlichen Küstenregionen Ecuadors angesiedelt ist, Anm. d. Red.) ist, dass sie cholo (abwertender Begriff für Indigene Personen, der als widerständige Selbstbezeichnung angeeignet wurde, Anm. d. Red.) ist, sondern die ein Projekt der Transformation aus diesen identitären Realitäten heraus integriert. Deshalb halte ich es für wichtig, dass die Einheit fortgesetzt wird. Aber wir müssen uns auch mit der aggressiven und schrecklichen Vergangenheit des ehemaligen Präsidenten Rafael Correa auseinandersetzen. Diese ist es, die das populäre Lager daran hindert, einen qualitativen Sprung zu machen.
Ein qualitativer Sprung wäre die Möglichkeit, dass wir bei aller Kritik an der Vergangenheit, die für die Indigenen Völker schmerzhaft war und nicht vergessen werden darf, Einheit mit allen Volksgruppen Ecuadors schaffen können. Deshalb sage ich: Wir müssen uns vereinen. Ich glaube, dass das politische Programm viel genauer definiert werden muss, um mit der ecuadorianischen, der kontinentalen und der weltweiten Rechten zu streiten. Wir wollen die Vergangenheit nicht vergessen, aber wir können auch nicht weiterhin Politik auf der Grundlage der Erinnerung machen, denn das Einzige, was diese Politik tut, ist, Feinde der Vergangenheit zu finden. Sie vernebelt dich, um die Machtgruppen zu vergessen, die in diesem Moment gegen das Volk entscheiden. Es ist also eine dringende Notwendigkeit, dass das am 30. März unterzeichneten Abkommen weiterhin eingehalten wird, egal wie das Szenario aussieht. Denn wenn wir diese Einigkeit nicht aus einer kollektiven Kraft heraus erreichen, wird die politische Dominanz der Rechten nicht in den vier Jahren bleiben, sondern eine viel längere Reichweite haben. Folglich ist es eine Aufgabe des Kampfes, eine Aufgabe der moralischen, ethischen und politischen Verpflichtung, dass wir uns vereinigen müssen, um die Rechte in Ecuador, auf dem Kontinent und in der Welt zu konfrontieren.

Wie sehen Sie nach dem Sieg von Noboa den Wahlprozess und welche Lehren können daraus gezogen werden, um weiter ein kollektives politisches Projekt in Ecuador aufzubauen?
Die Wiederwahl Noboas ist nicht das Ergebnis eines demokratischen Prozesses, sondern das Ergebnis eines strukturellen Betrugs. Der Staat wurde von Wirtschaftskonzernen gekapert, wie in den Vereinigten Staaten mit Elon Musk. Die verschiedenen Gewalten des Staates wurden zu Instrumenten, die sich in den Dienst der Regierung stellen – das zeigte sich bereits im Wahlprozess. Sie haben das Amt des Vizepräsidenten geschlossen und während des Wahlkampfes verschiedene Boni verteilt und damit schwere Wahlverstöße begangen.

Wie beurteilen Sie in diesem Kontext die jüngsten Erklärungen der Regierung, eine verfassungsgebende Versammlung durch anti­demokratische Mechanismen abzuhalten? Halten Sie dies für eine konkrete Möglichkeit oder eher für eine Strategie zur Ablenkung von anderen dringenden Problemen in Ecuador?
Zu sagen, dass die Delegationen staatlicher Funktionen für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung verantwortlich sein werden, scheint mir absurd. Jede Änderung sollte durch die Nationalversammlung oder durch eine Volksbefragung im Rahmen demokratischer Mechanismen erfolgen. Aber die Regierung von Daniel Noboa macht Politik, die sehr weit von der Demokratie entfernt ist. Ihr politischer Berater Jaime Barba sagt: „In Ecuador gibt es keine politische Debatte, es gibt nur Affen, die abstimmen.“ Was er damit sagen will ist, dass man keine politische Debatte braucht, man sät einfach nur Hass, man lügt, und dadurch gewinnt man die Wahlen. Das ist es, was Demokratie hier ausmacht, leider. Den Menschen ist der Hass eingeimpft worden, und wir können es ihnen nicht verdenken. Es ist die Aufgabe der politischen, sozialen und organisatorischen Führungspersonen, Räume für eine breitere politischere Debatte zu schaffen. Hier geht es nicht um correísmo versus anti-correísmo (Position für oder gegen die Politiken des ehemaligen Präsidenten Correas, Anm. d. Red). Hier geht es um die Frage, ob wir mit einer neoliberalen Politik weitermachen wollen, die unsere natürlichen Ressourcen ausliefert, die die Ressourcen der Menschen in Ecuador privatisiert und den verfassungsmäßigen Rahmen sprengt. Für das ecuadorianische Volk ist die Verteidigung der Verfassung und der Souveränität der Schlüssel. Wir werden die Verfassung verteidigen.

Welchen Bedrohungen und Herausforderungen sieht sich die CONAIE durch die neue Regierung ausgesetzt?
Die Regierung arbeitet jeden Tag daran, die CONAIE zu spalten. Deshalb haben wir bereits einige Stimmen innerhalb der Indigenen Bewegung gesehen, die den Sieg von Noboa feiern und sogar sagen, „Herr Iza muss die CONAIE verlassen.“ Sie wollen eine gezähmte CONAIE, eine unterwürfige CONAIE, eine CONAIE, die „nicht nervt“. Aber genau das haben sie in diesen vier Jahren unter unserem Rat nicht gefunden, egal wie schwierig die Umstände auch waren. Sie haben auf mich in meinem Auto geschossen. Sie haben versucht, ein Attentat auf mich zu verüben. Aber wir haben unsere Moral nie verloren.
Das passt ihnen nicht. Das einzige, was die Machthaber stört, ist organisatorische Stärke. Und in diesem Bereich spielt die CONAIE eine grundlegende Rolle. Wir bleiben der Position treu, die wir seit Jahren – oder besser gesagt, unser ganzes Leben lang – vertreten haben. Wir werden einen Kongress einberufen, auf dem eine klare Position erörtert wird. Für uns besteht der Kampf darin, die Realität zu verändern, in der die Menschen leben. Deshalb müssen wir damit beginnen, die neoliberale Politik zu ändern, die unser Volk unterjocht. Wir werden in diesem Koalitionsprozess weitermachen, um der harten Realität der ecuadorianischen Politik zu begegnen.

Wie ist die aktuelle Situation bezüglich des Bergbaus in Ecuador?
Der Bergbau wird die Hauptstütze der neoliberalen Wirtschaft der jetzigen Regierung sein, aber sie werden weiterhin den correísmo dafür verantwortlich machen. Der correísmo hat in der Tat viele Gebiete unter Konzessionen gestellt, aber die letzten drei Regierungen haben den Vormarsch des Bergbaus konsolidiert. Das von diesen Wirtschaftsgruppen propagierte Narrativ interessiert sich nicht für das Leben der Menschen, die Landwirtschaft, das Wasser und das Land. Das Narrativ, das propagiert wird, ist „Ecuador wird ein Land des Bergbaus“, genauso wie 1972, als Ecuador zu einem Erdölland erklärt wurde. „Das Öl wird uns aus der Armut herausführen, das wird uns aus der Unterentwicklung herausführen“, sagten sie. Aber das Wirtschaftssystem wurde vom Erdöl abhängig, und jetzt erschöpfen sich die Reserven. Sie verkaufen uns dasselbe, was sie uns vor über 50 Jahren verkauft haben, ohne zu berücksichtigen, was das für die Gemeinden und sogar für die ecuadorianische Wirtschaft selbst bedeutet hat.

Wie analysieren Sie die Rolle des globalen Nordens, insbesondere Deutschlands, in der aktuellen Situation? Welche konkreten Mechanismen könnten artikuliert werden, um diese Kämpfe zu verbinden?
Eine konkrete Maßnahme im Kampf gegen den Klimawandel ist der Schuldenerlass für die Länder der Globalen Südens. Insbesondere die Länder des globalen Nordens sollten – als Politik der Kompensation für die Wirtschaftsformen, die das Leben auf dem Planeten verschlechtert haben – die Schulden tilgen. Länder wie Deutschland haben eine sehr starke Wirtschaft auf europäischem Niveau und ein großer Teil ihrer Bevölkerung leben in einer privilegierten Position. Im Gegensatz dazu müssen wir im Globalen Süden in Armut leben und unsere Territorien abtreten, damit unsere Regierungen Schulden bezahlen können. Stattdessen sollte es eine Sozialpolitik, eine Umweltpolitik geben, die an das Überleben der Menschen denkt. Deshalb möchte ich die Bürgerinnen und Bürger Deutschlands, Europas, und aller Teile der Welt auffordern: Wenn wir uns als Menschen begreifen, wenn wir uns um den Klimawandel sorgen, dann helfen Sie uns zu sagen: „Wir können das Leben der Menschen in den Ländern des Globalen Südens nicht länger verpfänden“.


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

Wir sind hier!

Latino-Kollektive mobilisieren in Deutschland für den 8. März, hier in Frankfurt am Main (Foto: @latinas_unidas_de)

Ni unx menos red – Nürnberg

Existenzrecht jenseits von Nützlichkeitsfragen
Jetzt mehr denn je knüpfen wir Netzwerke in Deutschland. Wir müssen uns organisieren, um Hass, Rassismus und staatlicher Gewalt zu begegnen, denen wir als Migrant*innen ausgesetzt sind. Die Wahlen in Deutschland waren ein wichtiger Moment, um über die Rolle von Migrantinnen in dieser Gesellschaft nachzudenken. Die Geschichte hat uns gelehrt, dass, Frauen, rassifizierte Menschen und Andersdenkende als erste leiden, wenn der Faschismus auf dem Vormarsch ist. Als Netzwerk NiUnxMenos prangern wir die strukturelle Gewalt an, der wir ausgesetzt sind: Arbeitsplatzunsicherheit, bürokratische Hürden, institutioneller Rassismus und das Fehlen einer Politik, die unsere Realitäten anerkennt. Die Bedürfnisse von Migrant*innen werden systematisch ignoriert und wir befürchten, dass die neue Koalition unsere Existenz weiter erschweren wird.
Lateinamerikanische Migrantinnen leisten einen enormen Beitrag zur Wirtschaft, sowohl in der Lohnarbeit als auch in der unbezahlten Sorgearbeit. Dennoch werden wir weiterhin in rechten Diskursen als Sündenböcke benutzt, während unser Leben abgewertet werden. Wir fordern unser Recht auf Existenz und Widerstand jenseits der Logik der Nützlichkeit, die uns auferlegt wird, um als „gute Migrant*innen“ zu gelten. Wir wollen Zugang zu Wohnraum, Bildung und reproduktiven Rechten, eine umfassende Gesundheitsversorgung und wirksame Maßnahmen gegen alle Formen von Gewalt. Wir haben nicht alle gewählt, aber wir alle leiden unter den Folgen. Redet nicht über uns ohne uns! Nicht eine weniger, nicht ein Recht weniger!

// Übersetzung: Josefina Lehnen

Colectiva Borregas Moradas – Bonn und Köln

Wir weigern uns „die guten, assimilierten Migrant*innen“ zu sein! Am 8. März spannten wir eine Wäscheleine voller migrantischen Geschichten in der Bonner Innenstadt auf. Ein lateinamerikanischer Mann kam zu uns und sagte, sexuelle Belästigung sei die Schuld der Männer, die als Geflüchtete in Deutschland leben. Wir versuchten, ihn dazu zu bringen, die schmerzhaften und komplexen Geschichten von weiblichen und queeren Migrant*innen zu lesen, aber er weigerte sich. Er sagte, er sei nicht wie andere Migranti*nnen, er arbeite und passe sich an. Dieses Gespräch geschieht vor dem Hintergrund des einwanderungsfeindlichen Diskurses, der in der Politik, in den Medien, zwischen den Menschen zu spüren ist und sich in letzter Zeit verstärkt. Als Latinxs werden wir manchmal als die „guten Migrant*innen“ beurteilt, weil viele von uns für ein Studium oder eine formale Arbeit kommen, weil wir nicht so viele sind, weil unsere Länder christlichen Religionen angehören. Wir weigern uns, diese Verkürzung zu akzeptieren. Wir glauben nicht an den Mythos der „guten Migrant*innen“. Wir erleben Rassismus und Prekarität, egal, wie wir in dieses Land gekommen sind, wie viel Deutsch wir sprechen und wie angepasst wir sind. Wenn wir auf die Straße gehen, werden wir exotisiert, gefürchtet und nur dann für gut befunden, wenn wir uns ruhig verhalten und alles, was uns von anderen unterscheidet, auslöschen. In diesem Kontext von Angst und Desillusionierung werden wir weiterhin unsere Solidarität mit anderen Gruppen stärken, die von diesem Rechtsruck betroffen sind.

// Übersetzung: Josefina Lehnen

Conuco – Leipzig

Die Angst transformieren
Conuco ist ein Kollektiv, das an die gemeinschaftliche Kooperation und den Widerstand glaubt. Unser Name („Conuco“ bedeutet kleiner Anbauplatz auf der Sprache der Taínxs. Das Wort wird in der Karibik verwendet, Anm. d. Red.) ehrt den Kampf derer, die das Land schützen und nicht nur Nahrung, sondern auch Unterstützungsnetzwerke sähen. Wir treffen uns, diskutieren, lernen und entwickeln Strategien, um Angst in Chancen zu verwandeln.
Angesichts der Wahlen in Deutschland belastet uns die Instabilität und Unsicherheit. Angst ist in den Gesprächen, im Schweigen der Unterdrückten und in der Vorsicht der über ihren Aufenthalts- und Sicherheitszustand besorgten Migrant*innen fühlbar. In der Arbeit mit Geflüchteten sehen wir, dass sie nicht mehr willkommen sind. Ihr Leben befindet sich in einem Schwebezustand zwischen einem falschen Zukunftsversprechen und einer nicht wiederherzustellenden Vergangenheit. Im Kulturbereich erfahren wir die Kürzungen, die künstlerische Ausdrucksformen ersticken und zensieren. In der Wissenschaft sehen wir, wie die Leugnung des Klimawandels Ökosysteme, Gemeinschaften und Klimagerechtigkeit gefährdet.
Aber Angst kann nicht durch Unterwerfung bekämpft werden, sondern durch Aktion, Zusammenarbeit und die Rückeroberung von Räumen, die uns fast entrissen wurden. Wir können es uns nicht leisten zu erstarren. Die aktuelle Situation ist ein Aufruf zur Stärke und Einheit, aufzustehen, die Angst in Trotz und Motivation zu verwandeln und unsere Geschichten sichtbar zu machen.

// Übersetzung: Daniel Sarmiento


Bloque latinoamericano – Berlin

Ein weiterer Schritt in Richtung Vergangenheit
Die Wahlen haben keinen Zweifel daran gelassen: Wir erleben einen Aufstieg der Rechten (CDU) und der extremen Rechten (AFD). Gleichzeitig strafte die Bevölkerung die Ampelkoalition für ihre kriegstreiberische, wirtschaftlich und sozial nachlässige Politik ab. Diese Entwicklungen kamen jedoch nicht überraschend, überraschend waren vielmehr die Ergebnisse der Partei Die Linke: Eine fast nicht mehr existierende Partei, die ihre Stimmenzahl verdoppeln konnte und Zehntausende neuer Aktivist*innen für den Wahlkampf gewinnen konnte.
Dies zeigt: Die aktuelle institutionelle und wirtschaftliche Krise wirkt sich direkt auf die „gemäßigten“ Parteien aus. Angesichts der tiefgreifenden Probleme entscheidet sich die Bevölkerung für radikale Lösungen. Zweitens war und ist die Migration das zentrale Thema, das herangezogen wird, um den Abbau sozialer Rechte und die Repression gegen die Bevölkerung zu rechtfertigen.
Gleichzeitig gelang es der CDU, in einer expliziten Demonstration von Lobbyismus und politischem Zynismus, ein Maßnahmenpaket zu verabschieden, das darauf abzielt, die Wirtschaft durch die Kriegsindustrie wiederzubeleben. Die Zukunft wird also von Kürzungen in unproduktiven Bereichen und verstärkten Investitionen in die Rüstung geprägt sein. Wie uns die Geschichte bereits gezeigt hat, werden Waffen hergestellt und auch eingesetzt. Aber die Toten werden immer von der arbeitenden Bevölkerung gestellt. Welches Land wird als nächstes die „europäischen Werte“ übernehmen sollen, koste es, was es wolle?

// Übersetzung: Carla Venneri

Unidas por la paz – Berlin

Berlin – Das letzte gallische Dorf?
Die Bundestagswahl endete ohne große Überraschungen. Wir wussten bereits, wer der nächste Kanzler sein wird und dass die Rechtsextremen abräumen werden, denn die Vorwahlkampfzeit war von einem einzigen Thema geprägt: Migration.
In Deutschland wie in der ganzen Welt verschiebt sich die Politik nach rechts. Die AFD hat erfolgreich einen rassistischen, einwanderungsfeindlichen Diskurs normalisiert, in dem jede Person, die nicht zu dem Standardaussehen der Mehrheitsbevölkerung passt, als potenzielle Gefahr für die Gesellschaft gebrandmarkt wird, ob sie nun einen deutschen Pass besitzt oder nicht. Die zugewanderte Bevölkerung muss sich nach diesem Diskurs den vermeintlichen Normen und Werten einer weißen Mehrheit unterwerfen. Wer sich nicht unterordnet, soll besser gehen. Jede*r Asylbewerber*in ist ein potenzieller Terrorist, der, da er nicht im Mittelmeer ertrunken ist, am besten an der Grenze erschossen werden sollte. Zu diesen faschistischen Tendenzen haben sich Figuren wie die einst kommunistische Wagenknecht gesellt, bei der glücklicherweise die Rechnung nicht aufging. Wir, in den migrantischen Communities, insbesondere jenen unten links, beobachten dieses Phänomen mit Sorge und Angst um unsere Zukunft in diesem Land, auf diesem Kontinent, auf diesem Planeten. Vielleicht ist es deshalb so erfreulich, ein wenig Licht im Dunkel zu sehen – wie die Tatsache, dass in Neukölln oder Kreuzberg Hunderte von deutschen Bürger*innen mit offensichtlichem Migrationshintergrund, z.B. Dutzende von Frauen mit Hidschab, für die einzige wirkliche Alternative zu dieser faschistischen Welle gestimmt haben: Die Linke. Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik hat dieser Teil der Bevölkerung in so großer Zahl gewählt. In Neukölln gewann der kurdischstämmige Ferat Koçak mit 30 Prozent der Stimmen. Es ist das erste Direktmandat für den Bundestag, das Die Linke in Westdeutschland gewinnt. Noch ist nicht alles verloren, auch wenn Berlin das letzte gallische Dorf zu sein scheint.

Asamblea en Solidaridad con Argentina – Berlin

Internationale Solidarität statt Repression und rechte Hetze!
Die Wahlen haben ein alarmierendes Bild hinterlassen: Die extreme Rechte hat zugelegt, mit der AfD als zweitstärkster Kraft. Noch besorgniserregender ist jedoch, dass traditionelle Parteien wie die CDU, deren einwanderungsfeindlichen Diskurs übernehmen. Die Linke erreichte 8,77 %, teilweise mehr aus Angst, aus dem Parlament ausgeschlossen zu werden, als aufgrund eines bereits konsolidierten Wiederaufstiegs. Dennoch erzeugte dies Enthusiasmus und neue Mitgliedschaften in der Hoffnung, dass die Parteistruktur erneuert werden kann. Während die Bundesregierung die Grenzkontrollen verschärft und soziale Rechte abbaut, hat sie inmitten einer tiefen Wirtschaftskrise den Militärausgaben Vorrang eingeräumt. Dies folgt dem gleichen Muster, das wir in Argentinien unter der Regierung von Javier Milei sehen: brutale Kürzungen, Abbau des Staates und Repressionen. Wir prangern diese Politik und ihre Auswirkungen an. Der Widerstand ist nicht nur lokal, sondern international: Der Kampf gegen Austerität und Repression erfordert die Artikulation von Kämpfen überall. Die Wahlbeteiligung von 83 % zeigt, dass die Politik wieder im Mittelpunkt steht. Aber das Wachstum der extremen Rechten erfordert den Aufbau echter Alternativen. Es reicht nicht aus, sich der extremen Rechten entgegenzustellen: Wir brauchen Vorschläge, die Rechte verteidigen und soziale Gerechtigkeit garantieren. Von Berlin aus setzen wir unseren Kampf fort, in Solidarität mit Argentinien und mit allen, die sich dem reaktionären Vormarsch entgegenstellen.

// Übersetzung: Josefina Lehnen

Latinas unidas – Frankfurt

Migrantische Feminismen – eine politische Kraft!
Die Wahlergebnisse zwingen uns als Migrant*innen in Deutschland zum Nachdenken. Obwohl Migration im Mittelpunkt des Wahlkampfes stand, haben die meisten von uns kein Wahlrecht. Stattdessen sind wir mit Rassismus, prekären Arbeitsverhältnissen, fehlendem Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen und Kriminalisierung konfrontiert. Es ist an der Zeit, den Status quo in Frage zu stellen, der die Konstruktion von Bürger*innen erster, zweiter und dritter Klasse normalisiert. Der antifaschistische Schutzwall muss uns alle einschließen, denn die derzeitigen Spielregeln garantieren keine egalitäre und demokratische Gesellschaft.
Deutschland kann seinen multikulturellen Charakter nicht verleugnen. Von den Gastarbeiter*innen bis heute tragen Migrant*innen die Wirtschaft. Wir sind nicht nur Arbeitskräfte, wir sind kulturelles, akademisches und soziales Kapital. Das Narrativ eines bedrohlichen „Anderen“ weitet sich jedoch aus und lateinamerikanische Frauen und disidencias leben an der Schnittstelle von Rassismus, Patriarchat und Gewalt. Der Aufstieg der extremen Rechten bringt uns in Gefahr. Die Krise wird als Vorwand genutzt, um einwanderungsfeindliche und rüstungspolitische Maßnahmen zu verstärken und unser Leben aus einer merkantilistischen Logik heraus zu einem Druckmittel zu machen, wie es auch bei dem Völkermord in Palästina der Fall ist.
Unser Kampf ist feministisch, antirassistisch und antikapitalistisch. Wir wählen nicht, aber wir leisten Widerstand. Wir sind keine Opfer, wir sind eine politische Kraft.

// Übersetzung: Josefina Lehnen

Colombia solidaria – Hamburg

Weiße Vorherrschaft in ihren vielen Schattierungen
Deutschland hat uns in den Wahlen ein unerwünschtes Gesicht gezeigt. War dieses Potential an Gewalt schon immer unter uns? Die Antwort ist in verschiedenen Grautönen schattiert. Die AFD gewinnt an Einfluss und der politische Diskurs verschiebt sich nach rechts. Es gibt immer noch eine funktionierende und alltägliche weiße Vorherrschaft. Um sie loszuwerden, muss man nicht nur die eine oder andere Partei wählen. Es ist eine spirituelle Arbeit vonnöten, die darin besteht, den unendlich langen Faden nachzuzeichnen, der die menschlichen Beziehungen miteinander verwebt und uns alle durch die einfache Tatsache, dass wir leben, gleich macht. An diesem Punkt haben Deutschland, Europa und die weiße Gemeinschaft als solche eine unerledigte Aufgabe mit sich selbst. Dabei besteht glücklicherweise ein großes Potenzial, die koloniale Brutalität, die seit mindestens 500 Jahren fortbesteht, zu beenden und wiedergutzumachen.
Diese alltägliche, verinnerlichte rassistische Vorherrschaft hält den Großteil der Bevölkerung relativ gefügig, trotz grober Menschenrechtsverletzungen innerhalb, außerhalb und an den Grenzen dieses Landes. Ich möchte glauben, dass die Mehrheit der (weißen) Deutschen mit der herrschaftlichen Dynamik von Unterdrückung und Herrschaft nicht einverstanden ist. Aber was sie tun werden, um eine weitere Radikalisierung einer rassistischen Politik zu verhindern, bleibt offen. Deshalb ist die Frage, was wir als Migrant*innen tun können. ColSol organisiert Veranstaltungen, die sich mit dem Kampf gegen Rechts und Rassismus auseinandersetzen. Denn: Nie wieder ist heute!

// Übersetzung: Carla Venneri

Las Cayenas – Marburg

Mit erhobener Faust auf der Straße
Nach den Wahlen stehen wir aufrecht, mit brennenden Erinnerungen und erhobenen Fäusten. Der feministische Kampf ist vielfältig und vereint alle, die Widerstand leisten: feminisierte Körper, Dissidenten, Migrantinnen. Unsere Stärke liegt in der Vielfalt.
Der Feminismus im Süden ruft zum Streik auf, um die Welt daran zu erinnern, dass ohne uns nichts geht. Wir sind eine Flut, die Angst vertreibt und patriarchale sowie koloniale Macht herausfordert. Die Rechte erstarkt weltweit, mit ihrer hasserfüllten Rhetorik und ihren tödlichen Projekten. In Deutschland stellen rechte Kräfte Errungenschaften wie das Selbstbestimmungsgesetz in Frage und verweigern uns unsere Rechte, in dem sie den Paragraf 218 nicht streichen. Sie bedrohen unsere Existenz.
Migrant*innen erleben Prekarität und Ausgrenzung. Hohe finanzielle Hürden für Visa treiben uns in unsichere Arbeit, während wir Steuern zahlen, aber nicht mitbestimmen dürfen. Dazu kommen Sexismus und Gewalt in Alltag und Beruf. Die Rechte errichtet Mauern, schließt Grenzen und verweigert uns Dokumente. Sie können versuchen, uns auszulöschen, aber nicht von der Straße holen. Wir sind da, schreien, kämpfen und gehen vorwärts. Wir sind Wut, wir sind Protest und Widerstand. Unsere Stimmen brechen die Stille. Wir sind hier – und wir bleiben.


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

Wahlen im polarisierten Land

 „Ignoranz bekämpfen, nicht Migration!“ Migrant*innen setzen der Entmenschlichung Würde entgegen (Foto: Valeria Bajaña Bilbao)

Luisa González, die 47-jährige Anwältin aus Manabí, vertritt die Partei des ehemaligen Präsidenten Rafael Correa, der das Land von 2007 bis 2017 regierte und der seit einigen Jahren in Belgien im Exil lebt. Schon bei den Wahlen im Oktober 2023 verlor González nur knapp. Doch ihre Partei, die Revolución Ciudadana (RC), blieb die stärkste politische Kraft Ecuadors, die auch in den beiden grössten Städten des Landes, Quito und Guayaquil, die Bürgermeister stellt.

Damals gewann der schüchterne, sich als Mitte-Links und Umweltschützer ausgebende Outsider Daniel Noboa, Sohn des reichsten Mannes Ecuador, dem Bananenbaron Alvaro Noboa, dessen Privatvermögen auf über eine Milliarde US-Dollar geschätzt wird. In seiner 16-monatigen Amtszeit hat der 37-jährige Noboa dann aber auf ganzer Linie versagt. Er setzte keines seiner Wahlversprechen um, erhöhte die Mehrwertsteuer, kürzte im sozialen Bereich, und glänzte nur durch TikTok Videos, Unwahrheiten und Tatenlosigkeit bei der Energiekrise, die ganz Ecuador von September bis Dezember teilweise bis zu 14 Stunden täglich ohne Strom dastehen ließ.

Am 7. April 2024 ließ Noboa die mexikanische Botschaft in Quito stürmen, um den ehemaligen Vizepräsidenten Jorge Glass zu verhaften. Seitdem Vorfall unterhalten die beiden Länder keine diplomatischen Beziehungen mehr zueinander. Und kaum hatte sein Vorbild Donald Trump vor einigen Wochen 25 Prozent Zölle für Mexiko angekündigt, erlies Noboa 27 Prozent Zölle gegen das Land. Die mexikanische Präsidentin Claudia Sheinbaum konnte daraufhin nur mit dem Kopf schütteln, auch weil Ecuador hauptsächlich Medikamente aus Mexiko importiert. Sheinbaum sagte auf einer Pressekonferenz, sie hoffe sehr, dass Ecuador bald eine Präsidentin haben werde.

Noboas Krieg gegen die Drogenbanden entpuppt sich als Krieg gegen die Armen

Der Anfang 2024 groß angekündigte Krieg Noboas gegen die Drogenmafias entpuppt sich als Krieg gegen die Armen, vor allem gegen afroecuatorianische Jugendliche. Laut Amnesty International werden in Ecuador 23 Menschen vermisst, die im letzten Jahr bei Polizei und Militärkontrollen verschwunden sind. Noboa hat den Familien der vier von Militärs verschleppten Kinder aus Guayaquil, die kurz vor Weihnachten 2024 verbrannt und verstümmelt in der Nähe des Militärstützpunktes Taura aufgefunden wurden, noch nicht einmal sein Beileid ausgesprochen. Drogenbosse werden nicht gefasst, sondern verschwinden auf mysteriöse Art aus Gefängnissen, die nach wie vor in der Hand der kriminellen Banden sind. Korruptionsvorwürfe gegen Justiz, Zoll, Polizei und Miltärs sind an der Tagesordnung, so wie durchschnittlich 22 Morde pro Tag.

Trotzdem glaubt fast die Hälfte der Ecuadorianer*innen, dass eine Rückkehr der sozialdemokratischen Correa-Partei das Schlimmste wäre. Seit sieben Jahren warnen alle Fernsehsender vor Sozialismus, Kommunismus und davor, dass Ecuador wie Venezuela enden würde, wenn der Correismus wieder an die Macht käme. Die andere Hälfte der Bevölkerung glaubt dies nicht. Das zeigt auch der Ausgang der Wahlen zum Abgeordnetenhaus, die zeitgleich mit den Präsidentschaftswahlen stattfanden und nach deren Ergebnis es zum ersten Mal eine fast ausschließlich von zwei großen Parteien, Acción Democrática Nacional (ADN) von Noboa und der RC, dominierte Sitzverteilung geben wird, in der aber keine die absolute Mehrheit hat.

Auffallend am Wahlergebnis ist außerdem, dass traditionell große Parteien wie die konservative PSC (0,72 Prozent), die sozialdemokratische ID (0,22 Prozent), und die linke PS (0,53 Prozent) allesamt ein katastrophales Ergebnis erzielt haben, und nun um das politische Überleben kämpfen. Angesichts dieser extremen politischen Polarisierung zwischen Correístas und Anti-Correístas, hat einzig und allein Pachakutik, die Partei und politische Vertretung des Indigenen Dachverbandes Confederación de Nacionalidades Indígenas del Ecuador (CONAIE) mit 5,25 Prozent einen wichtigen dritten Platz erreicht.

Die Wahlempfehlung der Indigenen könnte entscheidend sein

Die Wahlempfehlung der Indigenen könnte entscheidend sein
Nun steht Leonidas Iza, Präsident der CONAIE und Präsidentschaftskandidat von Pachakutik, im Rampenlicht, denn die über eine halbe Million Stimmen, die er im ersten Wahlgang erhielt, könnten in der Stichwahl den Ausschlag geben. Iza wurde im Oktober 2019 als Anführer des wochenlangen Aufstandes gegen die neoliberale Politik der Regierung von Lenin Moreno landesweit bekannt und übernahm später den Vorsitz der CONAIE.


Die CONAIE und Pachakutik haben verkündet, sich ganz getreu ihrer basisdemokratischen Prinzipien nun in allen Dorfgemeinschaften zu beraten und am 7. März eine Entscheidung bezüglich der Präsidentschaftswahl am 13. April bekannt zu geben. Eine Enthaltung, wie sie die Indigenen noch beim zweiten Wahldurchgang 2021 beschlossen, sei in diesem Moment nicht die strategisch beste Entscheidung, ließ Pachakutik schon durchscheinen. Die Hauptdifferenzen zwischen Indigenen und der RC beziehen sich auf die Ausbeutung der Natur durch internationale Minengesellschaften, und die Erdölförderung im Amazonasgebiet. Leonidas Iza sagte am 17. Februar in einem Interview im Fersehsender Ecuavisa Folgendes: „Seit der Gründung Ecuadors haben alle Präsidenten die Indigenen schlecht behandelt. (…) Wir werden jetzt wählen, gegen wen wir in den kommenden Jahren kämpfen werden. Gegen eine Sozialdemokratie, die an ein keynesianisches Wirtschaftsmodel glaubt, und deshalb auch unsere Gebiete einnehmen will, oder gegen ein neoliberales, kapitalistisches Model einer rassistischen Rechten, das oft schon an Faschismus grenzt.“


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

Zwischen Ängsten und Erwartungen

Pépe Mujica beim Einwurf seines Wahlstimmzettels
Unterstützung für den Kandidaten des Frente Amplio Expräsident Pepe Mujica bei der Abgabe seines Stimmzettels (Foto: Diego Vila)

Ende Oktober fanden in Uruguay Präsidentschafts- und Parlamentswahlen statt. Es wird allerdings noch bis zum 24. November dauern, bis der neue Präsident feststeht: Yamandú Orsi von der progressiven Frente Amplio erhielt 44 Prozent der Stimmen, muss sich jedoch in der zweiten Runde gegen Álvaro Delgado von der rechtskonservativen Nationalen Partei durchsetzen. Letzterer war in der ersten Wahlrunde mit 27 Prozent der Stimmen auf dem zweiten Platz gelandet. Seine Partei stellt Uruguays aktuellen Präsidenten, Luis Lacalle Pou.

Der Geschichtsprofessor und Frente-Amplio-Politiker Orsi regierte von 2015 bis März 2024 Canelones, das nach Montevideo zweitwichtigste Departamento Uruguays. Dort befindet sich der größte Teil der Agrarproduktion zur Versorgung des Landes und für den Export. Orsis Kandidatur wurde auch vom Movimiento de Participación Popular, der linken Partei unter Führung von Ex-Präsident José „Pepe“ Mujica, unterstützt.

Orsis Kontrahent Álvaro Delgado zählt in der Stichwahl wie schon der amtierende Präsident Lacalle Pou auf die Stimmen der Mitte sowie der rechten Parteien. Delgado war bis 2023 Sekretär von Luis Lacalle Pou, vergleichbar mit der Position eines Kabinettschefs in anderen Ländern. Eine prominente Rolle hatte der Rechtskonservative während der COVID-19-Pandemie eingenommen, als er in Pressekonferenzen Maßnah­men nach dem Paradigma der „verantwortlichen Freiheit“ ankündigte.

Nach Bekanntwerden der Ergebnisse der ersten Wahlrunde kündigte Delgado in seiner Rede auf der Plaza Varela in Montevideo an, von nun an nicht mehr „eine Partei zu vertreten“, sondern „ein Projekt politischer Mehrheiten“. Die Mehrheit der Uruguayer*innen habe seiner Koalition „die Verantwortung gegeben, Uruguay weiter zu regieren“. Damit bezieht er sich auf die Republikanische Koalition, die nach der Wahl im Oktober 2019 gebildet wurde. Damals hatte Lacalle Pou als Konkurrent des Frente-Amplio-Kandidaten Daniel Martínez die übrigen Oppositionsparteien dazu aufgerufen, sich einem Bündnis seiner zweitplatzierten Nationalen Partei anzuschließen. Gleiches auch jetzt: Delgado betonte, die Koalition ziele wie 2019 darauf ab, „die Frente Amplio zu schlagen, die Realität zu verändern und Uruguay zu regieren“.

Stünden alle Stimmen der Republikanischen Koalition hinter Delgado, könnte er in der Stichwahl am 24. November 47 Prozent der Stimmen erreichen – mehr als die Frente Amplio im ersten Wahlgang. Diese lineare Lesart würde jedoch zwei Dinge voraussetzen: Erstens, dass die Frente Amplio weder Stimmen der zehn Prozent Nichtwähler*innen, ungültige Stimmen oder Stimmen anderer Parteien gewinnen würde. Zweitens, dass alle Wähler*innen der übrigen Mitte- und Rechtsparteien für Delgado stimmen würden. Es drängt sich die Frage auf, warum sich die Republikanische Koalition nicht bereits im ersten Wahlgang als solche präsentiert hat, wenn sie seit 2019 doch die Regierung stellt. Aus Angst, als Koalition nicht den gleichen Stimmenanteil zu erhalten wie die Einzelparteien?

Emotionale Botschaften statt inhaltlichem Wahlkampf

Laut Patricia González, Vorsitzende der Abteilung für Gender und Feminismus der Frente Amplio, sei ein gemeinsames Regierungsprogramm der Koalition im Wahlkampf nicht zu erkennen gewesen: „Die Menschen haben im Oktober für eine Partei gestimmt, mit Vorschlägen, Programmen, Personen. Nun müssen sie diese Stimme nicht nur auf eine andere Partei übertragen, und zwar auf andere bekannte Personen, aber unbekannte Vorschläge. Wo ist das Gemeinsame?“

Linkskandidat Yamandú Orsi gab sich nach der ersten Wahlrunde gelassen. Er rief die Wahlkampf-Aktivist*innen dazu auf, sich noch einen Monat mehr anzustrengen, um die fehlenden Stimmen zu sammeln, damit die Frente Amplio in die Regierung zurückkehren könne. Mit den Präsidentschaften von Tabaré Vázquez und Pepe Mujica hatte die Partei von 2005 bis 2020 ununterbrochen regiert. Orsi fasste zusammen, was das Land nun brauche: „Gleichheit, Gerechtigkeit, Wohlstand, Wachstum, mehr Produktion und viel mehr Fürsorge für unser Volk. Niemand darf zurückgelassen werden!“

Politikwissenschaftler*innen sehen derweil einen „harten und ausgeglichenen“ Wahlkampf voraus. Für Marcela Schenck, feministische Politikwissenschaftlerin und Mitglied des Beratungs- und Meinungsforschungsinstituts Usina de Percepción Ciudadana, werden sich die Botschaften des Wahlkampfs weiterhin an der aktuellen Grundstimmung orientieren. Das bedeute, dass es an „inhaltlichen Diskussionen und Vorschlägen mangeln könnte. Nicht, weil es keine gibt, sondern weil sich die Diskussion stattdessen auf eher affektive und emotionale Botschaften konzentriert“, so Schenk.

Hoffung und Bangen Anhänger*innen der linken Frente Amplio beim Wahlkampfabschluss in Montevideo (Foto: Diego Vila)

Parallel zu den Präsidentschaftswahlen wurde auch das uruguayische Parlament neugewählt. Die aktuelle rechte Regierungskoalition kann nun keine Parlamentsmehrheit mehr auf sich vereinen – eine Neuheit in der uruguayischen Politik. Mit 16 Sitzen verfügt die Frente Amplio zukünftig über die Mehrheit im Senat, die Nationale Partei gewann neun Sitze, die traditionell liberale Colorado-Partei fünf. Der linke Präsidentschafts­andidat Orsi bekräftigte, die Mehrheit im Senat könne ihm „Regierungsfähigkeit garantieren“, um Gesetze zu verabschieden.

Im Abgeordnetenhaus hat jedoch keine Partei eine Mehrheit erreicht. „Es wird ein Experiment“, schätzt Patricia González die Lage den LN gegenüber ein. „Keiner von uns kennt dieses Szenario, in dem viel mehr verhandelt werden muss. Ich halte es für vernünftig, neue Methoden des Politikmachens zu entwickeln.“

Außerdem ist mit der Identidad Soberana, angeführt vom Rechtsanwalt Gustavo Salle, eine neue Partei im Abgeordnetenhaus vertreten: Sie vertritt eine nationalistische Anti-Establishment-Haltung und steht für die Abschaffung bestimmter Rechte, etwa die von trans Personen, und anderer Errungenschaften feministischer Bewegungen. Der Politikerin González zufolge fange Salle „die Stimmen der Leute ab, die von den Politikern genervt sind“. Die Identidad Soberana erhielt bei der Wahl zwei Prozent der Stimmen und sicherte sich damit zwei von 99 Sitzen im Abgeordnetenhaus.

Für die Politikwissenschaftlerin Schenck ist Salles zukünftige Position „ein großes Fragezeichen”. Er könne jedoch „den Stillstand der Blockdiskussionen durchbrechen“. Die Gewerkschafterin Tamara García beschreibt den Politiker gegenüber LN als diskursiv gewalttätigen Mann. „Ich glaube nicht, dass er einen großen Beitrag zur parlamentarischen Politik leisten wird. Seine Reden, die in einen vermeintlichen Umweltschutz verpackt sind, sind stets von brutaler Gewalt gegen Frauen und die LGBTIQ+-Bevölkerung geprägt. Das steht bei ihm auf der Tagesordnung.” Salle hatte bei der Volkszählung 2023 die Frage nach der Geschlechtsidentität streichen wollen und schlägt vor, das Gesetz gegen geschlechtsspezifische Gewalt und das Gesetz, das seit 2012 die Abtreibung in den ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft entkriminalisiert, aufzuheben.

Korruptions- und Missbrauchsfälle in der Regierung ohne Folgen

Der Ausgang der Wahlen in Uruguay wird richtungsweisend sein: Es geht um das Projekt für ein Land, in dem die Zunahme der Kinderarmut umgekehrt werden soll. Aktuell sind ein Fünftel der Kinder und Jugendlichen von Armut betroffen – doppelt so viele wie Menschen aus der Gesamtbevölkerung. In den vergangenen vier Jahren der Regierung unter Lacalle Pou ist auch die Zahl der Obdachlosen in Montevideo um 25 Prozent gestiegen. Gleichzeitig ist die Zahl der Inhaftierten auf Rekordniveau: 16.000 Menschen sitzen in Uruguay im Gefängnis – bei weniger als drei Millionen Einwohner*innen. Morde, organisierte Kriminalität und die Präsenz von Drogenkartellen in gefährdeten Vierteln und an den Grenzen zu Brasilien und Argentinien haben zugenommen. Das Wirtschaftswachstum legte nach der Stagnation 2023 dieses Jahr mit über drei Prozent wieder zu, weil der Agrarsektor die Folgen der Dürre des Vorjahres überwunden hat.

In der Regierung Lacalle Pou gab es zudem mehrere Korruptionsfälle, in die der ehemalige Leiter des Präsidialamtes, Alejandro Astesiano, durch kriminelle Vereinigung und Einflussnahme verwickelt war. Das Außenministerium wurde angeprangert, weil es dem Drogenhändler Sebastián Marset einen Expressreisepass ausgestellt hatte. Einer der führenden Senatoren der Nationalen Partei, Gustavo Penadés, sitzt im Gefängnis und muss sich vor Gericht wegen 22 Sexualverbrechen an Kindern verantworten. Außerdem soll er das staatliche Überwachungssystem genutzt haben, um Betroffene, die ihn angezeigt hatten, zu verfolgen und erpressen. Trotz dieser Vorgeschichte hat sich die positive Meinung über Präsident Lacalle Pou nicht wesentlich verändert.

Am 27. Oktober wurden neben Präsidentschafts- und Parlamentswahlen auch zwei Referenden durchgeführt, die abgelehnt wurden: Sowohl die Frage nach Genehmigungen für das nächtliche Eindringen der Polizei in Privatwohnungen als auch der Vorschlag des Gewerkschaftsbundes, sozialer Organisationen und einiger Frente-Amplio-Politiker*innen, die Reform der sozialen Sicherheit aufzuheben, die unter anderem das Rentenalter auf 65 Jahre erhöht.

Für die Gewerkschafterin García stehen die wichtigsten Aufgaben für die nächsten Jahre fest: „Wir brauchen eine Arbeitsmarktpolitik, die prekäre Arbeitsplätze nicht noch prekärer macht. Für diejenigen, die in den vergangenen Jahren reich wurden, ist eine Steuerreform dringend erforderlich. Wir brauchen eine Umverteilung des Reichtums, Investitionen in die Pflege und im Zugang zur Justiz.” Es sei viel Arbeit auf der Straße geleistet worden, um die Wahlen und das Referendum zu gewinnen: „Das Referendum über die soziale Sicherheit war eine Chance, aber nicht die einzige. Es wird ein November mit vielen Ängsten und Erwartungen: Fünf Jahre Regierung stehen auf dem Spiel – aber viele weitere, in denen es um den Zugang zu Menschenrechten geht.“


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

Erneute Isolierung droht

Venezolaner*innen in Buenos Aires Proteste nach der Wahl an der venezolanische Botschaft (Foto: Frederic Schnatterer)

Ende August gingen sie wieder auf die Straße. Exakt einen Monat nach der umstrittenen Präsidentschaftswahl in Venezuela am 28. Juli zeigte sich Oppositionsführerin María Corina Machado in Caracas. „Wir werden dafür sorgen, dass der Chavismus abtritt“, rief sie hunderten Anhänger*innen zu. Wie sie dies umsetzen will, sagte sie nicht. Zeitgleich hielt auch die Regierung Kundgebungen ab. Der Tag zeigte vor allem: Große Massen mobilisiert derzeit keines der beiden Lager. Auf der Straße wird der Machtkampf vorerst nicht entschieden werden.

Auch Anfang September gab es weiterhin zwei völlig verschiedene Versionen des Wahlergebnisses. Laut der offiziellen Verkündung des Nationalen Wahlrates (CNE) hat Amtsinhaber Nicolás Maduro mit 51,95 Prozent gewonnen. Die genauen Ergebnisse aus den Wahllokalen veröffentlichte der CNE jedoch mit Hinweis auf einen vermeintlichen Cyberangriff nicht. Die Opposition geht davon aus, dass ihr Kandidat Edmundo González 67 Prozent der Stimmen geholt hat. Die Zahl ergibt sich aus gut 83 Prozent der ihr zugänglichen Wahlakten, die ihre Zeug*innen in den Wahllokalen als Ausdrucke der Wahlmaschinen erhalten und wenige Tage nach der Wahl im Internet veröffentlicht haben. Regierung beharrt darauf, dass die Akten gefälscht und Teil einebreit angelegten Putschplans seien. Schließlich habe die rechte Opposition in den vergangenen 25 Jahren häufig ohne jegliches Fundament Betrug angeprangert und auf Gewalt gesetzt.

Am 22. April entschied das regierungsnah besetzte Oberste Gericht auf Antrag von Maduro, das vom CNE verkündete Ergebnis sei korrekt. Die Generalstaatsanwaltschaft lud González daraufhin dreimal vor, um sich zu den von der Opposition veröffentlichten Wahlakten zu äußern. Der Ex-Kandidat, der sich seit der Wahl versteckt hält, kam den Vorladungen allerdings nicht nach. Anfang September erließ ein Gericht daraufhin einen Haftbefehl. González wird unter anderem Amtsanmaßung, Aufruf zur Missachtung von Gesetzen und Verschwörung vorgeworfen.

Der CNE ließ indes die gesetzlich vorgeschriebene 30-Tage-Frist zur Veröffentlichung detaillierter Wahlergebnisse verstreichen. Doch selbst wenn der Wahlrat die Zahlen noch veröffentlichen würde, können diese das Ergebnis längst nicht mehr wasserdicht belegen. Denn er ließ nach der Wahl mehrere vorgeschriebene Überprüfungsschritte hinsichtlich der korrekten Übertragung der Ergebnisse ausfallen. Daher kann nur ein Abgleich mit den Wahlakten und möglicherweise den Kontrollausdrucken der einzelnen Stimmen auf Papier das Ergebnis glaubhaft belegen. „Wenn eine Verschwörung existieren würde, um die Regierung mittels gefälschter Wahlakten zu stürzen, gäbe es einen einfachen Weg, die Verschwörer der Lächerlichkeit preiszugeben: die Veröffentlichung der tatsächlichen Akten“, bringt es der regierungskritische Chavist Juan Barreto gegenüber den LN auf den Punkt. Wahlzeug*innen der Regierungspartei PSUV (Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas) verfügen über die Kopien sämtlicher Akten, die jeweils individuelle Sicherheitsmerkmale enthalten. Im April 2013 etwa stellte die PSUV eine Woche nach dem knappen Wahlsieg Maduros die digitalisierten Wahlakten online, um das Ergebnis zu belegen. Die Regierung hat sich allerdings auf den Standpunkt zurückgezogen, dass die Wahl nun einmal elektronisch abgehalten werde und die Institutionen für den korrekten Ablauf und die Anerkennung des Wahlergebnisses zuständig seien. Jegliche Forderung nach mehr Transparenz stellt sie unter Generalverdacht, Teil des unterstellten Putschplans seitens der USA und rechten Opposition zu sein.

Die US-Regierung erkannte González als Wahlsieger an, jedoch noch nicht als Präsident. Die EU, sämtliche rechtsgerichtete Regierungen Lateinamerikas sowie die Mitte-Links-Regierungen Chiles und Guatemalas zweifelten das offizielle Wahlergebnis an. Andere Länder mit Mitte-Links-Regierungen wie Brasilien, Kolumbien und Mexiko forderten transparente Zahlen. Dem schlossen sich auch regierungskritische chavistische Sektoren wie die linke Menschenrechtsorganisation Surgentes an (siehe Interview auf S. 9). Rückhalt bekam Maduro hingegen von den Regierungen aus Nicaragua, Kuba, Bolivien und Honduras. Auch Russland, China sowie fast 40 vorwiegend afrikanische und asiatische Länder erkannten das offizielle Wahlergebnis an.

Bereits seit dem Tag nach der Wahl, als es überwiegend spontane und friedliche, aber auch teils gewalttätige Proteste gab, diffamiert die Regierung kritische Stimmen. Maduro erklärte, 2.000 Protestierende in Hochsicherheitsgefängnissen wegsperren zu wollen. Laut der Menschenrechtsorganisation Foro Penal wurden bis zum 26. August fast 1.600 Personen festgenommen, darunter mehrere Oppositionspolitiker*innen, Journalist*innen, Menschenrechtsverteidiger*innen sowie Jugendliche und Kinder. Mindestens 24 Personen kamen laut Medienberichten ums Leben. Menschenrechtsorganisationen sprachen von willkürlichen Festnahmen Oppositioneller sowie Einschüchterungsversuchen.

Viva Venezuela Erwartung der Nachrichten am Wahlabend (Foto: Frederic Schnatterer)

Protestierende werden diffamiert

Chavistische Basisaktivist*innen warfen Oppositionellen vor, chavistische Einrichtungen angegriffen zu haben. Auch kursierten Bilder vom Sturz mehrerer Chávez-Statuen. Anhänger*innen der Regierung gingen in den Tagen nach der Wahl in zahlreichen Städten auf die Straße, um das verkündete Wahlergebnis zu verteidigen. Die kurz aufgeflammten Proteste ließen zwar schnell nach. Oppositionsführerin Machado rief seitdem jedoch regelmäßig zu koordinierten Kundgebungen auf, um die Aussicht auf politischen Wandel aufrechtzuerhalten. Für die Unruhen nach der Wahl macht die Regierung direkt González und Machado verantwortlich. Die beiden Oppositionellen riefen in einer Mitteilung Anfang August das Militär dazu auf, „den Willen der Bevölkerung durchzusetzen“, woraufhin die Generalstaatsanwaltschaft eine Untersuchung gegen sie einleitete. Machado und González verschwanden seitdem weitgehend aus der Öffentlichkeit da sie befürchten, festgenommen zu werden. Die Militärführung stellte sich seit der Wahl mehrfach demonstrativ hinter die Regierung Maduro. Ein Riss innerhalb des Machtapparates war bis Anfang September nicht erkennbar.

Es ist absehbar, dass aus dem Wahlprozess kein breit anerkanntes Ergebnis mehr hervorgehen wird. Die Regierung versucht, die Situation auszusitzen. Ihr Ziel, durch weitgehend anerkannte Wahlen zur politischen Normalität zurückzukehren, kann sie kaum mehr erreichen. Vielmehr droht eine erneute Isolierung Venezuelas, eine verstärkte Hinwendung zu autoritären Regimen und ein repressiver Kurs gegen regierungskritische Stimmen. Die Regierungs­umbildung Maduros Ende August deutet auf eine Verhärtung der Fronten hin. So ernannte er den Hardliner Diosdado Cabello zum neuen Innenminister, der seit Jahren als die Nummer Zwei des Chavismus und vermeintlicher Rivale Maduros gilt. In den vergangenen Jahren hatte er zahlreiche wichtige Positionen im Parlament und der regierenden PSUV inne. Zudem stärkte Maduro im Zuge der Regierungsumstellung sowohl das Militär als auch wirtschaftsliberale Sektoren.

Brasilien, Kolumbien und Mexiko fordern Verhandlungen

Gemeinsam mit dem brasilianischen Staatschef Luiz Inácio Lula da Silva sowie dem mexikanischen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador zählt die kolumbianische Regierung unter Gustavo Petro zu den wenigen internationalen Akteuren, die möglicherweise auf die Lage einwirken könnten. Die drei Länder forderten nach der Wahl nicht nur ein transparentes Ergebnis, sondern machten sich für einen Verhandlungsprozess stark und verlangten die bedingungslose Aufhebung der Sanktionen. Das Urteil des Obersten Gerichts, welches das Wahlergebnis bestätigte, nahmen Brasilien und Kolumbien lediglich „zur Kenntnis“. Petro ging noch einen Schritt weiter und schlug eine vorübergehende Koalitionsregierung vor, die Neuwahlen vorbereiten solle. Sowohl Regierung als auch Opposition lehnen Petros Vorschläge jedoch ab und erteilen der Idee einer Wahlwiederholung eine Absage. Maduro warf Brasilien und Kolumbien, deren heutige Präsidenten früher als enge Verbündete des Chavismus galten, gar Einmischung in innere Angelegenheiten vor. Als direkte Nachbarländer haben beide vor allem ein starkes Interesse daran, dass sich Venezuela nicht weiter destabilisiert.

Sollte die Dialoginitiative der Mitte-Links-Regierungen scheitern, werden ein Großteil der Opposition und verbündete Staaten ab Beginn der neuen Amtszeit am 10. Januar wohl González als legitimen Präsidenten anerkennen. Möglicherweise steht dieser bis dahin jedoch unter Hausarrest, befindet sich im Gefängnis oder ist im Exil. Dies würde an die Selbsternennung von Juan Guaidó im Januar 2019 erinnern. Diese erfolgte zwar unter anderen Bedingungen, da Guaidó niemals an einer Präsidentschaftswahl teilgenommen hatte. Es droht aber eine vergleichbare Dynamik von internationalem Druck, Verschärfung von Sanktionen und negativen Folgen für die venezolanische Bevölkerung.


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

„Dem Wahlergebnis fehlt Glaubwürdigkeit”

Wie beurteilen Sie die vom Nationalen Wahlrat verkündeten Wahlergebnisse?
Wir sind der Meinung, dass völlige Intransparenz und ein Mangel an Glaubwürdigkeit in den offiziellen Ergebnissen des CNE vorherrschen. Der Versuch von Präsident Maduro, beim Wahlausschuss des Obersten Gerichtshofs (TSJ) einen Antrag zu stellen, um angeblich die Ergebnisse zu prüfen, hat dieses Ziel nicht erreicht. Im Gegenteil, es hat nur noch mehr Unklarheit über den gesamten Prozess geschaffen.

Warum bezweifeln Sie die Glaubwürdigkeit der vom CNE verkündeten Ergebnisse und das Urteil des TSJ?
Zunächst einmal ist es nicht die Aufgabe des Obersten Gerichtshofs, die Wahlergebnisse offiziell bekannt zu geben, sondern die des CNE selbst. Der Oberste Gerichtshof hat lediglich ein Bulletin des CNE unterstützt, dessen Zahlen jedoch nicht durch konkrete Belege oder die Ergebnisse, die die Menschen an den Wahlurnen sahen, gestützt werden. Zudem wurden nicht alle Prüfungssysteme des venezolanischen Wahlsystems angewandt – ein System, das allgemein für seine Zuverlässigkeit und die verschiedenen digitalen Kontrollen und Prüfungen anerkannt ist. Diese elektronischen Systeme wurden vom TSJ nicht genutzt, um die Ergebnisse zu bestätigen.
Wir glauben nicht, dass dieses juristisch-politische Manöver mehr Transparenz über den Prozess gebracht oder die großen Zweifel, die heute über die Wahlergebnisse bestehen, ausgeräumt hat. Der CNE blieb praktisch verschlossen, er schloss seine Türen nach dem ersten Bulletin in den frühen Morgenstunden, ohne dass alle Auszählungsprotokolle vollständig zusammengestellt worden waren.
Es gibt auch andere empirische Beweise: Menschen aus den ärmeren Schichten, die lange Zeit die Hochburgen der chavistischen Wählerschaft waren, geben offen zu, dass es eine massive Abstimmung gegen die Regierung von Maduro gab. Die Menschen wissen, was an den Wahlurnen passiert ist und haben ihre Unzufriedenheit mit den verkündeten Ergebnissen durch eine Reihe von Protesten und anderen Formen zum Ausdruck gebracht.

Wie verliefen die Proteste nach den Wahlen?
Die Proteste, die nach den Wahlen stattfanden, hatten zwei wesentliche Merkmale. Erstens waren es Massenproteste mit einer bedeutenden Mobilisierung jener Bevölkerungsgruppen, die traditionell die Hochburgen des Chavismus waren. Zweitens waren sie friedlich. Wir leugnen nicht, dass es bei einigen von ihnen zu Gewalt kam, aber die Mehrheit der Proteste war friedlich. Empörte Menschen, die wussten, was in vielen dieser Wahllokale abgelaufen war, wo der Unterschied zugunsten der Opposition überwältigend war, und die spürten, dass die offiziellen Ankündigungen des CNE diesen Willen missachteten, gingen auf die Straßen und demonstrierten auf friedliche Weise.
Die Venezolanische Beobachtungsstelle für soziale Konflikte berichtet, dass es in den ersten zwei Tagen, dem 29. und 30. Juli, 915 Proteste gab, von denen nur 138 gewalttätig waren. Das heißt, über 80 Prozent der Proteste waren friedlicher Natur.

Wie reagierte die Regierung auf die Proteste?
Die Reaktion der Regierung bestand darin, alle Proteste zu kriminalisieren und das Recht auf freie und friedliche Demonstrationen zu negieren. Sie nutzen die Repressionsmittel des Staates, um die Proteste zu unterdrücken. Die vom Präsidenten selbst anerkannten Zahlen sprechen von über 2.000 Festnahmen innerhalb einer Woche. In den Reden der Regierung hieß es, dass alle Demonstranten bezahlte, unter Drogen stehende Personen seien, die von der Opposition instrumentalisiert würden.
Hier bestätigt sich eine langjährige Praxis des Justizsystems, die wir immer wieder anprangern, da wir Fälle von jungen Menschen aus armen Vierteln begleiten, die ohne gerichtlichen Beschluss verhaftet, isoliert und von Rechtsanwälten und ihren Familienangehörigen ferngehalten werden. Ihnen werden schwere Straftaten wie Terrorismus, kriminelle Verschwörung, Hochverrat oder Anstiftung zum Hass vorgeworfen. Insbesondere die Gesetze zur Anstiftung zum Hass und zum Terrorismus sind relativ neue Gesetze, die hohe Strafen zwischen 10 und 30 Jahren vorsehen.

Wer findet sich auf der Anklagebank wieder?
Viele der Fälle, die derzeit angeklagt werden, betreffen Menschen mit Behinderungen, Jugendliche im Alter von 14 bis 16 Jahren, die des Terrorismus beschuldigt werden, obwohl sie lediglich protestiert haben und vielleicht sogar einen Stein geworfen haben, aber nicht Teil einer terroristischen Struktur sind. Dennoch werden sie nach diesen Gesetzen angeklagt.
Es stimmt auch, dass es gezielte Festnahmen von Oppositionsführern gab, die derzeit inhaftiert sind. Diese gezielteren Verhaftungen wurden auch in den Bezirken durchgeführt, in denen der Unmut über die verkündeten Ergebnisse des CNE besonders groß war.
Es gibt auch Berichte von Menschen, die auf der Straße von Polizeibeamten festgenommen wurden, die offen ihre Telefone überprüften und sie auf Grundlage dessen, was sie auf WhatsApp fanden, festnahmen. Dies ging einher mit einer Reihe von Entlassungen im öffentlichen Dienst, bei denen Menschen entlassen wurden, weil sie protestiert oder nicht gewählt hatten. Ebenso wurden mehrere wichtige Journalistinnen und Journalisten festgenommen.

Wie beeinflusst diese Reaktion der Regierung das tägliche Leben im Land?
Die Menschen leben in Angst. Neben der Repression durch die staatlichen Sicherheitskräfte, woran sowohl die Polizei als auch die Nationalgarde beteiligt sind, gibt es auch bewaffnete Zivile, die sowohl einschüchtern als auch häufig Menschen festnehmen, die an Protesten beteiligt sind. Das sorgt dafür, dass die Menschen sehr eingeschüchtert sind und die Proteste auf der Straße nach zwei oder drei Tagen nach den Wahlen aufgehört haben.

Gibt es derzeit noch Festnahmen?
Ja, die Festnahmen, die derzeit stattfinden, sind eher gezielte Festnahmen. Sie sind nicht mehr so massiv wie in der ersten Woche, in der sie im Kontext von Protesten stattfanden, sondern es handelt sich um gezielte Festnahmen, die auch in den Wohnungen der Betroffenen durchgeführt werden.

Nichtregierungsorganisationen sprechen von über 20 Toten als Folge der Proteste nach den Wahlen. Können Sie uns mehr darüber erzählen?
Wir führen eine Aufzeichnung der Todesfälle und zählen bis heute [26. August] 26 Todesfälle bei Protesten. Bei den meisten gibt es keinen identifizierten Täter. Mindestens 38 Prozent dieser Todesfälle gehen jedoch auf das Konto von staatlichen Organen oder bewaffneten Zivilen, die im Namen des Staates gehandelt haben. Dies ist eine sehr ungefähre Zahl, da wir davon ausgehen können, dass viele der nicht identifizierten Todesfälle auf staatliche Akteure zurückzuführen sind.
Die Aussagen des Generalstaatsanwalts, der alle Todesfälle während der Proteste der Opposition zuschreibt, sind also nicht wahr. In diesem Moment wäre es erforderlich, dass all diese Todesfälle gründlich und unabhängig untersucht werden, um die Verantwortlichen zu ermitteln und entsprechende Sanktionen zu verhängen.
Man muss auch sagen, dass es unter den Oppositionsgruppen, wie es in solchen Fällen immer vorkommt, sehr gewalttätige Aktionen gegeben hat. Es wurden zwei Frauen, Gemeindeführerinnen der Strukturen der PSUV (der Partei von Präsident Maduro), ermordet. Es gab auch andere Gewaltakte, wie zum Beispiel den versuchten Lynchmord in einem kommunalen Radiosender. Diese Vorfälle zeigen, dass es Gewalt gegeben hat, die jedoch nicht die Mehrheit der Proteste ausmacht. Es sind Fälle, die aufgetreten sind, angeprangert und untersucht werden müssen, die aber nicht das allgemeine Bild der Proteste prägen.

Es sind noch vier Monate bis zum 10. Januar, dem Beginn der neuen Amtszeit des Präsidenten. Was erwarten Sie bis dahin?
Die Missachtung des Volkswillens ist schwerwiegend und lässt sich nicht so einfach beenden. Es werden schwierige Monate sein, in denen die Herausforderungen des Alltags für die Menschen weiterhin bestehen bleiben. Es gibt keine Aussicht auf eine Verbesserung der Löhne, der öffentlichen Dienstleistungen, der Gesundheitsversorgung oder der Bildung. Die Ergebnisse lassen nicht darauf schließen, dass sich die Lebensbedingungen der Menschen verbessern werden.


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

„Die Partei ruft dazu auf, gegen die Regierung zu stimmen“

Der Wahlkalender ist weit fortgeschritten. Das Nominierungsverfahren für Präsidentschaftkandidat*innen ist bereits abgeschlossen. Die Kommunistische Partei Venezuelas (PCV) war eine der Parteien, die Schwierigkeiten hatten, ihren Kandidaten anzumelden. Welche Schwierigkeiten gab es?
Wir wurden gleich zweimal Opfer eines Angriffs. Zunächst wurde gegen unsere Partei im August letzten Jahres gerichtlich interveniert. Ziel war es, linke Sektoren wie uns aus dem Präsidentschafts- und Parlamentswahlprozess des kommenden Jahres herauszuhalten.
Im Februar dieses Jahres hat der Nationale Wahlrat (CNE) abrupt einen vorgezogenen Zeitplan angekündigt, wodurch alle Fristen verkürzt wurden. Trotzdem haben mehrere linke Organisationen, darunter die Kommunistische Partei, beschlossen, bei diesen Wahlen mit einem unabhängigen Kandidaten, dem Journalisten Manuel Isidro Molina, anzutreten. Hier setzt der zweite Angriff auf die PCV an. Der CNE erlaubt keine Zulassung einer Partei, die eine alternative linke Kandidatur vorschlagen könnte.

Was geschah als euer Kandidat sich anmelden wollte und was sagt das über den aktuellen Wahlprozess aus?
Unser Kandidat erhielt Unterstützung durch die Wahlkarte der Partei Nueva Visión para mi País oder NUVIPA, die auf der ersten Liste als berechtigt aufgeführt war, aber keinen Zugang zur Online-Registrierung hatte. Am 25. März um Mitternacht schloss der Prozess, und die Registrierung konnte nicht abgeschlossen werden. Daran sieht man die Manipulation des gesamten Prozesses von Anfang bis Ende, von der Anerkennung der Parteien für die Wahl bis hin zum Nominierungsprozess. Diese ganze künstliche Komplexität ist auf die Schwierigkeiten zurückzuführen, mit denen der offizielle Kandidat der Sozialistischen Einheitspartei Venezuelas bei diesen Wahlen konfrontiert ist. Wir sprechen davon, dass der Kandidat, der derzeitige Präsident Nicolás Maduro, eine Ablehnungsrate von etwa 80 Prozent erreicht. Unserer Ansicht nach wollte die Regierung mit diesen Maßnahmen die absolute Kontrolle darüber haben, welche Kandidaten sich bewerben werden.

Mitte April endete der Zeitraum für die Eintragung der Bürger*innen ins Wahlregister. Wie verlief dieser Prozess und wie schätzen Sie die politische Stimmung in der Bevölkerung ein?
Im Wahlkalender war ein Zeitraum für eine Registrierungskampagne vorgesehen. Aber dieser Anmeldeprozess begann, ohne dass jemand wusste, wo die Registrierungsstellen waren. Es gab Beschwerden aus Regionen, in denen diese Stellen sehr spät eingerichtet wurden oder die Registrierung lange Zeit dauerte und die Warteschlangen sehr lang waren. Es war ein Mechanismus, um die Menschen zu zermürben und sie von der Teilnahme abzuhalten. Die Regierung wendet all diese Maßnahmen absichtlich an, um die Bevölkerung zu entmutigen und die Nichtteilnahme zu erhöhen, so dass sie die Präsidentschaft gewinnen kann, obwohl sie in der Minderheit ist. Dennoch konnten sie die Anspruchshaltung der Bevölkerung bezüglich ihrer Teilnahme nicht verringern. Die Bestrebungen, wählen zu gehen und das Stimmrecht als Instrument für Veränderungen zu nutzen, sind weiterhin hoch.

Was denken Sie über das rechte Oppositionsbündnis und María Corina Machado?
Wir haben klargestellt, dass sich weder die MUD noch die Regierung, also die beiden Pole, wesentlich voneinander unterscheiden. Denken wir daran, dass die Parteien der MUD die Parteien der traditionellen großen Unternehmensverbände sind. Und diese Unternehmensverbände haben heute Allianzen mit der Regierung. Tatsächlich wird die Arbeitsmarktpolitik, die die Regierung anwendet, von der Bourgeoisie und ihren Parteien unterstützt. Der Streit liegt im Politischen: Wer übernimmt die politische Kontrolle über den Staat? Was wir sehen, ist, dass es jetzt einen intensiven Verhandlungsprozess gibt, der zu einem Übergang führen wird, bei dem sich diese Gruppen die politische und wirtschaftliche Macht aufteilen, was sie bereits jetzt schon tun. Aber in neuer Form.
Bis vor kurzem war Maria Corina Machado im Land noch ein Niemand, und jetzt wird sie als große Hoffnungsträgerin dargestellt. Aber wir wissen alle, dass María Corina aus den extremen Kreisen der venezolanischen Bourgeoisie und der Oligarchie stammt. Die Regierung hat mit der Krise dazu beigetragen, dieses Phänomen zu stärken, und auch durch die Fehler, die sie mit der Verletzung politischer und demokratischer Rechte begangen hat.

Was schlagen Sie vor, was die Venezolaner*innen bei den Präsidentschaftswahlen tun sollten?
Die Partei ruft dazu auf gegen die Regierung zu stimmen, denn die Regierung verkörpert eine autoritäre Form der Verwaltung. Es wird versucht, Anpassung durch politische Repression gegen die Arbeiterklasse durchzusetzen. Das zeigt sich in der Abschaffung von Rechten wie dem Streikrecht, der Einschränkung gewerkschaftlicher Freiheiten und der Kriminalisierung und gerichtlichen Verfolgung von Arbeitskämpfen. Aber ohne die Illusion zu haben, dass, wenn eine dieser anderen Kräfte gewinnt, alle unsere Probleme gelöst werden.

Wie organisiert sich die kritische Linke in Venezuela jenseits der Wahlen?
Wir treiben einen Versuch voran, einen Referenzrahmen für die Zusammenführung der Linken zu schaffen, einschließlich breiter Sektoren des sogenannten kritischen Chavismus. Es gab große Abspaltungen von der Regierungspartei PSUV, weil das Programm, das Maduro umsetzt, völlig im Widerspruch zur Politik von Hugo Chávez steht.
Die Gefahr, dass die autoritäre Regierung weiter gestärkt wird, bleibt bestehen, denn wenn die Arbeiterklasse nicht die Kraft hat, dagegen zu kämpfen, dann wird eine neue Regierung einer anderen Kraft und in Koalition mit der derzeitigen Bourgeoisie weitere Anpassungsmaßnahmen durchführen und − wenn nötig − noch repressiver agieren.


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

Raum für Überraschungen

Wann darf die Stimme abgegeben werden? Regionalwahl in Maracaibo im November 2021 (Foto: Frederic Schnatterer)

Es sei ein „Ereignis von historischer Bedeutung“, erklärte der venezolanische Parlamentspräsident Jorge Rodríguez am 28. Februar. Kurz zuvor hatten Vertreter*innen zahlreicher politischer Parteien, Unternehmensverbände und weiterer ge­sellschaftlicher Gruppen nach mehr­ma­liger Ver­schiebung ein Dokument mit dem sperrigen Titel „Nationales Abkommen über die allgemeinen Grundsätze, den Zeitplan und die Ausweitung der Wahlgarantien für die Präsidentschaftswahl 2024“ unterzeichnet. Dieses geht auf einen mehrwöchigen Dialogprozess zurück, an dessen Ende eigentlich ein Wahltermin verkündet werden sollte. Anders als ursprünglich angedacht enthält das Dokument nun allerdings nicht den einen Vorschlag, sondern nennt 27 mögliche Termine zwischen April und Dezember.

Wir haben beschlossen, alle von den Akteuren des Dialogs vorgeschlagenen Daten zu berücksichtigen“, so Rodríguez. Sowohl den Termin, als auch das Reglement zu beschließen sei Aufgabe des Nationalen Wahlrates (CNE) – der wie alle anderen staatlichen Institutionen mit einer chavistischen Mehrheit besetzt ist. Möglicherweise um der Kritik den Wind aus den Segeln zu nehmen, wonach der regierende Chavismus zwar konsultiert, die Entscheidungen aber willkürlich alleine trifft, betont dieses Vorgehen also die laut Verfassung vorgesehene Unabhängigkeit der Gewalten.

Doch im Hintergrund läuft ein undurchsichtiger Prozess von Verhandlungen, Drohungen und offensichtlich auch unterschiedlichen Ansichten innerhalb der Regierung. Diese möchte die Wahl ohne großes Risiko gewinnen, strebt andererseits aber inner- und außerhalb Venezuelas eine breite Anerkennung der Ergebnisse an. Bisher bestehen erhebliche Zweifel, ob dies gelingen kann. Denn die prominentesten Oppositionspolitiker*innen dürfen nicht kandidieren. Der Regierung verschafft das möglicherweise den entscheidenden Vorteil, um die Wahl gegen eine gespaltene Opposition zu gewinnen, obwohl die Umfragewerte von Präsident Nicolás Maduro im unteren zweistelligen Bereich liegen.

Dabei sah es noch vor einem halben Jahr danach aus, als würden sich die Wogen nach den gescheiterten Umsturzversuchen der letzten Jahre glätten. Ein Abkommen, das die Regierung und das rechte Oppositionsbündnis Plataforma Unitaria Democrática im Oktober in Barbados unterzeichnet hatten, deutete auf transparente Wahlen 2024 hin. Es sieht vor, dass die Präsidentschaftswahl in der zweiten Hälfte dieses Jahres stattfinden und die politischen Parteien ihre Kandidaturen nach eigenen Regeln bestimmen sollen. Zudem soll es umfassende Wahlgarantien und eine glaubhafte Wahlbeobachtung geben.

Das Abkommen kam unter anderem deshalb zustande, weil die USA, die seit 2017 umfassende wirtschaftlichen Sanktionen gegen das Land verhängt hatten, seit Beginn des Ukraine-Krieges wieder ein Interesse an venezolanischem Erdöl haben. Unmittelbar nach der Unterzeichnung genehmigte die US-Regierung sowohl den Handel mit als auch Investitionen in Erdöl, Gas und Gold, solange sich die venezolanische Regierung an die vereinbarten Schritte hält. Im Gegenzug erhielt sie die Erlaubnis, Abschiebeflüge aus den USA nach Venezuela durchzuführen – ein aufgrund gestiegener Migrationszahlen für Präsident Joe Biden wichtiges Wahlkampfthema. Andere Themen, wie die juristischen Eingriffe in die Führung mehrerer rechter wie linker Parteien (darunter auch die Kommunistische Partei Venezuelas), thematisierte das Abkommen nicht. Dennoch handelt es sich um die weitreichendste Übereinkunft zwischen Regierung und Opposition seit dem Amtsantritt von Maduro 2013.

Trotzdem sehen viele das Abkommen als bereits überwiegend gescheitert an. Die Regierung selbst bezeichnet es mittlerweile als Vorstufe eines breiteren Dialogs, der im Februar angestoßen wurde.
Zwar gab es zunächst zaghafte Fortschritte bei der Umsetzung, so einen Gefangenentausch mit den USA. Das für die Opposition entscheidende Thema war und ist aber das Antrittsverbot für ihre Wunschkandidatin María Corina Machado. Sie zählt seit über 20 Jahren zum rechten Rand der Opposition, hat sich in den vergangenen Jahren offen für eine US-Militärintervention ausgesprochen und will Staatsunternehmen privatisieren. Am 22. Oktober gewann Machado eine Vorwahl der Opposition ohne ernstzunehmende Kon­kurrenz. Die Regierung tolerierte die Abstimmung zunächst, erkannte sie anschließend aber nicht an. Wegen angeblichen Betrugs ging die Justiz gegen die Organisator*innen der Vorwahl und das direkte Umfeld von Machado vor.

Im Abkommen von Barbados heißt es, dass alle Kandidat*innen, die „die rechtlichen Voraussetzungen erfüllen“, an den kommenden Wahlen teilnehmen dürften. Regierung und Opposition einigten sich daher Ende November auf ein Verfahren, um die Antrittsverbote jeweils auf Antrag vor dem Obersten Gericht (TSJ) prüfen zu lassen. Entgegen vorheriger Ankündigungen erschien Ma­chado am 15. Dezember aber vor dem Obersten Gericht, das Ende Januar die Antrittsverbote für sie und den ebenfalls prominenten Oppositionspolitiker Henrique Capriles bestätigte. Die USA setzten als Reaktion darauf die Sanktionen im Goldsektor wieder ein und drohten damit, auch die im Erdölsektor zu erneuern, sollte es bis April keine Fortschritte zu transparenten Wahlen geben. Die venezolanische Regierung zog daraufhin die Erlaubnis für Abschiebeflüge zurück.

Ohne Wirkung blieb die Reaktion der US-Regierung nicht. Anfang Februar rief Parlamentspräsident Rodríguez alle Sektoren des Landes dazu auf, sich an einem breiten Dialog zu beteiligen, um einen konkreten Fahrplan für die Präsidentschaftswahl auszuarbeiten. Tatsächlich kam es in den folgenden Wochen zu zahlreichen Treffen mit moderaten Teilen der Opposition, die teilweise in dem alternativen Oppositionsbündnis Alianza Democrática organisiert sind und bereits zu früheren Zeitpunkten Parallelverhandlungen mit der Regierung geführt haben. Die größere Plataforma Unitaria Democrática, der die traditionelle rechte Opposition angehört, traf sich am 20. Februar mit der Regierung, unterzeichnete das Abkommen jedoch nicht. Die moderateren Akteur*innen betrachtet sie überwiegend als „gekauft“. Die Regierung hingegen betont, dass sie mit allen Teilen der Opposition rede. Dadurch versucht sie nicht zuletzt, die Anzahl der potenziellen Präsidentschaftskandidat*innen in die Höhe zu treiben.

Es ist unklar, was hinter den Kulissen passiert

Unklar ist, was hinter den Kulissen passiert. Laut Gerüchten drängen Teile innerhalb der Regierung auf einen zeitnahen Wahltermin, um die Chancen der Opposition auf eine gemeinsame Kandidatur zu verringern. Andere setzen hingegen auf einen späteren Termin, damit sich die Wirtschaft ein wenig erholen kann. Dafür allerdings müsste gewährleistet sein, dass die USA die Sanktionen im Erdölsektor nicht wieder verschärfen.

Zeitgleich zu den Gesprächen geht die Regierung zunehmend gegen Oppositionelle vor. Am 9.Februar wurde etwa die bekannte Menschenrechtsaktivistin Rocío San Miguel am Flughafen von Maiquetía nahe Caracas verhaftet. Auch fünf ihrer Angehörigen wurden vorübergehend festgenommen. Weil drei Tage lang keinerlei Infor­mationen über ihren Verbleib nach außen drangen, berichteten Menschenrechtsaktivist*­innen bald schon von einem Fall gewaltsamen Verschwindenlassens.

Die venezolanische Regierung sowie Generalstaatsanwalt Tarek William Saab widersprachen den Vorwürfen vehement. San Miguel, die auch die spanische Staatsbürgerschaft besitzt, sei einem Haftrichter vorgeführt und ihre Rechte jederzeit respektiert worden. Ihre Anwält*innen ließen allerdings verlauten, keinen Zugang zu ihrer Mandantin zu haben. Erst zehn Tage nach ihrer Verhaftung konnte San Miguel im Geheim­dienstgefängnis El Helicoide von ihrer Tochter besucht werden. Die Anwältin und Menschenrechtsaktivistin leitet die Nichtregierungsorganisation Control Ciudadano und arbeitet vor allem zum Militär. Die Behörden werfen ihr vor, Teil einer mutmaßlichen Verschwörung zu sein. Demnach sollten Präsident Maduro und weitere staatliche Funktionäre ermordet werden. Im Zuge der Ermittlungen wurden seit Januar dutzende Personen verhaftet, darunter zahlreiche Militärs. San Miguel und ihr Umfeld bestreiten die Vorwürfe. Nachdem die Mission des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte ebenfalls von einem „möglichen Fall gewaltsamen Verschwindenlassens“ gesprochen hatte, kündigte die venezolanische Regierung die Schließung ihrer lokalen Büros an und gab den zwölf Mitarbeiter*innen 72 Stunden Zeit, das Land zu verlassen. Für das Wahljahr deutet all das auf zunehmende Konfrontation hin. Wie die Bedingungen für die Abstimmung letztlich aussehen werden, ist nach wie vor offen. Das neue Abkommen vom 28. Februar enthält keine konkreten Beschlüsse in Bezug auf Transparenz oder internationale Wahl­beobachtung. In der Frage der Antrittsverbote gibt es aus Sicht der Regierung keinerlei Diskussionsbedarf mehr. Die „Plataforma Unitaria Democrática“ hält dennoch bisher an Machado als Kan­didatin fest. Tatsächlich befürchten aber nicht wenige, dass die Regierungsgegner*innen am Ende ohne aussichtsreiche Kandidatur dastehen könnten.

Die Opposition müsste daher die gemeinsame Aufstellung einer weniger prominenten Kandidatur planen. Mit dieser Strategie gewann sie bei den letzten Regionalwahlen 2021 den Gouverneursposten im für den Chavismus symbolisch wichtigen Bundesstaat Barinas. Im Falle eines Teil­boykotts der Wahl würde Maduro ziemlich sicher wiedergewählt. Die oppositionelle und internationale Strategie, die Präsidentschaftswahlen zu delegitimieren und im Anschluss daran eine US-gestützte Parallelregierung einzusetzen, schei­terte bereits in den Jahren nach 2018. Machado lässt sich derweil nicht beirren. „Wir haben eine starke Einheit gebildet, alle politischen Parteien unterstützen mich öffentlich, und sogar von der chavistischen Basis treten Leute an mich heran“, erklärte sie auf einer Konferenz in den USA Ende Februar. Bisher wirkt das eher wie Wunschdenken.


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

Der schleichende Putsch der Korrupten

Gegen Straflosigkeit und Korruption Demonstration für einen “Wandel” in Guatemala (Foto: Sara Mayer)

„Du bleibst dünn, während die da oben sich die Taschen füllen” sang ein Demonstrant am 4. Oktober vor Menschen, die sich vor dem Gebäude der Generalstaatsanwaltschaft versammelt hatten. Die dort Demonstrierenden wollten zeigen, dass sie die Korruption und die Allianzen der Regierungspartei mit Kriminellen und einflussreichen Unternehmen satt hatten. An jenem 4. Oktober ahnten sie noch nicht, dass sich ihre Mobilisierung zu landesweiten Protesten ausdehnen und über Monate anhalten würde. Guatemala steckt in einer historisch einzigartigen politischen Krise. Streikende hatten Teile des Landes stillgelegt, zeitweise mehr als 80 Straßen blockiert und vor dem Gebäude der Generalstaatsanwaltschaft ein Protestcamp errichtet. Hier harren Demonstrierende seither Tag und Nacht aus. Regelmäßig werden Protestzüge und Kundgebungen abgehalten, um dem Wahlsieger Bernardo Arévalo und der ihm nahestehenden, sozialdemokratischen Partei Semilla den Rücken zu stärken.

Die Botschaft lautet: Das Volk lässt sich nicht unterdrücken und es wird auch nicht zulassen, dass eine korrupte Elite den Amtsantritt des demokratisch gewählten Präsidenten am 14. Januar verhindert. Am 8. Dezember forderte der Leiter der Sonderstaatsanwaltschaft gegen Straflosigkeit, Rafael Curruchiche, die Wahlen vom August wegen angeblicher Unregelmäßigkeiten in den Wahlakten für ungültig zu erklären und verschanzte sich mit seinen Anhänger*innen in den Büroräumen. Blanca Alfaro, die Präsidentin des Obersten Wahlgerichtes (TSE), stellte daraufhin klar, dass die Wahlergebnisse gültig und unveränderbar sind und dass nur das Verfassungsgericht die Wahl annulieren könnte.

Gegenwärtig sind zwei Szenarien vorstellbar: Das erste, weniger wahrscheinliche ist, dass der Staatsstreich Realität wird. Das zweite Szenario geht davon aus, dass die traditionellen Machthaber alles tun werden, um Bernardo Arévalo das Regieren in der kommenden Legislaturperiode unmöglich zu machen. „Das Volk wird nicht zulassen, dass der rechtmäßig gewählte Präsident davon abgehalten wird, die Regierungsgeschäfte aufzunehmen“, sagt der stellvertretende Vorsitzende der Partei Semilla, Román Wilfredo Castellanos Caal, gegenüber LN. Die sozialen Proteste seien „fundamental” für die Abwehr des Putsches. Der Zusammenschluss der Zivilgesellschaft zeige, dass sich das Volk weder manipulieren noch seiner Wahlen berauben lasse. Castellanos ist überzeugt, dass der Amtsantritt Arévalos nicht zu verhindern ist. Es gebe trotz „der Tyrannei der Staatsanwaltschaft und der korrupten Institutionen noch staatliche Einrichtungen im Land, die im Sinne einer demokratischen Ordnung funktionieren.” Diese seien bereit, sich einer korrupten Elite entgegenzustellen. Dennoch müsse man damit rechnen, dass die Gegner Arévalos alles tun werden, um dem künftigen Präsidenten den Alltag zu erschweren.

Während Román Castellanos die Einheit des guatemaltekischen Volkes hervorhebt, erinnert Miguel Oxlaj, Aktivist der indigenen Kaqchikel, an den Rassismus, der in Guatemala weiterhin fortbestehe. Die Indigenen versammeln sich momentan zwar hinter dem designierten Präsidenten, um die Demokratie zu schützen. Allerdings hätten sie Arévalo nur gewählt, da er „der Beste aus einer schlechten Auswahl“ gewesen sei. Nach dessen Amtsübernahme müsse man sich zusammensetzen, um über die Situation der Indigenen zu sprechen. Hohe Erwartungen hat Oxlaj nicht.

Am 4. Dezember versammelten sich Zehntausende vor der Generalstaatsanwaltschaft, um gegen den soeben verkündeten Staatshaushalt für 2024 zu protestieren. Der Kongress hatte den Haushalt in einer Nacht-und-Nebel-Aktion gegen die Einwände von Abgeordneten der Partei Semilla verabschiedet. Im letzten Moment wurde eine Vielzahl an Änderungen vorgenommen, die das Volk weiter benachteiligen und bestimmte Wirtschaftssektoren wie etwa Bauunternehmen begünstigen. Arévalo kritisierte, dass die Abgeordneten einen „falschen und illegalen Haushalt” beschlossen hätten und bat den noch amtierenden Staatschef Alejandro Giammattei, einen „fairen und trans­parenten Übergangsprozess zum Wohle des Volkes” zu gewährleisten. Ein solcher Etat ist vor allem geeignet, der neuen Regierung das Leben schwer zu machen. So wird die korrupte Justiz mit reichlich Geldern ausgestattet, Mittel für Gesundheit und Bildung dagegen gekürzt.

Die Stimmung im Volk kippte Ende September, als Angehörige der Generalstaatsanwaltschaft im Namen einer „Rettung der Demokratie” in das TSE eindrangen und die Akten der Wahlergebnisse der Präsidentschaftswahl beschlagnahmten. Das TSE hatte zuvor die Rechtmäßigkeit der Wahlergebnisse offiziell bestätigt. Die Erklärung vom 8. Dezember kommt nun für Aravelos Wähler*innen einem versuchten Staatsstreich gleich.

Am 2. Oktober begannen indigene Gemeinschaften der Region Totonicapán, sich gegen das Vorgehen des alten Establishments aufzulehnen. Sie forderten den Rücktritt der korrupten Schlüsselfiguren, die für die Beschlagnahmung verantwortlich waren: Rafael Curruchiche, die Gene­ralstaatsanwältin Consuelo Porras sowie der verantwortliche Richter Fredy Orellana. Dieser Widerstand wuchs zügig zu einer landesweiten Bewegung heran, der sich neben der Landbevölkerung und der Arbeiterklasse auch Hauptstädter*innen anschlossen.

Schon 2015 hatte es Widerstand gegen die Korruption gegeben. Dieses Mal ist die Situation jedoch anders: Die Bewegung wird nun vor allem von Indigenen angeführt und am Leben gehalten, ist streng organisiert und das Herz des Protestes befindet sich in der Hauptstadt. Es sind auch die indigenen Autoritäten, die sich gegenüber den Vereinten Nationen auf international geltendes Recht berufen, und auch die Europäische Union und die USA um Hilfe und Sanktionen gegen die Korrupten gebeten haben. Zumindest zeigt sich die internationale Gemeinschaft inzwischen besorgt um die Vorkommnisse in Guatemala. Die Organisation amerikanischer Staaten bezeichnete die Erklärung der Generalstaatsanwaltschaft als „Verletzung der verfassungsmäßigen Ordnung, des Rechtsstaates und der Menschenrechte der Bevölkerung Guatemalas”.

Der Preis, den insbesondere die ländliche indigene Bevölkerung für den Widerstand bezahlt, ist hoch: Viele protestieren seit über 60 Tagen rund um die Uhr und ließen in ihren Heimatdörfern alles stehen und liegen, um für die Zukunft Guatemalas einzustehen. Zwar haben sich viele der landesweiten Blockaden inzwischen aufgelöst, dafür etablierte sich der Dauerprotest vor der Generalstaatsanwaltschaft.

Bereits im September hatte der designierte Regierungschef vor einem „Staatsstreich in Zeitlupe“ gewarnt. Die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte hatte vor „Übergriffen, Stigmatisierung und möglichen Anschlägen” gegen Arévalo und seine Vizepräsidentin Karin Herrera gewarnt. Während Arévalos Unterstützer*innen alles unternehmen, um seinen Amtsantritt zu sichern, legen ihm seine Gegner*innen Steine in den Weg. Der im Eiltempo festgesetzte Staatshaushalt ist nur ein Beispiel. Zunächst war die Generalstaats­anwaltschaft mit dem Versuch gescheitert, die Partei Semilla zu suspendieren, inzwischen ist es ihr aber gelungen, der Partei die Rechtspersönlichkeit abzusprechen. Gleichzeitig wolle sie strafrechtliche Ermittlungen gegen die politische Bewegung des künftigen Präsidenten einleiten und verlangte Mitte November die Aufhebung der Immunität Arévalos und Herreras vom Obersten Gerichtshof. Im Interview mit LN erklärte Román Castellanos, dass es sich hier um einen Putschplan handle, der „den Willen des Volkes verhöhnt“.

Viele sprechen inzwischen von einer „Justizdiktatur” in Guatemala

Indessen ließ die Generalstaatsanwaltschaft landesweit mindestens 30 Razzien in Privathaushalten durchführen und erließ zeitgleich 27 Haftbefehle gegen Unterstützer*innen Arévalos sowie Mitglieder von Semilla. Sechs Personen, die im Jahr 2022 die Universität San Carlos besetzt hatten, wurden festgenommen. Ihnen wurden mehrere Delikte, unter anderem die Bildung einer Vereinigung mit illegalen Absichten, vorgeworfen. Die Akademiker*innen hatten gegen den neuen Leiter der Bildungseinrichtung protestiert, dessen Wahl sie als unrechtmäßig empfanden.

Die Inhaftierten wurden mehrere Tage festgehalten und es wurde größtenteils hinter verschlossenen Türen und unter Ausschluss der Medien verhandelt. Der als korrupt geltende Richter Victor Cruz befand die Verhafteten zweier Delikte schuldig und entließ sie gegen Bezahlung eines Bußgeldes in einen „Hausarrest“. Das Verfahren soll fortgesetzt werden, Román Castellanos spricht von einem weiteren Versuch, die Partei Semilla zu schwächen. So versuche die Generalstaatsanwaltschaft, Semilla mit der Übernahme der Universität in Verbindung zu bringen. Der Prozess zeige, dass der Richter Verpflichtungen gegenüber den traditionellen Machthabern zu erfüllen habe.

Ein bedeutender Teil der Bevölkerung spricht inzwischen von einer „Justizdiktatur”. Politische Aktivist*innen fühlen sich nicht mehr sicher, ziehen sich zurück, tauchen unter oder entscheiden sich für das Exil. Aktuell unternähme Semilla alle möglichen Schritte, um den schleichenden Staatsstreich aufzuhalten, so Castellanos. Neben den rechtlichen Schritten führe die Partei Gespräche mit den wichtigsten Sektoren der Gesellschaft, zu denen die indigenen Gemeinschaften und Angehörige des privaten und öffentlichen Sektors zählen, um „die Demokratie auf den Beinen zu halten”, versichert der Abgeordnete. Das progressive Medium Prensa Comunitaria verkündete in den sozialen Medien, dass Richter Cruz mehrere unabhängige Medien des Landes aufgefordert habe, Informationen über bestimmte Journalisten*innen preiszugeben und sein Vorgehen der Öffentlichkeit nicht mitzuteilen. Auch gegen indigene Autoritäten, die eine führende Rolle in den aktuell stattfindenden Protesten einnehmen, wird laut Prensa Comunitaria ermittelt.

Kritische Stimmen wandern in Guatemala auf gefährlichen Pfaden: Diejenigen, die Kriminellen und Korrupten zu Leibe rücken, werden eingesperrt. So geschehen im Falle des Gründers der unabhängigen, inzwischen eingestellten Zeitung El Periódico, José Rubén Zamora: der Redakteur und Hauptkritiker der amtierenden Regierung wurde im Juni zu sechs Jahren Haft wegen Geldwäsche verurteilt- trotz internationaler Kritik und offensichtlichen Unregelmäßigkeiten bei der Urteilsfindung. Wie es um die Pressefreiheit in Guatemala steht, zeigte ein durch ein Datenleck bekannt gewordenes Dokument des Verteidigungsministeriums, das Journalist*innen als „Risiko für die nationale Sicherheit“ einordnete.


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

Guatemala ist auf der Straße

Die Revoluzzersöhne Jacobo Árbenz Villanova (Mitte links) und Bernardo Arévalo de León (Mitte rechts) (Foto: Edwin Bercian)

Wie jedes Jahr wurde in Guatemala auch am diesjährigen 20. Oktober der Tag der Revolution gefeiert. An diesem Datum wird dem sogenannten guatemaltekischen Frühling gedacht, der 1944 mit dem Sturz der Militärdiktatur von Federico Ponce Vaides begann und zehn Jahre dauerte. An diesem 20. Oktober schwang in der Erinnerung an die Revolution auch die Hoffnung mit, Jahrzehnte der Korruption und Plünderung hinter sich zu lassen.

Grund der Hoffnung ist der Erfolg des Sohnes von Juan José Arévalo, Bernardo Arévalo de León, bei den jüngsten Präsidentschaftswahlen. Bei den demokratischen Wahlen von 1944 wurde Juan José Arévalo als Kandidat der Partei Frente Popular Libertador mit einer Zustimmung von über 85 Prozent gewählt. Der Pädagoge, Doktor der Philosophie und Erziehungswissenschaften wird als Held der Revolution bei den jährlich stattfindenden Demonstrationen am 20. Oktober geehrt. Der guatemaltekische Frühling aber endete mit dem erzwungenen Rücktritt und Exil seines Nachfolgers Jacobo Árbenz Guzmán.

Bernardo Arévalo de León wiederum gewann am 20. August dieses Jahres die Stichwahl um das Präsidentenamt, der Amtsantritt soll am 14. Januar 2024 stattfinden. Seine Kandidatur hatte dem Land die Hoffnung auf den Frühling zurückgebracht: Bernardo Arévalo und seine sozialdemokratische Partei Movimiento Semilla erlangten landesweit große Aufmerksamkeit durch ihr Versprechen, die Korruption zu bekämpfen, begleitet von einer bescheidenen Wahlkampagne in einem Land, das gemäß dem Korruptionswahrnehmungsindex von 2022 zu den dreißig korruptesten Ländern der Welt gehört.

Doch mit der Hoffnung sind auch die Gegner wieder aufgetaucht. Unter dem bekannten Vorwurf des „Kommunismus“ werden Bernardo Arévalo und seine Partei angegriffen und kritisiert. So hat auch die amtierende Regierung von Alejandro Giammattei eine Offensive gegen die Partei gestartet, um zu verhindern, dass Arévalo sein Amt antritt. Die Generalstaatsanwaltschaft, die zu einem effektiven Instrument der Unterdrückung geworden ist, hat mehrere Verfahren eröffnet, um Mitglieder der Partei zu kriminalisieren. Juan Alberto Fuentes Knight, einer der Gründer der Partei, hat das Land vor wenigen Monaten aufgrund der Verfolgung, dem das Gründungskomitee ausgesetzt ist, verlassen. Gegen Cinthya Rojas Donis und Jaime Gudiel Arias wurde wegen der Beteiligung an der Gründung der Partei Haftbefehl erlassen. Ende Oktober wurde zudem aufgrund eines Kommentars auf der Plattform X die Aufhebung der Immunität des Abgeordneten Samuel Pérez beantragt.

Im Angesicht dieser Ereignisse gewann der 20. Oktober eine neue Bedeutung. Bernardo Arévalo trägt das Erbe seines Vaters Juan José Arévalo in die Gegenwart. Die Hoffnung auf den Straßen wird jedoch begleitet von Unsicherheit aufgrund der Angriffe derjenigen, die eine Veränderung der aktuellen Machtstrukturen verhindern wollen. Die Demonstrierenden fordern die Anerkennung der jüngsten Wahlergebnisse und den Rücktritt der Leitfiguren der Generalstaatsanwaltschaft, die versuchen, diese Ergebnisse zu sabotieren.

Bereits in den frühen Morgenstunden dieses 20. Oktobers versammelten sich Bürger*innen aus verschiedenen Landesteilen und zogen im Gedenken an das furchtbare Feuer vom 8. März, bei dem 41 Mädchen in einem staatlichen Kinderheim starben, in Richtung des sogenannten Platzes der Mädchen im Zentrum der Hauptstadt. Angehörige indigener Gruppen, Student*innen und zivilgesellschaftliche Organisationen versammelten sich vor dem Nationalpalast, um Respekt für die Demokratie, die Wahlergebnisse und die Erinnerung an den guatemaltekischen Frühling einzufordern.

„Das Volk hat gewählt und Euch zum Teufel geschickt“

Besonders kritisiert wurde, dass Guatemala nicht die notwendigen Mindestbedingungen und Chancen auf ein würdevolles Leben für zukünftige Generationen bietet. Die Parole „Wegen unserer Kinder, wegen unserer Migranten” spielt darauf an, dass sich viele überwiegend junge Guatemaltek*innen deshalb zur Migration gezwungen sehen. Eine der Haupteinnahmequellen des Landes sind Auslandsüberweisungen. Die Devisen, die Migrant*innen regelmäßig nach Guatemala schicken, machen 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts des Landes aus. Wie Daten der Bank von Guatemala zeigen, ist dies mehr als der Beitrag der stärksten Wirtschaftssektoren, wie die verarbeitende Industrie, Landwirtschaft und Viehzucht, Autohandel und -reparatur.

Auf Konfrontation Polizei und Protestierende beim landesweiten Streik (Foto: Edwin Berci‡n)

„Das Volk hat gewählt und Euch zum Teufel geschickt“ war eine weitere Parole, die laut in den Straßen hallte. Die Demonstrierenden machten lautstark darauf aufmerksam, dass die Vertreter*innen des Staates bereits gewählt wurden und diese Ergebnisse respektiert werden müssen. Die noch amtierenden Regierungsvertreter*innen werden als Teil des Korruptionsproblems gesehen, es fehlt ihnen an Rückhalt in der Bevölkerung.

Die Märsche waren von historischer Symbolik geprägt. In einem Moment trafen sich auf einer Brücke im Stadtzentrum, unter der ein Teil der Menschen herzog, Sympathisant*innen der Oktoberrevolution und Demonstrierende, die Respekt für die Demokratie forderten. Bernardo Arévalo hielt zusammen mit Jacobo Árbenz Villanova, dem Sohn von Jacobo Árbenz Guzmán eine Rede, die auf den Sturz der autoritären Regierung im Frühling 1944 anspielte. Neben der Erinnerung an die Hoffnungsmomente vor 79 Jahren betonte Arévalo, dass die gegenwärtige Situation des Landes typisch für einen historischen Moment sei, und dass diese Unsicherheit eine neue Ära, einen neuen Frühling, ankündige. Er zollte den Guatemaltek*innen Respekt, die in Anbetracht der aktuellen Lage ihre Stimme erhoben haben. Er bezeichnete sie als das Volk, das sich gegen die Tyrannei der Korruption erhebt und seit dem 2. Oktober friedlichen Widerstand vor verschiedenen Vertretungen der Generalstaatsanwaltschaft im ganzen Land leistet. Schließlich bekräftigte er sein Vorhaben, die Korruption von der Exekutive aus zu bekämpfen, um dem Volk die ihm genommenen Chancen zurückzugeben. So soll ein pluralistischer und inklusiver Staat entstehen, der den Menschen eine Perspektive abseits der Migration bietet.

Seit mittlerweile mehr als einem Monat wird in vielen Teilen des Landes auf diese Weise friedlicher Widerstand geleistet. Guatemala erlebt einen kritischen Moment in der Gestaltung seiner Zukunft. Die Beteiligung indigener Gruppen war entscheidend für die Mobilisierung der Bevölkerung, sich für die Verteidigung der Demokratie einzusetzen. Diese turbulenten Zeiten werden darüber entscheiden, ob die Demokratie lebensfähig ist und das aktuelle System ablösen kann. Das guatemaltekische Volk kämpft weiter und wird nicht aufgeben.


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

Der Löwe ist auf dem Sprung

Inszenierung als Gegner des Establishments Milei hat die Nase voll von den “bürokratischen Faulpelzen” (in Argentinien ñoquis genannt) (Foto: Marcus Christoph)

„Wenn ihr mir 20 Jahre gebt, sind wir Deutschland. Wenn ihr mir 35 Jahre gebt, sind wir die Vereinigten Staaten.” Javier Milei, der sich selbst als Löwe und König einer verlorenen Welt stilisiert, richtete sich mit dieser vollmundigen Ankündigung an die Zuschauer*innen bei der ersten Debatte der Präsidentschaftskandidat*innen. Diese fand am 1. Oktober in Santiago del Estero im Norden Argentiniens statt, am 8. Oktober soll (nach Redaktionsschluss) in Buenos Aires eine weitere folgen. Dass in Argentinien mehr als zwei aufeinanderfolgende Amtszeiten, also mehr als acht Jahre ohne Unterbrechung, in der Verfassung für eine Präsidentschaft nicht erlaubt sind, dürfte dem 52-jährigen Anarcho-Kapitalisten Milei egal sein. Ähnlich wie der Autokrat Najib Bukele in El Salvador wird der derzeit für die ultrarechte La Libertad Avanza (Die Freiheit schreitet voran, LLA) im Abgeordnetenhaus sitzende Milei versuchen, sich die Verfassung untertan zu machen, sollte er es in die Casa Rosada schaffen.

Beim ersten Wahlgang am 22. Oktober, bei dem es für die Präsidentschaft mehr als 45 Prozent der Stimmen oder mindestens 40 Prozent der Stimmen plus zehn Prozentpunkte Vorsprung bedarf, wird Milei der Sprung in die Casa Rosada, den Dienstsitz des argentinischen Präsidenten, laut Umfragen nicht gelingen. Ob bei einer Stichwahl am 19. November im zweiten Anlauf, steht in den Sternen. Ein am 1. Oktober von El País vorgelegter Querschnitt aus 18 Umfragen sieht Milei mit 35,3 Prozent vor dem Rechtsperonisten Sergio Massa mit 30 Prozent und der ehemaligen Innenministerin der rechten Regierung Macri, Patricia Bullrich, mit 25,9 Prozent. Weit abgeschlagen und ohne Chance auf die Stichwahl folgen der peronistische Gouverneur Juan Schiaretti aus Cordóba mit 3,4 und die trotzkistische Myriam Bregman mit 2,6 Prozent.

Diese Umfragen wurden allesamt vor dem Korruptionsskandal rund um Martín Insaurralde gemacht, der seit dem 30. September die Schlagzeilen beherrscht. Der bis dato Stabschef der peronistischen Regierung der Provinz Buenos Aires musste zurücktreten, nachdem eine Reihe von Fotos und Videos aufgetaucht war, auf denen er in Begleitung eines Models während eines Luxusurlaubs auf einer Yacht in Marbella zu sehen war. Laut seiner Steuererklärung ist Insaurralde arm wie eine Kirchenmaus. Von diesem Skandal profitiert Milei auf alle Fälle. Ob Massa auch zu Lasten von Bullrich deswegen Stimmen verliert, darüber gehen die Meinungen auseinander.

Dass Milei Deutschland und die USA als Vorbild wirtschaftlicher Stärke nennt, hat einen Anflug von Größenwahnsinn angesichts der aktuellen Lage. Die wirtschaftliche Gegenwart ist düster und steht im Zentrum der politischen Auseinandersetzung im Wahlkampf, zumal mit Sergio Massa der seit Anfang August 2022 amtierende Minister für Wirtschaft, Produktion und Landwirtschaft selbst für das höchste Staatsamt kandidiert. Somit steht er in zentraler Mitverantwortung für die Inflation, die mit zuletzt 124,4 Prozent immer weitere Höhen erklimmt. Dasselbe gilt für die Armutsrate: Mehr als 40 Prozent der Argentinier*innen werden von der Statistikbehörde INDEC inzwischen als arm geführt — damit nähert sich die Zahl der größten Krise dieses Jahrhunderts an, als 2001/2002 mehr als die Hälfte aller Argentinier*innen in die Armut abrutschte. Damals gab es auf der Straße nur noch einen Slogan für die politische Klasse „Que se vayan todos“ (Alle sollen abhauen). An diesen knüpft Milei an, stellt sich als Außenseiter dar, der mit der „Politikerkaste“ samt Korruption und Vetternwirtschaft aufräumen will.

Gegenkandidat Sergio Massa gehört fraglos zum peronistischen Establishment. Der ehemalige Bürgermeister von Tigre war 2015 maßgeblich mitverantwortlich für die Spaltung des peronistischen Lagers, als er selbst neben der offiziellen Kandidatur von Daniel Scioli seinen Hut für die Präsidentschaft in den Ring warf und damit indirekt dem neoliberalen Mauricio Macri zum Sieg verhalf. 2019 gelang es dem amtierenden Präsidenten Alberto Fernández, Sergio Massa wieder mit ins peronistische Boot zu holen, wofür Massa als Gegenleistung den Vorsitz des Abgeordnetenhauses erhielt. Nun soll er im Namen der Peronisten für die Unión por la Patria (Union für das Vaterland, UxP) die Präsidentschaft holen.

Anfang August 2022 rückte Massa als Superminister ins Kabinett auf, mit dem Ziel, der Wirtschaftskrise Herr zu werden. Das hat definitiv nicht geklappt. Die Wirtschaft stagniert, während die Preise steigen und der Wert des Peso immer weiter verfällt. Massa kündigte zuletzt erneut Maßnahmen an, die die Auswirkungen der Inflation abmildern sollen. Beispielsweise wurde ab September die Mindestrente auf umgerechnet rund 230 Euro erhöht und die Bezieherinnen staatlicher Renten und Pensionen erhalten für die drei Monate September, Oktober und November Zuschläge von rund 100 Euro monatlich.

Argentiniens Arme und große Teile der Mittelschicht gehen weiter schweren Zeiten entgegen

Die Spielräume für Massa sind eng, weil über allem die Vereinbarung mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) steht. Diese sieht vor, das primäre Haushaltsdefizit – also ohne Einberechnung des Schuldendienstes – 2023 auf 1,9 Prozent zu senken und bis 2024 auszugleichen. Argentinien liegt dabei nicht auf Kurs, bekam aber vom IWF Ende August trotzdem eine neue Tranche von 7,5 Milliarden US-Dollar bewilligt, die in den Schuldendienst fließt und somit die Zahlungsunfähigkeit verhindert. Einerseits zeigte der IWF Verständnis, dass Argentinien die Ziele wegen des massiven Einbruchs bei den Agrarexporten wegen der langanhaltenden Dürre nicht einhalten konnte, andererseits gab es die neue Finanzspritze nur gegen neue Auflagen. Unter anderem müssen die Energietarife weiter angehoben werden und der Erhöhung von Pensionen und Gehältern wurden enge Grenzen gesetzt, die im letzten Maßnahmenpaket mit den dürftigen Erhöhungen sichtbar wurden. Immerhin wurden die Ausgaben von Sozialprogrammen dieses Mal nicht direkt vom IWF-Rotstift getroffen.

Massa ging in der Fernsehdebatte auf den IWF ein. Er räumte zwar eigene Fehler ein, lastete die Hauptverantwortung an der argentinischen Misere aber der Vorgängerregierung von Mauricio Macri (2015-2019) an, weil sie das Land unverantwortlich verschuldet habe. 2018 wurden Macri vom IWF auf Empfehlung von Donald Trump dubioserweise 57 Milliarden Dollar zugesagt, um mit besseren Karten in den Wahlkampf 2019 ziehen zu können. Abgewählt wurde er trotzdem und eine interne Untersuchungskommission des IWF kam Ende 2021 zu dem Schluss, dass der Kredit gemessen an den eigenen, üblichen Vergabekriterien eine Fehlentscheidung gewesen sei. Schon nach der Vereinbarung mit dem IWF hatte Massa verkündet: „Wir haben einen großen Schritt gemacht, um die Hypothek, die Mauricio Macri Argentinien hinterlassen hat, abzuarbeiten, aber sie besteht weiterhin. Argentinien wird erst wieder autonom sein, wenn wir uns ihrer entledigt haben.” Bei der Fernsehdebatte kritisierte er, dass der IWF die Wirtschaftspolitik diktiere.

Der selbsterklärte „Marktanarchist“ Javier Milei ist bereits mit dem IWF im Austausch über seine radikalen Liberalisierungs- und Deregulierungsvorhaben. „Wir haben vereinbart, dass die IWF-Analysten uns ihre Arbeitspapiere zur Verfügung stellen werden,“ sagte Milei nach einem ersten virtuellen Treffen. Milei will im Falle seiner Präsidentschaft in den ersten 100 Tagen die Dollarisierung der Wirtschaft in Gang setzen und deshalb die Zentralbank abschaffen, den Wechselkurs freigeben und die Exportsteuern abschaffen. Wie im Chile Pinochets (1973-90) ist Milton Friedman, nach dem auch einer der fünf Hunde Mileis benannt ist, und seine ultraliberale Chicagoer Schule das theoretische Referenzmodell. Grundstein des Plans, den Mileis Wirtschaftsteam ausarbeitet, ist ein Währungsstabilitätsfonds, der die Verbindlichkeiten der staatlichen Banken während der Schocktherapie abdecken soll. Der Fonds soll mindestens 26 Milliarden US-Dollar umfassen und in einem Finanzplatz außerhalb Argentiniens eingerichtet werden, um potenzielle Anlegerinnen mit Rechtssicherheit im Falle eines Zahlungsausfalls zu locken. Als Sicherheiten für die Investmentfonds sind die Schuldverschreibungen der Regierung gegenüber der Zentralbank und der Rentenkassen vorgesehen.

Mileis Wirtschaftspläne sind Zukunftsmusik, von der nicht klar ist, ob sie je gespielt wird. Es ist indes kein Zufall, dass in seinem Wirtschaftsteam sich mit Roque Fernández just der ehemalige Chef der argentinischen Zentralbank (1991-1996) befindet, der in der neoliberalen Ära von Carlos Menem (1989-1999) schon einmal das Ansinnen einer totalen Dollarisierung Argentiniens verfolgte und damals am Widerstand des IWF scheiterte.

Mileis wirtschaftspolitische Ausrichtung ähnelt der ultraliberalen in der Zeit von Menem, der dem rechten Flügel der Peronisten angehörte. Damals wurde zeitweise der Peso fix an den Dollar gebunden und damit zwar die Inflation gebrochen, aber um einen hohen Preis. Die Überbewertung des Pesos zerstörte die Wettbewerbsfähigkeit großer Teile der argentinischen Industrie, Hunderttausende verloren ihre Jobs, die Staatsverschuldung explodierte und mündete zwei Jahre nach dem Abgang von Menem in die tiefe Krise 2001/2002.

Wie auch immer die kommenden Präsidentschaftswahlen in Argentinien ausgehen werden und wer auch immer dann am 10. Dezember 2023 den Staffelstab von Alberto Fernández übernimmt: Argentiniens Arme und große Teile der Mittelschicht werden weiter schweren Zeiten entgegen gehen. Für den Fall, dass wirklich Milei das Ruder übernimmt und seine Vorschläge der sozialen Kürzungen umsetzt, sind eskalierende Armut und soziale Proteste gleichermaßen sicher. Auf alle Fälle sicherer als seine Wahl zum Präsidenten.


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

Anspannung vor der zweiten Runde

Generalstreik 2015 Wie damals sind die Menschen heute wieder auf der Straße (Foto: Nerdoguate via wikimedia commons , CC BY-SA 4.0)

Es war eine riesige Überraschung: Mit knapp zwölf Prozent der Stimmen zog Bernardo Arévalo Ende Juni als Kandidat der Partei Semilla in die Stichwahl um die Präsidentschaft ein. Medienberichte und Meinungsumfragen waren stets davon ausgegangen, dass es die Kandidat*innen der Parteien UNE und Valor in die zweite Runde schaffen würden. Für letztere war mit Zury Ríos die Tochter des Putschistengenerals Efraín Ríos Montt, der 2013 wegen Völkermordes verurteilt wurde, angetreten. Für die zweite Wahlrunde reichten die Stimmen für Ríos jedoch nicht. Semilla-Kandidat Arévalo tritt daher bei der Stichwahl im August gegen Sandra Torres von der sozialdemokratischen UNE-Partei an, die mit 15 Prozent der Stimmen das beste Wahlergebnis erreichte und für die alten Strukturen steht, die das Land derzeit regieren. In Guatemala ziehen unabhängig von der Prozentzahl der Stimmen nur die beiden stärksten Kandidat*innen in die Stichwahl um das Präsident*innenamt ein.

Drei Kandidat*innen der Opposition waren im Vorfeld willkürlich von der Wahl ausgeschlossen worden. Auch wegen mangelnder Transparenz zu diesem Vorgang war die Wahl von Beginn an in Frage gestellt worden. Neben dem Präsident*innenamt wurden am 25. Juni auch Abgeordneten- und Bürgermeister*innenämter zur Wahl gestellt.

Die Bewegung Semilla ist eine sozialdemokratische Mitte-Links-Partei und entstand 2015 in einer Zeit der Massenmobilisierungen gegen Korruption und Straflosigkeit. Dass die Partei im Wahlkampf weitgehend unsichtbar gemacht und nicht zu den Favoriten gezählt wurde, zieht auch die mangelnde Glaubwürdigkeit offizieller Umfragen in Zweifel. Der Erfolg von Semilla bei den Wahlen zeigt in diesem Kontext einen kulturellen und generationsbedingten Wandel, den Guatemala derzeit durchlebt – vor allem aber einen Überdruss gegenüber dem herrschenden politischen System.

Nach Auszählung von über 8o Prozent der Stimmen machte Semilla das Wahlergebnis auf einer Pressekonferenz offiziell. Am nächsten Tag gab das Oberste Wahlgericht (TSE), die nach guatemaltekischem Recht zuständige juristische Instanz, die vorläufigen Wahlergebnisse bekannt. Nur die offizielle Bestätigung des endgültigen Resultats stand zu diesem Zeitpunkt noch aus.

Die rechtsgerichtete politische Elite (von vielen in der Bevölkerung auch als „Pakt der Korrupten“ bezeichnet) fand jedoch schon bald Vorwände dafür, diese zu verzögern. So sei es unter anderem zu Unregelmäßigkeiten bei der Auszählung der Stimmen für die Bürgermeister*innenwahl in Guatemala-Stadt gekommen. Sie zog mit diesem Anliegen vor das Verfassungsgericht des Landes, obwohl dafür in erster Instanz das TSE zuständig gewesen wäre. Die unterlegene Partei Valor war die erste, die eine Klage gegen das Wahlergebnis einreichte. Verschiedene andere Parteien folgten. Ihr Ziel war es, die endgültige Bekanntgabe der Wahlergebnisse zu verlangsamen und eine Neuauszählung der Ergebnisse zu erreichen. Diese – zweifellos willkürliche, da dem guatemaltekischen Recht wider- sprechende – Maßnahme sorgte in der Bevölkerung für Überraschung und Empörung und löste Proteste und Aktionen in verschiedenen Teilen des Landes aus. Verfassungsrechtler*innen zufolge steht Guatemala damit am Rande eines technischen Staatsstreichs. Denn die Forderung nach Neuauszählung signalisiere, dass die „Justizdiktatur“ die Entscheidung der Guatemaltek*innen am 25. Juni an der Wahlurne, nicht respektiere.

Der Antrag auf Neuauszählung der Wahlergebnisse wurde letztlich zwar am 7. Juli vom Verfassungsgericht abgewiesen. Doch damit war es der Rechten nicht genug: Nur eine Woche später, am 13. Juli, wurde bekannt, dass ein Strafgericht auf Antrag von Rafael Curruchiche, Sonderstaatsanwalt für Korruptionsbekämpfung, die Auflösung des Rechtsstatus der Partei Semilla angeordnet hatte. Angeblich habe es während der Gründungsphase der Partei Unregelmäßigkeiten gegeben, so die fadenscheinige Begründung. Die Generalstaatsanwaltschaft ließ außerdem das Parteienregister des TSE durchsuchen. Curruchiches eigene Reputation in dem Fall ist zweifelhaft: Seit 2022 führt ihn beispielsweise die US-Regierung auf einer offiziellen Liste korrupter zentralamerikanischer Funktionär*innen.

Semilla ging gegen das Verbot der eigenen Partei postwendend vor dem Obersten Wahlgericht in Berufung. Dieses kassierte die vorherige Entscheidung am 14. Juli dann auch in letzter Instanz und legte fest, dass Semilla für die Präsidentschaftswahlen weiterhin zugelassen bleibt. Eine mehr als folgerichtige Entscheidung, denn zwischen zwei Wahlrunden erlaubt das guatemaltekische Wahlrecht Parteienverbote generell nicht. Die juristischen Angriffe auf Semilla zeigen jedoch, mit welchen Mitteln diejenigen, die aktuell an der Macht sind, versuchen, diese auch zu erhalten. Die Stichwahl um die Präsidentschaft ist für den 20. August angesetzt. Es bleibt zu hoffen, dass diese auch tatsächlich wie geplant stattfinden kann und es dem „Pakt der Korrupten“ nicht gelingt, den demokratischen Prozess weiter zu sabotieren und die öffentliche Meinung für seine Zwecke zu instrumentalisieren. Um Letzterem etwas entgegenzuhalten, formierten sich in mehreren guatemaltekischen Städten auch nach Bekanntgabe des offiziellen Wahlergebnisses unter dem Motto „Gerechtigkeit jetzt!“ Straßenproteste.

Diese Antwort der Bevölkerung kam vor allem von jungen Menschen: Sie machen auf der Straße und in den sozialen Netzwerken auf die juristischen Angriffe auf die Wahlergebnisse aufmerksam und verschaffen der Bewegung Semilla damit weitere Unterstützung. 26 Jahre nachdem der Bürgerkrieg in Guatemala mit einem Friedensabkommen beendet wurde, lautet ihre Kernforderung: Die Wahlen sollen „an der Wahlurne und nicht vor Gericht“ abgehalten werden. Auch indigene Bewegungen schlossen sich dieser Forderung an. In einer Pressekonferenz erklärten sie, damit nicht für eine bestimmte Partei kämpfen zu wollen, sondern für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie.


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

Newsletter abonnieren