
Trotz allem kam die Ankündigung von Luis Arce Mitte Mai überraschend: Der amtierende bolivianische Präsident kündigte an, bei der bevorstehenden Präsidentschaftswahl nicht erneut als Kandidat anzutreten. Zu groß war wohl der Unmut von Seiten der Bevölkerung. „Viele Menschen sind sehr beunruhigt und enttäuscht, weil wir mehrere Jahre in Frieden und Ruhe gelebt haben. Jetzt stehen wir vor komplizierten Jahren“, sagt Luis Flores Vásquez, der seit fast zehn Jahren als freier Journalist in Bolivien arbeitet. „Ich glaube, die Menschen haben Zweifel, Unsicherheiten. Sie wissen nicht, was passieren wird, und sie wissen nicht, wen sie wählen werden. Es fehlt an einer Vision für das Land.“
Seit Monaten leidet Bolivien unter einem akuten Mangel an US-Dollar. Dies hat zu einem wachsenden Schwarzmarkt der US-Währung geführt, wobei der inoffizielle Kurs den offiziellen um das Zwei- bis Dreifache übersteigt. Es trifft die Wirtschaft und das Alltagsleben der Bolivianer*innen besonders hart, da das Land stark auf US-Dollar für Importe angewiesen ist. So wird beispielsweise ein Großteil des Benzins aus dem Ausland bezogen. Das hat zu erheblichen Komplikationen geführt: Seit Monaten bilden sich jeden Tag lange Warteschlangen an den Tankstellen, mit Wartezeiten von bis zu vier Stunden.
Auch die zivile Infrastruktur ist direkt betroffen: Am Busbahnhof von La Paz fuhr wegen des Treibstoffmangels zwischenzeitlich nur etwa jeder fünfte Bus. Gleichzeitig waren in Santa Cruz nur etwa 40 Prozent der Krankenwagen im Einsatz. Zudem sind die Lebensmittelpreise in den vergangenen Monaten spürbar gestiegen – die kumulierte Inflation des ersten Halbjahres 2025 lag bei alarmierenden 15,53 Prozent.
Vor diesem Hintergrund fiel es schwer, sich Arce als zukünftigen Präsidenten vorzustellen. Doch neben der wachsenden Unzufriedenheit in der Bevölkerung, hat Arce auch mit innerparteilichen Konflikten in seiner politischen Heimat, der Bewegung zum Sozialismus (MAS), zu kämpfen. Die MAS prägte die politische Landschaft in den letzten 20 Jahren wie wenig andere Parteien in den Ländern Lateinamerikas. Erwähnenswert ist vor allem die ungewöhnliche Parteistruktur, denn die MAS entstand aus dem Zusammenschluss der bäuerlichen Landrechtsbewegung ASP und unterschiedlichen volksnahen politischen Parteien, gesellschaftlichen Organisationen, Gewerkschaften und Nachbarschaftsorganisationen, was die sozialistische Partei bis heute prägt.
Aus den Kreisen der Kokabauernbewegung erschien Mitte der 90er-Jahre der schlagfertige und charismatisch wirkende Evo Morales auf der politischen Bühne. Nach einigen Jahren als Parlamentsabgeordneter für die MAS wurde er als Kandidat für die Präsidentschaftswahlen aufgestellt. 2002 verpasste er den Wahlsieg knapp, gewann aber 2005 mit einer absoluten Mehrheit von 53 Prozent die Wahlen und wurde der erste Indigene Präsident des lateinamerikanischen Landes. „Evo ist ein Wendepunkt in der Geschichte Boliviens. In den ersten 180 Jahren wurde das Land von der weißen, kolonialen Elite regiert. Seit 2005 ist es so, dass ‘einer von uns’ dieses Land regieren kann“, betont Vásquez. „Heute gibt es viele Beamt*innen und Politiker*innen, die Mamani, Quispe oder Condori heißen. Wenn du früher in eine teure Diskothek gegangen bist, haben sie dich mit diesem Nachnamen rausgeworfen. Heute werden sie dich nicht einfach so rausschmeißen, denn du könntest der Sohn eines MAS-Senators sein.“
In den ersten Jahren seiner Präsidentschaft florierte das Land und die Wirtschaft. Die versprochene Verstaatlichung der Gasindustrie füllte die Staatskassen gewaltig. Unter Morales investierte die Regierung im großen Stil in Bildungseinrichtungen, bessere Löhne und ein gut strukturiertes Rentensystem. Das BIP des Landes wuchs zwischen 2004 und 2017 um durchschnittlich 4,8 Prozent, während der Anteil der Menschen, die in extremer Armut leben, von 36 Prozent mehr als halbiert wurde auf 17 Prozent.
MAS-Partei vor dem Absturz?
Gerade in den vergangenen Jahren Morales’ Amtszeit bis zur Absetzung 2019 gab es einige Kontroversen, darunter große Korruptionsfälle, den geplanten Bau einer Autobahn mitten durch das Regenwald- und Indigenenschutzgebiet TIPNIS (siehe LN 536) oder seine umstrittene Entscheidung, ein drittes Mal als Kandidat bei den Wahlen antreten zu wollen, obwohl die von ihm eingeführte Verfassung von 2009 nur zwei aufeinanderfolgende Amtszeiten ermöglicht. Vásquez sieht die Figur Evo Morales entsprechend ambivalent: „Er war notwendig und wichtig im Hinblick auf die Geschichte und die Rebellionen der Indigenen Bevölkerung. Aber er endete in einem diktatorischen Regime, das vor allem nach Macht strebte. Seine Person ist ihm wichtiger als sein eigenes linkes Konzept.“
Morales damaliger Parteifreund und Ex-Wirtschaftsminister Luis Arce gewann 2021 die Wahlen. Doch die beiden Politiker zerstritten sich, woraufhin sich die Partei in zwei Lager spaltete: die Arcistas (Anhänger*innen Luis Arces) und Evistas (Unterstützer*innen von Evo Morales). Der endgültige Bruch erfolgte dann im Februar dieses Jahres, als Morales aus der MAS austrat. Jetzt, etwa einen Monat vor den Wahlen, steht die Partei vor einem Machtvakuum: Viele der Evistas sind mit ihrem Anführer ausgetreten; der Block der Arcistas wirkt schwach und muss sich neu organisieren.
Als Nachfolge für Arce hat die MAS den aktuellen Innenminister Eduardo del Castillo aufgestellt, eine eher unbekannte Persönlichkeit aus den Reihen der Partei. In welcher ernsten Lage er und die MAS sich befinden, zeigen erste Umfragen, die in den letzten Wochen veröffentlicht wurden. Dort kommt er nur auf etwa eins bis zwei Prozent der Stimmen. Die MAS scheint am Ende zu sein.
Überraschungsoption Andrónico Rodríguez
Aus dem Chaos der MAS-Partei heraus scheint jedoch eine neue politische Bewegung zu entstehen. Der derzeitige Senatspräsident, Andrónico Rodríguez, präsentiert sich als neue linke Option. Mit seinen 36 Jahren gehört er zur neuen Generation der politischen Linken und tritt für die Alianza Popular (dt.: Volksallianz) an. Ex-Präsident Evo Morales und ihn verbindet eine gemeinsame Vergangenheit. So war Rodríguez bis vor kurzem Vizepräsident der „Sechs Föderationen der Tropen Cochabambas”, den regionalen Verbänden der Kokabauer*innen, dessen Vorsitz Evo Morales innehat. Nachdem Rodriguez jedoch seine Kandidatur zur Präsidentschaft verkündete, kam es zum Bruch zwischen ihm und seinem Mentor Morales. Denn seine Kandidatur war nicht mit dem Tropenverband abgesprochen. „Es gibt hier keinen Plan B, der einzige Kandidat ist Evo”, hatte der Ex-Präsident immer wieder betont.
Im Unterschied zu seinem Mentor Morales gilt Rodríguez als weniger provokativ, dialogorientierter und kompromissbereiter. Für Vásquez ist er der Einzige, der die gesamte Linke vereinen könnte. Einen endgültigen Bruch zwischen ihm und Morales versucht Rodríguez anscheinend zu vermeiden. Bei einer Pressekonferenz zum Auftakt seiner Kandidatur sagte er über seinen früheren Förderer: „Auch wenn er nicht mehr an mich denkt oder mich nicht mehr liebt, werde ich immer an ihn denken. Ich werde weder undankbar noch illoyal sein.”
Diese Aussagen könnten damit zusammenhängen, dass Morales einen Großteil der Indigenen, ländlichen Wählerschaft hinter sich hat. Je nach Umfrage geben zwischen 15 und 25 Prozent der Bolivianer*innen an, bei der Wahl im August einen leeren oder ungültigen Stimmzettel abzugeben oder noch unentschlossen zu sein. Es ist davon auszugehen, dass ein beträchtlicher Anteil dieser Wählergruppe Morales-Anhänger*innen sind, die nur für ihn und für keinen anderen Kandidaten stimmen würden. Vásquez rechnet sogar mit mehr als 30 Prozent der Wähler*innen, die weiterhin hinter Morales stehen. „Diese Monate sind für Andrónico Rodríguez von grundlegender Bedeutung, denn in erster Linie geht es darum, ob er immer noch an Evos Seite stehen wird oder nicht.“ Ohne seine Stimmen dürfte es für Rodríguez schwierig werden, vor allem in einer möglichen Stichwahl zu bestehen. Denn auf Seiten der politischen Rechten gibt es namhafte Konkurrenz. Ursprünglich planten die Mitte-rechts-Parteien, als geeinte Kraft und mit einem Kandidaten bei den Wahlen anzutreten. Dazu wurde ein Einheitsabkommen der moderat-konservativen bis stramm rechten politischen Granden Boliviens unterzeichnet. Selbstbewusst wurde angekündigt, „den schändlichen Kreislauf der MAS zu beenden”. Doch keine vier Monate später zerbrach der Einheitspakt an Uneinigkeiten über die Finanzierung interner Meinungsumfragen.

Daran beteiligt waren vorrangig Samuel Doria Medina und Jorge Quiroga Ramírez, die als aussichtsreichste Kandidaten gelten. Beide eint, dass sie lange im politischen Geschäft aktiv sind. Doria Medina war von 1991 bis 1993 Planungsminister Boliviens und scheiterte 2014 bei den Präsidentschaftswahlen deutlich an Amtsinhaber Evo Morales. Darüber hinaus ist er dem Land als Geschäftsmann bekannt: Er besaß Anteile an der bolivianischen Zementgesellschaft SOBOCE und brachte die Fast-Food-Franchises Burger King und Subway nach Bolivien. 2014 zog er sich dann teilweise aus der Wirtschaft zurück, um sich komplett der Politik und seiner gegründeten Partei Frente de Unidad Nacional (dt.: Front der Nationalen Einheit) zu widmen.
Jorge Quiroga Ramírez, von seinen Anhänger*innen meistens nur Tuto genannt, erlangte seine politische Bekanntheit primär durch seine Zeit als Vizepräsident unter dem ehemaligen Militärdiktator Hugo Banzer. In den 70er-Jahren putschte dieser sich als Militäroffizier an die Macht. Nach seiner Absetzung 1978 und der Wiedereinführung der Demokratie kandidierte er 1997 für die Präsidentschaftswahlen – mit Jorge Quiroga Ramírez als Vizepräsidenten.
Wirtschaftspolitisch unterscheiden sich die Programme von Doria Medina und Tuto kaum. Beide wollen einige der verstaatlichten Unternehmen wieder privatisieren, ausländische Investitionen ins Land bringen und eine Abkehr von den Subventionen für Benzin. Sie streben an, den Dollarkurs zu stabilisieren und das Unternehmertum zu fördern – also ein klassisch (neo-)liberales Programm. Für Vásquez unterscheiden sich beide Kandidaten in ihrer Radikalität: „Samuel Doria Medina ist wahrscheinlich der Gemäßigtste von allen Mitte-rechts-Kandidaten. Tuto aber halte ich für ein sehr gefährliches Element für das Land. Er ist absolut pro-USA und hat Kontakte zu vielen rechten bis rechtsextremen internationalen Kreisen. Er würde über Leichen gehen, um seine Ziele zu erreichen.“ Neben Quiroga Ramírez und Doria Medina bewirbt sich auch der rechtspopulistische Manfred Reyes Villa für die Präsidentschaft. Schon 2003 kandidierte er, landete aber auf dem dritten Platz. Seit 2021 ist er Bürgermeister von Cochabamba, der viertgrößten Stadt Boliviens. Ihm werden wenige Chancen zugerechnet, da er über das Departamento Cochabamba hinaus keinen großen Anhang hat. In aktuellen Umfragen landet er abgeschlagen auf dem vierten Platz.
Rechte Kandidaten wollen Politik nach Vorbild Argentiniens
Als Außenseiter mit Potenzial gilt Jaime Dunn. Er versucht sich neben all den schon bekannten Männern als personifizierten Neuanfang im Kandidatenpool zu profilieren. Im Stile des argentinischen Präsidenten Javier Milei predigt er vollständig gegen eine Einmischung des Staates in die Wirtschaft. Dunn gilt als nahbarer Wirtschaftsexperte – kompetent, aber verständlich in seinen Erklärungen. In der aktuellen Wirtschaftskrise wirkt diese Kombination besonders anziehend. Dass er bei den bevorstehenden Wahlen für eine Überraschung sorgen könnte, kann nicht ausgeschlossen werden.
Derweil versucht Ex-Präsident Morales weiterhin, an den Wahlen teilzunehmen – ungeachtet dessen, dass ein Urteil des Verfassungsgerichts erneut bestätigt hat, dass er nach seinen insgesamt drei Amtszeiten gemäß der Verfassung nicht erneut antreten darf. Nichtsdestotrotz blockierten seine Anhänger*innen in den vergangenen Wochen zahlreiche bedeutende Autobahnen, die die Großstädte miteinander verbinden. Sie forderten die Zulassung ihres Anführers als Kandidat für die Wahlen und eine Lösung für den Dollar- und Treibstoffmangel. In der Ortschaft Llallagua im Departamento Potosí kam es Mitte Juni zu besonders heftigen Zusammenstößen zwischen Polizei und Morales-Anhänger*innen. Dabei kamen ein 18-jähriger Schüler und drei Polizisten ums Leben. Es ist der bisherige traurige Höhepunkt der Auseinandersetzungen. Ereignisse wie diese sieht Vásquez mit Sorge: „Ich hoffe, dass nicht noch mehr Menschen getötet werden. Denn es sind nicht die Politiker*innen, es sind immer die Ärmeren, die sterben.“
















