Argentinien | Nummer 589/590 - Juli/August 2023

Weisses Feuer

Eine breite Protestbewegung kämpft für das Recht auf Wasser und Land

In der nordargentinischen Provinz Jujuy hat eine Verfassungsreform viele Menschen auf die Straße gebracht. Gouverneur Gerardo Morales versucht mit aller Macht, die Proteste niederzuschlagen.

Von Jara Frey-Schaaber

Zuerst waren die Lehrer*innen sichtbar. Seit dem 5. Juni gingen Lehrkräfte in der Provinz Jujuy in einen unbefristeten Streik, da ihre Gehälter kaum zum Leben reichen. Einer ihrer Slogans lautete „Rauf mit den Löhnen, nieder mit der Reform!“ Denn im Hintergrund bereitete der rechte Noch-Gouverneur Gerardo Morales eine Änderung der Verfassung der Provinz vor. In dieser waren drastische Einschränkungen des Demonstrationsrechts und Änderungen zur Regelung von Landbesitz vorgesehen.

Der undurchsichtige und undemokratische Prozess hinter dieser in wenigen Wochen durchgepeitschten Verfassungsänderung trieb viele weitere Menschen auf die Straßen. Gesundheitspersonal, Angestellte im öffentlichen Dienst, vor allem aber Mitglieder indigener Gemeinden schlossen sich dem Ruf der streikenden Lehrer*innen an: „Hoch mit den Wiphala, nieder mit der Reform!“ Die Wiphala, eine siebenfarbige Flagge, die viele indigene Gemeinschaften der Anden repräsentiert, flatterte an erste Linie in den Straßensperrungen. Eben diese Form des Protests soll in der neuen Verfassung explizit verboten werden. Die Antwort von Morales war ebenso kompromisslos wie seine Verfassungsänderung. Er ließ die Provinzpolizei mit Tränengas und Gummigeschossen auf die Demonstrierenden losgehen.

Jujuy, eine der ärmsten Provinzen Argentiniens, ist ein Teil des sogenannten Lithium-Dreiecks, das das Land mit Bolivien und Chile bildet. Hier sollen sich ungefähr 65 Prozent der weltweiten Lithiumvorkommen befinden. Das Leichtmetall Lithium, auch weißes Gold genannt, wird bei der Herstellung von Akkus benötigt und ist im Rahmen der Elektromobilität ein zentraler Rohstoff der „Energiewende“ des Globalen Nordens. Besonders der hohe Wasserverbrauch der Lithiumgewinnung ruft in einer bereits stark von Wasserknappheit betroffenen Region große Besorgnis hervor.

Trotz der entschlossenen Proteste wurde die Verfassung am 20. Juni von den anwesenden Abgeordneten einstimmig verabschiedet. Zwei der am meisten kritisierten Artikel der Verfassung waren kurz zuvor aus dem Entwurf herausgenommen worden. Diese schwammig formulierten Artikel hätten es erleichtert, Personen, die keinen Besitzanspruch auf das von ihnen bewohnte Land vorweisen können, zu vertreiben. Armando Quispe, Sprecher der indigenen Gemeinschaft Kolla gibt gegenüber der argentinischen Zeitung Página 12 an, dass nur zwölf Prozent der über 400 indigenen Gemeinden Titel über ihren Grundbesitz haben. Angesichts der drastischen Einschränkungen ihrer Rechte erklärten sie den dritten Malón de Paz. Das aus aus dem Mapudungun entlehnte Wort Malón bezeichnete Überraschungsangriffe von Indigenen Gruppen auf Kolonialsiedlungen. Wie bereits 1946 zum ersten friedlichen Malón reisten auch diesmal Vertreter*innen indigener Gemeiden nach Buenos Aires.

Gouverneur Morales will sich mit Härte profilieren

Geblieben sind Artikel zur Bewahrung des sozialen Friedens, die die Teilnahme an Straßenblockaden sowie das Besetzen öffentlicher Gebäude unter Strafe stellen. Und die Repression setzt sich fort: Mitte Juli wurden gegen 40 Personen wegen des Vorwurfes des Aufruhrs Haftbefehle ausgestellt und ihre Wohnungen durchsucht. Die Menschenrechtsorganisation CELS wies darauf hin, dass davon vor allem Aktivist*innen von sozialen, indigenen, politischen Organisationen und Gewerkschaften betroffen waren. Auch mehrere Anwält*innen wurden festgenommen.

Die Unterdrückung sozialer Bewegungen durch Gerardo Morales ist dabei nichts Neues. Bereits mit seinem Amtsantritt 2015 kündigte er an, entschlossen gegen soziale Organisationen vorzugehen. 2016 wurde die Aktivistin Milagro Sala der Organisation Túpac Amaru nach einem dubiosen Prozess zu drei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Dabei wurde ihr auch das Engagement in sozialen Organisationen verboten (siehe LN 512). Sala wurde 2019 erneut verurteilt und sitzt bis heute im Gefängnis.

Die Härte, die Morales an den Tag legt, hängt auch mit seinen politischen Ambitionen zusammen. Gemeinsam mit dem Bürgermeister von Buenos Aires, Horacio Rodríguez Larreta, möchte Morales für die oppositionelle Koalition Juntos por el Cambio als Kandidat für die Vizepräsidentschaft antreten. Larreta und Morales gelten noch als moderates Duo gegen Patricia Bullrich, Macris berüchtigte Sicherheitsministerin und ihren Vize Luis Petro. Dieser bezeichnete Morales‘ Umgang mit den Protesten als „zu weich“. Dabei äußerte die interamerikanische Menschenrechtsorganisation CIDH bereits am 20. Juni Besorgnis über die Situation in Jujuy.

Repression erinnert an die Diktatur

Die Repression rief vielfach Erinnerungen an die Militärdiktatur (1976-83) hervor. So wurden etwa während Festnahmen, die eher Entführungen ähnelten, Menschen von nicht gekennzeichneten bewaffneten Sicherheitskräften auf zivile Pick-ups gezerrt. Festgenommene verschwanden zunächst, vielen wurde das Recht auf anwaltliche Vertretung verweigert. Videos auf den sozialen Medien zeigen, wie Personen mit deutlichen Missbrauchsspuren aus der U-Haft entlassen werden. Wie die chilenischen Carabineros schoss auch die argentinische Polizei mit Gummigeschossen auf Augenhöhe, mindestens drei Demonstrierende verloren dadurch die Sehkraft auf einem Auge.

Um sein Vorgehen zu rechtfertigen, veröffentlichte Morales auf seinem Twitter-Account interne juristische Dokumente, aus denen die Vorstrafen der Festgenommenen ersichtlich werden sollen. Zudem sollen Ausschreitungen und Plünderungen nach der Verabschiedung des Verfassungsentwurfes durch Sicherheitskräfte inszeniert worden seien. Nur gegenüber den Polizeikräften, die unrechtmäßig in die Universität von Jujuy eindrangen, kündigte Morales Konsequenzen an.

In einem Essay in der Onlinezeitung Revista Anfíbia weist die Anthropologin Rita Segato auf koloniale Kontinuitäten hin. Sie sieht in Morales’ Handeln eine Fortführung der Aneigungsbestrebungen, in der er selbst zum Kolonialherren wird. Und betont die Rolle der vor allem indigenen Frauen, die einen Kampf anführen, der nicht erst seit ein paar Monaten, sondern seit über 500 Jahren geführt wird.

Für den 20. Juli rufen Menschenrechtsorganisationen, Gewerkschaften, sowie Abgeordnete zu einer landesweiten Demonstration für Jujuy auf. Das Datum hat historischen Bezug: 1976, in Zeiten der Militärdiktatur, wurde in der Noche del Apagón (Nacht des Blackouts) ein Stromausfall provoziert, um unauffälliger Personen verschwinden lassen zu können. Trotzdem oder gerade deswegen wird kräftig für den 20. Juli mobilisiert. Das dritte Malón de Paz kündigte an, die Straßenblockaden aufrecht zu erhalten, bis die Verfassungsreform zurückgenommen wird und indigene Rechte respektiert werden. So hat Morales auf seinem rücksichtslosen Weg zur Ausbeutung des weißen Goldes ein weißes Feuer entfacht, das große Teile der Bevölkerung Jujuys im Kampf vereint.


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