Mexiko | Nummer 589/590 - Juli/August 2023

Der Süden lehnt sich auf

Vom indigenen Widerstand gegen den interozeanischen Korridor und den Tren Maya im Süden Mexikos

Im April zog die indigen organisierte Karawane „Der Süden widersteht“ auf den geplanten Strecken zweier Megaprojekte durch mehrere Bundesstaaten und machte auf Menschen-rechtsverletzungen und die verheerenden Folgen der Projekte aufmerksam.

Von Recherche-AG
(Foto: Victor Hübotter)

Nur wenige Meter von den jahrtausendealten Mayatempeln im mexikanischen Biosphärenreservat Calakmul entfernt entsteht ein riesiger Komplex für Tourist*innen. Das Sekretariat für Nationale Verteidigung schützt die Bauarbeiten und verwaltet das bis heute nicht genehmigte Projekt. 1989 wurde Calakmul zum Naturschutzgebiet, die Maya im Schatten der Pyramiden ihrer Ahnen wurden vertrieben. Dabei lebten diese im Einklang mit dem Wald. Das neue Massentourismushotel steht für das Gegenteil und die Reservatsbildung offenbart sich als kolonialer Landraub.

Dieser ist Teil einer „territorialen Neuordnung” im gesamten Südosten des Landes, den die aktuelle Regierung des Präsidenten López Obrador durch zwei Infrastrukturprojekte vorantreibt: Den „interozeanischen Korridor” im Isthmus von Tehuantepec und das seitens der Regierung als „Maya-Zug“ bezeichnete Projekt, das durch die gesamte Yucatánhalbinsel bis nach Chiapas führt. Die beiden Projekte sind miteinander verbunden und öffnen den gesamten Südosten Mexikos für einen „Fortschritt“, der nur Wenigen dient: Über die großen Häfen an beiden Ozeanen, die ausgebaut und gekoppelt werden, und neue Straßen, (Güter-) Zugstrecken und Flughäfen vernetzen sich große Industrieparks mit Fabriken und Raffinerien, Monokulturen und Energieparks, Massentourismus und -tierhaltung. Dort, wo dutzende indigene Gruppen bis heute einige der artenreichsten Ökosysteme der Welt schützen.

An einem Aprilmorgen dieses Jahres versammeln sich hunderte Menschen auf einem besetzten rancho bei Pijijiapan und brechen auf zur Karawane „Der Süden widersteht”: An der geplanten Strecke der beiden Megaprojekte entlang, durch die Bundesstaaten Chiapas, Oaxaca, Veracruz, Tabasco, Campeche, Yucatán und Quintana Roo, teilen sie ihren Schmerz über die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen – und die Hoffnung ihres Widerstands.

Den Fracking- und Gaspipelines stellt sich der Consejo Autónomo in El Progreso entgegen. In Oaxaca organisiert sich der Ort Puente Madera, um einen der fünf geplanten Industrieparks des interozeanischen Korridors zu stoppen, der den heiligen, ertragreichen cierro Pitayal in eine Asphalt- und Fabrikwüste verwandeln würde. Hunderte Menschen aus zahlreichen Gemeinden versammeln sich hier, um Erfahrungen und Strategien auszutauschen: gegen die Windparkanlagen, die der indigenen Bevölkerung in einem perfiden Beispiel des Kolonialismus im „grünen Kapitalismus“ ihr Land stehlen, um anschließend Billigstrom an die großen Fabriken der Textil- oder Lebensmittelindustrie zu liefern, während die Gemeinden kein Licht haben; zerstörerischen Bergbau; Pipelines; Monokulturen; die Zerstörung des Chimapala-Regenwaldes; wasserstehlende Staudämme und die Verschmutzung der letzten gesunden Flüsse, Seen und Meere.

Die kapitalistische Erschließung des Territoriums geht mit einer massiven Militarisierung und der extremen Zunahme organisierter Kriminalität einher, denn in den neuerschlossenen Gebieten spielen Drogen-, Menschen-, Waffen- und Tierhandel plötzlich eine Rolle. Beide Akteure gehen zudem mit entmenschlichender Brutalität gegen die Migrant*innen vor, die vor Leid und Zerstörung aus der Karibik, Süd- und Mittelamerika fliehen und dieses umkämpfte Gebiet zum größten Migrationskorridor der Welt machen. Für sie bedeuten die Großprojekte der Armee einen rassistischen Filter. Manche werden aufgehalten, andere eingesperrt, andere ermordet und wieder andere als Billigarbeitskräfte auf den Baustellen ausgebeutet, genauso wie die indigene Bevölkerung, die in den Hotels putzen soll, während man ihre Kultur den Tourist*innen tot in den alten Pyramiden präsentiert.

In Oteapan im Bundesstaat Veracruz wehren sich die Menschen gegen Minen, riesige Müllhalden, die Lager hochgiftiger Restbestände der Ölraffinerien auf ihrem Land, die Privatisierung ihres Wassers und weitere Industrieparks. In der Gemeinde El Bosque am Golf von Mexiko hat der Klimawandel das kleine Fischerdorf bereits verschluckt, doch der Widerstand der Menschen ist nicht untergegangen. Sie sind Zeug*innen der (Klima-)Ungerechtigkeit. Hier haben sie am wenigsten zum Anstieg des Meeresspiegels beigetragen, sind aber vor allen anderen die Opfer der in ihre ehemaligen Wohnzimmer, Schulen und Kirchen schwappenden Wellen. Wir reden von dem von Hurricanes und Überschwemmungen heimgesuchten Küstenabschnitt, an dem im Zuge des interozeanischen Korridors und des „Maya-Zugs“ neue Ölplattformen und Hotelanlagen im Meer oder wenige Meter vor dem Meer entstehen sollen.

„Wir steigen auf diesen Zug des Fortschritts nicht auf“

Der Südosten Mexikos ist begehrt als neuer Knotenpunkt der Weltwirtschaft: Die Deutsche Bahn, die sich selbst als „Deutschlands schnellster Klimaschützer“ bezeichnet, beteiligt sich am „Maya-Zug“. Der französische Konzern Alstom („Mobility by Nature“) baut die Wagons, Bundespräsident Steinmeier bittet um Flüssiggas, deutsche Konzerne beliefern die Raffinerien, kanadische Konzerne graben die Landschaft um, spanische Ingenieur*innen planen die Zerschneidung des Regenwaldes, italienische Konzerne bauen die Häfen aus, chinesische wie US-amerikanische Unternehmen verbinden die Strecken.

Die deutsche Bundesregierung und die Deutsche Bahn geben auf Nachfrage an, dass Bedenken bezüglich Umweltzerstörung und Menschenrechtsverletzungen im Falle des „Maya-Zugs“ aufgrund der Einbindung zahlreicher UN-Institutionen in das Projekt unbegründet seien. Doch genau jene Institutionen, unter ihnen das Hochkommissariat für Menschenrechte, kritisieren den „Maya-Zug“, insbesondere die mangelhafte Umsetzung der geforderten Konsultationen der indigenen Gemeinden.

Andere der angeführten UN-Abteilungen sind derweil in Korruptionsskandale verstrickt, da sie für Geld von der Umweltverträglichkeit des „Maya-Zugs“ sprechen. Sie sind mitverantwortlich für einen Ökozid. Die Megaprojekte bedrohen die letzten großen Regenwälder Amerikas, das zweitgrößte Korallenriff der Welt, die Mangroven und das größte Süßwasservorkommen des Landes – Territorien mit der höchsten Artenvielfalt Mexikos, dem Land mit der fünftgrößten Biodiversität des Planeten, Territorien, bewohnt und beschützt von indigenen Gemeinschaften, den Vorkämpfer*innen für Artenvielfalt und gegen die Klimakatastrophe.

Und diese wehren sich: „Wir steigen auf diesen Zug des Fortschritts nicht auf, weil wir wissen, dass seine Stationen Dekadenz, Krieg, Zerstörung und seine Endstation die Katastrophe sind“, verkünden Delegierte des nationalen indigenen Kongresses auf der Abschlusskundgebung der Karawane in Palenque, zurück in Chiapas, dort, wo der „Maya-Zug“ beginnen soll.

Die Katastrophe trifft viele dann, wenn sie sich gegen ebendiese aufzulehnen versuchen. Die Karawane hört vom unschuldig inhaftierten und gefolterten Zapatista Manuel Vasquez, der nun bereits seinen 21. und 22. Geburtstag im Gefängnis verbringen musste. Die Gesandten aus Guerrero berichteten von vierzig Ermordeten und zwanzig Verschwundenen in den letzten Jahren, während die indigenen Tzeltal aktuelle Folter und vergangene, unbestrafte Massaker verurteilen. Dutzende Teilnehmende des „Südens, der widersteht“ erhalten Morddrohungen oder werden mit ungerechtfertigten Haftbefehlen gesucht. Im Protestcamp „Tierra y Libertad“ gedachte die Karawane dem Mord an Bety Cariño und dem sie begleitenden Menschenrechtsbeobachter Jyri Jaakkola. Nur wenige Stunden nach diesem Besuch stürmten schwer bewaffnete und vermummte Einheiten von Militär, Nationalgarde und Polizei diesen Ort indigener Selbstverwaltung. Die Antwort auf die Schläge, Verwüstung und die Verschleppung von sechs compas war eine Welle der nationalen und internationalen Solidarität, die zur Freilassung der Festgenommenen führte.

Die Blockade des interozeanischen Korridors ist nicht nur Verteidigung gegen lokalen Landraub, Militarisierung und Umweltzerstörung. Es ist das Auflehnen gegen ein System, welches, den Abgrund bereits vor Augen, noch einmal schneller auf diesen zufährt. Es ist unsere Pflicht, als die, die im Schatten der verantwortlichen Konzernzentralen leben, Teil dieser Auflehnung zu sein, statt von Vereinigung von „Wohlstand und Klimaschutz“ oder „grünem Kapitalismus“ zu reden, während El Bosque (und Italien, und das Ahrtal…) im Wasser versinkt, anderswo das Wasser verschwindet, und diejenigen, die bereits jetzt ihre Lebensgrundlage verloren haben, im Wasser ermordet und sterben gelassen werden.

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