Wie ist die aktuelle Situation der Arbeiter*innen in Venezuela?
Schlecht. Das monatliche Mindesteinkommen fiel von 283 US-Dollar im Jahr 2009 auf 18,77 US-Dollar pro Monat im Jahr 2015. Außerdem gibt es seit 2014 ein Lohnprämiensystem, das heißt, es werden immer weniger Lohn und immer mehr Prämien gezahlt. Heute liegt der Mindestlohn in Venezuela bei 3,50 US-Dollar monatlich, dazu kommen noch einige Prämien. Zusammen ergibt das etwa 130 US-Dollar im Monat, während die Kosten zur Deckung der Grundbedürfnisse moderat geschätzt bei 500 US-Dollar im Monat liegen. Das Leben der Arbeiter*innen in Venezuela ist von extremer Prekarität geprägt. Hauptsächlich durch den Lohnverfall.
Warum sind die Prämien ein Problem?
Weil nur 2,62 Prozent der gesamten Vergütung als Lohn betrachtet werden, was für die Berechnung aller Ausgleichszahlungen für Überstunden, Nachtzuschläge und Abfindungen bei Entlassung, Ruhestand oder Pensionierung relevant ist.
Abgesehen vom Lohn: Wie wirkt sich die neue Wirtschaftspolitik sonst aus?
Die Einkommensverteilung in Venezuela ist extrem ungleich. Der letzte offizielle Stand von 2017 zeigt eine Verteilung des Einkommens mit 75 Prozent für Unternehmensgewinne und 25 Prozent für Löhne. Heute ist es vermutlich noch extremer. Zudem sind Tarifverträge im öffentlichen wie auch im privaten Sektor praktisch abgeschafft, es gibt keine Verhandlungen mehr. Und die geltenden Tarifverträge werden kaum durchgesetzt.
Warum werden die geltenden Tarifverträge nicht durchgesetzt?
Erstens wegen des extremen Lohnverfalls und zweitens hat die Regierung Maßnahmen ergriffen, um Tarifverträge außer Kraft zu setzen. 2018 hat das Arbeitsministerium eine Richtlinie erlassen, die die Kürzung und Nichtanwendung von Gehaltsklauseln in Tarifverträgen ermöglichte, wenn Arbeitgeber diese als zu kostspielig erachteten. Dies wurde sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor umgesetzt.
Wie konnte es zu solch nachteiligen Vereinbarungen kommen?
Die Arbeitgeber forderten die Arbeitsinspektion in jeder Region auf, Gewerkschafts- und Arbeitgebervertreter zusammenzubringen, um auf Basis der neuen Richtlinie neu zu verhandeln. Dagegen gab es kein Entkommen. Die Gewerkschaften waren nicht bereit, Widerstand zu leisten.
Wie ist die Passivität der Gewerkschaften zu erklären?
Die Regierung schuf ihre eigene Gewerkschaftsbewegung, die Central Bolivariana Socialista de Trabajadores. Sie ist ein Instrument der Regierungspolitik. Dadurch wurden die Bedingungen, die vom Staat vorgegeben wurden, auch von großen staatlichen Unternehmen wie PDVSA, CORPOELEC, und der öffentlichen Verwaltung problemlos umgesetzt. Dies geschah auch im privaten Sektor. Nun erleben wir die Konsequenzen.
Gibt es andere Beispiele für die nachteilige Arbeitsmarktpolitik der Regierung?
Mitte 2022 erließ die Regierung ein Verwaltungsinstrument für den öffentlichen Sektor, dass die Zahlung der Gehälter nach einer von der Exekutive festgelegten Tabelle vorsah, ohne die Errungenschaften der Tarifverträge zu berücksichtigen. Viele Arbeiter*innen wurden davon schwer getroffen. Bereiche wie Bildung, Gesundheit und öffentliche Verwaltung verloren bis zu 75 Prozent ihrer durch Tarifverträge erreichten Vorteile.
Gab es Widerstand gegen diese Politik?
Im Juni 2023 legten die Arbeiter im Unternehmen Siderúrgica del Orinoco (SIDOR) die Arbeit nieder und stoppten eine Anlage vorübergehend, nachdem ihre Forderungen nicht gehört wurden. Aber die Regierung ging den Konflikt juristisch an. Ein Gericht erließ eine einstweilige Verfügung, um die Protestaktion unter Androhung der Verhaftung aller Beteiligten zu stoppen. Alle führenden Aktivisten durften das Werk nicht betreten und ihnen wurde verboten, das Vorgehen in den sozialen Medien anzuprangern. Zwei von ihnen, Leonardo Azócar und Daniel Romero, sind seit fast einem Jahr in Haft.
Mobilisieren Arbeiter*innen noch zum 1. Mai?
Dieses Jahr haben wir in einem breiten Bündnis aus unabhängigen Gewerkschaften, verschiedenen Berufsverbänden und rechten Gewerkschaften eine nationale Protestaktion durchgeführt. Wir planten eine Kundgebung auf der Plaza Venezuela in Caracas und eine anschließende Demonstration. Am Anfang der Demo stürmten Motorradfahrer, die der Regierung angehörten, auf die Anwesenden zu, insbesondere auf ältere Menschen und Frauen. Dies haben wir scharf verurteilt. Die Polizei stellte Barrikaden auf, um uns am Weitergehen zu hindern. Wir konnten nur die Kundgebung abhalten. Es scheint, als wolle die Regierung ein Klima politischer Gewalt schaffen, um die Wahlen am 28. Juli zu verhindern oder um die Menschen von Protesten abzuhalten.
Wie ist der Zustand der Gewerkschaften heute?
Unsere Freiheit ist stark eingeschränkt. Viele Gewerkschaften werden nicht zugelassen, wenn sie nicht von der offiziellen Gewerkschaftszentrale anerkannt sind. Zudem werden gewählte Gewerkschaftsführungen von der Regierung nicht anerkannt. Das Schlimmste ist, dass Gewerkschaftsführer jederzeit verhaftet werden können. Die Regierung übt fast absolute Kontrolle aus, vor allem im öffentlichen Sektor: administrative, politische, polizeiliche und militärische Kontrolle, um zu verhindern, dass aus dem Widerstand gegen die Wirtschaftspolitik eine Arbeiterbewegung entsteht.
Wie sehen Sie die Situation im Hinblick auf die Wahlen im Juli?
Der Trend geht zum Rechtsextremismus. Wir werden in der gleichen Situation leben wie jetzt. Wir wollen weder die einen noch die anderen. Man muss sich auf den Kampf gegen beide vorbereiten. Aber diese Regierung richtet mehr Schaden an: Historisch gesehen ist es schlimmer, im Namen des „Sozialismus” Einkommen zu vernichten, Gewerkschaftsführer zu inhaftieren, unabhängige Gewerkschaften einzuschränken und das Streikrecht zu unterdrücken.
Was halten Sie von der Haltung der internationalen Linken zu Venezuela?
Leider glauben viele linke Aktivist*innen im Ausland, dass die Regierung von Nicolás Maduro eine linke, sozialistische, progressive Regierung ist. Ihre Propaganda vermittelt ein Bild, das durch ihre Praxis völlig widerlegt wird, die darauf abzielt, die Bedingungen für maximale Gewinne des Kapitals zu fördern und den Staat zu reduzieren.