
„Die Gaita ist ein aus Kolumbien stammendes Instrument. Sie ist Indigen und wird fälschlicherweise Gaita genannt, denn die Indios nannten sie Chuana, Kuisí”, antwortet Iván Salcedo, Spieler der „Gaita Hembra”, auf die Frage nach dem Ursprung des Holzblasinstruments, nach welchem sich die Gruppe benannt hat. Der Musiker erzählt von der Entstehung der Cumbia: „Sie wird dank der Vermischung von Kulturen geboren, als der Indio seine Kultur mit dem Schwarzen Sklaven und dem Spanier mischt – obwohl wir den Spaniern eigentlich nur die Sprache schulden! Aber die Kultur, das Essen, der Glaube, das entsteht alles, durch das Zusammenkommen der drei Ethnien und es wird etwas sehr Schönes geboren, dass sich Cumbia nennt. Die Gaita existierte schon längst. Wir sind die Interpreten einer uralten Musik.”
Mittlerweile wird Cumbia in ganz Lateinamerika/Abya Yala gespielt, in unzähligen Variationen und Genre-Mischungen, aber die Gaiteros de San Jacinto bleiben dem kolumbianischen Original treu. Seit dem internationalen Erfolg der Gruppe in den 50ern rutschen die Söhne und Enkel der ersten Gaiteros in der Band nach, nicht alles Familienmitglieder, aber alle Bewohner der Gemeinde im Norden des Landes. Von der Herstellung der Instrumente bis hin zur Komposition der Lieder – die Musik wird in San Jacinto von Hand gemacht, wie einer der Trommler der Gruppe, Wilson Fontalvo, betont. „Wo die Gaiteros geboren sind, wird auch die Musik geboren, in San Jacinto. Und von dort aus zeigen wir unsere Musik der Welt. Jeder von uns weiß, wie ein Instrument hergestellt wird. Es gibt nichts Ermächtigenderes, als Musik zu spielen, die aus der eigenen Heimat stammt, mit Kompositionen von Rafa, der aus unserem Land stammt, und mit Instrumenten, die wir mit unseren eigenen Händen bauen.“
Die Kraft des Musizierens eilt der Gruppe voraus und zieht die Leute an. Im SO36 in Berlin, ein traditionelles Lokal aus der Punk- und Besetzerzeit der 70er- und 80er-Jahre, ist es am Tag des Konzerts brechend voll. Dass der Großteil des Publikums aus Lateinamerika/Abya Yala und vor allem aus Kolumbien kommt, ist klar. Spanischfetzen schwirren durch die Luft und es wird schon zu Cumbia getanzt, bevor die Gaiteros überhaupt die Bühne betreten. Dann werden sie mit Pfiffen und Applaus begrüßt, es werden die traditionellen schwarz-weißen Vueltiao-Hüte, die auch die Gaiteros tragen, in die Luft geworfen. Jemand in der ersten Reihe schwenkt eine Flagge in gelb, blau und rot. Obwohl es eng ist, bleibt kein Bein still, als die Gaitas, die Trommeln und die Maracas anfangen zu spielen. Auch auf der Bühne wird getanzt, mit der Unterstützung von fünf Tänzer*innen, die ein paar Lieder lang für noch mehr Energie und Strahlen im Saal sorgen. „Wir sind hier, um die neuen Lieder zu zeigen”, sagt Wilson vor dem Konzert und mein damit die neue EP. Die ist eine Ode an den Alltag und die Erfahrungen der Campesinos: mit Liedern wie „Quien No Conozca Mi Pueblo” und „Gaita al Amanecer”, deren Texte den orgullo colombiano, den kolumbianischen Stolz, für das Arbeiten mit der Erde besingen, den Geburtsort und das unbeschreibliche Gefühl nach Hause zurückzukehren. „Wir sind glücklich, dass wir ein Stück Heimat mitbringen können, für die Personen hier, auf dieser Seite [des Ozeans], die aus welchem Grund auch immer nicht nach Kolumbien zurückkehren können. Sie sind hier für uns und wir sind hier für sie. Es ist ein Hin und Her, ein Geben und Nehmen”, so die Gruppe.
Aber während die Lieder, in denen das Leben auf und mit dem Land besungen wird, soviel Freude und Nostalgie auslösen, ist das Publikum in Berlin weit davon entfernt ihr Vieh zu hüten oder für die Ernte zu ackern. Auch in Kolumbien zieht es junge Leute eher in die Stadt als auf die Felder. Wie sieht also die Zukunft der Gaiteros aus? „Die Zukunft ist immer ungewiss”, erklärt Wilson. „Obwohl wir uns vorgenommen haben, die Kultur unseres Volkes weiterzuführen, ist die Zukunft immer ungewiss. Warum sage ich das? Weil unsere Kinder nicht die Erfahrungen unserer Generation gemacht haben. Die neuen Generationen haben nicht mehr die Erfahrung gemacht, auf die Felder zu gehen, ihren Eltern bei der Aussaat zu helfen. Sie wissen nicht mehr, wie man es anstellt, dass die Trommeln gut gemacht sind. Wir haben niemanden, der uns mit den gleichen Grundlagen ersetzen kann, die wir haben. Doch solange wir noch am Leben sind, werden wir unsere San Jacintera-Kultur weiterführen.”
Es ist eine schmerzhafte Frage, die weit über die Musik hinausgeht. Uralte Feste und Riten, die sich um die Beziehung zur Erde, zum Land drehen, werden mehr und mehr für touristische Zwecke angepasst. Wie viel Tradition lässt sich kapitalisieren und verkaufen, bevor sie ihre Essenz verliert? Welche Bedeutung bleibt noch, wenn wir sie feiern, nur um des Feierns willen? Worüber wird die nächste Generation singen? Inmitten all dieser Ungewissheit bedeutet, zur Musik der Gaiteros zu tanzen, auch zu erinnern, solange wir können. Es ist eine Überwindung von Raum und Zeit, zu dem nur das Herz imstande ist.