Anspannung vor der zweiten Runde

Generalstreik 2015 Wie damals sind die Menschen heute wieder auf der Straße (Foto: Nerdoguate via wikimedia commons , CC BY-SA 4.0)

Es war eine riesige Überraschung: Mit knapp zwölf Prozent der Stimmen zog Bernardo Arévalo Ende Juni als Kandidat der Partei Semilla in die Stichwahl um die Präsidentschaft ein. Medienberichte und Meinungsumfragen waren stets davon ausgegangen, dass es die Kandidat*innen der Parteien UNE und Valor in die zweite Runde schaffen würden. Für letztere war mit Zury Ríos die Tochter des Putschistengenerals Efraín Ríos Montt, der 2013 wegen Völkermordes verurteilt wurde, angetreten. Für die zweite Wahlrunde reichten die Stimmen für Ríos jedoch nicht. Semilla-Kandidat Arévalo tritt daher bei der Stichwahl im August gegen Sandra Torres von der sozialdemokratischen UNE-Partei an, die mit 15 Prozent der Stimmen das beste Wahlergebnis erreichte und für die alten Strukturen steht, die das Land derzeit regieren. In Guatemala ziehen unabhängig von der Prozentzahl der Stimmen nur die beiden stärksten Kandidat*innen in die Stichwahl um das Präsident*innenamt ein.

Drei Kandidat*innen der Opposition waren im Vorfeld willkürlich von der Wahl ausgeschlossen worden. Auch wegen mangelnder Transparenz zu diesem Vorgang war die Wahl von Beginn an in Frage gestellt worden. Neben dem Präsident*innenamt wurden am 25. Juni auch Abgeordneten- und Bürgermeister*innenämter zur Wahl gestellt.

Die Bewegung Semilla ist eine sozialdemokratische Mitte-Links-Partei und entstand 2015 in einer Zeit der Massenmobilisierungen gegen Korruption und Straflosigkeit. Dass die Partei im Wahlkampf weitgehend unsichtbar gemacht und nicht zu den Favoriten gezählt wurde, zieht auch die mangelnde Glaubwürdigkeit offizieller Umfragen in Zweifel. Der Erfolg von Semilla bei den Wahlen zeigt in diesem Kontext einen kulturellen und generationsbedingten Wandel, den Guatemala derzeit durchlebt – vor allem aber einen Überdruss gegenüber dem herrschenden politischen System.

Nach Auszählung von über 8o Prozent der Stimmen machte Semilla das Wahlergebnis auf einer Pressekonferenz offiziell. Am nächsten Tag gab das Oberste Wahlgericht (TSE), die nach guatemaltekischem Recht zuständige juristische Instanz, die vorläufigen Wahlergebnisse bekannt. Nur die offizielle Bestätigung des endgültigen Resultats stand zu diesem Zeitpunkt noch aus.

Die rechtsgerichtete politische Elite (von vielen in der Bevölkerung auch als „Pakt der Korrupten“ bezeichnet) fand jedoch schon bald Vorwände dafür, diese zu verzögern. So sei es unter anderem zu Unregelmäßigkeiten bei der Auszählung der Stimmen für die Bürgermeister*innenwahl in Guatemala-Stadt gekommen. Sie zog mit diesem Anliegen vor das Verfassungsgericht des Landes, obwohl dafür in erster Instanz das TSE zuständig gewesen wäre. Die unterlegene Partei Valor war die erste, die eine Klage gegen das Wahlergebnis einreichte. Verschiedene andere Parteien folgten. Ihr Ziel war es, die endgültige Bekanntgabe der Wahlergebnisse zu verlangsamen und eine Neuauszählung der Ergebnisse zu erreichen. Diese – zweifellos willkürliche, da dem guatemaltekischen Recht wider- sprechende – Maßnahme sorgte in der Bevölkerung für Überraschung und Empörung und löste Proteste und Aktionen in verschiedenen Teilen des Landes aus. Verfassungsrechtler*innen zufolge steht Guatemala damit am Rande eines technischen Staatsstreichs. Denn die Forderung nach Neuauszählung signalisiere, dass die „Justizdiktatur“ die Entscheidung der Guatemaltek*innen am 25. Juni an der Wahlurne, nicht respektiere.

Der Antrag auf Neuauszählung der Wahlergebnisse wurde letztlich zwar am 7. Juli vom Verfassungsgericht abgewiesen. Doch damit war es der Rechten nicht genug: Nur eine Woche später, am 13. Juli, wurde bekannt, dass ein Strafgericht auf Antrag von Rafael Curruchiche, Sonderstaatsanwalt für Korruptionsbekämpfung, die Auflösung des Rechtsstatus der Partei Semilla angeordnet hatte. Angeblich habe es während der Gründungsphase der Partei Unregelmäßigkeiten gegeben, so die fadenscheinige Begründung. Die Generalstaatsanwaltschaft ließ außerdem das Parteienregister des TSE durchsuchen. Curruchiches eigene Reputation in dem Fall ist zweifelhaft: Seit 2022 führt ihn beispielsweise die US-Regierung auf einer offiziellen Liste korrupter zentralamerikanischer Funktionär*innen.

Semilla ging gegen das Verbot der eigenen Partei postwendend vor dem Obersten Wahlgericht in Berufung. Dieses kassierte die vorherige Entscheidung am 14. Juli dann auch in letzter Instanz und legte fest, dass Semilla für die Präsidentschaftswahlen weiterhin zugelassen bleibt. Eine mehr als folgerichtige Entscheidung, denn zwischen zwei Wahlrunden erlaubt das guatemaltekische Wahlrecht Parteienverbote generell nicht. Die juristischen Angriffe auf Semilla zeigen jedoch, mit welchen Mitteln diejenigen, die aktuell an der Macht sind, versuchen, diese auch zu erhalten. Die Stichwahl um die Präsidentschaft ist für den 20. August angesetzt. Es bleibt zu hoffen, dass diese auch tatsächlich wie geplant stattfinden kann und es dem „Pakt der Korrupten“ nicht gelingt, den demokratischen Prozess weiter zu sabotieren und die öffentliche Meinung für seine Zwecke zu instrumentalisieren. Um Letzterem etwas entgegenzuhalten, formierten sich in mehreren guatemaltekischen Städten auch nach Bekanntgabe des offiziellen Wahlergebnisses unter dem Motto „Gerechtigkeit jetzt!“ Straßenproteste.

Diese Antwort der Bevölkerung kam vor allem von jungen Menschen: Sie machen auf der Straße und in den sozialen Netzwerken auf die juristischen Angriffe auf die Wahlergebnisse aufmerksam und verschaffen der Bewegung Semilla damit weitere Unterstützung. 26 Jahre nachdem der Bürgerkrieg in Guatemala mit einem Friedensabkommen beendet wurde, lautet ihre Kernforderung: Die Wahlen sollen „an der Wahlurne und nicht vor Gericht“ abgehalten werden. Auch indigene Bewegungen schlossen sich dieser Forderung an. In einer Pressekonferenz erklärten sie, damit nicht für eine bestimmte Partei kämpfen zu wollen, sondern für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie.

DIE 120 TAGE VON SODOM IN BRASÍLIA

Illustration: Joan Farías Luan, www.cuadernoimaginario.cl

Seit dem Amtsantritt des Präsidenten Jair Bolsonaro verging kaum ein Tag, an dem nicht eine der zu einem demokratischen Gemeinwesen gehörenden Selbstverständlichkeiten von ihm oder seinen Regierungsmitgliedern erst unter Beschuss geriet, dann in schwerem Gewässer ohne Seenotrettung ausgesetzt und damit dem Untergang überlassen wurde. Schon in den ersten Tagen seiner Regierung setzte Bolsonaro mit der Erleichterung des Zugangs zu Feuerwaffen eines seiner Wahlversprechen um. Seit Januar dieses Jahres haben „Bewohner von städtischen Gebieten mit hoher Kriminalität“ sowie „Eigentümer von kommerziellen oder industriellen Geschäften“ die Erlaubnis, sich legal mit bis zu vier Feuerwaffen hochzurüsten. Flankiert wird diese Liberalisierung des Waffengesetzes von einer Lizenz zum Töten.

Die dahinter waltende Exzellenz ist Justizminister Moro, jener Richter, dessen Hauptmission es war, den ehemaligen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva zu verhaften und ihn damit an der erneuten Kandidatur zum Präsidenten zu hindern, und der dafür mit einem Ministeramt beschenkt wurde. Moro hat rasch eine Justizreform ins Parlament gebracht. Zum Kern dieser „Reform“ gehört die Entkriminalisierung von Tötungsdelikten der Polizei in Fällen von „entschuldbarer Angst, Überraschung und heftigen Emotionen“, falls diese der Erschießung von Banditen (fast immer junge, schwarze Männer) vorausgegangen seien. Dazu soll es dem Gesetzentwurf zufolge ausreichen, wenn die Polizist*innen dies anschließend glaubhaft deutlich machen. Wahre Leidenschaft aus dem ersten der Höllenkreise.

Zeitgleich lässt der neugewählte faschistische Gouverneur von Rio de Janeiro, Wilson Witzel, mit Scharfschützen auf Favela-Bewohner*innen schießen, denen aus hunderten Metern Entfernung beim Blick durch das Zielfernrohr unterstellt wird, sie seien bewaffnet. Mehrere Fälle von Regenschirmen und Bohrmaschinen bezeugen deren Unschuld. Witzel beglückwünschte die Todesschützen. Fehlt nur noch der Orden aus dem Höllenkreis des Blutes.

Demokratisch verfasste Gemeinwesen brauchen eine lebendige Zivilgesellschaft, die Partizipation erkämpft und verteidigt, was der brasilianischen Zivilgesellschaft nach 1988 durchaus gelungen ist. Dem wurde nun de facto ein Ende gesetzt: Sämtliche der bestehenden Beiräte und Partizipationsorgane aller Ministerien wurden mit einem Federstrich abgeschafft, einschließlich staatlicher Organe, die in der Verfassung verankert sind oder durch völkerrechtlich verbindliche internationale Abkommen Rechtssicherheit genießen. Der Klageweg dagegen ist lang und steinig.

Wo die Bolsonaro-Truppe Widerstand mutmaßt, wird die Axt angesetzt. Der Kulturförderung wurde der Garaus gemacht, der Indigenenbehörde der Großteil ihres Etats genommen, und Philosophie und Soziologie sollten an Bundesuniversitäten gar nicht mehr gefördert werden. Bolsonaro will Fächer, die einen konkreten Nutzen haben. Ingenieur*innen haben sich schon immer angepasster an faschistische Systeme gezeigt als Geisteswissenschaftler*innen. Grundsätzlich sollen die Kids der Wohlhabenden die Universität wieder für sich alleine haben. „Die Universitäten sollen für eine intellektuelle Elite reserviert werden“, so der wegen interner Streitigkeiten inzwischen zurückgetretene Bildungsminister Ricardo Vélez Rodríguez. Der Minister ist gegangen, aber das Ziel bleibt: Arme sollen sich der Berufsausbildung widmen oder besser gleich malochen, sie haben an einer Hochschule im Brasilien des Haupt­manns Bolsonaro nichts zu suchen.

Bolsonaro liefert auch die Umsetzung weiterer Wahlkampfversprechen. Seine Hauptunterstützer – die Agrarlobby und die Industrie – rieben sich schon vor seiner Wahl die Hände, denn Bolsonaro will indigenes Land für das Agrobusiness und Bergbaukonzerne öffnen. Der tausendfache Protest der Indigenen, die Ende April das Acampamento Terra Livre, die größte indigene Versammlung zur Verteidigung des Amazonas­gebietes, in Brasília organisiert haben, wird von den militarisierten Bundestruppen der Força Nacional de Segurança Pública in Schach gehalten.

Die Aussortierung der Armen aus der Rentenversicherung, das ist der Plan der lange erwarteten Rentenreform seiner Durchlaucht, dem ultraneoliberalen Wirtschaftsminister Paulo Guedes. Alte Menschen aus dem ländlichen Raum gehören zu den großen Verlierern, die Privilegien bei der Rente der Militärs sind aber aus der Reform herausgenommen. Überhaupt soll die Rentenkasse de facto den Banken übertragen werden: Kapitalgedeckte Altervorsorge heißt der Renner, der schon in Chile die Massen unter das Existenzminimum brachte und den Banken explodierende Börsenwerte verschaffte.

Sollen die Arbeiter*innen im dritten Höllenkreis doch Scheiße fressen.

Brasiliens Arbeiter*innen müssten sich entscheiden, tönte Bolsonaro im Wahlkampf: „Arbeit oder Rechte?“ Die logische Konsequenz aus diesem scheinbaren Gegensatz ist die Schleifung der Gewerkschaften über geschickt angesetzte Rahmenänderungen bei der Gewerkschaftsfinanzierung. Hinzu kommt, dass die Firmen nun – über die Tarifverträge hinweg – individuell mit den Arbeiter*innen verhandeln. Nicht nur wegen dieser Maßnahme freut sich die Wirtschaft über die neue Regierung und deutsche Firmen fühlen sich in Brasiliens Sodom pudelwohl. So sagt zum Beispiel André Clark, CEO von Siemens in Brasilien: „Die Zusammenarbeit zwischen der Regierung und den Unternehmern läuft sehr gut und effizient“. Sollen die Arbeiter*innen im dritten Höllenkreis doch Scheiße fressen. Da schon unter der Temer-Regierung die Arbeitsjustiz dereguliert wurde, fehlte nur noch die logische Fortsetzung der Brutalo-Politik im Lohnbeutel: Der Stopp des Zuwachses des Mindestlohns. Die regelmäßige Erhöhung des Minimalbetrages über die Inflationsrate hinaus gehörte zu den wichtigsten Instrumenten der PT-Regierung zur Armutsbekämpfung und zum sozialen Ausgleich. Ab jetzt wird bei der Erhöhung höchstens die Inflation berücksichtigt und die bindende Kraft des gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohns erheblich eingeschränkt werden – anders ausgedrückt, er gilt nicht mehr in allen Bereichen und Regionen.

Bolsonaro erklärt, „Demokratie und Freiheit gibt es nur, wenn die Armee es so will“. Und erlaubte, dass der Militärputsch von 1964 auf „angemessene Weise“ in den Armeebaracken gefeiert wird – Demokratie als Gnade der Militärs, so versteht die Bolsonaro-Truppe das politische System.Die Ermittlungen um die vielfältigen Verstrickungen des Bolsonaro-Clans in die tiefen Staatsstrukturen der Mafiamilizen kommen nicht voran, wenn sie denn je ernsthaft von den zuständigen Ermittlungsbehörden aufgenommen wurden. „Wer hat Marielle Franco erschossen, und wer gab den Mordauftrag?“, fragen Brasilianer*innen auch ein Jahr nach dem Mord millionenfach. Obwohl die mehr als anrüchigen, direkten Verbindungen der ersten festgenommenen, mutmaßlichen Täter mit dem Bolsonaro-Clan zwar höchste mediale Klickzahlen erreichen, enden sie im juristischen Niemandsland.

Die brasilianische Demokratie und die ohnehin schwache, politische und staatliche Institutionenlandschaft sind täglich in Auflösung begriffen und das ist das eigentliche Programm: „Brasilien ist nicht das Feld, wo wir viele gute Sachen für unser Volk aufbauen wollen. Wir müssen eher viel dekonstruieren“, so Bolsonaro bei seinem Besuch in den USA. Bolsonaros Brasilien ist ein Land mit immer weniger „checks and balances“. Anders sieht das allerdings die Deutsche Bundesregierung: „Wir vertrauen in die Festigkeit der brasilianischen Institutionen“, erklärte jüngst ein über die Einschätzung des Deutschen Außenministeriums informierter Mitarbeiter. Und Außenminister Heiko Maas sieht „gemeinsame Werte“ am walten.

Als Dekonstrukteur stellt sich Bolsonaro auch als Anti-Präsident dar: Er demontiert seine Minister*innen und lässt seinen Guru, den selbst ernannten Philosophen Olavo de Carvalho aus den USA, gegen die Militärs wettern (zuletzt beschimpfte er diese als „Hosenscheißer”). Mal interveniert Bolsonaro im halbstaatlichen Mineralölunternehmen Petrobras, um eine Dieselerhöhung zu verhindern. Mal beugt er sich dem Rat seines Wirtschaftsministers und verspricht, dies nie wieder zu tun. „Ich verstehe ja nichts von diesen wirtschaftlichen Prozessen“, erklärte er. Dann wieder hetzt er seinen jüngeren Sohn Carlos, den Monsignore, gegen seinen Vize-Präsidenten, einen General.

„Ich verstehe ja nichts von diesen wirtschaftlichen Prozessen“

Bolsonaros Partei PSL, aufgefüllt mit politischen Parvenüs und Abenteurern, agiert im Parlament völlig orientierungslos. Bolsonaro lässt sie nicht an die Fleischtöpfe der Macht. Und so vergeht kaum ein Tag ohne ein Verwirrspiel, das keines ist, weil es mit dem klaren Ziel geschieht, die Institutionen allmählich zu zersetzen und in diesem Chaos eine Atmosphäre der Angst zu erzeugen. Parlament und Justiz geben völlig widersprüchliche Signale und die obersten Richter*innen begehen elementare Fehler. Die etablierten Medien distanzieren sich von Bolsonaro aus Furcht, dass dieser Mann am Ende für die Herrschaft der Elite doch zu dysfunktional sein könnte. Bolsonaro schimpft über den größten Fernsehsender des Landes: „Rede Globo ist der Feind“. Und die Opposition schweigt: Die rechte Opposition der PSDB ist im Nichts verschwunden und die Linke verbleibt in der Schockstarre. Noch einmal die Journalistin Eliane Brum: „Bolsonaro ist Regierung und Opposition zugleich.”

Flankiert wird das ganze Schmierentheater durch den Auftritt der Signora in Brasiliens Sodom, der Ministerin für Frauen, Familie und Menschenrechte, Damares Alves, der wir die Erkenntnis verdanken, dass in den Niederlanden Eltern ihre Babys sexuell stimulieren, und dass Touristen nach Brasilien reisen, um dort in den Motels Sodomie zu begehen. Woraufhin der Präsident selbst diese Einsichten durch die Aufforderung ergänzte, die Ausländer sollten ruhig nach Brasilien reisen, um dort mit den schönen Frauen zu schlafen, aber die Schwulen sollten das nicht tun, in Brasilien gälten schließlich familiäre Werte. Werte aus den Höllenkreisen der Leidenschaft, des Blutes und der Scheiße.

 

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