Seit dem 16. September ist die Lage in Haiti angespannt: Fast täglich finden Demonstrationen oder Straßenblockaden statt, um den Rücktritt des Präsidenten Jovenel Moïse zu fordern. Die geschäftlichen Aktivitäten sowie das öffentliche Leben in der Hauptstadt Port-au-Prince sind fast vollständig zum Stillstand gekommen. Am Dienstag, den 29. Oktober hatten unter anderem die Lehrer*innengewerkschaften zu einem Generalstreik aufgerufen. Die Straßenblockaden erschweren die Verteilung von Wasser und den ohnehin knappen Nahrungsmitteln. Während der Proteste wurden bisher 42 Tote registriert, von denen die meisten durch Schussverletzungen starben. Das UNO-Menschenrechtsbüro teilte mit, dass weitere 86 Personen verletzt wurden.
Der Präsident weigert sich abzutreten
Die Sprecherin des Büros, Marta Hurtado, erklärte, dass 19 der Todesopfer durch Verschulden von Sicherheitskräften starben. Zudem bestätigte sie, dass unter den Toten auch ein Journalist sei und neun der Verletzten über die Antiregierungsproteste berichtet hätten. Die UNO sei „zutiefst besorgt“ über die Situation des Karibikstaates. Die Sprecherin empfahl den Behörden und Konfliktparteien, „Maßnahmen zu ergreifen, um friedliche Lösungen für die vielen Forderungen zu finden, die die Haitianer*innen auf die Straße treiben“.
Währenddessen weigert sich Präsident Moïse abzutreten, um das Land nicht „bewaffneten Banden und Drogendealern“ zu überlassen. Er besteht darauf, die Situation im friedlichen Dialog mit der Opposition zu klären. Diese hat den Vorschlag einer Verhandlungsrunde allerdings mehrfach abgelehnt, da sie ihn für ungeeignet hält, die Probleme des Landes zu lösen.
Die aktuelle Protestwelle wurde durch einen Treibstoffmangel ausgelöst. Bereits im Frühjahr 2019 kam es zu einer Protestwelle gegen den Präsidenten, die sich an der Empörung über die Erhöhung der Treibstoffpreise entzündet hatte (siehe LN 538).
Eine Lösung der Krise ist nicht in Sicht
Vor dem Hintergrund der schwierigen wirtschaftlichen und politischen Situation fordert die Bevölkerung nun weiterhin den Rücktritt von Präsident Moïse. Neben extremer Armut, einer hohen Inflationsrate, Arbeitslosigkeit und sozialer Ungleichheit hat der Karibikstaat auch mit Korruption zu kämpfen. Das betrifft unter anderem Beamt*innen der öffentlichen Verwaltung. Aber auch Moïse selbst steht unter Verdacht, in Korruptionsfälle im Rahmen des venezolanisch-karibischen Abkommens Petrocaribe verwickelt zu sein, mit dem Haiti vergünstigte Erdöllieferungen aus Venezuela erhalten hatte. Ein Bericht des haitianischen Rechnungshofes, der im Juni veröffentlicht wurde, skizziert zahlreiche Fälle von Geldwäsche und Korruption, in die neben dem Präsidenten und ehemaligen Regierungsmitgliedern auch private Unternehmer*innen involviert sein sollen.
Die Situation verschlimmert sich weiter durch einen möglichen Kollaps der nationalen Energieversorgung. Die Firma Sogener, einer der wichtigsten Energieversorger des Landes, warnt seit Ende Oktober vor diesem Szenario, da der Treibstoff knapp werde und die Firma ihren in Auftrag gegebenen Öl-Import über 30.000 Fass nicht bezahlen könne, solange die Regierung nicht die entsprechenden Rechnungen begleiche. Das Pressebüro der Regierung hatte am 23. Oktober angekündigt, die Zahlungen an die großen Energieversorgungsfirmen des Landes auszusetzen. Die Regierung ließ außerdem verlauten, dass alle staatlichen Elektrizitätszentralen unter die Verwaltung des Ministeriums für Justiz und öffentliche Sicherheit gestellt und die Verträge mit den Energieversorgungsunternehmen auf Eis gelegt werden. Darüber hinaus wolle man gegen „alle Schuldigen der Verschwendung öffentlicher Gelder” vorgehen, die im Zuge von Verträgen mit Energieversorgungsfirmen geschehen sei, und verlangt von diesen Firmen Geldsummen zurück, die dem Staat angeblich zu viel in Rechnung gestellt wurden. Von Sogener fordert die Regierung beispielsweise 123 Millionen Dollar.
Die Energieversorgung droht zusammenzubrechen
Das Unternehmen kündigte indessen drastische Kürzungen der Elektrizität in Port-au-Prince an und stellte ebenfalls eine Zahlungsforderung: Rund 200 Millionen Dollar sei der Staat der Firma in den vergangenen Jahren für seine Energielieferungen schuldig geblieben. Die Streitigkeiten um Schulden und Verträge zwischen Regierung und Energieversorgern erscheinen wie ein Ablenkungsmanöver von der politischen Krise und den Protesten auf der Straße.
Wie wird es weitergehen? Zur Lösung der Krise schlagen oppositionelle politische und soziale Organisationen vor, eine*n Oberste*n Richter*in zu ernennen und einen Staatsrat einzurichten, der die Aktivitäten der Regierung überwachen soll. Gleichzeitig fordern knapp vier Dutzend Bürgermeister*innen, dass die politischen Akteur*innen eine gemeinsame Erklärung unterzeichnen, um die politischen Ziele zu definieren, mit denen die politische Stabilität des Landes wiederhergestellt werden kann.
Moïse ließ währenddessen eine Erhöhung des Mindestlohns zum 1. November verlauten. Gewerkschaften kritisierten jedoch, dass die Erhöhungen zu gering seien und der Präsident nur versuche, die Protestierenden zu beschwichtigen. Die Krise in Haiti geht weiter – weitestgehend unbeachtet von internationalen Medien und ohne, dass eine Lösung in Sicht wäre.