TANTE ISABEL SUCHT EINE BLEIBE

Übte offen Kritik an Konventionen Die Sängerin Chavela Vargas (Foto: Paul Chaverri & Ana Castro)

Es war ein ganz normaler Tag im Leben des Umweltanwalts Paul Chaverri – damals, vor 28 Jahren. Da stand plötzlich seine Nachbarin Yisela Ávia Vargas mit ihrer Tante vor der Tür. Sie tranken Limonade zusammen, erzählten sich die Neuigkeiten aus dem Ort und Paul fragte nach ihrem Anliegen. Tante Isabel war gerade aus Mexiko heimgekehrt und suchte eine Bleibe in der Nähe ihrer Familie, in der beschaulichen Gemeinde (Kanton) Flores vor den Toren San Josés, der Hauptstadt Costa Ricas. Bevor die beiden Damen wieder gingen, überschaute die Tante Pauls weitläufiges, grünes, fast unbebautes Grundstück am Fluss. „Wenn ich wählen könnte“, sagte sie, „würde ich gerne auf einem solchen Grundstück alt werden“. Don Paul bewegt dieses Ereignis bis heute. Denn er wusste damals nicht, dass besagte Tante die berühmte Sängerin Isabel „Chavela“ Vargas war. Zwei Schlüsse zog er aus diesem Treffen: „Erstens, was für ein kulturloser Idiot ich war, Chavela Vargas nicht erkannt zu haben“, er lachte. „Und zweitens, was für eine schlichte Person sie eigentlich war.“ Im Oktober 2022, also 28 Jahre später, und zehn Jahre nach ihrem Tod im August 2012, ernannte das costa-ricanische Parlament jene Isabela „Chavela“ Vargas zur Benemérita de las Artes Patrias, zur verdienstvollen Künstlerin des Landes.

Berühmt wurde Isabel „Chavela“ Vargas gleich zweimal. Erst machte sie sich vor allem als Ranchera-Sängerin im Mexiko der 1960er Jahre einen Namen. Damals verkehrte sie mit den größten Künstler*innen der Zeit wie Cantinflas, Gabriel García Márquez, Elizabeth Taylor, Picasso, Ava Gardner oder Grace Kelly. Zwei Jahre lebte sie bei Diego Rivera und Frida Kahlo. Allerdings geriet die Karriere der extravaganten Dame nach und nach ins Stocken, da eine starke Alkoholsucht und der Machismo im Musikgeschäft ihr größere Engagements verwehrten. Dann, in den frühen 1990er Jahren, wurde sie eher zufällig wiederentdeckt. Zunächst gewann sie der deutsche Regisseur Werner Herzog für eine Rolle in seinem Film Cerro Torre. Anschließend verhalfen ihr der spanische Regisseur Pedro Almodóvar und der Sänger Joaquín Sabina zu einem fulminanten Comeback als Sängerin und Schauspielerin. Vargas’ Oeuvre umfasst geschätzt 40 Schallplatten und sechs Filme.

Neben ihren Erfolgen spielt der kulturhistorische Hintergrund ihres Lebens eine entscheidende Rolle für die Ernennung zur Ehrenbürgerin von Costa Rica. Die Abgeordnete Ada Acuña erklärte während der Abstimmung, die Ehrenbürger*innenwürde stehe stellvertretend „für all jene Künstlerinnen, die gezwungen waren, das Land zu verlassen, um als solche anerkannt zu werden“. Denn Chavela Vargas teilte das Schicksal zahlreicher vor allem weiblicher Kunstschaffender im Costa Rica des frühen 20. Jahrhunderts, die zur freien Ausübung ihrer Talente meist nach Mexiko auswanderten, darunter auch die heute als „Nationaldichterin“ gefeierte Carmen Lyra. „Diese großen Geister kämpften zuerst gegen ihre Heimat an, da sie nicht in die Grenzen der alten Traditionen passten“, kommentiert die Philologin und Vargas-Expertin Sonia Jones Leon diesen Ausbruch mit Blick auf die engmaschigen Institutionen Staat und Kirche im Costa Rica der 1930er und 1940er Jahre. Und so begründet auch die ehemalige progressive Abgeordnete Paola Vega ihre Initiative zur Ehrung von Isabel Vargas nicht nur damit, dass sie als „eine der wichtigsten Referenzen der lateinamerikanischen Musik, die in Costa Rica geboren wurde“ zähle, sondern auch „als eine Revolutionärin gegen den Machismo und die Homophobie ihrer Zeit.“

Ranchera singen, trinken, rauchen Chavela Vargas (Mitte) spaltet das recht konservative Costa Rica bis heute (Foto: Paul Chaverri & Ana Castro)

Denn was Chavela Vargas von anderen Künstler*innen ihrer Generation unterschied, war zweifelsohne die Radikalität ihres artistischen Ausdrucks. Schon in ihrer Jugend fiel sie in ihrem ländlich geprägten und streng konservativen Heimatort durch ihre rebellische und sonderbar maskuline Art auf. Als Tochter von Kaffeebauern lernte sie früh lesen und schreiben. „Aber anstatt sich auf ihre Zukunft als verheiratete Hausfrau vorzubereiten, folgte das junge Mädchen den Landarbeitern zu den Cantinas, jene verruchten Kneipen, in denen Schnaps getrunken und Gitarre gespielt wurde, das beeinflusste sie zweifelsohne“, erzählt Ana Castro, costa-ricanische Aktivistin für Gleichstellung, Musikerin der Band Claroscuro und Bekannte Chavelas.

Chavela Vargas als „eine Revolutionärin gegen den Machismo“

In einem Land, in dem es nicht einmal schicklich war, dass Frauen Gitarre spielten, trug Vargas entgegen der Konvention Hosen und Hut, jagte in ihrer Freizeit mit einem Revolver die Schlangen in den Kaffeeplantagen und kokettierte mit den Gerüchten über ihre gleichgeschlechtlichen Zuneigungen, indem sie Liebeslieder für Frauen sang. In jener Zeit wurde sie damit schnell zur Ausgeschlossenen. Weder in der traditionellen Gesellschaft noch in der mächtigen katholischen Kirche oder ihrem um Contenance bemühten Elternhaus war Platz für sie. „Es muss schrecklich für sie als queere Person gewesen sein“, kommentiert Ana Castro die Situation, „in der Dynamik eines Dorfes provoziert so etwas tägliche Beschimpfungen, Isolation und Scham innerhalb der eigenen Familie. Ich bin mir sicher: Wenn sie nicht geflohen wäre, hätte sie sich das Leben genommen.“ Mit 17 Jahren „floh“ Chavela über Kuba nach Mexiko. Dort führte sie einen noch exzentrischeren Lebensstil. Sang sie doch ausgerechnet die „Männermusik“ der Ranchera, trank, rauchte und wirkte aktiv mit an ihrem Legendenstatus, in dem sich die Wahrheit und das Phantastische immer mehr miteinander vermengten. Irgendwo zwischen den gefühlsüberladenen Welten ihrer Lieder, dem magischen Realismus der lateinamerikanischen Avantgarde jener Zeit und ihrem ungebrochenen Freiheitssinn entstanden Chavelas symbolreiche, poetische und interpretationsoffene Schilderungen ihres Lebens. Deshalb sind viele Ereignisse nach wie vor nur vage nachzuzeichnen, ihre Lebensdaten voller Unklarheiten und Widersprüche.

Dieses radikale Ausbrechen aus jeder gesellschaftlichen Ordnung und die offene Kritik an jeglichen Konventionen passt nicht in das noch immer etwas spießige Flores mit seinen alteingesessenen Familien. Bis heute wird Chavela Vargas in der Gemeindegeschichte mit keinem Wort erwähnt. Und auch dem Rest des Landes sind derartige Eskapaden eher fremd. Die Ernennung Chavela Vargas zur Benemérita wurde daher zum Gegenstand zahlreicher Kontroversen. Der evangelikale Parlamentsabgeordnete Fabrizio Alvarado fasste die öffentliche Meinung bei der Begründung seiner Ablehnung etwa so zusammen: „Frau Vargas hatte keine Verbindung zu unserem Land, vielmehr leugnete und zweifelte sie unsere Kultur und Gewohnheiten an. Sie hat sich immer als Mexikanerin verstanden (…) und zudem äußerte sie sich unvorteilhaft negativ über ihr eigenes Vaterland, öffentlich und eindeutig.“ Ana Castro wundert diese Ansicht wenig. „Die Kritiker*innen sind letztendlich die gleichen Menschen, die sie damals aus ihrer Heimat vertrieben haben, sie ließen sie nie zur Ruhe kommen. Nur diese Leute hat sie direkt angegriffen. Und sie hatte alles Recht dazu! Chavela hat Costa Rica nie gehasst, sie war oft und gerne hier. Sie fühlte sich nur nie wirklich zu Hause hier.“

„Chavela hat Costa Rica nie gehasst. Sie fühlte sich nur nie wirklich zu Hause hier.“


Auch Paul Chaverri stieß auf mächtigen Widerstand, als er versuchte, die Beziehung zwischen Chavela und Costa Rica neu zu interpretieren. Auf seinem weitläufigen Grundstück in Flores hat er eine kleine Bühne – und er nutzt sie gerne, um sich mit Musiker*innen zu umgeben. Bei Recherchen mit besagter Nichte stießen sie zudem auf den vollständigen Nachlass von Chavela: ihre Gitarre, Ponchos, Fotos, signierte Bücher und sogar ihre Kinderschuhe. Die Idee war geboren, gemeinsam mit dem Musikkollektiv Sonamos Latinoamérica ein mehrtägiges Festival zu organisieren. Neben Konzerten sollten auch Workshops über lateinamerikanische Musik stattfinden. „Costa Ricas Schulden bei Chavela und Chavelas Schulden bei Costa Rica“, lautete das Motto. Es kamen Künstler*innen aus ganz Lateinamerika, um auf dem Festival zu spielen.

Während das mexikanische Kulturinstitut in Costa Rica dieses Vorhaben unterstützte, regte sich im Gemeinderat von Flores schnell hartnäckiger Widerstand. Die Idee, Musikworkshops für die Schüler*innen anzubieten, wurde umgehend untersagt. Ein öffentliches Konzert in der Turnhalle der lokalen Schule sollte einige Stunden vor der Aufführung auf Eis gelegt werden. Sogar die Polizei war vor Ort – ein sehr seltener Anblick im friedlichen Costa Rica. Angeblich verstoße das Konzert als Großveranstaltung gegen die Hygieneauflagen in der Coronapandemie. Ein zähes Argumentieren und Verhandeln war die Folge, das Konzert stand auf der Kippe. Künstler*innen aus Argentinien, Ecuador und anderen Ecken des Kontinentes wunderten sich über diesen harschen Widerstand der Gemeinde gegen die Würdigung einer seiner lateinamerikaweit gefeierten Töchter. Es ist dem beherzten Einsatz des Schulleiters zu verdanken, dass die Veranstaltung mit 50 Teilnehmer*innen im letzten Moment stattfinden konnte. Große Aufmerksamkeit erregte das Festival nicht. Das liegt wohl auch am Coldplay-Konzert, das zeitgleich im Nationalstadion stattfand – vor 20.000 Menschen. Als deren Sänger zum Abschluss des Großevents das patriotische Lied „Patriótica Costarricense“ sang, wurde das Konzert als Sternstunde der costa-ricanischen Kultur gefeiert. Don Paul lacht verächtlich, wenn er die Geschichte hört und nennt sein in den vergangenen 28 Jahren kaum verändertes Grundstück samt Bühne im Herzen der Gemeinde nun offiziell „Kulturzentrum Chavela Vargas“. Trotzdem sind sich Paul und seine Mitstreiter*innen sicher, dass es noch eine Weile dauern wird, bis Isabel Vargas in Costa Rica eine sichere Bleibe findet.

RECHTER KULTURKAMPF

Am 11. Juni kündigte der Präsident der Fundação Cultural Palmares, Sérgio Camargo, an, rund 9.000 Werke aus Literatur und politischer Theorie aus dem Archiv der Einrichtung zu entfernen. Laut einer internen Analyse der staatlichen Stiftung zur Förderung der afrobrasilianischen Kultur seien nur fünf Prozent aller Titel konform mit dem institutionellen Auftrag. Unter den beanstandeten Publikationen gehören viele zum brasilianischen Bildungskanon, wie die des afrobra-*silianischen Schriftstellers Machado de Assis (1839-1908) oder des Anthropologen und Folkloreforschers Luís da Câmara Cascudo (1898-1986). Auch international Anerkanntes, zum Beispiel Werke von H. G. Wells, der Frankfurter Schule und alle Bücher von oder über Karl Marx, sollten aussortiert werden.

In der Analyse namens Darstellung der Sammlung – drei Jahrzehnte der marxistischen Vorherrschaft in der Stiftung Fundação Cultural Palmares hat das Institut 14 Kategorien angewandt, um den „kulturellen Marxismus“ zu beenden. Sie lesen sich wie das ABC der Kampagnen der Neuen Rechten: „Sexualisierung von Kindern“, „jugendliche Straftäter“, „Techniken der Viktimisierung“, „obsolete Werke“.

Inzwischen hat das zuständige Gericht in Rio de Janeiro der Stiftung untersagt, die indizierten Werke aus dem Archiv auszuschließen. Der Vorgang ist dennoch höchst relevant, weil er der jüngste Versuch der brasilianischen Neuen Rechten ist, die Freiheit von Forschung, Bildung, Kunst und Meinungsäußerung zu beschränken. Mit der Verschwörungstheorie hinter dem Kampfbegriff „kultureller Marxismus“ werden erfolgreich ideologische Umdeutungen in der Öffentlichkeit verbreitet. Im Kern geht es darum, Begriffe wie Vaterland, Familie oder Erziehung in ihrer konservativen Deutung als „unideologisch“ und „natürlich“ zu definieren, während andere Definitionen als „ideologisch“ gebrandmarkt werden, zum Beispiel als „Gender-Ideologie“.

Die Diktatur darf in Schulbüchern nicht mehr Diktatur heißen

Unter Präsident Jair Bolsonaro werden staatliche Mittel so umgeleitet, dass dieser Diskurs unterstützt wird. Das betrifft nicht nur die finanziell ausgebluteten Umweltbehörden, was erheblich zu den gestiegenen Waldrodungen beiträgt, sondern auch Universitäten und (Schulbuch-)Verlage. Welche Verschiebung dort gerade stattfindet, lässt sich an der Weisung des Bildungsministeriums ablesen, nach der die brasilianische Militärdiktatur in den Geschichtsbüchern nicht mehr als Diktatur bezeichnet werden darf (siehe Artikel auf der nächsten Seite).

Eine der ersten erfolgreichen Kampagnen der Neuen Rechten ist die escola sem partido, in etwa „Schule ohne Partei(nahme)“. 2004 gegründet vertritt sie angeblich Eltern und Schüler*innen, die sich gegen die „ideologische Indoktrinierung“ der Linken in den Schulen wehren. Im Fokus der Kritik steht immer wieder der international anerkannte brasilianische Pädagoge Paulo Freire (siehe Artikel auf Seite 53), dessen egalitäre Pädagogik schon 1964 von der Militärdiktatur geächtet wurde. Heute wird er von offiziellen Amtsträgern, wie Bolsonaro und seinen Bildungsministern, diffamiert.

Auch wenn die „kritische Öffentlichkeit“ und die Justiz in vielen Fällen Angriffe abwehren konnten, sind Aktionen gegen einzelne Kunstwerke oder Veröffentlichungen weiter zu erwarten.

LYRIK AUS LATEINAMERIKA

Illustration: Joan Farías Luan, www.cuadernoimaginario.cl

 

 

PIES

Siempre que quiero escribir un poema
y no se me ocurre nada,
me comienzan a picar los pies,
no sé a qué se debe,
¿Acaso será que en los pies habita el sentido poético?
tal vez a Baudelaire le sudaban los pies al escribir sus flores del mal
quizás los pies de Borges eran relojes
y los de Jattin una concha de mango.
Me pregunto:
¿Cómo son mis pies?
Me gusta imaginarlos,
como unos pies sumergidos en el mar caribe,
aunque el mar me angustie y me de ganas de suicidarme.
¿Suicidios, poetas, pies?
Ya se me olvidó de que iba este poema,
tal vez, solo esté escribiendo,
para quitarme esta picazón de los pies.

 

FÜSSE

Immer wenn ich ein Gedicht schreiben will
und mir nichts einfällt,
fangen meine Füße an zu jucken,
keine Ahnung, woran das liegt –
oder steckt in den Füßen etwa der poetische Sinn?
vielleicht schwitzten Baudelaires Füße, als er seine Blumen des Bösen schrieb
möglicherweise waren Borges Füße ja Uhren
und die von Jattin eine Mangoschale.
Ich frage mich:
Wie sind wohl meine Füße?
Mir gefällt die Vorstellung,
dass sie im Karibischen Meer stehen,
obwohl das Meer mich beunruhigt und auf Selbstmordgedanken bringt.
Selbstmord, Dichter, Füße?
Ich weiß schon gar nicht mehr, worum es in diesem Gedicht ging,
vielleicht schreibe ich nur,
um dieses Jucken in den Füßen loszuwerden.

 

BRASILIANISCHES TAGEBUCH

18.9. [2016]
Ein Aktivist der Tupi, der Nachkommen der Urbevölkerung im Gebiet des heutigen Brasilien, hatte mich zu einem größeren Treffen der Guarani bei São Paulo eingeladen. […] In einem großen Haus aus Holz, Bambus und Erde (Adobe), dem „Gebetshaus“ oder „Opy“, fand das offizielle Treffen statt. Es waren Guarani Mbyá aus fünf brasilianischen Bundes­staaten anwesend, die über verschiedene Fragen sprachen, über Landrechte, ihre Kultur, und Dokumente an Regierungs­stellen schrieben und ihre interne Organisation regelten.
Verschiedene Leute redeten. Einer von der Gewalt, die in Brasilien gegen die Indigenen passiert. Seit der Ankunft der Portugiesen. Die offizielle Indigenenorganisation FUNAI mache nichts für die Rechte der Indigenen, meinte einer. Immer wieder gab es Beifall und Zwischenrufe: „Añeteeee!!“ was nach meinen Guaranikenntnissen bedeuten musste: „richtig!“ Añete bedeutet „Wahrheit“, wie ich mich von Guaranibüchern aus Paraguay erinnerte.
Einer sagte, die Indigenen hätten immer den Wald („mata“) bewahrt, die Eindringlinge aus Europa aber alles zerstört. Ein anderer, der wie er sagte, 1950 geboren wurde, erzählte, dass er sich an sein Land erinnerte, wie es war, als er erst 6 Jahre alt war; aber jetzt gebe es die mata (Wald) nicht mehr, keinen Fisch im Flusse, kein Wild („caça“) im Wald mehr, nicht mehr, wovon der Guarani sich ernähre.
An einem anderen Tag redeten alle auf Guarani. Da verstand ich nichts außer den Zwischenrufen „Añeteee!“

11.4. [2018]
[…]
In einer U-Bahnlinie in São Paulo höre ich regelmäßig die Durchsage, dass bettelnden Menschen bitte nichts gegeben werden solle. Dies erinnert mich an das Mittelalter, besser gesagt an das 16. Jahrhundert in Europa, als sich das Privateigentum durchsetzte und Massen an Menschen besitzlos wurden und man begann, die Ausgeschlossenen auch noch dafür zu beschuldigen, dass sie arm waren. Auf den Straßen mitten in São Paulo sehe ich schlecht gekleidete Männer, die riesige Wagen mit Müll hinter sich her ziehen. Warum tun sie das in einem Zeitalter, wo es bereits Autos gibt, mit denen man den Müll wegtransportieren kann? Weil das für sie eine Einkommensquelle ist. Die Regierungen von Lula und Dilma Rousseff haben zwar nicht den Neoliberalismus, schon gar nicht den Kapitalismus abgeschafft, sondern nur an „Symptomen“ gearbeitet, Sozialprogramme durchgeführt, die Situation der Menschenrechte in vielen Bereichen verbessert, aber das war besser als die Politik der jetzigen Regierung, die alle Reichtümer Brasiliens an große Unternehmen vermacht. Auch einem Bettler etwas zu geben, ändert scheinbar nur etwas an „Symptomen“; aber auf der anderen Seite bedeutet jede wirkliche Hinwendung zu armen oder unterdrückten und ausgeschlossenen Menschen eine Delegitimierung des Systems, das sie ausschließt, und den konkreten Menschen zu bejahen.

RÜCKKEHR DER RATTEN

La Plaga Theater in Aktion // Foto: privat

Auf welcher Sprache kommuniziert ihr miteinander und mit dem Publikum? Welche Rolle spielt die Körpersprache dabei?
Lenia: Obwohl beide Gruppen unterschiedliche Sprachen sprechen, eint uns eine sehr starke Körpersprache. Als wir uns in Bolivien trafen, hatten beide Gruppen bereits unabhängig voneinander am Stück gearbeitet. Später, als wir uns die Szenen gegenseitig zeigten, mussten wir kaum etwas erklären: es wurde deutlich, dass beide Gruppen die Thematik ähnlich verstanden hatten, die erarbeiteten Bilder waren sehr ausdrucksstark. Über das Schauspiel gibt es eine sehr starke Verbindung zwischen uns.
Daniela: Wenn wir zusammen sind, spüren wir, dass es eine ähnliche Arbeitsweise gibt. Wir haben uns in der Art, wie wir Symbole und Metaphern erarbeiten gegenseitig erkannt.
Kathi: Diese Art des Arbeitens stellte für uns nie die Frage, ob Sprache ein Hindernis sein könnte. Ich denke, es hat auch damit zu tun, dass in Bolivien viele Sprachen gesprochen werden und man immer davon ausgehen muss, dass nicht alle die gleiche Sprache sprechen. So ist auch das Grundverständnis bei uns im Theater X. Wir haben oft Situationen, in denen Leute unterschiedliche Sprachen sprechen, dann wird entweder übersetzt oder mit Körpersprache gearbeitet.

Arbeitet die Gruppe des Teatro Trono mit unterschiedlichen Sprachen?
Lenia: Wir haben bereits mit verschiedenen Sprachen zusammengearbeitet, aber das wurde nicht vertieft. Wir haben es jedoch immer mit Pluralität zu tun. Bolivien ist ein sehr diverses Land, welches sehr viele unterschiedliche indigene Kulturen, Religionen und Regionen vereint. Das taucht in der Art wie wir arbeiten immer wieder auf. Mit unserem früheren Leiter Ivan Nogales haben wir sein Konzept der Dekolonisierung des Körpers erprobt und thematisiert. Die jahrelange Kolonialisierung Lateinamerikas hat sich zuallererst in die Körper eingeschrieben. Wenn man den Körper dekolonisiert, braucht man vor allem, wie bei allem anderen auch, Sprache. Im Prozess der Dekolonisierung geht es insbesondere darum, wieder den Körper zu benutzen und durch ihn mit anderen zu sprechen, denn das ist eine universelle Sprache.

In dem Stück La Plaga – die Rückkehr der Ratten geht es um das Wiedererstarken der politischen Rechten, um Diktatur und Kolonialismus. Wie habt ihr das Stück gemeinsam erarbeitet und euch über Motive und Inhalte ausgetauscht?
Daniela: Wenn man zurück geht in der Geschichte und von der Kolonialzeit ausgehend bis jetzt schaut, gab es viele Momente der Unterdrückung und Versuche, die Geschichte unsichtbar zu machen, insbesondere die Perspektive derer, die die Geschichte auf eine bestimmte Art gesehen haben. Ein wichtiger Moment dabei war die Diktatur und die Ansichten der Arbeiter*innen zu dieser Zeit. Ausgehend von diesem Blickpunkt bestand der Prozess vor allem darin, Parallelen und Ähnlichkeiten mit dem Theater X herauszufinden.

Welche historischen Verbindungen zwischen Deutschland und Bolivien will das Stück hervorheben? Und wie kann uns diese Betrachtung helfen, aktuelle politische Situationen besser zu verstehen?
Annika: Wir haben geschaut, was die historischen Kontinuitäten sind. Wo gab es Verbindungen zwischen Bolivien und Deutschland? Als Ansatzpunkt haben wir die Geschichte von Klaus Barbie, ehemaliger Chef der Gestapo in Lyon genommen, der beispielhaft für bestimmte Strukturen und Mechanismen steht und für etwas, dass überall auf der Welt immer wieder passiert. Klaus Barbie ist, so wie viele andere Nazis auch, mit Hilfe von Deutschland und den USA geflohen und wurde versteckt. In den fünfziger und sechziger Jahren, als es in Deutschland dann den Diskurs gab – „Jetzt haben wir Demokratie! Wir haben das alles hinter uns gelassen!“ – hat Barbie mit der Unterstützung des BND und der CIA die Diktatur in Bolivien aktiv mit aufgebaut. Das zeigt, wie faschistische Strukturen, Rechtsideologien und Staat zusammenhängen und weiter geführt wurden. Es wird sichtbar, welche verschiedenen Gesichter das hatte und wie es weiter gelebt werden konnte, einerseits in den 50er Jahren in Deutschland und andererseits in der Militärdiktatur in Bolivien. Und die heutige Zeit zeigt: Diskurse ähneln sich wieder.

Der deutsche Titel Die Rückkehr der Ratten bezieht sich auf die sogenannte Rattenlinie, der Fluchtweg für Ex-Nazis, die nach dem zweiten Weltkrieg nach Lateinamerika geflohen sind. Darin enthalten ist die Idee des Unheilvollen, das aus dem Untergrund wieder erstarken kann. Wie bewertet ihr den heutigen Widerstand gegen den neu aufkommenden Rechtsruck in beiden Ländern? Welche Perspektiven will eure Performance aufzeigen?
Lenia: In der Recherche sind wir von Verbindungspunkten ausgegangen, die Ähnlichkeiten in beiden Ländern aufzeigen. Aber nicht nur zwischen Bolivien und Deutschland, wo es das Beispiel von Klaus Barbie gab, sondern auch auf globaler Ebene. Es war uns wichtig sich nicht nur mit den Schlächtern, Tätern und Diktatoren auseinanderzusetzten, sondern insbesondere auch mit dem Widerstand. Wir wollen keine Täterfaszination ausüben, sondern den Widerstand stärken. Wir wollen aktuelle Widerstandsbewegungen inspirieren, weil man heute das Gefühl hat das viele Leute – und die Jugend als ein großer Teil davon – schlafen. Ein Ziel des Stückes ist es aufzuwecken und den Leuten einen Impuls zu geben. Gerade sieht man in vielen lateinamerikanischen Ländern sogenannte sozialistische Regierungen, die nicht wirklich linke Politik machen. Da viele von den linken Regierungen enttäuscht sind, wählen sie danach häufig eine sehr rechte Regierung. Wir wollen die Leute daran erinnern, kritisch zu sein mit dem was passiert.

Wie diskutiert ihr Gegenbewegungen zur Rechten? Wie betrachtet ihr einerseits das linke Regierungsregime unter Evo Morales in Bolivien und andererseits linke Bewegungen in Deutschland?
Kathi: Wir haben uns öfter die Frage gestellt gegen was oder wen genau wir Widerstand leisten müssen. Sind wir wieder auf dem Weg zu einem faschistischen Zustand? Was bedeutet Faschismus eigentlich? Wie war das in der Vergangenheit? Wir haben uns auch die Momente vor der Nazizeit angeschaut, zum Beispiel die Novemberrevolution. Was war das für ein Moment des Widerstandes? Worauf wurde da reagiert? Dann haben wir versucht das in unsere Zeit zu übersetzen, um zu sehen, dass der Faschismus eine Reaktion auf die Konterrevolution war. Wir wollen eine antikoloniale und antirassistische Linke haben. Nicht nur die internationale Perspektive, sondern auch unsere Perspektive als Theater X bringt – und das ist eine weitere Verbindung mit dem Teatro Trono – das mit sich. Gemeinsam überlegen wir: welches ist unsere Perspektive? Viele der Leute, die bei dem Stück mitwirken, haben selber die Erfahrung gemacht, hier weiter als Kolonialisierte behandelt zu werden. Viele sind aus eigener Motivation involviert.
Annika: Wir brauchen wieder eine starke linke Bewegung in Europa. In der Diskussion, die wir in Bolivien geführt haben, kam dann direkt eine Gegenreaktion: Moment, was heißt denn eigentlich „links“? In beiden Ländern bedeutet es etwas Unterschiedliches. Aber wir sind übereingekommen, dass, wenn wir von einer linken Bewegung sprechen, eine Bewegung von unten meinen und keine Parteipolitik. Es geht darum, Leute zusammenzubringen, sich zu vereinigen, im eigenen Land oder transnational.
Daniela: Die plaga kommt wieder hoch, zum Beispiel medial oder über Konsum und gleichzeitig ist der linke Widerstand verbraucht. Es ist notwendig neue Widerstandsformen zu finden, die das aufgreifen können. Vielleicht auf eine poetische Art und Weise…
Das Stück beginnt mit dem Satz: „Ich komme aus einem Land, das die Erinnerung verloren hat“. Wie wird in Bolivien mit Geschichtsvergessenheit umgegangen? Wie wird über die Vergangenheit gesprochen?
Lenia: Ein Land das seine Geschichte vergisst, ist ein Land ohne Seele und dazu verdammt, sie zu wiederholen. Das Teatro Trono macht politisches Theater, um Zeugenschaft von der Geschichte abzulegen. In unseren Stücken wollen wir historische Ereignisse auf poetische und metaphorische Art und Weise unserem Publikum zugänglich machen und erzählen, was eigentlich passiert ist. Ähnlich wie das Theater X berichten wir durch das Theaterspiel über historische Ereignisse und Fakten. Aktuell arbeiten wir an einem Stück, welches Wir sind die Kinder der Mine heißt. Darin geht es um die Realität der Minenarbeiter*innen und um ihre gewerkschaftlichen Kämpfe, bei denen viel Blut geflossen ist. Bei Schulprojekten geht es uns immer darum, wichtige Themen körperlich und spielerisch zu vermitteln.
Annika: Wir haben einen zentralen Satz, der uns immer wieder begleitet: Man muss die Vergangenheit erkennen, um die Gegenwart zu verstehen und die Zukunft zu verändern.

VON DEM DER GING, OHNE DARAN GEDACHT ZU HABEN


Martín Sued // Foto: Gentileza Antonella Casanova

Martín, wo leben Sie jetzt?
Vor vier Monaten bin ich zum ersten Mal aus Argentinien weggezogen. Jetzt wohne ich in Paris.

Mit welchem Status sind Sie nach Paris gekommen? Mit einem Arbeitsvisum, mit einer Aufenthaltserlaubnis für Künstler*innen…?
Ich habe ein Visum, welches ich über ein Musikkonservatorium in Frankreich erhielt. Es gilt bis Ende des Jahres und ist erneuerbar.

Wie steht es in Argentinien um die Erteilung von Zuschüssen für Künstler*innen? Sind Sie darüber auf dem Laufenden? Hatten Sie dazu Zugang?
In den letzten Jahren, vor allem während der Kirchner-Regierung und der Entstehung des Kulturministeriums (Anm. d. Red.: 2018 stufte Macri das von Cristina Kirchner 2014 gegründete Kulturministerium als Geschäftsbereich des Bildungsministeriums ein), gab es einen Moment, in dem sehr viel verrückte Dinge geschahen. Es gab das Projekt Ibermúsicas (Anm. d. Red.: Ein Fonds zur Förderung iberoamerikanischer Musik), den Nationalen Kunstfonds, Mobilitätsstipendien. Unterstützt vom Staat konnte ich mit Projekten nach Europa, in andere lateinamerikanische Länder und ins Landesinnere reisen. Danach nahm die Unterstützung ab. Ein bisschen gibt es noch, aber es hat sich alles verschlechtert.

Denken Sie, dass dieses „fern von zu Hause sein“ auch einen Einfluss auf Ihre Kompositionen hat?
Ja, offen gestanden, ich komponiere nicht viel, seitdem ich fortging, denn ich muss mich noch in meinem neuen Leben in Paris zurechtzufinden. Ich bin dabei, das Netz der musikalischen Familie in Europa zu vergrößern. Darum bin ich mehr damit beschäftigt, zu spielen und an den Dingen zu arbeiten, die ich schon habe, als zu komponieren. Auf jeden Fall hat das, was man erlebt einen großen Einfluss auf das, was man schreibt. Darum kommt man nicht herum… Ich habe sehr viel Lust, im Juni mit dem Schreiben anzufangen. Dann habe ich ein bisschen mehr Zeit, mich hinzusetzten und zu arbeiten. Das fehlt mir sehr, seit vier Monaten toure ich herum und spiele, aber schreibe nicht.

Sie haben einmal in einem Interview zugegeben, dass Sie versuchen, sich vom Tango zu entfernen, zumindest in seiner traditionellen Form. Aber während Ihrer momentanen Tour geben Sie einige Konzerte mit einem Tango Repertoire. Woher kommt das?
Sieh mal, einerseits hat es was mit dem Lebensunterhalt zu tun. Ich bin vor kurzem in Paris angekommen und habe dort schon ein Arbeitsumfeld rund um den Tango. Anderseits ist es auch etwas, was ich sehr gerne tue. Dieses Gefühl, mich davon distanzieren zu müssen, liegt schon ein paar Jahre zurück. Damals ging es mir darum, Wiederholungen zu vermeiden. Rückblickend kommt es mir wie eine ein bisschen infantile Einstellung vor. Wenn mir nun Ideen kommen, die mit dem Tango oder der Folklore zusammenhängen, nehme ich sie auf. Alles andere hieße, etwas zu verleugnen, was mir eigen ist. Ich genieße es, das zu tun, und da ich weit weg bin, hat es auch etwas mit der nostalgia porteña zu tun, der für die Einwohner*innen von Buenos Aires so typischen Nostalgie. Ich mag es wirklich sehr, traditionelles Repertoire zu spielen. Aber darauf liegt momentan nicht mein Fokus. Es ist eine Möglichkeit zu arbeiten und dabei unsere Musik nie vollkommen aus den Augen zu verlieren. Was ich jedoch niemals getan habe, denn parallel zu meinen Projekten, auch mit meiner eigenen Musik, ist sie immer präsent. In Buenos Aires hatte ich ein Duo mit dem Gitarristen Leandro Nikitoff, mit dem ich Tango spielte. Also, ich habe damit nie wirklich aufgehört.

Jetzt wo Sie von Arbeit reden…neben Ihrem Schaffen als Musiker, was haben Sie für andere Dinge gemacht?
Ich gab Unterricht, in dem Projekt Orquestas del Bicentenario, dass, wie wir alle wissen, vor die Hunde ging. Dies war nur eines der vielen Projekte, welches sie zerstörten und ich verlor damit eine feste Arbeit. Außerdem nahm auch die Zahl meiner Schüler*innen ab…Darüber hinaus war ich in Brasilien sehr aktiv und gab dort jährlich viele Konzerte. Aber die Lage in Brasilien ist grauenhaft und somit fiel auch diese Möglichkeit weg. Das ging alles sehr schnell, es war sehr hart. Ich hätte also wieder versuchen müssen, mir eine Arbeitsstruktur an einem Ort aufzubauen, an dem alles den Bach runter geht.

Neben Ihrer Suche nach Kontakten und Ihrer beruflichen Entwicklung, hatte es etwas mit der politischen Situation zu tun, die Argentinien in diesem Moment durchläuft?
Ja, auf jeden Fall. Wegzugehen war etwas, was ich nie zu tun gedacht hätte. Ich war schon oft in Europa und bin in die USA gereist, aber ich hatte nie den Wunsch, dort länger zu leben. Aber die letzte Zeit in Argentinien wurde aus ökonomischer Sicht unerträglich, sehr hart. Und nicht nur ökonomisch, auch was sich dort sozial erleben lässt, ist sehr traurig. Davon ausgehend sah ich die Möglichkeit, das Land zu verlassen und andere Erfahrungen zu machen. Ich habe vor, zurückzugehen, aber möchte versuchen, in dieser Zeit eine bessere Lebensqualität zu haben, etwas, was mir dort schwer fiel. Ich arbeitete dort sehr viel, ohne zufriedenstellende Ergebnisse zu erlangen. Alles hat sich sehr zum Schlechten verändert. In Europa ist die Lage auch nicht ideal, bietet mir aber die Perspektive, auf persönlicher und professioneller Ebene zu wachsen. Neben anderen Dingen, natürlich. Meine Liebe zum Jazz gehört auch dazu. Anders gesagt: die Situation in meinem Land war nicht der einzige Grund wegen dem ich gegangen bin, aber hatte damit viel zu tun.

 

DIE 120 TAGE VON SODOM IN BRASÍLIA

Illustration: Joan Farías Luan, www.cuadernoimaginario.cl

Seit dem Amtsantritt des Präsidenten Jair Bolsonaro verging kaum ein Tag, an dem nicht eine der zu einem demokratischen Gemeinwesen gehörenden Selbstverständlichkeiten von ihm oder seinen Regierungsmitgliedern erst unter Beschuss geriet, dann in schwerem Gewässer ohne Seenotrettung ausgesetzt und damit dem Untergang überlassen wurde. Schon in den ersten Tagen seiner Regierung setzte Bolsonaro mit der Erleichterung des Zugangs zu Feuerwaffen eines seiner Wahlversprechen um. Seit Januar dieses Jahres haben „Bewohner von städtischen Gebieten mit hoher Kriminalität“ sowie „Eigentümer von kommerziellen oder industriellen Geschäften“ die Erlaubnis, sich legal mit bis zu vier Feuerwaffen hochzurüsten. Flankiert wird diese Liberalisierung des Waffengesetzes von einer Lizenz zum Töten.

Die dahinter waltende Exzellenz ist Justizminister Moro, jener Richter, dessen Hauptmission es war, den ehemaligen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva zu verhaften und ihn damit an der erneuten Kandidatur zum Präsidenten zu hindern, und der dafür mit einem Ministeramt beschenkt wurde. Moro hat rasch eine Justizreform ins Parlament gebracht. Zum Kern dieser „Reform“ gehört die Entkriminalisierung von Tötungsdelikten der Polizei in Fällen von „entschuldbarer Angst, Überraschung und heftigen Emotionen“, falls diese der Erschießung von Banditen (fast immer junge, schwarze Männer) vorausgegangen seien. Dazu soll es dem Gesetzentwurf zufolge ausreichen, wenn die Polizist*innen dies anschließend glaubhaft deutlich machen. Wahre Leidenschaft aus dem ersten der Höllenkreise.

Zeitgleich lässt der neugewählte faschistische Gouverneur von Rio de Janeiro, Wilson Witzel, mit Scharfschützen auf Favela-Bewohner*innen schießen, denen aus hunderten Metern Entfernung beim Blick durch das Zielfernrohr unterstellt wird, sie seien bewaffnet. Mehrere Fälle von Regenschirmen und Bohrmaschinen bezeugen deren Unschuld. Witzel beglückwünschte die Todesschützen. Fehlt nur noch der Orden aus dem Höllenkreis des Blutes.

Demokratisch verfasste Gemeinwesen brauchen eine lebendige Zivilgesellschaft, die Partizipation erkämpft und verteidigt, was der brasilianischen Zivilgesellschaft nach 1988 durchaus gelungen ist. Dem wurde nun de facto ein Ende gesetzt: Sämtliche der bestehenden Beiräte und Partizipationsorgane aller Ministerien wurden mit einem Federstrich abgeschafft, einschließlich staatlicher Organe, die in der Verfassung verankert sind oder durch völkerrechtlich verbindliche internationale Abkommen Rechtssicherheit genießen. Der Klageweg dagegen ist lang und steinig.

Wo die Bolsonaro-Truppe Widerstand mutmaßt, wird die Axt angesetzt. Der Kulturförderung wurde der Garaus gemacht, der Indigenenbehörde der Großteil ihres Etats genommen, und Philosophie und Soziologie sollten an Bundesuniversitäten gar nicht mehr gefördert werden. Bolsonaro will Fächer, die einen konkreten Nutzen haben. Ingenieur*innen haben sich schon immer angepasster an faschistische Systeme gezeigt als Geisteswissenschaftler*innen. Grundsätzlich sollen die Kids der Wohlhabenden die Universität wieder für sich alleine haben. „Die Universitäten sollen für eine intellektuelle Elite reserviert werden“, so der wegen interner Streitigkeiten inzwischen zurückgetretene Bildungsminister Ricardo Vélez Rodríguez. Der Minister ist gegangen, aber das Ziel bleibt: Arme sollen sich der Berufsausbildung widmen oder besser gleich malochen, sie haben an einer Hochschule im Brasilien des Haupt­manns Bolsonaro nichts zu suchen.

Bolsonaro liefert auch die Umsetzung weiterer Wahlkampfversprechen. Seine Hauptunterstützer – die Agrarlobby und die Industrie – rieben sich schon vor seiner Wahl die Hände, denn Bolsonaro will indigenes Land für das Agrobusiness und Bergbaukonzerne öffnen. Der tausendfache Protest der Indigenen, die Ende April das Acampamento Terra Livre, die größte indigene Versammlung zur Verteidigung des Amazonas­gebietes, in Brasília organisiert haben, wird von den militarisierten Bundestruppen der Força Nacional de Segurança Pública in Schach gehalten.

Die Aussortierung der Armen aus der Rentenversicherung, das ist der Plan der lange erwarteten Rentenreform seiner Durchlaucht, dem ultraneoliberalen Wirtschaftsminister Paulo Guedes. Alte Menschen aus dem ländlichen Raum gehören zu den großen Verlierern, die Privilegien bei der Rente der Militärs sind aber aus der Reform herausgenommen. Überhaupt soll die Rentenkasse de facto den Banken übertragen werden: Kapitalgedeckte Altervorsorge heißt der Renner, der schon in Chile die Massen unter das Existenzminimum brachte und den Banken explodierende Börsenwerte verschaffte.

Sollen die Arbeiter*innen im dritten Höllenkreis doch Scheiße fressen.

Brasiliens Arbeiter*innen müssten sich entscheiden, tönte Bolsonaro im Wahlkampf: „Arbeit oder Rechte?“ Die logische Konsequenz aus diesem scheinbaren Gegensatz ist die Schleifung der Gewerkschaften über geschickt angesetzte Rahmenänderungen bei der Gewerkschaftsfinanzierung. Hinzu kommt, dass die Firmen nun – über die Tarifverträge hinweg – individuell mit den Arbeiter*innen verhandeln. Nicht nur wegen dieser Maßnahme freut sich die Wirtschaft über die neue Regierung und deutsche Firmen fühlen sich in Brasiliens Sodom pudelwohl. So sagt zum Beispiel André Clark, CEO von Siemens in Brasilien: „Die Zusammenarbeit zwischen der Regierung und den Unternehmern läuft sehr gut und effizient“. Sollen die Arbeiter*innen im dritten Höllenkreis doch Scheiße fressen. Da schon unter der Temer-Regierung die Arbeitsjustiz dereguliert wurde, fehlte nur noch die logische Fortsetzung der Brutalo-Politik im Lohnbeutel: Der Stopp des Zuwachses des Mindestlohns. Die regelmäßige Erhöhung des Minimalbetrages über die Inflationsrate hinaus gehörte zu den wichtigsten Instrumenten der PT-Regierung zur Armutsbekämpfung und zum sozialen Ausgleich. Ab jetzt wird bei der Erhöhung höchstens die Inflation berücksichtigt und die bindende Kraft des gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohns erheblich eingeschränkt werden – anders ausgedrückt, er gilt nicht mehr in allen Bereichen und Regionen.

Bolsonaro erklärt, „Demokratie und Freiheit gibt es nur, wenn die Armee es so will“. Und erlaubte, dass der Militärputsch von 1964 auf „angemessene Weise“ in den Armeebaracken gefeiert wird – Demokratie als Gnade der Militärs, so versteht die Bolsonaro-Truppe das politische System.Die Ermittlungen um die vielfältigen Verstrickungen des Bolsonaro-Clans in die tiefen Staatsstrukturen der Mafiamilizen kommen nicht voran, wenn sie denn je ernsthaft von den zuständigen Ermittlungsbehörden aufgenommen wurden. „Wer hat Marielle Franco erschossen, und wer gab den Mordauftrag?“, fragen Brasilianer*innen auch ein Jahr nach dem Mord millionenfach. Obwohl die mehr als anrüchigen, direkten Verbindungen der ersten festgenommenen, mutmaßlichen Täter mit dem Bolsonaro-Clan zwar höchste mediale Klickzahlen erreichen, enden sie im juristischen Niemandsland.

Die brasilianische Demokratie und die ohnehin schwache, politische und staatliche Institutionenlandschaft sind täglich in Auflösung begriffen und das ist das eigentliche Programm: „Brasilien ist nicht das Feld, wo wir viele gute Sachen für unser Volk aufbauen wollen. Wir müssen eher viel dekonstruieren“, so Bolsonaro bei seinem Besuch in den USA. Bolsonaros Brasilien ist ein Land mit immer weniger „checks and balances“. Anders sieht das allerdings die Deutsche Bundesregierung: „Wir vertrauen in die Festigkeit der brasilianischen Institutionen“, erklärte jüngst ein über die Einschätzung des Deutschen Außenministeriums informierter Mitarbeiter. Und Außenminister Heiko Maas sieht „gemeinsame Werte“ am walten.

Als Dekonstrukteur stellt sich Bolsonaro auch als Anti-Präsident dar: Er demontiert seine Minister*innen und lässt seinen Guru, den selbst ernannten Philosophen Olavo de Carvalho aus den USA, gegen die Militärs wettern (zuletzt beschimpfte er diese als „Hosenscheißer”). Mal interveniert Bolsonaro im halbstaatlichen Mineralölunternehmen Petrobras, um eine Dieselerhöhung zu verhindern. Mal beugt er sich dem Rat seines Wirtschaftsministers und verspricht, dies nie wieder zu tun. „Ich verstehe ja nichts von diesen wirtschaftlichen Prozessen“, erklärte er. Dann wieder hetzt er seinen jüngeren Sohn Carlos, den Monsignore, gegen seinen Vize-Präsidenten, einen General.

„Ich verstehe ja nichts von diesen wirtschaftlichen Prozessen“

Bolsonaros Partei PSL, aufgefüllt mit politischen Parvenüs und Abenteurern, agiert im Parlament völlig orientierungslos. Bolsonaro lässt sie nicht an die Fleischtöpfe der Macht. Und so vergeht kaum ein Tag ohne ein Verwirrspiel, das keines ist, weil es mit dem klaren Ziel geschieht, die Institutionen allmählich zu zersetzen und in diesem Chaos eine Atmosphäre der Angst zu erzeugen. Parlament und Justiz geben völlig widersprüchliche Signale und die obersten Richter*innen begehen elementare Fehler. Die etablierten Medien distanzieren sich von Bolsonaro aus Furcht, dass dieser Mann am Ende für die Herrschaft der Elite doch zu dysfunktional sein könnte. Bolsonaro schimpft über den größten Fernsehsender des Landes: „Rede Globo ist der Feind“. Und die Opposition schweigt: Die rechte Opposition der PSDB ist im Nichts verschwunden und die Linke verbleibt in der Schockstarre. Noch einmal die Journalistin Eliane Brum: „Bolsonaro ist Regierung und Opposition zugleich.”

Flankiert wird das ganze Schmierentheater durch den Auftritt der Signora in Brasiliens Sodom, der Ministerin für Frauen, Familie und Menschenrechte, Damares Alves, der wir die Erkenntnis verdanken, dass in den Niederlanden Eltern ihre Babys sexuell stimulieren, und dass Touristen nach Brasilien reisen, um dort in den Motels Sodomie zu begehen. Woraufhin der Präsident selbst diese Einsichten durch die Aufforderung ergänzte, die Ausländer sollten ruhig nach Brasilien reisen, um dort mit den schönen Frauen zu schlafen, aber die Schwulen sollten das nicht tun, in Brasilien gälten schließlich familiäre Werte. Werte aus den Höllenkreisen der Leidenschaft, des Blutes und der Scheiße.

 

NETFLIX REVOLUTIONÄR

Was macht Antena Negra aus?

Martina: Antena Negra war von Anfang an ein solidarisches Projekt. Gerade auf dem Land wurden viele Radios von Nachbarn aufgebaut. Da kam dann zum Beispiel jemand und sagte: „Mein Hund Pirulito ist verschwunden. Könnt ihr mir helfen, ihn zu finden?“ Das war auch ein Teil der Community-Radios, die dann zu politischen Projekten wurden. Antena Negra ist auch von Anfang an im Nationalen Netzwerk von Alternativen Medien RNMA gewesen.

 

Wie funktioniert das RNMA?

Martina: Als Netzwerk von Medien aus dem ganzen Land, das sich antibürokratisch, antiautoritär und antikapitalistisch definiert. RNMA hat nie staatliche Werbung akzeptiert. Andere Netzwerke schon. In gemeinsamen Treffen diskutieren wir unsere Beziehungen zum Staat, wie wir weitere Medien aufnehmen können und wie wir uns technisch weiterentwickeln. Ein Treffen im Jahr ist für die Öffentlichkeit, wir Medien organisieren Workshops, um Informationen zu vergesellschaften. Es ist also auch ein Ort politischer Bildung.

Santiago: Unsere Agenda ist die der sozialen Bewegungen und eine Achse des RNMA ist die gute Beziehung zu ihnen. Tatsächlich rufen die uns an und sagen: „Hey, heute passiert dies oder das.“ Sie wissen, dass bei uns das, was sie sagen wollen, so weitergegeben wird, wie sie es sagen wollen. Die Massenmedien wollen vielleicht eher Schlagzeilen oder einen Bericht machen, damit die Person auf der anderen Seite des Bildschirms die interviewte Person hasst. Die sozialen Bewegungen haben das verstanden.

 

Im Jahr 2009 wurde von der Kirchner-Regierung ein progressives Mediengesetz verabschiedet. Hatte das Einfluss auf eure Arbeit?

Martina: Das neue Mediengesetz sah zwar vor, dass 33 Prozent der Sendelizenzen an gemeinnützige Medien vergeben werden sollten. Der Graubereich dessen, was als gemeinnützig gilt, ist aber groß. Zum Beispiel zählen auch die Ford-Stiftung und die Kirche dazu. Dieses Gesetz, das so progressiv erscheint, ist es eigentlich nicht. Außerdem wurden Lizenzen für einzelne Viertel von vielleicht zehn Blöcken vergeben, aber nicht für ganz Buenos Aires.

Santiago: Das Gesetz wurde nicht so umgesetzt, wie es geplant war. Wir vom RNMA haben das von Anfang an kritisiert.

Martina: Außerdem muss man, um eine Lizenz zu bekommen, eine Unmenge an bürokratischem Papierkram erledigen, der nicht nur Geld gekostet hat, sondern auch Dinge, wie einen Vereinsvorsitzenden, ein Mitarbeiterregister etc. verlangt, die Community-Medien nicht haben.

Santiago: Wir mussten einen rechtlich Verantwortlichen benennen und dafür eine Kooperative gründen. Eine Lizenz haben wir trotzdem nicht bekommen, obwohl wir eigentlich alle technischen Voraussetzung erfüllt haben. Wir hatten es dann satt zu warten und haben einfach angefangen, zu senden.

 

Wie sah dann euer Programm aus?

Martina: Es gab eine Literatursendung, eine Mathesendung, Musiksendungen. Das Programm war sehr voll, weil es viele Gruppen gab, die Fernsehen machen wollten. Insgesamt waren es bestimmt 80 Leute, die am Kanal beteiligt waren.

 

Gab es Probleme damit, als Piratensender zu senden?

Santiago: Das Problem mit Frequenzen ist sehr ähnlich wie das mit Wohnraum: Hier gibt es ein Haus – niemand benutzt es. Warum kann der, der kein Haus hat, es nicht besetzen? Das ist die gleiche Situation, nur mit einer Sache die etwas abstrakter ist, der Frequenz.

Martina: Im März 2015 sind wir auf digitale Übertragung umgestiegen. Wir waren nicht mal 40 Minuten auf Sendung, als zwei Techniker von der privaten Sicherheitsfirma Prosegur aufgetaucht sind, die uns dazu aufgefordert haben, den Sender abzuschalten, weil wir ihre Frequenz stören und die Kommunikation mit zehn Banken behindern würden. Das haben wir nicht gemacht. Vier Monate später haben 40 Polizisten den Kanal gestürmt, alles kaputt gemacht und das Übertragungsgerät mitgenommen.

 

Warum die Beschlagnahmung?

Martina: Prosegur hatte uns angezeigt. Strafrechtlich verfolgt wurde dann unser Vorsitzender. Das ist die Form des Staates, uns zu kriminalisieren. Sie verlangen, dass wir eine bestimmte Rechtsform haben, um eine Lizenz zu bekommen. Wer dann am Ende verantwortlich ist, ist aber nicht das Kollektiv, sondern nur ein Vertreter. Damit hat ein bis heute andauernder Strafprozess angefangen.

 

Seitdem könnt ihr nicht mehr senden?

Martina: Wir wurden von Anwälten von der Correpi, einem Antirepressionskollektiv, unterstützt und haben erst das Übertragungsgerät zurückbekommen. Dann wurde uns aber angedroht, dass sie die Leute, gegen die der Prozess läuft, ins Gefängnis stecken würden, wenn wir unser Equipment nicht abgeben würden. Wir haben uns dazu entschlossen, dieser Forderung nachzukommen, um niemanden auszuliefern und seitdem gibt es den Sender so nicht mehr.
Das alles ist während der Regierung von Kirchner passiert. Dass sie den Sender beschlagnahmt haben, war ein Beleg dafür, dass ihre progressive Politik keine war und dass es keine Absicht gab, Community-Medien zu unterstützen.

Santiago: Zumindest nicht die, die der Politik der Regierung nicht nahestanden. Es gab einige Netzwerke, die zu dieser Zeit profitiert haben – jetzt unter Macri aber gar nicht mehr.

 

Stichwort Macri: Merkt ihr als Medienmacher*innen einen Unterschied zur Vorgängerregierung?

Martina: Die neoliberale Politik mit ihren Konsequenzen hat zu starken Protesten geführt und die Repression hat sich mit der Wahl von Macri im Dezember 2015 immer mehr zugespitzt. Einer der großen Unterschiede zwischen der Regierung von Cristina und der von Macri ist, dass es Staatspolitik wird, auf Demonstrationen Leute festzunehmen. Heute ist ein Fokus von Antena Negra mit Videojournalismus auf Demos zu sein und Gegeninformation über soziale Netzwerke zu verbreiten.

 

Seid ihr auch selber von Repression betroffen?

Santiago: Auf der ersten Demonstration für Santiago Maldonado, am 1. September 2017, haben wir live übertragen. Dabei wurden zwei unserer Kollegen festgenommen. Wir gehen immer mindestens zu zweit raus, einer filmt, einer passt auf, macht also Security.
Als sie filmen, wie eine Frau festgenommen wird, nimmt die Polizei die beiden fest, weil sie die Polizisten behindert hätten. Heute schlagen wir uns auch mit dieser Strafanzeige herum.
Unsere Kollegen waren nicht die einzigen, die damals verhaftet wurden. Am gleichen Tag gab es noch 30 weitere Festnahmen. Es wird auf einmal angefangen, neue Straftaten anzuwenden, um Festnahmen zu rechtfertigen. Wie die der „öffentlichen Einschüchterung“, die sich auf Krawall und Anstiftung zum Chaos bezieht.

 

War das vorher anders?

Santiago: Bisher gab es eine „Demo-Kombi“, die verhängt wurde: Straßenblockaden und Angriff und Widerstand gegen Ordnungskräfte. Das sind Ordnungswidrigkeiten, die in Amtsgerichten verhandelt werden. Die „öffentliche Einschüchterung“ ist eine Straftat, die jetzt zusätzlich angewendet wird, damit es in die Zuständigkeit eines Bundesgerichts geht. Dadurch kannst du nun im Gefängnis landen, das hat die Dynamik verändert.

Martina: Das gewaltsame Verschwinden von Santiago war ein Wendepunkt bei den Demonstrationen im Land. Verschwundene sind ein sehr sensibles Thema in der argentinischen Gesellschaft. Es gehen also sehr viele Menschen auf die Straße, von der kirchneristischen Fortschrittsbewegung, über Linksparteien, bis hin zum Anarchismus. Und es gab einen Boom an Verhaftungen.
Santiago: Das gewaltsame Verschwinden von Santiago oder auch die Ermordung von Marielle zeigen, wie sich das kapitalistische Projekt in Lateinamerika in Anschlägen, Morden und Verschwindenlassen niederschlägt.

 

Wie verändert sich seither die Situation in Argentinien?

Martina: Auch die Proteste aufgrund der Rentenreform am 14. Dezember letzten Jahres waren einschneidend, das war auch eine riesige, super heterogene Demo. Polizeigewalt, wie es sie da gab, haben wir bisher noch nicht erlebt. In zwei Wochen gab es 300 Festnahmen. Auch diese Reformen sind ein sensibles Thema in der argentinischen Gesellschaft, da es die gleichen neoliberalen Reformen wie im Jahr 2001 sind. Nicht nur, dass die Renten bis ins Erbärmliche gekürzt werden, es betrifft auch andere Bereiche der Arbeit – Weihnachtsgeld wird gestrichen, Outsourcingpolitiken etc. Nach der fortschrittlichen Regierung des kirchnerismo, die zumindest eigentlich einen Wohlfahrtsstaat machen wollte, gehen wir hin zu einer Situation, die ganz eindeutig rechts ist. Und all das wird getragen von den Leuten selbst, viele Leute haben die Regierung gewählt.

 

Wie ist die Situation der Medien in diesem Szenario?

Martina: Es gab öffentliche Gelder, die für alternative Medienprojekte vergeben wurden, die mit der Macri-Regierung gestrichen wurden. Nun gibt der Staat keine Gelder mehr. Die jetzige Situation ist also super prekär. Alternative Medien konzentrieren sich nun mehr aufs Internet oder auf soziale Netzwerke. Aber auch jetzt mit dem globalen Panorama – Facebook verkauft Daten, Youtube will Geld… Wir sehen ziemlich schwarz.
Santiago: Es werden auch wieder Medien geschlossen. Zuvor gab es in 30 Jahren keine Beschlagnahmungen in Medienanstalten.

 

Hat die Repression Wirkung gezeigt?

Martina: Diese Kämpfe sind sehr anstrengend für die sozialen Bewegungen, weil wir uns alle mehr darauf konzentrieren müssen, unsere Genossen freizubekommen, anstatt weiter kämpfen zu können.

Santiago: Das ist eine klare Schwächungstaktik. Da wir auf einmal andere Aufgaben machen, die wir nicht geplant haben, wie z.B. Leute aus Gefängnissen herauszuholen. Oder mehr arbeiten zu müssen, weil das Geld nicht mehr reicht. Eine der ersten Strategien, die die Regierung Macri angewendet hat, waren Massenentlassungen in verschiedenen Branchen. Das schaffst du gar nicht, über das alles zu berichten. Das ist auch eine Zermürbung, die dich einfach sehr mitnimmt.

 

Wie seht ihr die Zukunft von eurem Projekt?

Santiago: Wir würden total gerne wieder auf Sendung gehen. Aber das bedeutet einen hohen Preis zu zahlen, nicht nur finanziell. Zunächst das verlorene Übertragungsgerät. Aber auch der Kraftakt, zu wissen, dass sie jeden Moment wiederkommen, alles beschlagnahmen und den ganzen Sender kaputt machen können. Alles 24 Stunden bewachen zu müssen, falls die Polizei kommt. Wir wissen nicht, ob wir das schaffen können, vor allem, wenn es dann gar nicht so viele Leute empfangen können.

Martina: Wir sind dabei, eine audiovisuelle Plattform aufzubauen, wo das ganze Material wie auf einer Art revolutionärem Netflix angeschaut werden kann. Unsere Idee ist es, dort Live-Übertragungen zu machen und ein Archiv aus dem Material bereit zu stellen, mit dem wir Fernsehen gemacht haben.

Santiago: Das alles ist Material, das es sonst nirgendwo gibt. Und es auf einer Festplatte zu haben, wo es niemand anschauen kann, bringt ja nichts. Deswegen wollen wir einen Ort schaffen, wo Leute diese Sachen finden können, anstatt Trash-TV zu schauen.

MITGEGANGEN, UM HINZUSEHEN

In Eigenregie geplant und über die Crowdfunding-Plattform Kickstarter finanziert, veröffentlicht Samantha Dietmar hier einen kleinen Ausschnitt aus den über 4.000 Negativen, welche sie während ihres Aufenthaltes sammeln konnte. Das Ergebnis ist eine sehr persönliche, sehr subjektive Arbeit, welche sicherlich auch als Aufarbeitung der eigenen Erfahrungen und Abschluss des Projektes verstanden werden kann.

Der Fotoband zeigt vielschichtige Eindrücke auf dem Weg der „Otra“, der außerparlamentarischen und unbewaffneten Offensive der EZLN, im Vorwahlkampf 2006, durch Chiapas, über Yucatán und Veracruz, Oaxaca und Puebla bis in die Hauptstadt.

Zu sehen sind die Straßen und Menschen des Landes. Gefüllte Bühnen und Publikum wechseln sich ab mit Porträits, Wandbildern und Straßenhändler*innen. Dietmar zeigt das Umfeld der „Otra“, wo sie isst, wo sie schläft, und in welcher Welt sie sich bewegt.

Eingebettet ist die Dokumentation dieser außerparlamentarischen Mobilisation in den größeren Kontext des mexikanischen Wahlkampfs im Jahr 2006, und wird von Fotografien des 4. Weltwasserforum und den „1. Mai“-Demonstrationen in Mexico D.F. ergänzt.

Wie Dietmar schreibt, hat sie in dieser Zeit die Fotografie gelebt, – und versucht dieses Leben fotografisch einzufangen. Die Bilder, durchweg in Schwarz-Weiß und Grautönen gehalten, sind teilweise in Bewegung, leicht verwischt oder unscharf, und nicht immer auf das scheinbar Offensichtliche fokussiert. Durchaus ästhetisch ansprechend zeichnet Dietmar eine Aufnahme des Mexikos, welches ihr auf dieser Reise begegnete und versucht diesen Kontrast in Auswahl und Arrangement der Bilder wieder­zugeben.

Nicht zuletzt ist der Fotoband eine Momentaufnahme der zapatistischen Bewegung zu dieser Zeit. So ist der Delegado Cero – Sub Marcos sehr präsent. Auf Fotos wie auch im hinten angestellten Essay Der Mann hinter der Maske von John Berger. Allerdings gilt es nicht zu vergessen, dass das Gesicht der Zapatistas heute ein anderes ist. Da steht nicht mehr Marcos hoch aufgewachsen, stark und männlich, mit Sturmhaube und Pfeife, als zentrale Figur im Mittelpunkt der Weltaufmerksamkeit. Heute setzten die Zapatistas andere Themenschwerpunkte, wie die Unterstützung der Präsidentschaftskandidatur von Marichuy oder die Organisation des überaus erfolgreichen, internationalen Frauentreffen im März dieses Jahres gezeigt haben.

Auch wenn eine bestimmte Distanz zu den abgebildeten Menschen oft nicht ganz aufgelöst werden kann, zeichnen die Fotos doch ein bleibendes, unaufdringliches Abbild der Lebensrealität und nehmen Menschen ins Bild, welche sonst kaum abgebildet werden. Vielleicht liegt genau darin die Stärke des Buches, denn dies ist immerhin eine zapatistische Praxis. Wo die Otra campaña hinging, um zuzuhören, ging Dietmar mit, um hinzusehen.

KUNST UND KULTURELLE REVOLUTION IN LATEINAMERIKA

Im kolumbianischen Medellín fand 1981 die „Erste Lateinamerikanische Konferenz Nicht-Objekthafter Kunst“ statt. Im Museo de Arte Moderno (Museum für moderne Kunst) hatten sich Künstler*innen und Kunsttheoretiker*innen aus vielen Ländern Lateinamerikas versammelt, um über Theorie und Praxis zeitgenössischer Kunst zu diskutieren. Es ging um die soziale Relevanz von Kunstpraktiken nach dem Modernismus, jenseits von Wandmalerei im Stil des sozialistischen Realismus auf der einen und Abstraktion auf der anderen Seite.

Wichtigster Protagonist dieser Veranstaltung war der Kunsttheoretiker Juan Acha. In Peru geboren und aufgewachsen, hatte Acha in Deutschland Chemie studiert und war in den 1950er und 1960er Jahren als Kunstkritiker in Lima tätig. Von 1972 bis zu seinem Tod lebte und arbeitete er in Mexiko. Er gilt als einer der wichtigsten spanischsprachigen Kunsttheoretiker des 20. Jahrhunderts. Im deutschsprachigen Raum ist sein mehr als 20 Bücher und zahlreiche Artikel umfassendes Werk so gut wie unbekannt. Dabei würde es sich lohnen, seine Arbeiten wiederzuentdecken. Das gilt keineswegs nur für die Kunstsoziologie, sondern für seine Beschäftigung mit Fragen kulturellen Wandels überhaupt. Künstler*innen, schreibt etwa der Kurator und Theoretiker Joaquín Barriendos, waren für Acha nicht nur als Akteur*innen innerhalb des Kunstsystems interessant. Sie waren es auch und gerade deshalb, weil sie „auf dem Terrain mentaler und sinnlicher Veränderungen arbeiteten.“ Barriendos hatte im Frühjahr diesen Jahres eine Ausstellung zu Werk und Wirken Achas organisiert. Sie lief unter dem Titel „Despertar revolucionario“ („Revolutionäres Erwachen“) im Museo Universitario Arte Contemporáneo (Universitätsmuseum für zeitgenössische Kunst) in Mexiko-Stadt.

In Medellín hatte Acha 1981 sein wohl wirkmächtigstes Konzept vorgestellt: den no-objetualismo.

In Medellín hatte Acha 1981 sein wohl wirkmächtigstes Konzept vorgestellt: den no-objetualismo. Fast unmöglich zu übersetzen, geht es dabei um künstlerische Praktiken, die nicht an Objekte gebunden sind. In seinem Vortrag stellte Acha den no-objetualismo als Bruch mit der westlichen Kunstauffassung seit der Renaissance dar, die sich mit der Abgrenzung vom Handwerk etabliert hatte: Entscheidend für diese Auffassung von Kunst war bis ins 20. Jahrhundert hinein das individuelle Schöpfertum und das objekthafte Werk. Von Marcel Duchamps readymades (künstlerisch verwertete Alltagsgegenstände, Anm. d. Red.) über die konzeptuelle, auf Ideen basierende Kunst der 1960er und 1970er Jahre, zeichnet Acha die Entwicklung nicht-objekthafter Kunst in seinem 1979 veröffentlichten Buch Arte y Sociedad: Latinoamérica. El producto artístico y su estructura (Kunst und Gesellschaft: Lateinamerika. Das künstlerische Produkt und seine Struktur) nach. Der Begriff no-objetualismo umfasst dabei mehr als den Konzeptualismus oder der Konzeptkunst. Er richtet sich einerseits gegen die Fetischisierung von Objekten. Kunst braucht demnach keine Leinwände und Skulpturen, entscheidend sind die konzeptuellen Entwürfe und ihre Wirkung auf ein Publikum: Wie das Pissoir, das Duchamp 1917 in eine Ausstellung stellen ließ, gemacht ist und wie es aussieht, ist völlig egal. Interessant ist, wieso es als Kunstwerk angesehen wird. Andererseits zielt der Begriff no-objetualismo aber trotzdem auf den Umgang mit Materialien – Duchamps readymades waren schließlich auch Gegenstände –, mit dem Bildhaften und verschiedenen Wahrnehmungsformen.

Quer zu etablierten Kategorien wie Figuration, Abstraktion und Konzeptualismus kategorisiert Acha so die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts neu. Und zwar nicht nur diejenige Lateinamerikas. Während er einerseits alle wichtigen Personen und Stationen der nordamerikanisch-westeuropäisch geprägten Kunstverhältnisse reflektiert, weiß er – im Unterschied zu vielen seiner westlichen Kolleg*innen – zugleich um die eingeschränkte, eurozentrische Perspektive dieser Vorgehensweise. Schon die Unterscheidung in bildende Kunst, angewandte Kunst und Kunsthandwerk sei ein Effekt der kapitalistischen Entwicklung des Westens gewesen. Und die „bürgerliche Überbewertung der [bildenden] Kunst“, schreibt er in La apreciación artística y sus efectos („Die Kunstbewertung und ihre Effekte“) 1988, gründet demnach „auf der ideologischen Macht der westlichen Kultur.“ Diese werde abgesichert und reproduziert durch „institutionelle Kunstapparate“ wie Museen, Galerien, aber auch Kunstakademien und Kunstmessen.

Acha verknüpft in seinen kunst- und kulturtheoretischen Arbeiten marxistische Grundannahmen mit (post-)strukturalistischer Theorie.

Acha verknüpft in seinen kunst- und kulturtheoretischen Arbeiten marxistische Grundannahmen mit (post-)strukturalistischer Theorie. So geht er von einer ökonomischen Hegemonie aus, die auch Werte und Einstellungsmuster prägt. Zugleich zeichnet er aber auch die strukturellen Besonderheiten der Entwicklungen innerhalb der Kunst nach. Er untersuchte sowohl die Frage, auf welchen ideellen und materiellen Grundlagen ihre Produktion gründet, als auch die nach ihren kognitiven, sensorischen und gefühlsmäßigen Rezeptionsweisen. Schließlich ist es durchaus grundsätzlich erklärungsbedürftig, warum bestimmte Objekte als Kunst behandelt und konsumiert werden und andere nicht. Der Konsum stellt für Acha ohnehin einen zentralen und unterschätzten Bereich der Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur dar. Um den Prozess des Kunstkonsums und seine Effekte zu verstehen, bedürfe es also soziologischer, nicht nur philosophischer Instrumente. Es könne nicht nur um die Wahrnehmung der Betrachtenden allein gehen, schreibt er in Crítica del Arte („Kunstkritik“) im Jahr 1992. Man müsse auch ihre Erwartungen und Befähigungen mit einbeziehen, die, wie die künstlerischen Arbeiten selbst auch, nicht von dem sozialen Kontext zu lösen seien, in dem sie entstehen. Bei all dem geht er extrem systematisch vor, kaum eines seiner Bücher kommt ohne Schaubilder und Diagramme aus, die diese Systematik verdeutlichen sollen.

Acha war aber nicht nur Kunstexperte, sondern auch ein maßgeblicher linker Intellektueller. Die zeitgenössische Kunst nahm er häufig zum Anlass, um Fragen der „Unterentwicklung“ und der Folgen des Kolonialismus zu thematisieren. Dass ökonomische Herrschaft durch Wertvorstellungen abgesichert und vertieft wird, war eine seiner zentralen Thesen. Daher legte er auch so viel Wert auf kulturelle Veränderung: Kultur verstand er als Terrain, auf dem Sinn und Bedeutung hergestellt und verkörperlicht werden, sozusagen in Fleisch und Blut übergehen. Nach den Revolten von 1968 setzte er große Hoffnungen auf eine „kulturelle Revolution“, zu der auch Kunstschaffende beitragen sollten. Er begriff sie als „kulturelle Guerilla“ und verstand die oftmals aktivistische Kunst der 1970er Jahre als Teil eines sozio-politischen Transformationsprojektes.

Der große Einfluss seiner Thesen und Konzepte auf die zeitgenössische Kunst und die lateinamerikanische Linke der 1970er und 1980er Jahre ist unbestritten. Als sich in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre diverse Künstler*innen-Kollektive zur Bewegung Los Grupos („Die Gruppen“) zusammenfanden, war Acha einer ihrer wichtigsten Mentoren. Das betont etwa auch die feministische Performancekünstlerin Maris Bustamante. In den späten 1970er Jahren Mitglied des künstlerischen Kollektivs No Grupo („Keine Gruppe“), war Bustamante 1981 auch in Medellín dabei. 1983 war sie Mitbegründerin der feministischen Performancekunst-Gruppe Polvo de Gallina Negra („Pulver der Schwarzen Henne“). Im Rückblick hält sie Acha – neben dem marxistischen Kulturtheoretiker und Aktivisten Alberto Híjar Serrano – für den wichtigsten Vermittler marxistischer Ideen im kulturellen Feld Mexikos nach 1968 überhaupt.

In letzter Instanz, beschrieb Acha seine eigene Arbeit als Kunstkritiker, ginge es darum, ein „unabhängiges visuelles Denken“ zu ermöglichen. Die Forderung nach Unabhängigkeit war hier sowohl als Abgrenzung von einer elitistischen Kunstbetrachtung gedacht, als auch als Abkehr von einem Denken, das als Effekt der sozio-ökonomischen Abhängigkeit der Länder Lateinamerikas betrachtet wurde. Die Forderung ließe sich aber auch verallgemeinern als eine, die gegen Blickregime und Sehgewohnheiten aller Art gerichtet ist.

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