![](https://lateinamerika-nachrichten.de/wp-content/uploads/2024/11/20200925100059_IMG_0686-1-1024x683.jpg)
Für den brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva ist die Beseitigung des Hungers in Brasiliens erklärte Priorität und auch ein Thema, das er ganz oben auf die Agenda der aktuellen brasilianischen G20-Präsidentschaft gesetzt hat. Der Welternährungstag am 16. Oktober war daher ein wichtiges Datum: An diesem Tag gab Lula den Startschuss für eine strategische Initiative zur Förderung der nachhaltigen Produktion von ökologischen und agroökologischen Lebensmitteln (PLANAPO).
„Es ist unzumutbar, dass Pestizide, die in Europa und anderswo auf der Welt verboten sind, hier frei gehandelt werden. Das gefährdet die Gesundheit unserer Bevölkerung“, so äußerte sich der Leiter des Generalsekretariats der Präsidentschaft Brasiliens, Márcio Macêdo, am Welternährungstag gegenüber CNN Brasil.
Dies ist jedoch keine neue Erkenntnis. Bereits 2017 veröffentlichte die brasilianische Forscherin Larissa Mies Bombardi einen Atlas, in dem sie die Auswirkungen des Pestizideinsatzes in Brasilien und dessen internationale Verflechtungen mit der EU umfassend untersucht (siehe LN 572). Sie dokumentiert verschiedene Pestizide, die in der EU verboten, in Brasilien aber zugelassen sind, und vergleicht die zulässigen Rückstandshöchstwerte beider Märkte. Ein besonders alarmierender Fall ist das Herbizid Glyphosat, das in der EU zwar erlaubt ist, aber in viel geringerem Ausmaß. In Brasilien liegen die Rückstandsgrenzwerte bei Soja 200-mal, bei Zuckerrohr 20-mal und bei Kaffee 10-mal höher als in der EU. Nach einem aktuellen Bericht des Pesticide Action Network Europe (PAN Europe) gelangen Rückstände dieser Pestizide über importierte Lebensmittel auch in die europäische Ernährung. So sind beispielsweise Länder wie Deutschland, Italien und Belgien nach wie vor wichtige Importeure von Kaffee aus Brasilien, obwohl bei dessen Anbau von den 121 in Brasilien zugelassenen Pestiziden 30 in der Europäischen Union verboten sind. Ein weiteres Beispiel ist Soja: 35 der 150 in Brasilien verwendeten Pestizide sind in der EU verboten, dennoch sind die Niederlande, Deutschland und Frankreich weiterhin wichtige Exportziele. Laut einer Untersuchung der Landlosenbewegung (MST) werden die meisten dieser Schadstoffe von Unternehmen aus China, Indien und Deutschland hergestellt, die von der Schwäche der brasilianischen Vorschriften profitieren.
Für Larissa Mies Bombardi offenbart der Pestizideinsatz in Brasilien im Vergleich zu den Vorschriften der EU eine Form von modernem kolonialen Handel, wie sie in ihrem Buch Colonialismo quimico e Agrotoxicos („Chemischer Kolonialismus und Pestizide“) erläutert.
Die schädlichen Auswirkungen des Pestizideinsatzes betreffen verschiedene Teile der brasilianischen Bevölkerung unterschiedlich stark und verdeutlichen die Anfälligkeit bestimmter Bevölkerungsgruppen, insbesondere historisch marginalisierter Gruppen. Darüber hinaus ist die Landwirtschaft ein Sektor, in dem in Brasilien immer noch ein hoher Anteil der Arbeitskräfte in sklavereiähnlichen Bedingungen beschäftigt wird. Diese alarmierende Situation spiegelt nicht nur Menschenrechtsverletzungen wider, sondern hängt auch mit dem Einsatz von Pestiziden und umweltschädlichen Praktiken in der brasilianischen Landwirtschaft zusammen. Die Gewalt gegen Indigene Menschen und Umweltaktivist*innen in Brasilien ist ein Beispiel dafür, wie die Agrarindustrie nicht nur Kontrolle über Land und Ressourcen ausübt, sondern auch über das Leben der Menschen, die sich diesem Modell der Ausbeutung widersetzen.
Diese Realität verschärft sich bei Landkonflikten, wie dem jüngsten Angriff auf die Avá-Guarani-Gemeinschaft im Indigenen Gebiet Tekoha Guasu Guavira in Guaíra (Paraná). Nach Angaben der Guarani Yvyrupa Kommission (CGY) wurde die Gemeinde am 17. Oktober von Großgrundbesitzern gewaltsam angegriffen. Zwei Mitglieder der Avá-Guarani-Gemeinschaft wurden verletzt. An dem Angriff waren mit Gift beladene Lastwagen und Traktoren beteiligt, die ein Großgrundbesitzer geschickt hatte, um die Indigenen Bewohner*innen aus dem Gebiet zu vertreiben, wie das Onlinemagazin Brasil de Fato berichtet. Die CGY wies darauf hin, dass die Gemeinschaft durch den Widerstand der Landbesitzer gegen die Legalisierung ihrer Gebiete ständig bedroht sei.
Dennoch gibt es kleine rechtliche Fortschritte, wie der Fall des Aktivisten José Maria Filho, bekannt als Zé Maria do Tomé, zeigt. Zé Maria wurde im April 2010 in Ceará mit 25 Schüssen ermordet. Er hatte sich seit Ende der 1990er Jahre gegen das Versprühen von Pestiziden aus der Luft eingesetzt, nachdem er entdeckt hatte, dass mit Pestiziden verseuchtes Wasser zu Hautvergiftungen bei seiner Tochter führte. Der Fall ist emblematisch und war der Auslöser für die Verabschiedung des Gesetzes 16.820/19, bekannt als das Zé Maria do Tomé-Gesetz, das das Sprühen von Pestiziden aus der Luft im Bundesstaat Ceará verbietet. Am 9. Oktober wurde nun einer der Angeklagten des Verbrechens, das zum Tod von Zé Maria do Tomé führte, vor ein Geschworenengericht gestellt und zu 16 Jahren Haft verurteilt.
Eine weitere aktuelle Entwicklung könnte ebenfalls Auswirkungen auf die Zukunft der Pestizide in Brasilien haben. Präsident Lula kündigte in einer Rede in Mexiko-Stadt an, dass er hoffe, die Verhandlungen über ein Handelsabkommen zwischen dem Mercosur und der Europäischen Union während des G20-Gipfels im November in Rio de Janeiro abschließen zu können. Diese Erwartung der Unterzeichnung des Abkommens ist nicht ohne Kritik und Bedenken (siehe LN 603/604). Der Abbau von Handelshemmnissen könnte klimagefährdende landwirtschaftliche Praktiken in Brasilien fördern und damit Probleme wie Abholzung und Umweltzerstörung verschärfen. Es wird befürchtet, dass die steigende Nachfrage nach brasilianischen Agrarprodukten zu einem verstärkten Einsatz von Pestiziden und einem noch größeren Druck auf die lokalen Böden und Gemeinden führen könnte. Das würde den Zielen des PLANAPO, die Produktionsketten für ökologische und agroökologische Produkte zu stärken und die familiäre Landwirtschaft zu fördern, zuwiderlaufen.