MACRI IM FREIEN FALL

Tägliches Rätselraten Wie viel ist der Dollar wert? (Schild vor einem Kiosk in Buenos aires am 20. August) // Foto: lavaca.org

„Was auch immer passiert, wer auch immer die Wahl gewinnt, die Herausforderung besteht darin, das Boot am 10. Dezember ins Dock zu bringen, nicht vorher oder nachher.“ Der Satz stammt von Argentiniens neuem Finanzminister Hernán Lacunza und die Frage ist, ob das Boot bis dahin nicht schon untergegangen ist. Erst seit dem 17. August ist Lacunza im Amt und sein Job hat es in sich: Er soll den neunten staatlichen Offenbarungseid in der Landesgeschichte seit der Unabhängigkeit 1816 abwenden. Ob dies gelingt, liegt in den Händen der Gläubiger*innen. Stimmen sie der von Lacunza Ende August vorgeschlagenen Stundung und Schuldenstreckung nicht zu, ist Argentinien pleite, wiewohl es mangels staatlichem Insolvenzrecht nicht pleite gehen kann und somit in die nächste unregulierte Staats- und Wirtschaftskrise abgleiten würde. Die Krise zur Jahreswende 2001/2002 ist vielen noch in Erinnerung, als mehr als die Hälfte der argentinischen Bevölkerung in die Armut abrutschte und auf den Straßen der politischen Klasse die Parole „Qué se vayan todos“ (Sie sollen alle abhauen) ertönte. Binnen weniger Monate gaben sich damals fünf Präsidenten und Interimspräsidenten die Klinke des Präsidentenpalastes Casa Rosada in die Hand. Erst ab der Regierungsübernahme von Néstor Kirchner im Frühjahr 2003 beruhigte sich die Lage wieder.
Die aktuelle Krise verschärfte sich Ende August, weil es Finanzminister Lacunza nicht gelang, auslaufende Staatsanleihen mit kurzer Laufzeit neu zu finanzieren und er deswegen längere Laufzeiten ins Spiel brachte. Das hoch verschuldete Land will sich damit finanziell Luft verschaffen. Es geht um Staatsanleihen bei privaten Investor*innen sowie um Kredite des Internationalen Währungsfonds (IWF) in der Höhe von insgesamt rund 100 Milliarden US-Dollar.

Bei der Krise 2001/2002 rutschte mehr als die Hälfte der Bevölkerung in die Armut ab


Der IWF lässt seinen Liebling, Argentiniens Präsidenten Mauricio Macri, jedoch nicht fallen. „Wir verstehen, dass die Regierung diesen Schritt gemacht hat, um für Liquidität zu sorgen und die Reserven zu schützen. Wir stehen in diesen herausfordernden Zeiten an der Seite von Argentinien“, kommentierte IWF-Sprecher Gerry Rice. Das Verständnis hat einen handfesten Grund: Der IWF hatte Argentinien 2018 einen Bereitschaftskredit in Rekordhöhe von 57 Milliarden Dollar gewährt, als die Landeswährung Peso stark an Wert verlor. Der Kurs war seinerzeit von etwa 20 Peso für einen Dollar auf mehr als 40 Peso gefallen. Die Regierung Macri setzte unter dem damaligen Finanzminister Nicolás Dujovne große Teile des IWF-Kredits für Stützungskäufe des Peso ein, konnte damit die Abwertung aber nur verlangsamen. Nach der klaren Niederlage von Macri bei den unverbindlichen Vorwahlen am 11. August, die aber ein wichtiger Stimmungsbarometer für die Präsidentschaftswahlen sind, geriet der Peso abermals unter Druck und wertete von 45 bis in der Spitze auf 60 Peso für den Dollar ab. Wie desaströs die wirtschaftliche Lage ist, illustrieren Inflationsrate und Zinssatz der Zentralbank. Die Geldentwertung liegt bei über 50 Prozent und Banken, die sich bei der Zentralbank frisches Geld beschaffen wollen, müssen dafür mehr als 70 Prozent Zinsen berappen.
Argentiniens Krise kommt mit Ansage. Wie schon die Schergen der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 wollte der neoliberale Präsident Macri nach Amtsantritt im Dezember 2015 mittels Deregulierung und Auslandsverschuldung Wachstum generieren – erfolglos. Die Freigabe des Wechselkurses, die Aufhebung der Agrarexportbesteuerung, beziehungsweise die Senkung dieser beim Soja-Export, die Abschaffung der Steuern auf den Bergbau: Die von Macri versprochene Flut an Neuinvestitionen blieb aus. Und zu allem Überfluss hielt sich Macri nicht einmal an die Vorgabe der Defizitreduzierung, die mit der Deregulierung und der Privatisierung den Dreiklang der neoliberalen Entwicklungsblaupause des sogenannten Konsens von Washington bildet.

Alberto Fernández strahlender Sieger der Vorwahlen // Foto: Santiago Sito via flickr.com CC BY-NC-ND 2.0

Stattdessen schlug das sogenannte Zwillingsdefizit ins Kontor: 2018 überstiegen Argentiniens Haushalts- und Leistungsbilanzdefizit jeweils 5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). In der darauf folgenden Wirtschafts- und Finanzkrise stieg die Staatsverschuldung steil auf fast 90 Prozent des BIP an. Das sind 334 Milliarden US-Dollar. Drei Viertel der Ausstände sind in ausländischen Währungen denominiert, rund 100 Milliarden US-Dollar hat allein die Regierung Macri an neuen Auslandsschulden aufgenommen. Die Zinsen und Tilgungsraten müssen dafür über Überschüsse im Außenhandel erwirtschaftet werden. Gelingt das wie derzeit nicht, muss das Loch durch neue Kredite gestopft werden, womit wieder der Verschuldungsgrad steigt. Ein Ausdruck davon ist der Wertverfall des Pesos. Er brach im Sommer 2018 infolge der sich beschleunigenden Kapitalflucht ein, und die Inflation schoss in die Höhe. Es war Macris Geschäftsfreund Donald Trump, der den IWF zum Eingreifen aufforderte und bei IWF-Chefin Christine Lagarde auf aktive Unterstützung traf. Von den 57 Milliarden Dollar sind schon 80 Prozent ausbezahlt worden.
Dennoch gehen Argentiniens Regierung die Devisen aus. Deswegen hat die Regierung Macri am 1. September, einem Sonntag, ein Dekret veröffentlicht, wonach große Exporteure künftig eine Erlaubnis der Notenbank für den Kauf von Fremdwährungen und zur Überweisung von Devisen ins Ausland einholen müssen. Für Privatpersonen, die die US-Währung erwerben wollen, gilt künftig eine monatliche Obergrenze von 10.000 Dollar (rund 9.100 Euro). Damit hat Macri einen drastischen Kurswechsel vollzogen. 2015 hatte er versprochen, die „von der Vorgängerregierung bevorzugten Kontrollen aufzugeben.“ Jetzt heißt es in dem Dekret, die Maßnahmen seien nötig, um „den Devisenhandel intensiver zu regulieren und das normale Funktionieren der Wirtschaft zu stärken“.

Rette seine Einlagen, wer kann, lautet mal wieder das Motto


Kurz vor dem Dekret hatten alle drei großen Ratingagenturen die Bonitätsnote Argentiniens auf ein Niveau gesenkt, das nur noch knapp über Zahlungsausfall, also der schlechtesten Einschätzung liegt. Vor dem Wochenende stufte die US-amerikanische Kreditratingagentur Standard&Poor’s das Land auf „selektiven Zahlungsausfall“ zurück. Auch Moody’s und Fitch senkten ihre Bewertungen auf ein vergleichbares Niveau.
Das Dekret ist der zweite Kurswechsel seit den verlorenen Vorwahlen am 11. August. Da hatten die Wähler*innen Präsident Macri durch ihr Votum mit fast 16 Prozentpunkten Vorsprung für das oppositionelle Mitte-links-Bündnis von Alberto Fernández und Cristina Kirchner klargemacht, wie wenig sie von den Ergebnissen seiner Wirtschaftspolitik halten: Unternehmen gehen reihenweise Konkurs, es gibt Massenentlassungen, der Peso hat im Vergleich zum Dollar in nur einem Jahr die Hälfte an Wert verloren, und ein Drittel der Argentinier*innen lebt unter der Armutsgrenze.
Nur wenige Tage nach der Vorwahlschlappe verkündete Macri eine Reihe finanzieller Maßnahmen, die er Präsidentin Kirchner immer vorgeworfen hatte. Er versprach unter anderem eine Erhöhung des Mindestlohns, setzte die Mehrwertsteuer für Lebensmittel aus, kündigte günstigere Kredite für kleine Unternehmen an und setzte die Kraftstoffpreise für 90 Tage fest.
Macris Maßnahmen kommen für eine Wiederwahl am 27. Oktober oder einen Erfolg bei einer möglichen Stichwahl mit ziemlicher Sicherheit zu spät. Zumal sie nicht verfangen. Am Montag nach der Verkündung der Kapitalverkehrskontrollen standen in der Hauptstadt Buenos Aires viele Menschen vor den Banken an, um ihre Einlagen abzuheben. Rette seine Einlagen, wer kann, lautet mal wieder das Motto in Argentinien. Allein seit dem 11. August haben die Argentinier*innen Dollaranlagen in Höhe von rund vier Milliarden Dollar von den Banken abgezogen. Auf 75 Milliarden Dollar wird die Kapitalflucht unter Macri beziffert.
Der Oppositionskandidat Alberto Fernández gilt nun als klarer Favorit, um Macri ab dem 10. Dezember im Präsidentenamt zu beerben. Hinterlassen wird Macri ihm auch die Rückzahlung des IWF-Kredits. Die erste Tranche wird erst 2020 fällig. Nicht weniger als 34 Milliarden Dollar muss das Land dann zurückzahlen. Fernández hat mehrfach erklärt, dass die Schulden neu verhandelt werden müssen. Denn sonst werden erneut die Armen und die Mittelschicht die Zeche zahlen. Dass sie darauf nicht untätig warten, zeichnet sich ab. Am 4. September gingen Zehntausende Argentinier*innen in der Hauptstadt Buenos Aires auf die Straße. Die Demonstrant*innen forderten höhere Mindestlöhne sowie Lebensmittelhilfen für Arme. Und einige davon sind gekommen, um zu bleiben. Sie haben auf der Prachtstraße 9 de Julio im Stadtzentrum vor dem Ministerium für soziale Angelegenheiten ihre Zelte aufgestellt, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Sie fordern mehr Sozialprogramme und niedrigere Preise für Grundnahrungsmittel. Sie wollen bleiben bis ihre Forderungen erfüllt werden – von welcher Regierung auch immer.

 

„BÜCHER JA, WAFFEN NEIN“

João Paulo da Silva „Ich bin der erste meiner Familie, der auf eine staatliche Universität geht und ich werde dafür kämpfen, nicht der letzte zu sein!“ // Foto: Beatriz Mota
In ein paar Tagen wird Julia De Souza Rodrigues auf eine Konferenz nach Italien fahren, doch bis dahin wird die Neurowissenschaftlerin weiter protestieren. Souza Rodrigues forscht für ihre Doktorarbeit an der Bundes-Universität UFABC im Süden von São Paulo zu dem Zusammenhang von muskulärer und neuronaler Aktivität. Möglich macht das auch ein Stipendium, das sie aus öffentlichen Geldern für vier Jahre erhält. Souza Rodrigues hat einen wissenschaftlichen Schnellstart hingelegt, sie ist erst 21 Jahre alt. Inzwischen hat sich auch Harvard bei ihr gemeldet und sie eingeladen. Es ist nicht so, dass es unter den linken Vorgängerregierungen keine Kürzungen gegeben hätte, sagt sie, „aber der große Unterschied sind die Rechtfertigungen. Unter Dilma hieß es, wir haben kein Geld, aber in keinem Augenblick wurden wir derartig angegriffen. Heute sehen wir, dass die Regierung die Leute nicht respektiert, die das Beste für ihr Land wollen“. Für Bildung und gegen die Regierung demonstrieren gehört für sie in diesen Tagen unbedingt zusammen.

„Er hat Geld für die Milizen, aber nicht für Bildung“

„Raus Bolsonaro!“, das steht wie ein einstimmiges Fazit auf den Bannern, schallt durch die Reihen der Protestierenden und findet immer wieder zustimmende Antworten von den Balkons der angrenzenden Hochhäuser und im Hupen vorbeifahrender Autos. Die Studierenden rufen „Er hat Geld für die Milizen, aber nicht für Bildung“ oder fordern „Bücher ja, Waffen nein“. Am 15. Mai haben sie schließlich die gesamte Avenida Paulista besetzt, die größte und wichtigste Straße in São Paulo. Gewerkschaften, Parteien und Studierendenvereinigungen hatten landesweit zum Nationalstreik an Universitäten aufgerufen, mehr als 1,5 Millionen Menschen sollen es am Ende gewesen sein, in über 170 Städten. Offizielle Zahlen der Polizei gibt es nicht.

Protest der philosophischen Fakultäten am 3. Mai 2019  // Foto: Lisa Pausch

Die Schwarzen-Bewegung hat die Quotenregelung erreicht, aber ohne passende Politiken können wir nicht an den Unis bleiben

Es ist die erste große Protestwelle seit dem Amtsantritt des rechtsextremen Jair Bolsonaro. Ende April nahm sie Fahrt auf, auch als Folge von fliegenden Personalwechseln und zweifelhaften Aussagen des Bildungsministers.
Abraham Weintraub, Ökonom mit Erfahrung im Finanzsektor, ist selbst erst seit Anfang April im Amt. Sein Vorgänger, Ricardo Vélez Rodríguez, hatte kurz vor seiner Entlassung in einem Interview gesagt, es habe 1964 keinen Putsch gegeben, „sondern einen souveränen Beschluss der brasilianischen Gesellschaft“ und er wolle entsprechende Änderungen in Lehrbüchern vornehmen. Dass er ein paar Tage später entlassen wurde, hing eher mit internen Streitigkeiten zusammen als mit inhaltlichen Unstimmigkeiten. Wie auch Vélez Rodríguez hat es sich sein Nachfolger Weintraub auf die Fahnen geschrieben, Universitäten von einem vermeintlichen „Kulturmarxismus“ zu befreien. Eine Regierungsmaxime ganz im Sinne von Bolsonaros Guru, dem rechten Philosophen Olavo de Carvalho, nach dem das größte Problem Brasiliens der „Kulturmarxismus“ sei, der von den Linken in allen Sektoren der Gesellschaft verbreitet werde.
Nachdem der Kampf gegen die Kulturszene schon im März rhetorische Auswüchse in sozialen Netzwerken getrieben hatte, folgte am 24. April eine Ankündigung Jair Bolsonaros auf Twitter. Ausgaben für Soziologie und Philosophie sollten gekürzt werden, hieß es da, man werde sich auf andere Bereiche konzentrieren, die einen „direkten Nutzen für den Steuerzahler“ hätten, wie „Ingenieurswissenschaften und Medizin“.
Am 29. April legte Caroline de Toni, Abgeordnete der Regierungspartei, einen Gesetzesentwurf vor, der vorsieht, Paulo Freire den Titel als „Patron der brasilianischen Bildung“ zu entziehen. Dieser war ihm unter der linksgerichteten Regierung von Dilma Rousseff 2012 zuerkannt worden. „Paulo Freire war Marxist und er hat sich mehr um Politik gekümmert“, erklärte de Toni. Die Abgeordnete gehört mit zu den Carvalho-Anhängern und ist Verteidigerin der Initiative „Escola Sem Partido“ (Schule ohne Partei), deren Ziel es ist, gegen die linke „Indoktrination“ von Schüler*innen vorzugehen. Der brasilianische Pädagoge und Philosoph Paulo Freire (1921-1997) wurde für sein Werk Die Pädagogik der Unterdrückten weltweit rezipiert, seine Schriften sind Teil des Weltdokumentenerbes der UNESCO.
Am 30. April kündigte das Bildungsministerium (MEC) an, zunächst 30 Prozent der Budgets an den bundesstaatlichen Universitäten UFBA (Bahia), UFF (Rio de Janeiro) und UnB (Brasília) zu streichen, mit der Begründung, sie hätten die Erwartungen an ihre akademische Arbeit nicht erfüllt, stattdessen verursachten die Studierenden „Durcheinander“ und „lächerliche Veranstaltungen“. Bildungsminister Weintraub nannte als Beispiel für diesen „Radau“ etwa „Ohne-Land- Aktivisten“ und „nackte Menschen“ auf dem Campus, ohne diese Angaben genauer zu spezifizieren. Inzwischen geht die regierungsunabhängige Bundesstaatsanwaltschaft juristisch gegen Weintraub vor und fordert eine Entschädigung über eine Million Euro als „kollektiven Moralschaden“. Nach heftiger Kritik wurde diese Kürzung auf alle bundesstaatlichen Universitäten ausgeweitet.
Gabriel Dias, 19, ist Geschichtsstudent an der bundesstaatlichen Universität UNIFESP in São Paulo. Er hatte bereits am 3. Mai den ersten Protest der philosophischen Fakultäten organisiert. An dem Tag waren etwa 200 Studierende in São Paulo auf der Straße. „Die UNIFESP hatte historisch gesehen schon immer ein Profil von vielen Schwarzen Studierenden und jenen aus der Arbeiterklasse“, betonte er, „Wir leiden am meisten unter dem Angriff auf die Maßnahmen, die uns den Verbleib an der Uni überhaupt ermöglichen. Die Schwarzen-Bewegung hat die Quotenregelung erreicht, aber ohne passende Politiken können wir nicht an den Unis bleiben.“

Brachiale Polizeipräsenz Bildungsprotest in São Paulo am 23. Mai // Foto: Lisa Pausch

In einem ersten Schritt hatte die Regierung zu verstehen gegeben, 30 Prozent aller Gelder für bundesstaatliche Universitäten einzufrieren, später revidierte sie diese Aussage, es gehe um die „nicht-obligatorischen“ Zahlungen und das auch nur „vorübergehend“. Sollte die Rentenreform durchgehen, so Weintraub, könnten auch die Zahlungen für die Bildung wieder freigegeben werden. Mehrere Gruppen sprachen sich auf den Bildungsprotesten ausdrücklich auch gegen die Rentenreform aus.
Hintergrund der Einsparungen ist auch ein Haushaltsdefizit von über 139 Milliarden Reais (derzeit umgerechnet 31 Milliarden Euro). Das Bildungsministerium soll dabei auf umgerechnet rund 1,7 Milliarden Euro seiner insgesamt bewilligten 34 Milliarden. Euro verzichten. Für die bundesstaatlichen Unis bedeutet das: Von den bewilligten 11,5 Milliarden Euro für die bundesstaatlichen Universitäten sollen 3,5 Prozent wegfallen, also mehr als 400 Millionen Euro. Das klingt wenig, bedeutet in der Praxis aber rund 30 Prozent weniger für all die Kostenpunkte, die nicht auf Löhne oder Renten entfallen. Allein die Personalkosten verschlingen mit umgerechnet 9,6 Milliarden. Euro mehr als 85 Prozent der Gesamtkosten an diesen Unis. Unter diese sogenannten nicht-obligatorischen Kosten fallen Neubauten, Renovierungen oder auch die Ausstattung für Labore, laufende Kosten für Wasser, Gas, Strom, Reinigungs- und Sicherheitspersonal, Mensen, Transport, Lehrmittel und vor allem Stipendien- und Projektmittel. Der Einschnitt ist an den Universitäten unterschiedlich, beläuft sich an den Universitäten im Süden der Bahia und Mato Grosso do Sul aber auf über 50 Prozent.
Ricardo Fonseca, Rektor der bundesstaatlichen Universität UFPR in Curitiba warnte vor einer Schließung der Universität, sollten die Kürzungen weiter bestehen bleiben. „Zu diesem Zeitpunkt werden sie die Aktivitäten im zweiten Semester unmöglich machen“. Die UFRJ in Rio de Janeiro beklagte, bereits jetzt mit einem Defizit von 170 Millionen Reais haushalten zu müssen, eine Folge vorheriger Kürzungen.
Gerade Stipendien haben es in den letzten Jahren Teilen der marginalisierten Bevölkerung erleichtert, Zugang zu höherer Bildung zu bekommen. Das bundesstaatliche Gesetz N.12711 wurde 2012 beschlossen, demnach müssen mindestens 50 Prozent der Studienplätze an Schüler*innen aus öffentlichen Schulen vergeben werden. Diese sind in Brasilien dafür bekannt, zwar kostenlos aber nur unzureichend auf die Aufnahmeprüfungen der Unis vorzubereiten. Dementsprechend niedrig war die Quote der Schüler*innen aus öffentlichen Schulen vor allem an den Exzellenzuniversitäten. Das Gesetz regelt auch die Quoten für Schwarze Menschen, People of Color (PoC) und Indigene, sie orientieren sich an dem jeweiligen Bevölkerungsanteil in den Bundesstaaten. Nach Angaben des nationalen Bildungsforschungsinstituts INEP sind in den ersten drei Jahren nach Gesetzesbeschluss die Zahlen der angenommenen Absolvent*innen aus öffentlichen Schulen von knapp 29.000 auf über 78.000 gestiegen, die Zahl der Studierenden, die sich als Schwarze oder PoC identifizieren, von knapp einer auf über zwei Millionen.
Parallel zu den Nachrichten aus dem Bildungsministerium stellten die Abgeordneten der Regierungspartei PSL Rodrigo Amorim in Rio de Janeiro und die Lehrerin Dayane Pimentel im Bundesstaat Bahia Gesetzesentwürfe vor, die das Quotensystem an den Universitäten beenden sollen.
Auch vor diesem Hintergrund kann das Foto des 20-jährigen João Paulo da Silva als ein Symbol gesehen werden. Die Journalistin Beatriz Mota fotografierte den Studenten während der Proteste am 15. Mai in Rio, er blickt entschlossen in die Kamera, auf seinem Schild steht: „Ich bin der erste meiner Familie, der auf eine staatliche Universität geht und ich werde dafür kämpfen, nicht der letzte zu sein!“ Sein Foto wird auf Facebook tausendfach geteilt. Er selbst habe nicht mit dieser Verbreitung gerechnet, schreibt da Silva später auf Twitter und: „Ein junger lebender Schwarzer Studierender in einer Zeitung, das ist, was zählt, nicht nur weil ich das bin. Zwischen all den Todesnachrichten über unsere Leute, glaube ich, ist das eine andere Schlagzeile.“
Präsident Jair Bolsonaro ist während der Proteste außer Landes auf Staatsbesuch in den USA. Die Proteste seien Werk von „nützlichen Idioten“, die nicht einmal die Formel von Wasser kannten, weiß er aus der Ferne zu kommentieren, „Schwachköpfe, die als Manövriermasse einer kleinen Gruppe von Schlaumeiern dienen, die den Kern unserer Bundesuniversitäten in Brasilien ausmachen“. Ein paar Tage später kündigte die Regierung an, rund 20 Prozent der Kürzungen zurückzunehmen – ob aus Angst vor weiteren Protesten, bleibt unklar.
Angesichts der zweiten großen Proteste am 30. Mai, teilte das Bildungsministerium mit, es sei Lehrer*innen, Mitarbeiter*innen, Schüler*innen und Eltern „nicht erlaubt, während der Unterrichtszeit Proteste zu verbreiten und anzuregen“. Minister Weintraub ermutigte in einer Videobotschaft dazu, entsprechende Personen direkt auf der Website des Ministeriums anzuzeigen.

NICHT MEHR ZU STOPPEN


Grüne Flut Demonstration am 28. Mai in Buenos Aires // Foto: Inés Ripari

Trommelwirbel und Sprechgesänge schallen durch das Zentrum von Buenos Aires. Wo sonst Busse und Autos fahren, werden Infozelte und Essensstände aufgebaut. Es ist ein sonniger Herbstnachmittag und der Strom an Menschen, die ein grünes Tuch um den Hals oder ans Handgelenk gebunden tragen und auf den Vorplatz des Kongresses ziehen, bricht über Stunden nicht ab. Grün, das ist die Farbe der argentinischen Kampagne zur Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen. Und diese hat am 28. Mai zu einer erneuten „Marea Verde“, einer „grünen Flut“ im ganzen Land aufgerufen.

Es sind vor allem Schüler*innen, junge Frauen und Queers, die den Platz an diesem Dienstagnachmittag einnehmen. Das grüne Glitzer ist zurück auf den Wangen und Augenlidern. Sie wirken entschlossen. Man merkt, dass sie mit der feministischen Bewegung der letzten Jahre groß geworden sind. Chiara ist 15 Jahre alt und mit ihren Schulfreund*innen da, über mehrere Stunden performen sie ausgefeilte Choreografien zu selbstgetexteten Demoliedern. In einer kurzen Pause erzählt sie: „Wir haben kaum Sexualkundeunterricht an unserer Schule, obwohl es seit 2006 ein gesetzliches Recht auf eine integrale Sexualerziehung gibt. Die Aufklärungsworkshops, die alle paar Monate stattfinden, sind grottenschlecht. Also haben wir angefangen, uns selbst zu organisieren, Versammlungen in der Schule abzuhalten und uns gegenseitig zum Thema Abtreibung zu informieren. Das Recht auf Sexualerziehung und auf Abtreibungen gehört für uns zusammen.“

„Macri Ciao, Macri Ciao, Macri Ciao Ciao Ciao“

Während Chiara spricht, stimmen ihre Freund*innen den nächsten Song an: Ein Bella Ciao-Cover auf argentinisch. Sie schleudern ihre grünen Halstücher in die Höhe und rufen dabei gen Kongress „Macri Ciao, Macri Ciao, Macri Ciao Ciao Ciao.“ Dass im Oktober gewählt wird und dass die Sparpolitik des Präsidenten Macri nicht mehr auszuhalten ist, ist seit Monaten allgegenwärtiges Thema bei den feministischen Mobilisierungen. „Alles was Macri macht, ist einfach nur schlecht.“, findet Chiara. „Wir fordern kostenlose Abtreibung in allen staatlichen Krankenhäusern und er schafft erstmal das Gesundheitsministerium ab. Das ist doch ein Witz.“ Im September letzten Jahres, nach einem rasanten Anstieg des Dollarpreises, hatte Macri sein Kabinett von 19 Ministerien auf 10 zusammengeschrumpft. Dabei wurde aus dem vorher eigenständigen Gesundheitsministerium ein Se­kretariat innerhalb des neugegründeten Ministeriums für Gesundheit und soziale Entwicklung. Mehrere Ministerien in einem bedeutet weniger Ressourcen für die einzelnen Bereiche. Diese Voraussetzungen erschweren die Umsetzung des aktuellen Gesetzesvorschlags.

”Wir trans Männer treiben auch ab” Federico auf einer Demo

Im Kern hat sich an den Forderungen seit 2005 wenig verändert. Diese lauten: Legale, kostenlose und sichere Abtreibung bis zur 14. Schwangerschaftswoche, im Fall einer Vergewaltigung sowie wenn die Gesundheit oder das Leben der schwangeren Person bedroht sind, auch nach der 14. Woche. Es sollen Beratungsstellen im ganzen Land eingerichtet werden. Diese aufzusuchen, soll aber freiwillig bleiben. Ein Abbruch soll innerhalb von fünf Tagen in jedem öffentlichen Krankenhaus möglich sein. Veränderungen gab es bei der Inklusivität des Entwurfs. Abtreibungen sollen für alle Menschen, unabhängig vom Aufenthaltsstatus, zugänglich sein. Außerdem ist nicht mehr nur von Frauen die Rede, sondern von allen gebärfähigen Personen. „Dadurch, dass insgesamt mehr öffentlich über Abtreibungen gesprochen wurde, wurde ein Bewusstsein dafür geschaffen, dass nicht nur cis-Frauen abtreiben, sondern auch Menschen mit anderen Genderidentitäten, zum Beispiel wir Trans und Nonbinaries“, erklärt der 17-jährige Federico, der auch schon 2018 bei den Mobilisierungen dabei war. Auf die Frage, warum er für die Legalisierung von Abtreibung auf die Straße geht, antwortet Federico: „Das Grundrecht, selbst über unsere Körper zu bestimmen, ist uns der Staat seit dem Ende der Diktatur in Argentinien noch schuldig. Für uns war die Demokratie nie eine richtige Demokratie, denn unsere Identität, unsere Körper, unsere Lebens­weisen werden unterdrückt. Wir wollen selbst über unsere Lebensentwürfe und Familienplanung entscheiden können.“

Obwohl Schwangerschaftsabbrüche in Argentinien momentan unter den drei Umständen der Bedrohung der Gesundheit beziehungsweise des Lebens der schwangeren Person oder nach einer Vergewaltigung bereits legal sind, gibt es täglich Fälle, in denen Ärzt*innen oder ganze Krankenhäuser Schwangeren ihr Recht auf eine Abtreibung verweigern. Viele Schwangere suchen daher erst gar kein Krankenhaus auf, um sich nicht mit der Situation von Schuldzuweisung und Stigmatisierung konfrontieren zu müssen. „Etwa 500.000 klandestine Schwangerschaftsabbrüche finden pro Jahr in Argentinien statt“, beschreibt Victoria Tesoriero, Dozentin für Soziologie und Aktivistin der Kampagne, die Situation. „In den letzten Jahren sind daher feministische Netzwerke und Beratungsstellen entstanden, die Abtreibungen mit Misotropol-Tabletten begleiten. Diese finden zu Hause statt. Aber diese Informationen kommen nicht bei allen Schwangeren an. Es gibt eine riesige Kluft zwischen Buenos Aires und den restlichen Provinzen was den Zugang zu medizinischer Grundversorgung betrifft. Das Risiko, an einer klandestinen Abtreibung zu sterben, hängt davon ab, in welcher Provinz und in welcher sozialen Klasse man geboren wird. 2018 sind 33 Frauen bei klandestinen Abtreibungen umgekommen, in den Jahren zuvor noch viel mehr.“ Sie hat selbst mit 15 abgetrieben. „Meine gesamte Familie hat damals Geld zusammengelegt, damit ich in eine Klinik gehen konnte. Mein Vater dachte, ich würde sterben. Viele Jahre lang habe ich nicht darüber geredet. Gegen Ende meiner Schulzeit fing ich dann an, mich in Frauenorganisationen zu engagieren, ich fuhr zum ersten Mal zum Nationalen Frauentreffen und lernte dort die Aktivist*innen der Kampagne kennen und schloss mich der Gruppe an. Das war vor elf Jahren.“

Vom Geschehen auf dem Platz bekommt Victoria diesmal nur über die Whatsapp-Nachrichten etwas mit, die sie immer wieder drinnen im Kongress erreichen. Sie ist Teil der Delegation der Kampagne, die die Pressekonferenz im Abgeordnetenhaus hält. Diese wird per Livestream auf einem Bildschirm draußen übertragen. Es ist bereits dunkel, als der letzte der 20 Punkte des Gesetzesentwurfs verlesen wird. Die Vertreter*innen der Kampagne drinnen wie die Menschen auf der Straße brechen in Jubel aus. Immer wieder werden Erinnerungen an die Demos des letzten Jahres geteilt, wie kalt es im Juni bei der Debatte im Abgeordnetenhaus war, wie sie unter mitgebrachten Decken zusammenrückten und Wein zum Aufwärmen tranken. Wie unangenehm der Regen bei der Senatsdebatte im August war, wie still es wurde, als die Entscheidung des Nein die Runde machte, wie fassungslos alle waren. Es klingt, als seien diese kollektiven Momente im Kampf um reproduktive Rechte Schlüsselereignisse dieser Generation argentinischer Frauen und Queers. Alle sind sich sicher, dass das Gesetz durchkommt. Wenn nicht dieses Jahr, dann spätestens im nächsten.

“Unser Hauptziel ist es gerade, Einfluss auf den Wahlkampf zu nehmen und Druck aufzubauen”


„Zu einer Abstimmung über das Gesetz kommt es wahrscheinlich erst nach den Wahlen. Unser Hauptziel ist es gerade, Einfluss auf den Wahlkampf zu nehmen und Druck aufzubauen. Die Kandidat*innen und Parteien sollen öffentlich Stellung nehmen, wie sie zum Thema Abtreibungslegalisierung stehen“, erklärt Victoria nach der Pressekonferenz. Noch am Dienstag unterschreiben 70 von 257 Abgeordneten den Gesetzesentwurf. Eine Umfrage der Kampagne hat 2018 ergeben, dass 70 Prozent der Argentinier*innen für die Legalisierung von Abtreibungen sind. Ersten Schätzungen zu Folge sind es 500.000 Menschen, die am Dienstag an über 100 Orten in Argentinien auf der Straße sind. In den sozialen Netzwerken zirkulieren Fotos von Kundgebungen aus der ganzen Welt, stets mit einem Meer aus grünen Pañuelos. Über das Ausmaß der Demonstrationen zeigt sich Victoria überrascht. „Es war ja ‚nur‘ die Präsentation des Gesetzesentwurfs. Wie wird das erst, wenn tatsächlich abgestimmt wird? Diese Bewegung ist nicht mehr zu stoppen.“

Als der offizielle Akt vorbei ist, stehen in den Straßen des Kongressviertels schon die Grills bereit. Es gibt Bier und Musik und der Geruch nach Grillfeuer mischt sich mit dem Rauch grüner Bengalos, die immer wieder gezündet werden. Um kurz vor Mitternacht leert sich der Platz, denn für den 29. Mai ist ein Generalstreik angesagt und der öffentliche Verkehr steht für 24 Stunden still. Doch schon bald sollten sie alle zurückkommen. Das feministische Kollektiv Ni Una Menos hat für den 3. Juni zum fünften Mal zur jährlichen Großdemo ausgerufen.

 

FRIEDEN RÜCKT IN WEITE FERNE

Der Druck auf die Regierung von Präsident Iván Duque wächst. Bäuer*innenverbände, Gewerkschaften und andere zivilgesellschaftliche Organisationen hatten am 25. April zu einem Generalstreik aufgerufen. Die Protestaktionen richten sich gegen den nationalen Entwicklungsplan der Regierung Duque, der Tage später, am 3. Mai, dennoch vom Senat bewilligt wurde. Tausende Menschen versammelten sich auf dem Bolívar-Platz im Herzen Bogotás, wo es zu Zusammenstößen mit der Polizei kam. Elf Menschen wurden verletzt, 33 verhaftet. Die Arbeit von Journalist*innen wurde von Einheiten der mobilen Aufstandsbekämpfungseinheit (ESMAD) behindert. Zwei Fotografen der kolumbia­nischen Presseagenturen Colprensa und Efe wurden von der ESMAD angegriffen.
Während die politischen Vorhaben der rechtskonservativen Regierungspartei CD das Land weiter polarisieren, rückt der Frieden in weite Ferne. Der Nationale Entwicklungsplan, ein Fahrplan der Regierung für die nächsten vier Jahre, hat zum Ziel, soziale Ungleichheiten unternehmerisch zu bekämpfen. Doch der als „Pakt für Kolumbien, Pakt für Gerechtigkeit“ getaufte Plan erinnert an die Politik des Ex-Präsidenten Álvaro Uribe Vélez und sät große Zweifel an der Bereitschaft der jetzigen Regierung, das Friedensabkommen mit den entwaffneten Revolutionären Streitkräften Kolumbiens (FARC) umzusetzen.

Wie kann Frieden hergestellt werden, wenn anstatt in Bildung in Verteidigung investiert wird?

So wie damals unter Uribe werden im Fahrplan der Regierung Duque Probleme wie Auslandsverschuldung, Ankurbelung von Wirtschaftswachstum und Fragen der Sicherheit in den Vorder­grund gestellt. Doch wie kann Frieden hergestellt werden, wenn in die Agrarindustrie anstatt in die kleinbäuerliche Landwirtschaft, wenn anstatt in Bildung in Verteidigung investiert wird?
Mit den Studierendenprotesten Ende vergangenen Jahres wurde die vielschichtige Krise in den Bildungsinstitutionen angeprangert, die jedoch mit dem Entwicklungsplan nicht gelöst wird. Darin werden sieben sehr allgemeine Ziele für Bildung genannt, aber „der Plan vermeidet eine tiefere Diskussion über das Hauptproblem im Bildungssektor – die Unterfinanzierung“ so Politikwissenschaftler Ángel Pérez im Wirtschafts­magazin Dinero. Auch im neuen Entwicklungs­plan sind den Zielen keine Finanzierungen zugeordnet. Es wird befürchtet, dass Schulen und Universitäten privatisiert werden, was die Wut der Studierenden weiter wachsen lässt. Auf den Demonstrationen am 25. April forderten die Studierenden, dass die Regierung sich an Abkommen hält, die im Dezember 2018 nach einem 65-tägigen Streik der Studierenden ausgehandelt worden waren. Vergeblich warten sie noch auf die 1,34 Millarden Pesos, die den öffentlichen Hochschulen zur Verfügung gestellt werden sollten.
Die sogenannte economía naranja, wie Präsident Duque die kolumbianische Kreativindustrie nennt, wird im Entwicklungsplan besonders hervorgehoben und zielt auf einen kulturellen Wandel in Kolumbien. Die „orangene Wirtschaft“ will Projekte von Kreativen und Tourismus fördern. Mit Krediten und Steuervergünstigungen sollen bildende Künste, Musikszene und Filmproduktion gestärkt werden. Auch soll in kulturelle Einrichtungen und in Schulbücher investiert werden. Was sich jedoch als Fortschritt anhört, entpuppt sich als widersprüchlich. Denn vor allem sollte Kunst und Kultur für die Menschen mit niedrigem Einkommen zugänglicher werden, es ist aber, „als ob nur die Leute der höheren Klasse ein Recht auf Unterhaltung hätten“, sagte der Unternehmer und Konzertveranstalter Ricardo Leyva gegenüber dem Kulturmagazin Arcadia im vergangenen November. Denn mit dem Finanzierungsgesetz der Regierung Duque (siehe LN 533) wurde unter anderem die Steuer auf Internet, Bücher und Konzertkarten erhöht.
Der Fokus des nationalen Entwicklungsplans auf die economía naranja bedeutet nicht, dass der Rohstoffsektor seine Stellung als Antriebskraft der kolumbianischen Wirtschaft verlieren wird. Elf Prozent der im Plan vorgesehenen Gelder sollen dem Ministerium für Bergbau und Energie zugute kommen. Auch Fracking wurde durch das Unterhaus in den Entwicklungsplan aufgenommen, noch muss der Senat entscheiden, ob die umstrittene Methode für Gasgewinnung in Kolumbien angewendet wird. Zurzeit laufen drei Fracking-Pilotprojekte in Kolumbien.

Die Regierung verpasst die Chance, die ländliche Entwicklung voranzutreiben

Für Kleinbauern und -bäuerinnen dürfte vor allem der kleine Etat für sie ein Dorn im Auge sein.
Das Budget für den Agrarsektor fällt dagegen klein aus. Zwei Prozent der Gelder sind für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung vorgesehen, was in Zeiten des Post-Konflikts den Kleinbauern und -bäuerinnen ein Dorn im Auge sein dürfte. „Der nationale Entwicklungsplan zeigt, dass der Landverteilung, der Gesundheit, der Bildung in ländlichen Regionen, der Stromversorgung und weiterer nötigen Infrastruktur für die Verbesserung unserer Produktivität die Finanzierung entzogen wird“ schreibt Andrés Gil, Präsident von ANZORC, einer nationalen Vereinigung von Organisationen von Kleinbäuer*innen, in der Zeitung El Espectador.
Für den Landwirtschaftsminister Andrés Valencia sind Kritik und Proteste nicht gerechtfertigt. Im Interview mit dem Online Portal Agronegocios behauptet er, dass die Regierung eng mit Bauern und Bäuerinnen zusammenarbeite, um die Situation im ländlichen Raum zu verbessern. Doch dem widersprechen zivilgesellschaftliche Netzwerke wie ANZORC, die Cumbre Agraria (alternativer Agrargipfel) oder selbst die Minga (gemeinschaftliche indigene Protestorganisation), welche noch darauf warten, dass die Regierung sich an Verhandlungen beteiligt oder bereits ausgehandelte Abkommen aus dem vergangenen Jahr erfüllt. „Es ist inkohärent, dass sich die Regierung über die Proteste auf den Landstraßen wundert, wenn sie weiterhin die Wege für den Dialog versperrt“, erklärt ANZORCs Präsident Gil. Es kommt hinzu, dass es keinen klaren Zusammenhang zwischen dem Entwicklungsplan und der Implementierung des Friedensabkommens mit der FARC gibt. Statt die historische Chance anzunehmen, die der Friedensvertrag bietet, um die landwirtschaftliche Entwicklung voranzutreiben, habe sich die Regierung Duque für den Weg der Polarisierung und Marginalisierung des ländlichen Kolumbiens entschieden, so Gil.
Ein weiteres Anliegen der Protestaktionen in der Hauptstadt war die gravierende Situation für Menschenrechtsaktivist*innen in Kolumbien. Dafür wurde ein humanitärer Zufluchtsort in Bogotá eingerichtet, wo zweitausend Menschenrechtsaktivist*innen die Gefahren sichtbar machen wollen, denen sie in ihrer Arbeit ausgesetzt sind. Letztes Jahr wurden 160 Menschenrechtsaktivist*innen getötet, ein Mord jeden zweiten Tag.

 

WIDERSPRÜCHLICHE SIGNALE

Jeden Morgen machen sich Journalist*innen auf den Weg zum größten Platz Mexiko-Stadts. Sie kommen zur täglichen Pressekonferenz des Präsidenten Andrés Manuel López Obrador (AMLO), der sogenannten „mañanera“. Ab sieben Uhr informiert der 65-Jährige im Palacio Nacional die Medien über aktuelle Entwicklungen und stellt sich den Fragen und der Kritik. Die Konferenzen dauern meist mehr als eine Stunde und werden live auf YouTube übertragen. Dort werden sie in Gebärdensprache übersetzt und im Sekundentakt von Kommentaren und Smileys begleitet. Keiner der vorherigen Präsidenten hat Vergleichbares getan. Dieser unkonventionelle Umgang mit den Medien ist Teil der versprochenen Transparenz der neuen Regierung.

Laut Umfragen erreicht AMLO in den ersten 100 Tagen eine Zustimmung von mehr als 80 Prozent

Ein weiterer Vorsatz AMLOs ist, die Bürger*innen mehr in die Entscheidungen der Politik einzubeziehen. So stieß er bereits vor seinem Amtsantritt eine nationale Bürgerbefragung über den umstrittenen Bau des neuen Hauptstadt-Flughafens an. Die Mehrheit der Befragten (69,9 Prozent) lehnte den weiteren Ausbau in Texcoco ab. Tatsächlich wird dieser nun nicht weitergebaut. Auch für ein weiteres aktuelles Großprojekt ließ der Präsident eine Befragung durchführen: Den Tren Maya. Geplant ist, einen Zug für Personenverkehr auf der Halbinsel Yucatán zu bauen. Ein Projekt, dass mit 89,9 Prozent angenommen wurde. Kritiker*innen bemängeln jedoch die Durchführung der Umfrage und es regt sich insbesondere bei den indigenen Gemeinschaften Widerstand, die in der Region leben. Diese sind teilweise im Nationalen Indigenen Kongress (CNI) organisiert, der 2018 die erste indigene Präsidentschaftskandidatin stellte. AMLO hingegen verteidigt die Umsetzung des Projektes Tren Maya.
Neben den morgendlichen Pressemitteilungen und Bürgerbefragungen stärken aber auch die Entscheidung AMLOs, auf Leibwächter*innen zu verzichten (was in einem Land wie Mexiko als geradezu lebensmüde erscheint), oder seine Ankündigung, das Präsidenten-Flugzeug zu verkaufen, seine Popularität. Bei der Bevölkerung kommt dies gut an. Laut Umfragen verschiedener Medien erreichte AMLO nach 100 Tagen Amtszeit eine Zustimmung von mehr als 80 Prozent. Zugleich kritisieren verschiedenen Seiten dies als Symbolpolitik. Denn zu vielen Themen, insbesondere zur dramatischen Lage der Menschenrechte, fehlt es an konkreten Plänen, ganz zu schweigen von deren Umsetzung. Manchmal ist es aber scheinbar auch einfach fehlendes Interesse, wie im Fall der Rechte von Frauen.

In Mexiko werden im Durchschnitt neun Frauen pro Tag ermordet

Zu Beginn begeisterte AMLO mit der Aufstellung eines Kabinetts, welches knapp zur Hälfte aus Frauen besteht. Doch aktuell bewerten feministische Organisationen, wie die seit über 30 Jahren bestehende feministische Presseagentur Kommunikation und Information der Frau (CIMAC), die Lage kritisch. AMLOs Pläne, Frauenhäuser zu schließen, sorgten für Protest und seine Aussage – just am Internationalen Frauenkampftag – zum Thema Abtreibung – für Entsetzen: „Ich glaube wir sollten solche Debatten nicht eröffnen. Wir wollen das Land beruhigen.“ Daher gab es auch 2019 am 8. März wütende Proteste. Eine grün-violette Masse an Menschen, vornehmlich weiblich und jung, zog lautstark für das Recht auf eine sichere und legale Abtreibung und gegen die andauernde Gewalt gegen Frauen durch Mexiko-Stadt bis zum Palacio Nacional. Denn die konkrete Lebensgefahr für Frauen bleibt bestehen. Das ist auch der Regierung bewusst, schließlich erwähnte Olga Sánchez Cordero, aktuelle Staatssekretärin und ehemalige Verfassungsrichterin, in ihrer Rede vom 8. März selbst, wie erschreckend die Statistiken sind. In Mexiko werden im Durchschnitt neun Frauen pro Tag ermordet.
Die Statistiken zeigen ebenfalls, dass die neue Regierung unter AMLO der uferlosen Gewalt in Mexiko bisher nichts entgegensetzen kann. In den ersten drei Monaten dieses Jahres wurden bereits mehr als 8.000 Tötungsdelikte registriert, wie die Tageszeitung La Jornada berichtet. Davon wurden 244 Fälle als Feminizide eingestuft. Die Zahlen sind damit im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres angestiegen. Auch das Morden an Journalist*innen geht unaufhaltsam weiter. Laut der unabhängigen Organisation artículo 19, welche sich für Pressefreiheit einsetzt, wurden unter AMLOs Regierung bereits vier Journalisten Opfer tödlicher Gewalt. Dagegen sollte die Neugründung einer Nationalgarde Abhilfe schaffen. Nun wurde im April bekannt, dass diese doch keinen zivilen Charakter haben wird, um die bestehende Korruption in Polizei und Militär zu umgehen. Stattdessen soll die neue Nationalgarde dem Brigadegeneral Luis Rodríguez Bucio unterstellt werden, der zuvor eine leitende Stelle beim mexikanischen Geheimdienst CISEN hatte. Menschenrechtsorganisationen kritisieren diese Entscheidung stark. Denn eigentlich hatte sich der Präsident für eine Befriedung und Entmilitarisierung des Landes einsetzen wollen.
Die neue Regierung muss jedoch nicht nur auf die ansteigenden Mordraten, sondern auch auf das anhaltende Verschwindenlassen von hunderttausenden Mexikaner*innen reagieren. Ein erster Schritt war, nach der Wahl AMLOs zu Versöhnungsforen einzuladen. Doch der jetzige Sicherheitsminister Alfonso Durazo sorgte bereits vor seinem Amtsantritt für einen Eklat, als er die Angehörigen aufforderte zu vergeben. Später ruderte er zurück: „Wir sagten: ,Vergeben ja, vergessen nein.’ Aber in den Foren haben wir deutlich herausgefunden, dass wir erst Gerechtigkeit garantieren müssen, dass wir die Nichtwiederholung garantieren müssen, dass wir eine Reparation des Schadens garantieren müssen und die Wahrheit für die Opfer. Und dann den Weg für ein Vergeben öffnen können.“ Für den weltweit bekannt gewordenen Fall der 43 Verschwundenen aus Ayotzinapa wird nun eine Menschenrechtskommission eingerichtet. Die Frage, ob dies auch eine juristische Verfolgung der Täter*innen und Vollstreckung eines Urteils beinhaltet, bleibt jedoch auch hier offen (siehe auch LN 538). Das Verhalten der aktuellen Regierung bleibt ambivalent.
Nach langer Passivität hat die Bevölkerung wieder Interesse und Erwartungen an die Regierung
Ein Wandel lässt sich daher momentan weniger im konkreten politischen Handeln und viel mehr in der kritischen Begleitung der Regierung beobachten. Denn nicht nur die Medien, die innerhalb wie außerhalb der morgendlichen Pressekonferenzen beobachten und berichten, und die NGOs, die sich weiter für die allgemeinen Menschenrechte, die Pressefreiheit und die Rechte der Frauen einsetzen, begleiten wachsam die aktuelle Politik. Die sechstelligen Klickzahlen der inzwischen mehr als 100 YouTube-Videos der morgendlichen präsidialen Pressekonferenzen zeigen, dass nach langer Passivität auch die Bevölkerung selbst wieder Interesse und Erwartungen an die Regierung hat. AMLO und sein Kabinett scheinen noch nicht, wie die vorherigen Regierungen, als korrupt und unverbesserlich abgehakt worden zu sein und es erscheint weiter sinnvoll, Forderungen zu stellen. Mit der Hoffnung, dass diese auch erfüllt werden.

 

UNTER HOCHSPANNUNG

Protestcamp am Pass Cuesta La Dormida im Hintergrund der Berg La Vizcacha

„Natürlich, das verursacht Wut, Hilflosigkeit, Unwohlsein. Zu wissen, dass die da oben einfach weiterarbeiten und wir nicht viel dagegen tun können.“ sagt Mario Aravena Zamora und rührt in seiner Teetasse. „Aber wir werden weiter machen, bis wir Recht bekommen.“

Es ist heiß hier oben. Über dreißig Grad, und die Sonne brennt. Hochsommer in der Küstenkordillere an der Grenze der Region Valparaíso und der Metropolregión von Santiago. Sicherlich nicht die angenehmste Zeit, um ein Camp am Rande der staubigen Landstraße zu errichten. Etwas anderes bleibt Gegner*innen des Stromtrassenprojekts Cardones-Polpaico wie Aravena Zamora aber kaum übrig.

Mitte Januar hatten Anwohner*innen von La Dormida, eines Orteils von Olmué, illegale Bauaktivitäten auf ihrem Land festgestellt. Seitdem kontrolliert ein kleines Protestcamp am gleichnamigen Pass La Dormida zwischen Olmué und Til Til die Zufahrt zum Berg La Vizcacha und somit zu einem strategisch wichtigen Punkt für den Bau der Hochspannungstürme.

Nichtsdestotrotz wird auf der Rückseite des Berges weiter gebaut. Ausgehend von einem Privatgrundstück in der angrenzenden Gemeinde Quilpué bringt die beauftragte Baufirma EDEMSA Material mit Hubschraubern in das schwer zugängliche Terrain und versucht, unter Zeitdruck und in unklarer Rechtslage, die Fertigstellung der letzten dreizehn Hochspannungstürme durchzusetzen. Cardones-Polpaico ist ein Stromtrassenprojekt, welches das Kraftwerk Cardones in der Region Atacama mit dem Kraftwerk Polpaico in der Metropolregion Santiago verbinden soll. Nach der Fertigstellung wird die insgesamt 753 Kilometer lange Stromtrasse (die längste Chiles) die Metropolregion mit Energie versorgen und auf ihrem Weg die Küstenkordillere und das Biosphärenreservat La Campana – Peñuelas durchqueren. Eine Milliarde US-Dollar hatte Interchile, ein Subunternehmen der kolumbianischen ISA, ursprünglich investieren wollen.

Die Weigerung der Gemeinde Olmué, auf ihrem Land bauen zu lassen, ist bereits seit langem bekannt. Dennoch hat Interchile das Projekt fast fertiggestellt, was zu der reichlich absurden Situation führt, dass die Stromtrasse von beiden Seiten an den Ortsteil La Dormida heranreicht. Nur das letzte Verbindungsstück, die letzten dreizehn Türme, sechs von 753 Kilometern, stehen noch aus und sollen jetzt in einem illegalen Kraftakt zu Ende gebracht werden.


„Die haben immer gedacht, Geld wäre das Problem. Aber das ist es nicht.“

„Wir versuchen hier, zu kontrollieren, was auf unserem Land geschieht. Und machen damit die Arbeit, die eigentlich die Regierung machen sollte“, sagt Evelyn Marchant Figueroa, Präsidentin der Agrargemeinschaft von La Dormida in einem der wenigen freien Augenblicke. Ihr ist die Anspannung anzumerken. Andauernd klingelt das Telefon. Sie spricht mit Anwält*innen, NGOs und auch mit der nationalen Presse, welche bisher äußerst zurückhaltend über den Konflikt berichtet. „Wir haben vier mal Nein gesagt. Wir wollen das Geld nicht. Interchile will uns zu einem freiwilligen Abkommen drängen, was es aber niemals geben wird. Uns geht es um den ökologischen Schaden, den Schaden an unseren Wasservorkommen, den Schaden an den Gemeindestraßen. Die haben immer gedacht, Geld wäre das Problem. Aber das ist es nicht,“ fügt sie hinzu. Die jetzige Konfrontation ist das neueste Kapitel eines mehrjährigen Konflikts zwischen Interchile und La Dormida. Ein bereits 2014 geschlossener Kaufvertrag wurde 2015 aufgrund von Unregelmäßigkeiten annulliert. Da das Gebiet einer Agrargemeinschaft wie La Dormida in kollektivem Besitz ist, kann es nur unter der Zustimmung der Gemeinschaftsversammlung verkauft werden.
Eine Maßnahme, die der Vorgänger von Evelyn Marchant Figueroa scheinbar für unnötig empfand, als er das Land 2014 ohne Rücksprache an Interchile veräußerte.

Missmut entzündet sich besonders an der Frage, welchen Einfluss die Hochspannungstrasse auf die Umwelt haben wird. La Dormida liegt mitten im von der UNESCO ausgerufenen Biosphärenreservat La Campana-Peñuelas, einem von fünf Biosphärenreservaten mit mediterranem Klima weltweit und aufgrund des besonderen Mikroklimas Heimat einer einzigartigen, teilweise vom Aussterben bedrohten Flora und Fauna. Eine Tatsache, die Interchile im Rahmen der zur Genehmigung des Projektes notwendigen Umweltverträglichkeitsprüfung schlicht nicht erwähnte.

Dieses Versäumnis könnte nun Folgen haben. Denn aus Sicht der Gemeindevertreter*innen ist die gesamte Baugenehmigung ohne eine rechtmäßig durchgeführte Umweltverträglichkeitsprüfung ungültig.

Diese Perspektive wurde zuletzt Anfang März in einem Urteil des Umweltgerichts in Santiago gestärkt. Eigentlich müsste die für die Umweltverträglichkeitsprüfung zuständige Behörde (SEA) somit Einspruch gegen die aktuelle Baugenehmigung einlegen, um diese für ungültig erklären zu lassen, was die Tür öffnen könnte für mehr als 60 weitere Beschwerden, welche auf der gesamten geographischen Länge der Stromtrasse gegen Interchile noch ausstehen. Dadurch könnte die Inbetriebnahme um Jahre verzögert, wenn nicht sogar ganz gekippt werden. In der Realität laufen die Bauarbeiten aber weiter und der zuständige SEA scheint keine Eile bei der Umsetzung des Gerichtsurteils an den Tag zu legen.

Offiziell soll der Bau der Stromtrasse Cordones-Palpaico es ermöglichen, die Energie der Solarkraftanlagen in der Atacama-Wüste in das nationale Stromsystem einzuspeisen. Dahinter steht aber weniger die Idee einer ökologischen Transformation als das ökonomische Interesse, die Investitionen des bisher unrentablen Solarkraftprojekts zu sichern. Die Gegner*innen sehen das Projekt darüber hinaus als Blaupause für weitere Energie- und Extraktivismusprojekte in der Umgebung, wie die geplante Kupfermine San Felipe oder das geplante Gaskraftwerk Los Rulos im nahe gelegenen Limache, sowie als Teil einer neuen Energiestrategie des chilenischen Staates, der den Stromexport als ein vielversprechendes Geschäftsmodell entdeckt hat.

Der chilenische Staat wollte den Konflikt aussitzen

Dass Interchile gerade jetzt versucht, die Fertigstellung zu erzwingen, ist keine Überraschung. Dem Unternehmen läuft die Zeit davon. Das Projekt hätte bereits 2017 in Betrieb gehen sollen und so sieht sich das Unternehmen seit dem ersten Januar dieses Jahres Strafzahlungen an den chilenischen Staat ausgesetzt. Kostenpunkt pro Tag: 190.000 US-Dollar.

Addiert man die rückwirkenden Strafzahlungen für die verpasste Fertigstellung im Jahr 2018, dürften sich bis Ende März bereits 83 Millionen US-Dollar an Strafzahlungen angesammelt haben, auch wenn das Unternehmen sich im Dezember noch zuversichtlich gab, diese mit dem Verweis auf „höhere Kräfte“ mindern zu können.

Mitte März ließ das Energieministerium nun verlauten, 2,6 Millionen US-Dollar an Strafzahlungen einzufordern. Die restlichen Zahlungen sollen erst nach der Fertigstellung des Projektes verhandelt werden. Ob die Strafzahlungen jedoch in voller Höhe eingefordert werden, ist mehr als fragwürdig. Evelyn Marchant Figueroa zumindest glaubt nicht daran: „Der Staat wird die Strafzahlungen nicht einfordern. Denn, wenn die das tun, dann kann Interchile dicht machen. Wir fordern also, dass der Staat konsequent ist und das Unternehmen zahlen lässt. Höhere Kräfte? Das ist lächerlich. Die haben einfach ihre Arbeit nicht gemacht.“

Daran, dass der chilenische Staat ein großes Interesse an der Fertigstellung des Projektes hat, bestehen keine Zweifel. Lange Zeit schien es so, als wollten der chilenische Staat und seine politischen Organe den Konflikt aussitzen und darauf setzen, dass Unternehmen und Kommune den Konflikt unter sich lösen. Und wie das ausgeht, ist im Bezug auf Energie- und Extraktisivmusprojekte in Lateinamerika gut bekannt: Obwohl bekanntermaßen Genehmigungen für den Bau der Türme fehlen, versucht EDEMSA jeden Tag aufs Neue, weiterzubauen. Vermeintliche Sichtungen des Geländes zur Erstellung von Umweltgutachten werden genutzt, um Bäume zu fällen, Löcher zu graben und Baumaterial zu transportieren. Mit dabei sind auch immer Vertreter privater Sicherheitsfirmen, Ex-Marines in selbstgebastelten Uniformen, mal in Schwarz und mal in Beige, mit Sonnenbrillen und vermummt, welche ein Klima der Bedrohung und Unsicherheit schaffen und stetig provozieren.
Die Arbeiter, junge Männer aus Bolivien und Peru, arbeiten unter mangelhaften Arbeits- und Hygienebedingungen und warten teilweise stundenlang auf Wasserlieferungen aus der Luft. 300.000 Chilenische Pesos, ca. 400 Euro, werden ihnen für diese Arbeit versprochen. Vollzeit, am Berg, im Hochsommer.

„Wir fordern also, dass der Staat konsequent ist und das Unternehmen zahlen lässt.“

Spätestens seit dem 25. März wird die Strategie der politischen Nichtpositionierung aber nicht länger möglich sein. Der Druck wächst: Nachdem ein Sondereinsatzkommando von mehr als einhundert Polizist*innen den gesperrten Zugangsweg zum Berg am Morgen hatte räumen lassen und drei Menschen vorübergehend festgenommen worden waren, ereignete sich wenig später ein weiterer, schwerer Zwischenfall. Ein Hubschrauber der von Interchile beauftragten Firma Ecocopter stürzte in der angrenzenden Gemeinde Quilpué ab. Alle sechs Insassen, unter ihnen auch vier Vertreter des von Interchile angeheuerten Sicherheitsdienstes, kamen dabei ums Leben.

 

“ES TUT WEH EINE FRAU ZU SEIN”

Legale Abtreibung! Feminist*innen während der Parlamentssitzung zum Abtreibungsverbot (Foto: Asamblea Nacional del Ecuador, Flickr BY-SA 2.0)

„Am 8. Januar 2015 wurde ich von zwei Männern entführt und auf das Schlimmste sexuell missbraucht. Die Ärztin gab mir keine Notfall-Verhütung, um eine ungewollte Schwangerschaft zu verhindern. Um die Medikamente zur AIDS-Abwehr musste ich betteln. Vor einigen Monaten forderte das Parlament die Staats­anwalt­schaft auf, in meinem Fall zu ermitteln – vier Jahre später.“ Mit dieser Schilderung beginnt die Rechtsanwältin Dr. Jéssica Jaramillo am 5. Februar 2019 ihre Rede vor dem ecuadorianischen Parlament. Sie und andere Frauenrechtler*innen wollen die Abgeordneten dazu bewegen, Schwangerschaftsabbrüche nach Vergewaltigungen, sowie bei Inzest und Missbildungen des Fötus zu legalisieren. Bisher ist das nur erlaubt, wenn die Frau durch die Schwangerschaft in Lebensgefahr schwebt oder wenn eine Frau mit Behinderung Opfer einer Vergewaltigung wurde. Mindestens 243 Frauen wurden bislang wegen Abtreibung verurteilt.
Außerdem fordern die Frauenrechtler*innen, dass Sexualstraftäter konsequent verfolgt werden. „Das ist mir geschehen, die ich eine juristische Ausbildung habe“, sagt Jaramillo. „Ich möchte mir nicht vorstellen, wie es den Mädchen und Frauen ergeht, die in dieser Situation nicht wissen, was sie tun sollen.“ Zwar gibt es seit 2017 ein Gesetz zur Abschaffung der Gewalt gegen Frauen, doch die zu diesem Zweck veranschlagten Gelder von umgerechnet ca. 530.000 Euro reichen laut der Frauenrechtsaktivistin Virginia Gómez bei weitem nicht aus. Offizielle Berechnungen ergaben, dass 17,6 Millionen veranschlagt werden müssten, um alle gefährdeten Frauen angemessen zu versorgen.

Erst im Januar hatte der Fall Martha die Hauptstadt Quito erschüttert. Martha, so der Schutzname der 35-Jährigen, war mutmaßlich von drei ihr bekannten Männern in einer Bar vergewaltigt worden. Dort wurde sie ohnmächtig, nackt und von Hämatomen übersät gefunden. Die Polizei registrierte Blutflecken in ihrem Intimbereich, auf der Kleidung der Männer, einer Bierflasche, einem Glas, an den Wänden, auf dem Billardtisch und an beiden Enden eines Billardqueues, mit dem sie Martha wahrscheinlich intim verletzt hatten. Auf dem Handy eines der Männer entdeckte die Polizei Fotos des Tathergangs. Der Anwalt der Überlebenden, Fabrizzio Mena Ríos spricht von einem noch nie da gewesenen Gewaltakt.

Die Nachricht von Marthas Schicksal rief, wie andere Missbrauchsfälle, eine Welle der Solidarität hervor. Frauenrechtler*innen organisierten am 20. und 21. Januar Protestmärsche vor die Staatsanwaltschaft in Quito. Sie demonstrierten für harte strafrechtliche Konsequenzen für Marthas Aggressoren. Auf Facebook verkündeten Feminist*innen: „Was sie dir getan haben, haben sie uns getan, denn während sie dich vergewaltigen, verletzen sie uns, brechen sie uns und füllen uns wieder neu mit Ängsten. Aber du, Kriegerin, bist nicht stumm geblieben, und uns bleibt nur zu sagen, dass du nicht allein bist! Du bist mutig, du bist wunderbar, du hast Freiheit und Würde verdient. Wir werden wachsam sein, Schwester, wir glauben dir!“

„Lass mich entscheiden!“

Proteste der Frauenrechtler*innen, wie der Abtreibungsgegner*innen, begleiten auch die Parlamentssitzungen zur Reform des Strafrechts seit Januar. Die Feminist*innen sind an ihren grünen Halstüchern zu erkennen mit der Aufschrift #dejamedecidir – „lass mich entscheiden“. Wie Gómez sagt: „Der ecuadorianische Staat hat bei seinen Frauen viele Schulden zu begleichen. Die Abtreibung bei Vergewaltigung ist das Mindeste, was er seinen Frauen schuldig ist.“ Die Aktivist*innen wirken auf verschiedenen Ebenen auf Politiker*innen ein. 2016 sprach Jaramillo vor dem Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen vor und erwirkte eine Resolution, die die ecuadorianische Regierung aufforderte, Abtreibung im Fall von Vergewaltigung zu legalisieren. Bereits 2015 hatte die UN-Frauenrechtskommission dasselbe gefordert. Katherine Mosquera und Kolleginnen von der Organisation Mujeres por el Cambio (Frauen für den Wandel) appellierten in der Stadt Cuenca im Süden Ecuadors an die Abgeordneten ihrer Region.

Mosquera stellte in einem Pressegespräch am 21. Januar aktuelle Zahlen der Gewalt an Frauen vor. In den letzten 13 Jahren seien demzufolge knapp 14.000 Frauen vergewaltigt worden, also durchschnittlich elf Frauen am Tag. Mehr als 700 von ihnen waren Mädchen im Alter unter zehn Jahren. 17.448 Mädchen unter 14 wurden zwischen 2009 und 2016 gezwungen, zu gebären, heißt es an anderer Stelle. Die Abtreibungsgegner*innen argumentieren dem zum Trotz, dass der ungeborene Fötus ab der Zeugung ein Recht auf Leben habe.
Mosquera hält dem entgegen, dass „das Abtreibungsverbot bedeutet, die Frauen nicht als Rechtssubjekte, sondern als Objekte zu behandeln. Sie werden aufgrund ihres Geschlechtes diskriminiert, weil nur ihnen diese Sanktionen auferlegt werden. Das Gesetz bestraft nicht die Abtreibung, sondern verurteilt, dass die Frauen keine Mütter sein wollen.“ Wie Jaramillo betont sie, dass durch das Abtreibungsverbot vor allem armen Frauen der Zugang zum Gesundheitssystem verwehrt wird. Vor allem aber sprechen die Feminist*innen in konkreten Bildern, um eine Gesellschaft zu erreichen, „die sich an die Gewalt an Frauen gewöhnt hat“, so Jaramillo. Im November hatte Gómez in einer Rede vor dem Parlament gesagt: „Sie können sich nicht vorstellen, wie die jungen Mädchen leiden, um die Köpfe der Babys durch ihre schmalen Becken zu gebären.“ Immer wieder erinnern die Feminist*innen an die akute Brisanz ihrer Appelle: „Jetzt gerade töten sie uns, vergewaltigen sie uns, bedrängen sie uns.“

Auf Facebook schreibt eine Nutzerin: „Es tut weh, eine Frau zu sein, aber es tut noch mehr weh, die Mutter von drei Töchtern zu sein. Wenn die Männer nicht selbst vergewaltigen, klagen sie die Frau an und rechtfertigen die Aggressoren.“ Rechtliche Beschlüsse können die Frauen unmittelbar in ihrer Unversehrtheit, ihrem nackten Überleben, betreffen. So macht Gómez deutlich, dass bloße Unversehrtheit nicht das Ziel ist: „Wir wollen leben. Mehr noch: Wir wollen leben und glücklich sein – ¡Vivas y felices nos queremos!“

 

UNSERE HAUPTBEDROHUNG IST DIE SEXUELLE GEWALT

Du bist Mitglied des feministischen Theaterprojekts Las Amapolas. Auf welche Voraussetzungen geht euer Projekt zurück?

Schon früh wurde ich mir der gegen den Frauenkörper gerichteten Gewalt bewusst. Ich beteiligte mich an allen möglichen Formen der öffentlichen Anklage, z.B. war ich bei allen Demonstrationen dabei. Außerdem erlebte ich seit vielen Jahren die Repression gegen die feministische Bewegung in Nicaragua. Es gab eine konstante Verfolgung bei Mobilisierungen zu nationalen Demonstrationen, immer war die Macht anwesend, ständig waren Polizeieinheiten präsent. Ich war in Estelí aktiv und hatte die Gelegenheit zusammen mit unserem Kollektiv an Demonstrationen teilzunehmen, an Verkehrsblockaden oder vor die Gerichte zu ziehen. In Nicaragua herrscht eine gegen unseren Körper gerichtete Welle der Gewalt, denn es ist ein frauenfeindlicher Staat, wo es jedes Jahr einen hohen Anteil von sexuellem Missbrauch und Frauenmorden gibt. Ich habe mich auch im Bildungsbereich betätigt, in kommunalen Projekten, die Begleitung für Jugendliche und junge Heranwachsende anboten, um Themen wie Gewaltprävention oder Schwangerschaft im Heranwachsendenalter zu bearbeiten. Die staatlichen Institutionen verschlossen uns ihre Türen wie es auch fortwährend Drohungen gegen unserer Arbeit gab. Letztes Jahr am 8. März verweigerte uns das Gemeindeamt die Erlaubnis, auf der Straße eine öffentliche Aktion durchzuführen. Wir nahmen sie uns, denn in Nicaragua gewährte uns der Staat nie einen Raum, man musste ihn sich nehmen: am Ende war da immer die symbolische Gewalt der Polizeipräsenz, sie kamen um uns zu drohen. Ich war auch in der Universität aktiv und äußerte immer offen meine Kritik. Vermutlich war eine Konsequenz daraus, dass ich zum sichtbaren Mittelpunkt wurde und leicht zu identifizieren als die Repression an Intensität zunahm.

(Foto: privat)

Hat dich die massive Artikulation der Proteste am 18./19. April 2018 und die darauf folgende Gewalt überrascht?

Als Aktivistin kam für mich der Ausbruch der Gewalt nicht überraschend, da wir sie bereits vorher in verschiedenem Ausmaß und Ausdruck erlebt hatten. Einen Tag davor hatten wir in Estelí eine Demonstration organisiert, weil das Naturreservat Indio Mais brannte. Später gab es einige Demos wegen der Reform der Sozialversicherung INSS. Schon da wurden wir Opfer polizeilicher Verfolgung in Estelí. Da wir diejenigen waren, die das organisiert hatten, die ihre Stimme hören ließen, Mikrofone und Megafone mitbrachten, fotografierten sie uns − praktisch eine direkt gegen uns gerichtete Drohung. Am 17. und 18. April war ich in Matagalpa, wo es eine Demonstration wegen der Sozialversicherung gab. Dabei kam es auch zu Auseinandersetzungen zwischen Demonstrant*innen und Staatsbediensteten und man sah deutlich die Aggressivität, die von denen ausging, während die Polizei sich indifferent verhielt, als ob sie die Situation genießen würde. Das hat mich sehr betroffen gemacht. Wir wussten jetzt, was in Managua los war und dass es Tote gab.

Am 19. April gab es eine Demonstration in Estelí. Dort schlugen sie auf Jugendliche ein und nahmen sie fest. Am folgenden Tag, am 20. April, änderte sich unser Leben, denn an diesem Tag beschlossen wir, dass wir uns auf Demonstrationen nicht mehr hervortun wollten, da wir nun wussten, was passieren würde und wir hatten ja bereits Repression erlebt. Unter diesen Umständen beschlossen wir medizinisches Material zu beschaffen und im Fall eines Angriffs zu helfen, denn es wurde auch geschossen. An diesem Tag zog sich der Demonstrationszug bis zu einem Kilometer hin. Es kamen viele Leute. An einer breiten Straße standen aufgereiht Paramilitärs, die direkt auf Demonstrant*innen und deren Köpfe zielten. Es kam zu Auseinandersetzungen −wer keine Angst zeigte, wurde verfolgt und nach Ende der Demo schossen sie Tränengas. Es war dies ein Ausdruck der Gewalt, wie ich ihn noch nie erlebt hatte. Wir befanden uns in einem Sicherheitshaus, denn wir hatten uns jetzt organisiert und die Aufgabe, Personen zu versorgen, die mit Tränengasvergiftungen kamen. Ungefähr um 10 Uhr abends wurde damit begonnen Barrikaden zu bauen, jetzt war das eine Sache, die nicht mehr zu kontrollieren war. Wir konnten nicht mehr auf die Straße gehen. Wir bewegten uns im Auto fort, um Medikamente oder nach Personen zu suchen, die unsere Hilfe benötigten. Dann kam die Nachricht, dass sie zwei Jugendliche getötet hatten. Denn die Paramilitärs, die nach Estelí kamen, benutzten großkalibrige Waffen, Heckenschützen ermordeten die beiden. Es waren die ersten Toten der Aprilproteste. Trotz alledem gingen wir weiter auf die Straße, jeden Tag gab es Demonstrationen in Estelí, jeden Tag dachte man sich neue Formen des Protestes aus, um standzuhalten. Nach fünf Tagen wurden Straßensperren errichtet.

Welcher war der ausschlaggebende Moment für deine Entscheidung ins Exil zu gehen?

Nach dem Mord an den Jugendlichen, Studenten aus Estelí, erhöhten wir den Druck und begannen Demonstrationen zu organisieren. In dem Moment haben wir uns zu sehr exponiert, denn wir waren sehr sichtbar, wir waren die einzigen Frauen, die in der Öffentlichkeit nach dem Mikrofon griffen und feministische Spruchbänder trugen. Wir machten auch Straßentheater und verschiedene Performance auf den Demonstrationen. Dann kam das Massaker vom 30. April, was ebenfalls ein traumatisches Erlebnis war. In Estelí gab es sieben Morde an einem einzigen Tag. An diesem Tag kamen Paramilitärs zu mir nach Hause und sagten, dass sie wüssten, wo wir wohnen, wer wir sind, seit wann wir da schon mitmachen, dass sie uns töten werden, vergewaltigen − jede Menge Beschimpfungen in nur einer Minute und sie verschwanden. Anschließend begann die Serie in den sozialen Netzwerken, denn wir kollaborierten offen mit den Jugendlichen an den Straßensperren. Dort schrieben sie Dinge wie wir verfügten über große Geldmengen, wir würden von der CIA bezahlt, wir würden andere manipulieren, die in unserem Namen auf die Straße gingen und all das würden wir mit Blei bezahlen. Danach erschienen Fotos von uns: “Lesben, Huren, wir werden sie töten!” Von da an schlief ich nicht mehr zu Hause und wir gingen nicht mehr nach draußen, wie im Gefängnis. Das bedeutete eine Entscheidung zu treffen: entweder sie töten dich oder sie machen etwas mit dir oder du bleibst. Wir waren das perfekte Ziel zu politischen Gefangenen zu werden.

Ich ging am 23. Juni. Es gab Straßensperren und ich musste durch die Berge, um zum Flughafen kommen, wo du dich nicht von deiner Familie verabschiedest. Du nimmst das Gefühl mit, nicht zu wissen, wann du zurück kommst. Auf dem Flughafen überall Militär. Wahrscheinlich hatten sie da die Personen noch nicht registriert, die in irgendwelche Dinge verwickelt waren. Ich konnte das Land ohne Probleme verlassen. Zwei Tage danach begann die Säuberungsaktion in Estelí, als es ein weiteres Massaker gab. Ich nenne diesen Staat terroristisch: fortwährende Kampagnen um Angst zu verbreiten, durch Gewalt an der Macht festhalten, ständige Aggressionen, denen die Menschen ausgesetzt sind.

(Foto: privat)

Seit dem 24. Juni 2018 lebst du in Deutschland. Was bedeutet für dich das Exil?

Als ich nach Deutschland kam, hatte ich klare Überzeugungen: Ich bin eine Person, die das Privileg hat hier zu sein und seitdem habe ich mich damit beschäftigt, die Lage in Nicaragua öffentlich anzuprangern. An verschiedenen Orten zu sprechen, war nicht gerade einfach. Erstens spreche ich nicht die Sprache, zweitens bin ich eine Frau und drittens spüre ich, dass ein konstanter Rassismus vorhanden ist. Ich bin keine politisch anerkannte Persönlichkeit, keine Person, die permanent in den sozialen Netzwerken auftaucht, keine öffentliche Person. Als ich hier ankam, hatte ich mir das Recht zu sprechen erst zu verdienen, denn am Anfang hat es niemanden interessiert, meine Geschichte zu hören. Alles, was ich erreicht habe, wurde durch einen Kraftakt und gewisse Privilegien erreicht, denn ich muss anerkennen, dass eine deutsche Lebensgefährtin zu haben einen anderen Zugang bietet. Und schließlich das Thema Migration: dir wird bewusst, dass Leute, dir ihr Land verlassen müssen, dort ein Leben hatten, eine Geschichte und diese von null auf wieder aufzubauen, ist nicht einfach. Aktuell hat mir das Theater das Leben gerettet, ich bin auf die besten Gedanken gekommen, es hat mir Kraft gegeben − die Kraft zur Selbstermächtigung. Ich bin Teil einer deutschen Frauentheatergruppe. Wir bearbeiten die Themen, die ich auch vor der Krise in Nicaragua bearbeitet habe, wo es um die sexuellen und reproduktiven Rechte geht − Aufklärung durch das Theater. Aber es ist nicht einfach anzukommen und zu sagen “ich will Mitglied eurer Gruppe sein”. Ich fühlte den Druck beweisen zu müssen, dass ich tatsächlich Ahnung vom Theater habe.

Das Regime Ortega/Murillo versucht der Welt zu beweisen, dass Nicaragua zur Normalität zurückgefunden habe, während die Repression weitergeht.

Vor allem ist die Politik, die sie nach dem Massaker angewendet haben, superzynisch und eine Beleidigung für alle Personen, die Opfer der Repression geworden sind. Während der letzten Woche in Nicaragua haben wir mit verschieden Aktivistinnen audiovisuelles Material entwickelt. Das verwenden wir hier als Anregung für die Leute, die Realität wahrzunehmen, die Nicaragua durchlebt. Die Leute haben vielleicht keine Vorstellung vom Zynismus dieser Regierung, die von Versöhnung spricht, während sie weiter politische Gefangene verschleppen, weiter foltern oder Frauen in der Haft abtreiben. Denn dort sind sie einem System physischer Folter unterworfen, wenn du schwanger bist, holen sie dich unter Schlägen aus der Zelle und provozieren so einen Abort. Manchmal befindest du dich in der schmerzhaften Situation, dass es den Deutschen in Bezug auf die Ereignisse etwas an Empathie fehlt. Es verschleißt viel Energie, den Leuten während einer Veranstaltung erklären zu müssen, dass wir nicht in der Lage sind, darüber nachzudenken, wer der nächste Präsident wird. Denn es gibt eine Krise, etliche Leute haben keine Arbeit und nichts zum Überleben. Viele Jugendliche, die an Demos teilgenommen haben, werden verfolgt, viele gehen zu Fuß bis nach Honduras oder in andere zentralamerikanische Länder. Jeden Tag suchen Menschen nach einer Möglichkeit, das Land zu verlassen. Nicht jede*r kann ein Flugticket kaufen in diesen Zeiten, nichts ist sicher und absolut niemand ist sicher.

Inzwischen hat sich das nationale Bündnis Azul y Blanco gegründet, worin sehr unterschiedliche, teils in ihren Auffassungen gegensätzliche Gruppierungen der Zivilgesellschaft vertreten sind. Welche Aussichten siehst du für die Feministinnen und deren Forderungen in diesem Bündnis?

Ich finde, dass die Krise auf der Ebene der poder popular auch einen Gewinn bedeutet: das Erwachen der Menschen. Es gibt zur Zeit viele Ideale, aber da es ein gigantisches Monster gibt, das zu besiegen ist, vereinigten sich all diese Sektoren. Obwohl wir Feministinnen eine sehr spezifische Agenda haben, wo es um Frauenrechte geht, glaube ich, dass es sehr wichtig ist, dass wir Teil dieses Entscheidungsprozesses sind, denn die Situation wird nicht jetzt gelöst werden. Das wird ein langer Prozess sein. Das Naheliegende wäre vielleicht eine Übergangsregierung, worin verschiedene Repräsentant*innen der Bewegung Azul y Blanco vertreten sind, unterschiedlichen gesellschaftlichen Ausdrucks. In dieser Bewegung gibt es ebenfalls große Intellektuelle mit einer langen politischen Geschichte. Und da sind auch die Feministinnen, die dafür kämpfen, in den Raum vorzudringen, wo die Entscheidungen getroffen werden, damit ihre Stimme wirklich berücksichtigt wird, da wir es waren, die diesen Kampf permanent geführt haben. Wer auf die Straße ging, das waren über Jahre hinweg die Frauen und die Bauern- und Bäuer*innenbewegung.

 

 

„SIE KÖNNEN ALLES VON UNS ERWARTEN, NUR KEINE STILLE”

Foto: © Bruno Miranda


Warum müssen wir für unsere Bildung kämpfen, wenn Bildung doch unser Recht ist?” Das fragen sich Nayara, Marcela und Koka, die diese jüngste Geschichte Brasiliens aus Sicht der Schüler*innenbewegung erzählen, von den ersten Protesten gegen die Erhöhung der Preise für den öffentlichen Nahverkehr 2013 bis zur Wahl des rechtsextremen Jair Bolsonaros Ende 2018. Espero tua (re)volta, der fünfte Dokumentarfilm der Journalistin und Regisseurin Eliza Capai, berichtet von vielen Brüchen und Niederlagen, aber auch von Mut, Power und Erfolgserlebnissen. Der Film könnte aktueller nicht sein und weiß dies auch. Eine seiner großen Stärken ist die Fülle an Material zu den verschiedenen Formen jugendlicher Rebellion gegen all das, was schon immer ein Problem in Brasilien war und nun mit dem neuen Präsidenten immer akuter wird: Sexismus, Homo- und Trans*phobie, Rassismus und die Unterteilung der Gesellschaft in Menschen erster und zweiter Klasse.

© Eliza Capai

Espero tua (re)volta, das die „Revolte“ schon im Titel trägt, ist eigentlich ein klassischer Dokumentarfilm – Bilder von Demonstrationen, Versammlungen, besetzten Schulen und, natürlich, exzessiver Polizeigewalt –, die Erzählform ist jedoch besonders. Nayara, Koka und Marcela waren von Anfang an bei den Protesten und den Schulstreiks im Bundesstaat São Paulo dabei, kommentieren die Szenen, in denen ihre jüngeren Ichs teils selbst vorkommen, und leiten die Kamera an. „Geh’ noch mal kurz zurück zu der Szene davor, ich war noch nicht fertig“ oder „wir müssen jetzt doch nochmal einen kurzen Exkurs ins Jahr 2012 machen“, heißt es, und die Kamera gehorcht. Mit viel Humor achten Nayara und Marcela darauf, dass Koka als männlicher Erzähler nicht zu viel Redezeit bekommt. „Jetzt sind wir Frauen wieder dran, deine Zeit ist abgelaufen“, heißt es gleich zu Beginn, und Koka gehorcht, verliert dabei aber nie seinen Mitteilungsdrang.

© Carol Quintanilha

Passend zur Energie der drei Erzähler*innen geht der Film musikalisch genauso kraftvoll vor, Baile Funk und Hiphop unterstreichen die rebellischen Szenen, in denen ein Meer junger Menschen durch die Straßen São Paulos zieht und Gerechtigkeit fordert, oder in denen die besetzten öffentlichen Schulen – insgesamt 200, deren Schüler*innen sich gegen die Schließung wehren – zu Orten der Selbstverwaltung werden, wo sich Arbeitsgruppen zu Themen wie Sexismus und Rassismus bilden und die Jungs putzen und kochen müssen. Nicht selten erfolgt plötzlich ein musikalischer Bruch, zu dem die drei ankündigen, dass Szenen voller Polizeigewalt gegen Minderjährige folgen werden. Dazu erfahren wir: „Die Diktatur ist vorbei, aber die Repression blüht.” In diesen Szenen wird deutlich, wie viel die Schüler*innen der Bewegung bereits an Gewalt haben ertragen müssen und wie sehr sie der eigene Kampf mitnimmt. Immer wieder folgt die Warnung: „Dies ist erst der Anfang, es wird wieder passieren“.

Umso wichtiger, dass Espero tua (re)volta trotz allem Hoffnung schenkt. Hoffnung in eine Generation junger Brasilianer*innen, die früh gelernt haben, was es heißt, für die eigenen Rechte zu kämpfen und nicht daran denken, diesen Kampf aufzugeben.

 

IRRWEG EXTRAKTIVISMUS

Welche Positionen konntet ihr bei der Klimakonferenz einbringen?
An erster Stelle ist es sehr wichtig, dort als Vertreter der Zivilgesellschaft hinzufahren und zu hören, was unsere Regierung sagt. Was verlangt sie? Bekommt sie Geld und wenn ja, wofür? In unserer Geschichte hat unsere Regierung uns nie erlaubt, Teil ihrer Delegation zu sein. Die mexikanische Delegation hat die Tradition, fünf NGO-Abgesandte in ihre Delegation aufzunehmen. Da unsere Regierung das nicht macht, versuchen wir mit Kollegen aus anderen Staaten wie Deutschland, Niederlande, Belgien oder Parteien wie zum Beispiel den Grünen, zu sprechen. Sie informieren uns über die Verhandlungen. Außerdem arbeiten wir mit anderen NGOs zusammen, besonders Fraueninitiativen aus Lateinamerika oder der Internationalen Vereinigung der ökologischen Landbaubewegungen in Bonn (IFOAM).

Was war die offizielle nicaraguanische Position?
Die Delegation bestand nur aus zwei Männern, die Vertreter der Regierung Paul Oquist und Javier Gutiérrez. Die zwei haben wir nicht gesehen, im Plenum blieb der Platz für Nicaragua unbesetzt. Man war anscheinend die ganze Zeit mit dem Green Climate Fund (GCF) beschäftigt. Dieser ist sehr wichtig, da er die Gelder des Pariser Klimaabkommens für Klimaprojekte in den ärmeren Ländern verwaltet. Die Entscheidungen des GCF werden sehr intransparent getroffen, obwohl dort über die Verwendung mehrerer 100 Millionen US-Dollar entschieden wird. Zur Einordnung der Rolle unseres Landes: Nicaragua hatte das Pariser Klimaabkommen zunächst nicht unterschrieben und sich auf das Anklagen der großen Klimasünder USA und EU beschränkt. Dadurch bekam Nicaragua politische Aufmerksamkeit. Nach dem Umschwenken Nicaraguas und der Unterzeichnung des Abkommens 2017 wurde ihr Delegationsleiter Oquist dann zum Vize-Präsidenten des GCF gemacht.

Nutzt die nicaraguanische Regierung Klimagelder für andere politische Interessen?
Ich denke schon. In erster Linie will sie Werbung für die eigene Regierung machen und sich gegen die internationale Isolierung wehren. Nicaragua hat in den letzten Jahrzehnten viel Geld bekommen – von europäischen Staaten, von der UNESCO – aber mit der Umwelt geht es ständig bergab. Politiker sind straflos in Umweltskandale verwickelt: Das staatliche Unternehmen Alba Forestal fuhr 2017/2018 ununterbrochen wertvolles Holz aus den Naturschutzgebieten des Nordens ab, dem Besiedeln dieser Naturschutzgebiete in Nord- und Süd-Nicaragua wird kein Riegel vorgeschoben. Im Gegenteil, illegale Siedler werden beim Rauben von indigenem Land noch unterstützt, teilweise mit Waffengewalt.

Wird das Ergebnis der Klimakonferenz einen Einfluss auf den Umweltschutz in Nicaragua haben?
Kattowitz könnte einen negativen Einfluss auf Nicaragua haben, denn die Konferenz bedeutet Macht und Geld für die Regierung und nicht für die Zivilgesellschaft. Die Klimagelder werden an die Regierung überwiesen und kommen bei den Basisinitiativen, die tatsächlich für Umwelt und Klima arbeiten, nicht an. Diese werden sogar verfolgt oder verboten.

Welche Relevanz hat dabei insebsondere der Klimaschutz in der Region?
Natürlich trägt Nicaragua zur globalen Erwärmung ungeheuer wenig bei, aber das befreit uns nicht von der Pflicht, auch unser Verhalten entsprechend zu ändern. Vor allem aber geht es für die betroffenen, armen, äußerst verletzlichen Länder wie den mittelamerikanischen darum, die nicht mehr aufhaltbaren Folgen abzumildern. Ein Beispiel ist, die Bewaldung zu erhalten, die Landwirtschaft auf Agroforstwirtschaft umzustellen und vieles mehr. Stattdessen erlaubt die Regierung das Abholzen, die Verschwendung, die Vergiftung und das Versiegen der Gewässer. Auch in diesem ungeheuer wichtigen Bereich zur Erhaltung der Lebensgrundlagen ist das Regime unwillig und unfähig. Die neoliberalen Vorgängerregierungen konnten wir durch unsere Kritik stark unter Druck setzen. Die jetzige schießt.

Kannst du uns mehr über eure Arbeit als Umwelt-NGO in Nicaragua erzählen?
Wir sind schon lange als Umwelt-NGO in Nicaragua aktiv – schon seit mehr als 30 Jahren. Verschiedene NGOs haben sich nun zusammengetan, um zum Beispiel auf die Folgen des geplanten Kanalprojekts aufmerksam zu machen und auf den generellen Irrweg des Extraktivismus. Wir versuchen, die Bauernfamilien zu unterstützen, sie zu informieren und praktische landwirtschaftliche Widerstandsarbeit mit ihnen zu initiieren. Deswegen sind wir auch in Gefahr, da die Regierung unsere Arbeit als Anstiftung zum Aufruhr wertet.

Wie hat sich der politische Druck auf euch in den letzten Jahren verändert?
Die Bauern haben seit dem Gesetz zum Kanalbau mit Protesten angefangen, sich organisiert und mit uns zusammengearbeitet. Wir haben die gesamten wissenschaftlichen Informationen und Forschungsergebnisse, aus denen hervorgeht, warum vorherige Vorhaben für einen Kanal durch Nicaragua nicht umgesetzt wurden, gesammelt, analysiert und den Bauern gegeben. Die Bauerngruppen haben sich zu einem Dachverband zusammengeschlossen, 25 Vertreter von Kommunen bilden diesen Rat. Von ihnen sind heute sechs Anführer im Gefängnis, andere leben im Exil oder verstecken sich. Sie hatten protestiert und sind mit LKWs von ihren Dörfern bis Managua gezogen. Auf die Demonstrationen antwortete die Regierung mit Polizeigewalt. Der politische Druck hat sich 2018 in einen polizeilichen, militärischen bewaffneten Druck verändert und das bei der Außerkraftsetzung aller anwendbaren Gesetze und Vorschriften.

Was wäre eine Forderung an Deutschland und europäische Staaten, wie eure Arbeit unterstützt werden könnte?
Wir als NGOs kriegen zum Teil Geld von europäischen Regierungen durch Stiftungen. Dieses Geld bekommen bisher nur Organisationen, die den Status einer juristischen Person haben. Immer mehr nicaraguanische NGOs verlieren diesen Status durch aktuelle Maßnahmen der Regierung. Sie werden enteignet, von den Bankkonten über die Büroeinrichtung bis zu ihren Gebäuden. Aktivisten werden verfolgt, immer mehr müssen fliehen oder sich verstecken. Wie können wir als „nicht eingetragene Vereine“ weiterhin Geld und Unterstützung aus Europa bekommen? In Zukunft müssen die Verwalter der Gelder für NGOs natürliche Personen sein – gegenseitiges Vertrauen und neue Methoden des Transfers und der Abrechnung müssen her. Aus den Erfahrungen mit anderen Diktaturen – wie unter Pinochet, während der Apartheid oder DDR – und der Hilfe für die Widerstandsarbeit gibt es sicher einiges zu lernen. Für Nicaragua bräuchten wir Solidarität, dass Unterstützer in Deutschland, die deutsche Regierung und andere in Europa uns helfen. Denn wenn es so weitergeht, können wir nicht nur enteignet werden, sondern auch als „Terroristen“ im Gefängnis landen. Wir brauchen größtmögliche Aufmerksamkeit, direkte materielle Hilfe sowie politischen und ökonomischen Druck auf das Regime. Die zurückgewiesene „Einmischung in interne Angelegenheiten” ist nur ein Trick des Regimes, um die Solidarität aufzuhalten.

 

NICARAGUA IST EIN RIESIGES HAUS

Te quiero mucho Essen für den inhaftierten Ehemann (Foto: Fred Ramos/Elfaro.net)

„Siehst du, Reisender, seine Tür ist offen, das ganze Land ist ein riesiges Haus. Nein, du hast nicht den falschen Flughafen erwischt: Steig einfach ein, du bist in Nicaragua.“
Julio Cortázar, 1980.

Im Haus der Familie Valle steht seit dem 14. Juli ein Stuhl leer. Und es ist nicht immer derselbe. Das Haus der Familie Valle in Managua ist ein Gefängnis, in dem eine Mutter, ihre beiden Töchter und ihr Sohn auf die Polizei warten, die eines Tages die Tür aufbrechen und sie verschleppen könnte, wie sie es bereits mit Hunderten getan hat. Sie wollen nicht weg. Das können sie nicht. Nicht, solange der Vater noch im Gefängnis El Chipote eingesperrt ist. Jemand muss ihm Essen bringen und ihn am Dienstag daran erinnern, dass er nicht allein ist, auch wenn es nur eine halbe Stunde ist. Dass sie immer noch da sind. Gemeinsam im Kampf gegen die Diktatur von Daniel Ortega und Rosario Murillo. Rebeca Montenegro, die Mutter, steht immer zuerst auf. Nachdem sie sich gewaschen und ihren Kaffee getrunken hat, legt sie Holzkohle auf den Herd. Das Rindfleisch wird solange gekocht, bis es schwarz wird, ein wenig hart. Rebeca kocht für ihren Mann, Carlos Valle, der seit mehr als hundert Tagen im Gefängnis sitzt, ohne dass gegen ihn Anklage erhoben worden ist.

Zum Mittagessen bereitet sie das Fleisch, den Reis, die Bohnen und Bananenchips und eine Flasche gefrorenes Wasser zu. Carlos wird etwas Gerste hinzufügen, um daraus Limonade zu machen. Die beiden Durapax-Schalen sind zum Platzen gefüllt. Sie schreibt den Namen ihres Mannes mit einem schwarzen Marker darauf. Unter dem Namen, drei Buchstaben: T.Q.M. – Te quiero mucho, auf Deutsch: Ich liebe dich sehr.
Rebeca ist bereit für ihre tägliche Pilgerreise in das dunkelste Gefängnis des Landes. Mit ihren 44 Jahren ist sie eine markante Erscheinung. Sie ist groß und stark. Aufrechte Haltung. Sie verabschiedet sich von ihrem Sohn David, 22 Jahre alt, bedächtig und langsam, groß und bärtig, und von ihren Töchtern: von der robusten Elsa, 19 Jahre alt und von der 16-jährigen Rebeca, schwarz gekleidet und schweigsam.

Rebeca kocht für ihren Mann, Carlos Valle, der seit mehr als hundert Tagen im Gefängnis sitzt 

Es wäre nicht das erste Mal, dass ihr Mann für eine Weile ohne Essen bleibt. Das bescheidene, aber gut organisierte Haus strahlt Festigkeit und Entschlossenheit aus, aber auch Traurigkeit, Erschöpfung, anhaltende Spannung und beständigen Konsum von Fernsehserien auf dem Sofa. Gerade ist das zehnte Kapitel der fünften Staffel von den Wikingern dran.Das Taxi, klapprig und von mehreren zugleich benutzt, weil es billiger ist. Keiner redet während der Fahrt. Jeder weiß es. Als sie ihren Kopf durch das Fenster schiebt und nach dem Preis fragt, sagt sie, wohin sie fahren wolle. Um nach El Chipote zu gelangen, muss man Luft holen und Mut haben. Das Gefängnis so mancher Diktaturen in Nicaragua wirft seit fast 90 Jahren seinen Schatten auf das an der Loma de Tiscapa gelegene Land, nahe dem Zentrum von Managua. Es befindet sich am Ende eines steilen Abhangs. Durchflutet von einem Wärmestrahl. Ein Dutzend Männer sitzt auf einer kleinen Mauer. In den Händen halten sie Holz- und Metallstangen. Als Rebeca an ihnen vorbeigeht, beladen und erschöpft, schlagen sie mit den Stangen auf den Boden. Klopf, klopf, klopf, klopf. Sie starren sie an – Verfolger. Vor dem Tor, Stille und Unbehagen.

Während des Wartens nähern sich die Frauen nacheinander und klammern sich an Taschen und Ordner voller Papiere. Ohne auf die Gitter und die Polizisten zu blicken, murmeln sie den Namen ihres Familienmitglieds und die Dauer seiner Inhaftierung. Ein Monat, drei Monate, sieben Monate. Diejenigen, die hier in dem Loch der willkürlichen Inhaftierung eingesperrt sind, wissen nicht, wessen sie beschuldigt werden. Es gibt keine Anklage gegen sie, sagen sie, noch wurden sie in vielen Fällen einem Richter vorgeführt. Die Polizei öffnet das Tor. Ohne ein Wort zu wechseln, fast ohne aufzublicken, nennt Rebeca den Namen des Gefangenen, Carlos Valle, übergibt die Taschen, zeigt ihren Ausweis, unterschreibt und muss wieder gehen. Wie alle anderen auch.

Alle drei Kinder waren alle schon in demselben Gefängnis inhaftiert wie ihr Vater

Von innen kommt ein offener Pick-Up mit quietschenden Reifen. Drei vermummte Polizisten, die sich an ihre Waffen klammern, nehmen einen Mann in Handschellen mit. Eine der Frauen erkennt ihre Mutter in der Kabine. Sie wird aufgeregt. Sie weint. Sie ruft: „Mama! Wo bringt ihr sie hin?“ Die anderen antworten. „Lauf, lauf, geh ein Taxi rufen, geh zum Gericht, da kannst du sie sicher sehen.“ Sie läuft allein bergab. Später werden wir erfahren, dass das Treffen mit einem Gefangenen im Gerichtsgebäude dazu führen kann, dass die ganze Familie in El Chipote landet. Auch für Rebecas Leben hat die Inhaftierung ihres Mannes Konsequenzen. Als Anwältin und Notarin wurde sie von ihrem Job in der Verwaltung entlassen, nachdem sie 16 Jahre lang auf dem Gebiet der technischen Ausbildung von Studenten gearbeitet hatte. Sie wurde geschlagen.

Die Familie Valle zahlt so ihr Leidensgeld für die Teilnahme am blau-weißen Aufstand gegen das Regime von Daniel Ortega und Rosario Murillo. Seit Beginn der Rebellion am 18. April 2018 gab es mehr als 300 Tote und mehr als 600 politische Gefangene. Tausende von Menschen sind ins Exil ins Ausland geflohen oder haben sich überall im Land in sicheren Häusern versteckt. Eine Zeitung, Confidencial, und zwei Fernsehsender, Esta Semana und 100% Noticias wurden verboten. Die übrigen kritischen Medien und ihre Journalist*innen sind bereit, den gleichen Weg zu gehen – Gefängnis oder Exil. Fast alle nicaraguanischen Nichtregierungsorganisationen, die gekämpft haben, wurden geschlossen; internationale Menschenrechtsorganisationen, die angeprangert haben, was in Nicaragua geschieht, wurden aus dem Land ausgewiesen. Familie Valle ist ein Opfer dessen, was die von der Organisation Amerikanischer Staaten eingesetzte Gruppe unabhängiger Expert*innen in ihrem Bericht über die Ereignisse in Nicaragua als von der Regierung begangene „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ bezeichnet hat. Menschen wurden ermordet, verfolgt, willkürlich inhaftiert, beschuldigt, geschlagen, in irgendeiner Weise gefoltert, gedemütigt, bedroht und mit Entlassung von ihren Arbeitsplätzen für ihr politisches Engagement bestraft. Wie fast alle nicaraguanischen Geschichten ist die politische Geschichte von Carlos Valle ein Kreislauf des Kampfes gegen die Diktatur, der sich in sich schließt. Sie beginnt während der Diktatur von Anastasio Somoza in den 1970er Jahren und setzt sich während der Diktatur von Daniel Ortega und Rosario Murillo, fast ein halbes Jahrhundert später, fort. Das Gefängnis El Chipote ist der rote Faden, der Nicaragua während seiner Diktaturen verbindet. Die Zeit vergeht und die Unterdrückung wiederholt sich. In Nicaragua gibt es heute mehr politische Gefangene als am Ende der Somoza-Diktatur.

Nicht vollständig Ein leerer Stuhl am Tisch der Familie Valle (Foto: Fred Ramos, Elfaro.net)
Das Leben ihres Mannes Carlos und die Politik seien eins, sagt Rebeca. Als er 16 Jahre alt war, sei er von zu Hause weggelaufen. Er war Mitglied der sandinistischen Guerilla. Er hat immer noch seinen rechten Arm voller Scharniere. Nach dem Sieg der Revolution arbeitete er im Bereich der Grundnahrungsmittel und der Lebensmittelverteilung. Er sei enttäuscht gewesen, erzählt Rebeca, von der Kluft zwischen dem Sozialismus in Worten und dem in Taten. Irgendwann ging er ins Exil und kehrte als Mitglied der Konstitutionalistischen Liberalen Partei, deren Stadtrat er von 2001 bis 2007 in Managua war, nach Nicaragua zurück. Dann arbeitete er als Baseball-Reporter für den Radiosender Corporación und fuhr sogar Taxi. Das Autowrack liegt noch im Innenhof des Hauses. „Mein Vater hat uns immer beigebracht, für das zu kämpfen, woran wir glauben“, sagt David. „So sind wir mit klarer Entschlossenheit zum Protest gekommen. Das nimmt einem die Angst nicht, aber man fühlt sich dem Kampf verbunden.“ Carlos Valle wurde am 15. September 2018 auf der Straße verhaftet. Er kehrte nach einem Protestmarsch mit seiner Frau, seiner jüngsten Tochter und dem Sohn nach Hause zurück. Sie trugen ein Banner, auf dem sie die Freilassung der 19-jährigen Elsa forderten, der mittleren Tochter. Seit zwei Monaten war sie da schon im Gefängnis.In der Nähe des Marktes Roberto Huembes seien sie von einem Mann auf einem Motorrad angesprochen worden, erzählt Rebeca. „Danke Gott, dass deine Tochter nicht getötet oder in einem Kanal vergewaltigt wurde“, habe der Mann auf dem Motorrad gesagt. „Wir Nicaraguaner haben Blut in den Adern und kein Gelee“, erklärt Rebeca, also versetzte Carlos ihm einen Schlag auf den Helm. Rückblickend glaubt Rebeca, dass es eine Falle war: Jemand sollte Carlos provozieren, um somit einen Grund zur Verhaftung zu schaffen.

Einige Blocks später sei eine Patrouille aufgetaucht: Ein halbes Dutzend Polizist*innen und ein paar Männer in Zivil. Carlos habe das Telefon und die Brieftasche weggeworfen und versucht zu fliehen, erzählt Rebeca, schaffte es aber nicht. Die 16-jährige gleichnamige Tochter Rebeca erzählt, dass sie einzugreifen versuchte. „Ich begann, die Polizisten zu schlagen, und sie schlugen mir gnadenlos ins Gesicht und schoben mich weg“, sagt sie. Mutter und Vater wurden mitgenommen, sie selbst blieb zurück, den Bruder David hatte sie aus den Augen verloren. Carlos wurde auf die Ladefläche des Trucks geworfen. „Ich habe mit den Polizisten gerangelt, bis ich nicht mehr konnte“, sagt Rebeca, die Mutter. „Ich bin hochgestiegen. Ein Polizist, der über meinem Mann war, richtete die AK (Maschinengewehr) auf ihn. ‚Erschieß ihn‘, sage ich, ‚ich werde dich bis in die Ewigkeit verfolgen.‘“ Als sie an der Polizeistation 5 ankamen, wurde Rebeca getreten und weggezerrt. „Der Mund meines Mannes war voller Blut.” Während der Verhaftung, erzählt David, habe er sich eine Nummer auf dem Fahrzeug gemerkt, mit dem seine Eltern weggebracht wurden: Distrikt Fünf. Da sei er hingegangen. Und dann ebenfalls verhaftet worden. Vater und Sohn wurden dann nach El Chipote geschickt. Sie wurden beide auf der Ladefläche eines Lieferwagens abgelegt. Acht Stunden habe ein kollektives Verhör gedauert, erzählt David. Man habe sie beleidigt, Dinge gesagt wie: „Ihr Hunde werdet sterben.“ Am Ende konnte David nichts angelastet werden. Sein Vater, Carlos, blieb in El Chipote.

Die Kinder von Carlos Valle dürfen ihn nicht besuchen

Eine ungeschriebene, aber praktizierte Regel besagt: Niemand, der jemals Gefangene*r in El Chipote war, darf einen Gefangenen in El Chipote besuchen. Alle drei Kinder von Carlos Valle waren bereits in El Chipote. Zuerst Elsa, als Verantwortliche der Lebensmittelversorgung der Studierendenproteste. Sie war beim Mittagessen im Haus einer Freundin. „Die Polizei öffnete gewaltsam das Tor. Wir wurden von den Spitzeln in der Nachbarschaft denunziert, die uns hereinkommen gesehen hatten. Nach einer Fehlgeburt im Gefängnis und einer Inhaftierung unter üblen Bedingungen ist Elsa Ende September schließlich frei gekommen. Im November machen die Schwestern Elsa und Rebeca den Fehler, an ein Gerücht zu glauben. Jemand sagte ihnen, dass ihr Vater vor Gericht kommen würde. Sie zögerten keine Sekunde. Sie nahmen im Gerichtssaal Platz. Allein. Mit einem Plakat. Sie gaben mehrere Interviews, während sie auf das Fahrzeug warteten, das ihren Vater bringen würde. Es kam nie. Stattdessen kamen zwei Patrouillen mit einem Dutzend Polizist*innen darin. Sie nahmen sie fest wegen der Interviews. Die Journalist*innen entfernten sich. Elsa hat darüber nachgedacht, das Land zu verlassen.

Tausende sind nach Costa Rica geflohen. Fast alle ihre Compañerxs aus der UPOLI-Besetzung sind dort. Sie hat es einmal versucht. Sie hatte Angst, heimlich über die Grenze zu gehen. Wieder ins Gefängnis zu kommen, wenn sie verhaftet würde. Sie zieht das Haus vor, auch wenn es irgendwie auch ein Gefängnis ist.„Ich bin zu allem bereit. Wenn du zu den Waffen greifen musst, mach ich das“, sagt die Mutter. David widerspricht ihr. „Wir haben in so kurzer Zeit so viel erreicht, dass wir mit Waffen nicht weiter kommen werden. Du musst standhaft bleiben und warten“, sagt er. Er spielt mit seinem Handy. Auf der Hülle ist eine Pistole abgebildet. „Wenn wir Waffen hätten, würde diese Regierung nicht einmal zwei Wochen weiter bestehen”, sagt die Mutter hartnäckig, und bringt eine Tatsache zur Sprache, auf die David nicht besonders stolz ist. Das Taxi im Innenhof. Das kaputte Taxi. David hat es zertrümmert. Die Spannung, eingeschlossen zu sein. Die Erinnerung an die toten Compañerxs. Der Groll. Der Stress. Die allseits gegenwärtige Gewalt berührt jeden und gibt einem Monster Gestalt, das jeder zähmt und so handhabt, wie er kann.

 

„WIR MACHEN DAS NICHT, WEIL WIR ES WOLLEN”

Natividad Llanquileo (Foto: David Rojas Kienzle)

Die im Luchsinger-Mackay-Fall angeklagten Mapuche wurden wegen Brandstiftung mit Todesfolge in zwei Fällen zu je 18 und im dritten Fall zu fünf Jahren Haft verurteilt. Welche Beweise veranlassten das Gericht zu diesem Urteil?
Der einzige Beweis war die Aussage eines Polizisten, der angab, dass der Verurteilte José Peralino 2016 ein Geständnis abgelegt und darin auch die anderen Verurteilten beschuldigt hatte. In der Folge wurde ein Prozess gegen insgesamt elf Personen eröffnet, von denen jetzt drei verurteilt wurden. Dabei hat José Peralino diese Aussage, die unter Folter erfolgte, widerrufen.

Der einzige Beweis ist also die Erinnerung eines Polizisten an das Verhör eines Angeklagten vor zwei Jahren?
Genau. Das ist nur möglich, weil der Fall zunächst nach dem Antiterrorgesetz behandelt wurde. Demnach ist die Aussage eines einzelnen Polizisten für eine Verurteilung zu langjährigen Haftstrafen ausreichend. Der terroristische Charakter der Straftat wurde vom Obersten Gerichtshof zwar aberkannt, aber alle Ermittlungen wurden entsprechend des Antiterrorgesetzes geführt.

Kann man gegen das Urteil noch vorgehen?
Auf nationaler Ebene haben wir mit dem Urteil des Obersten Gerichtshofs alle juristischen Mittel ausgeschöpft. Es bleibt noch die Anzeige bei der Interamerikanischen Menschenrechtskommission. Die Anwälte von José und Luis Tralcal befassen sich derzeit damit und CIDSUR versucht, sie dabei zu unterstützen. Wir haben außerdem wegen Beschaffung falscher Beweismittel durch Folter Strafantrag gegen die Polizei gestellt, aber der Fall wurde bis heute nie richtig ermittelt.

Hat es während des Prozesses Unregelmäßigkeiten gegeben?
Ja. Eine kritische Richterin hat Beschwerde eingereicht, weil sie von einem anderen Richter durch Mobbing unter Druck gesetzt worden ist. Sie wurde durch einen weniger kritischen Richter ersetzt, der in der Karriereleiter aufsteigen wollte. Der Präsident von Chile entscheidet über die Besetzung hoher öffentlicher Ämter. Während also Piñera im Wahlkampf das Ende des Terrorismus versprach, bewarben sich viele am Prozess beteiligte Richter auf solche Stellen. Piñeras Wahlkampf wurde dabei auch von den Kindern des bei dem Brandanschlag getöteten Ehepaars Luchsinger-Mackay finanziell unterstützt. Doch der Terrorismus ist in Wirklichkeit natürlich nur erfunden. Diverse internationale und nationale Organisationen haben das mehrfach festgestellt. Noch nie wurde ein Mapuche wegen Terrors verurteilt.

Liegt das größte Problem in den bestehenden Gesetzen, mangelnder Rechtsstaatlichkeit oder geht es schlicht um Rassismus?
Ich denke, es ist vor allem Ignoranz bezüglich der internationalen Normen und der Realität der Indigenen in Chile, insbesondere der Mapuche. Dabei ist z.B. die ILO-Konvention 169 (Übereinkommen über indigene Völker der Internationalen Arbeitsorganisation, siehe LN 435/436, Anm. d. Red.) klar – aber sie wird nicht respektiert. Der chilenische Staat wurde auch bereits mehrfach für seine Kriminalisierungspolitik verurteilt, aber der Modus Operandi bleibt gleich. Die Gerichte halten sich an vorangegangene Fälle, um sich nicht mit dem eigentlichen Konflikt um die indigenen Gebiete auseinandersetzen zu müssen und folgen einfach der Politik. Ich möchte glauben, dass das mit Unwissen und Ignoranz zu tun hat, aber natürlich spielen auch die kolonialen Besitzverhältnisse eine Rolle. Viele Juristen oder ihre Familien haben Land, auf das Mapuche Anspruch erheben. Außerdem existiert ein sehr schlechtes Bild der Mapuche. Früher galten sie als faule Trinker, heute als Terroristen.

Lassen sich denn internationale Verurteilungen so leicht ignorieren?
Da geht es immer um sehr spezifische Fälle. Wenn Chile verurteilt wird, weil Mapuche nach dem Antiterrorgesetz verfolgt werden, dann heißt es in dem Urteil, das sei Diskriminierung. Damit einher gehen dann zwar auch konkrete Anweisungen, manchmal gibt es sogar Entschädigungen. Aber die Regierung bezieht das immer nur auf die Opfer dieses einen Falls. Und die Medien berichten nur solange, wie Mapuche unter Anklage stehen. Wenn aber die Anklage fallengelassen oder der Staat sogar international verurteilt wird, berichten sie nicht mehr. Im kollektiven Gedächtnis bleibt das Bild des kriminellen Mapuche. In diesem Zusammenhang spielen die alternativen Medien heute eine wichtige Rolle, denn sie bleiben bis zum Schluss an den Fällen dran.

Denken Sie, dass sich trotz der Kriminalisierung auch radikale Mittel des Protestes lohnen?
Es ist schwer zu sagen, wo der richtige Weg liegt, um diesen Konflikt zu lösen. Die Entscheidung über die Art des Protests liegt letztendlich bei den einzelnen Mapuche-Gemeinden. Wir als Verteidigung entscheiden da nicht mit, auch wenn wir selbst Mapuche sind. Meine Arbeit sehe ich als ein politisches Mittel, das dringend nötig ist. Wir machen das nicht, weil wir das wollen, sondern weil wir es müssen. Gäbe es keine kritische Organisation wie CIDSUR, wären wahrscheinlich schon mehrere Mapuche nach dem Antiterrorgesetz verurteilt worden.

Wie finanziert CIDSUR die juristische Arbeit?
Das ist ein schwieriges Thema. Natürlich hat jeder Angeklagte in Chile das Recht auf eine juristische Verteidigung. Aber die Angeklagten brauchen besonders in unseren Fällen nicht nur irgendeinen Anwalt, sondern jemanden, dem sie vertrauen. Denn die Unterwerfung unter das chilenische Rechtssystem stellt für viele Familien und Gemeinschaften der Mapuche einen ernsthaften Konflikt dar. Aus dieser Not heraus ist CIDSUR überhaupt erst entstanden. Die finanziellen Mittel für die Verteidigung kommen zum größten Teil von den Angeklagten selbst, die so viel zahlen, wie sie können. Das ist meist nur ein Bruchteil von dem, was ein Anwalt für die juristische Arbeit fordern würde, denn die Mapuche gehören zum ärmsten Teil der Bevölkerung in Chile.

Haben Sie als Anwältin von Mapuche-Angeklagten schon selbst Diskriminierung erfahren?
Fast alle Anwälte, die Mapuche vor Gericht verteidigt haben sind schon fälschlich irgendeiner Straftat beschuldigt worden oder waren Schikanen seitens der Polizei ausgesetzt. Im Anwaltsteam von CIDSUR gibt es drei Mapuche, von denen ich am längsten dabei bin, seit 2016. Gegen mich persönlich wird schon seit längerer Zeit immer wieder wegen irgendetwas ermittelt, das ist für mich kein Thema mehr. Allerdings bedeuten solche Ermittlungen für uns, dass wir nicht nur unsere Klienten, sondern auch unsere Kollegen verteidigen müssen.

Unterscheidet sich die jetzige Regierung unter Sebastián Piñera von der vorherigen von Michelle Bachelet hinsichtlich der Verfolgung und Repression der Mapuche?
Leider sehe ich da kaum einen Unterschied. Aber der Diskurs von Piñera ist sehr viel schärfer und das hat auch die Polizei entfesselt. Sie macht, was sie will, da sie um die Rückendeckung der Regierung weiß.

Was denken Sie über den “Plan Impulso Araucanía” der Regierung Piñera, der unter anderem 16 Millionen Dollar privater Investitionen in der Region Araucanía vorsieht?
Ich glaube, er wird die vorhandene Krise noch weiter vertiefen. Es wird viel von wirtschaftlichen Projekten und Investitionen gesprochen, aber diese Projekte werden das Leben in den Gemeinden zerstören. Alles hängt mit wirtschaftlichen Themen zusammen, alles soll gekauft werden. Durch die Einrichtung eines Fonds zur finanziellen Entschädigung von angeblichen Opfern des Terrorismus rechtfertigt der Plan außerdem den verheerenden Terrorismusdiskurs.

Berücksichtigt der Plan die Hauptforderung der Mapuche-Bewegung nach der Rückgabe des ehemaligen Territoriums?
Durch Änderungen des Indigenengesetzes soll zukünftig der Verkauf indigener Gebiete erlaubt sein. Durch die große Armut unter der indigenen Bevölkerung würde das dazu führen, dass viele Mapuche ihr Land verkaufen. In dieser Hinsicht führt der Plan zu einer Verschlechterung.

Lässt sich wenigstens den geplanten Quoten für indigene Parlamentarier*innen etwas Positives abgewinnen? Oder der vorgesehenen konstitutionellen Anerkennung der indigenen Bevölkerung?
Der Plan kündigt eine Anerkennung der indigenen Völker in der Verfassung an, allerdings nicht, wie genau diese aussehen soll. Wahrscheinlich wird dabei nichts Wesentliches herauskommen. Wenn zukünftig nur in der Verfassung steht: “In Chile gibt es verschiedene Kulturen”, ist damit nichts gewonnen, denn das ist eine bekannte Tatsache. Die Nutznießer von Quoten werden nicht die indigenen Völker sein, sondern die Parteien. Es wird am Ende vielleicht mehr indigene Abgeordnete geben, aber sie werden eher die Interessen der Parteien vertreten als die ihres Volkes. So ist es jetzt schon bei mehreren im Parlament vertretenen Mapuche.

Wenn es trotz wechselnder Regierungen keine Veränderungen zum Besseren gibt, sehen Sie dann eine Zukunft für die Mapuche als Teil des chilenischen Staats?
Ich bin Optimistin, für die Mapuche sehe ich trotz der aktuellen schwierigen Situation eine Zukunft. Das Wichtige ist, dass daran gearbeitet wird: Solange es Bewegung gibt, sieht man auch eine Zukunft. Es gibt eine Tendenz unter den Mapuche, sich wieder stärker als solche zu identifizieren. Die neuen Generationen sind jetzt stolz darauf, wer sie sind, das gab es früher nicht. Heute lernen die Jugendlichen die Sprache Mapuzungun und die Geschichte und Medizin der Mapuche. Viele Künstler eignen sich das wieder an, was die Mapuche ausmachte, bevor es den Staat Chile gab. Eine Zukunft gibt es also. Wie genau wir sie erreichen, das wissen wir leider noch nicht.

Beeinflussen solche Entwicklungen auch Ihre Arbeit als Juristin?
Wir Juristen müssen immer erst das Feuer löschen (lacht). Uns bleibt leider wenig Zeit, uns mit solchen Dingen auseinander zu setzen. Dafür braucht es mehr Leute, die sich damit beschäftigen, wie wir Mapuche-Traditionen mit unserer juristischen Arbeit verbinden können. Doch zum Glück fangen einige gerade damit an.

NOTSTAND IN QUINTERO UND PUCHUNCAVÍ

„Schluss mit den Opferzonen, Schluss mit der Verschmutzung“, fordern wieder einmal Anwohner*innen der beiden Städte Quintero und Puchuncaví, die nördlich von Valparaíso gelegen sind. In der letzten Augustwoche häuften sich Fälle von Schüler*innen verschiedener Schulen, die wegen Kopfschmerzen, Übelkeit und teils auch gestörter Sensibilität der Gliedmaßen in den örtlichen Notfallaufnahmen behandelt wurden. Die Symptome sind mögliche Anzeichen für eine Vergiftung, die durch das Einatmen von flüchtigen Kohlenwasserstoffverbindungen verursacht werden kann. Bis heute steigt die Anzahl der von den Symptomen Betroffenen. Anfang Oktober lag sie bei über 600 und Ende Oktober schon bei etwa 1000 Personen. Das regionale Ministerialsekretariat für Gesundheit rief zwei Tage nach dem Auftreten der ersten Vergiftungssymptome die mittlere Warnstufe aus. Diese Aktion hatte die zeitweise Schließung der Schulen zur Folge, sowie Sofortmaßnahmen zur Einstellung des Betriebs einiger Unternehmen, um über dem Grenzwert liegende organische Verbindungen in der Luft zu reduzieren. Die zuständigen staatlichen Stellen, in erster Linie das Umwelt- und das Gesundheitsministerium, reagierten zwar medienwirksam, aber insgesamt völlig unzureichend bei der Ergründung und Aufklärung der Vorkommnisse. So kommentierte der Pressesprecher des Ministeriums im Moment des Ausbruchs der Symptome vor dem überfüllten Krankenhaus, dass alles in bester Ordnung sei. Weiterhin wurden keinerlei Maßnahmen für statistische Erhebungen ergriffen, um auf ein Krankheitsbild und damit auf mögliche Ursachen schließen zu können. Wodurch die Symptome also tatsächlich hervorgerufen werden, wurde bislang offiziell nicht festgestellt.

Eine vom Umweltministerium erst im Februar angeschaffte „Wundermaschine“ konnte auch nicht weiterhelfen. Sie wurde zur Messung der in der Luft gelösten, flüchtigen organischen Verbindungen vor Ort eingesetzt, aber von Angestellten bedient, die die entsprechende Einweisung noch nicht erhalten hatten. Die Ergebnisse der Messung konnten daher nicht fachgerecht ausgewertet werden. Trotzdem wurde ein Teil dieser Rohergebnisse direkt an die Medien gefiltert, worauf ein weiteres Beispiel staatlicher Inkompetenz folgte: Die Nachricht wurde von Präsident Piñera und dem Gesundheitsminister kommentiert, als sei sie ein ernstzunehmendes Ergebnis der Messung des Umweltministeriums. Das offizielle Ergebnis „Kohlenwasserstoffverbindungen würden in der Luft liegen“, war schließlich so genereller Art, dass es keine weiterführende Erkenntnis brachte. Fakt ist, dass die Bevölkerung der Region seit mindestens 50 Jahren der Luft-, Boden- und Wasserverschmutzung des unzureichend kontrollierten Industriegebiets ausgesetzt ist. Dieses entstand in den sechziger Jahren, als Chile wie andere lateinamerikanische Staaten seine Wirtschaft zu diversifizieren versuchte. In dieser Phase galten selbst hoch verschmutzende Industrien als Fortschrittsmotor. Aber innerhalb der Arbeitsplätze, die dadurch geschaffen wurden, nehmen die Anwohner*innen Quinteros und Puchuncavís die prekärsten Posten ein, während Ingeneur*innen und anderes hochqualifiziertes Personal es sich finanziell leisten kann, weit abseits der belasteten Gegenden zu leben. In dem Industriegebiet ist eine ganze Bandbreite von Industrien vertreten, die durch ihre Emissionen nicht nur das einst hohe touristische Potenzial der Region einschränken, sondern auch Landwirtschaft und Fischerei. Den Anfang machte das schon genannte staatliche Unternehmen zur Ausbeutung der Kupfervorkommen Codelco. Daneben gibt es auch Firmen wie Enap und Gasmar, die Erdöl verarbeiten, sowie die Raffinerie Copec und den Chemieproduzenten Qxiqium.

Alle Einwohner*innen sind einem ernsten gesundheitlichen Risiko ausgesetzt

„Das Problem an dem Industriegebiet ist, dass die Umweltverschmutzung vielfältig ist und der Ansiedlungsprozess schrittweise stattfand“, erklärt Aníbal Vivaceta, Umweltaktivist und Facharzt für öffentliche Gesundheit sowie ehemaliger Ministerialsekretär für Gesundheit in der Region. Es gebe verschiedene, teils nachgewiesene Schadstoffbelastungen in Boden, Wasser und Luft, die kurzfristige sowie langfristige Schäden nach sich ziehen. Kohlenstoffverbindungen und Schwefeldioxide haben eher unmittelbare, nicht ganz so schwerwiegende Effekte. Schwermetalle wie Arsen sind hingegen für tiefgreifende gesundheitliche Schäden verantwortlich. Keiner dieser Schadstoffe ist allerdings auf die leichte Schulter zu nehmen, denn, so Vivaceta:„Hohe Konzentrationen an Kohlenmonoxid beeinträchtigen nachgewiesenermaßen die schulischen Leistungen und Schwefeldioxid führt zu allergieähnlichen Symptomen. Damit stellen beide eine erhebliche Einschränkung des täglichen Lebens dar.“ Die ansässigen Unternehmen selbst garantieren nur die Überwachung einiger Schadstoffe und dies machen sie auch noch unvollständig. Von den staatlichen Plänen zur Dekontaminierung wurde bislang keiner durchgeführt.

In Zukunft könnte sich die Lebensqualität der ansässigen Bevölkerung sogar noch verschlechtern, denn es stehen nach offiziellen Plänen weitere 500 Hektar für die Ausdehnung des Industriegebietes zur Verfügung. Diesen Ausbauplänen und den Emissionen der bestehenden Industrieunternehmen stellt sich, verstärkt seit 2011, eine vielfältige Widerstandsbewegung entgegen. Sie setzt sich aus Anwohner*innen selber zusammen, die von Umweltaktivst*innen, Akademiker*innen und Studierenden unterstützt wird. 2011 entzündete sich der Zorn der Bevölkerung, weil zahlreiche Schüler*innen einer Schule mit Schwermetallen vergifteten worden waren, 2014 aufgrund einer Ölpest in der Bucht. Doch noch nie war die Mobilisierung so stark und anhaltend wie jetzt. Höhepunkt war bislang eine Demonstration, die einen Teil der Überlandstraße und Zubringerwege stilllegte. Zwischenzeitlich besetzen Schüler*innen zeitgleich fünf Schulen der Orte, um ihren Protest auszudrücken. Greenpeace prägte den Begriff des „chilenischen Tschernobyl“, um die Tragweite der Situation zu verdeutlichen, die landesweit Schlagzeilen macht. Im Bewusstsein, jahrzehntelang Kontaminierungen ausgesetzt gewesen zu sein, tun die Anwohner*innen ihre Sorge um ihre Gesundheit und der ihrer Familien kund. In offenen Bürgerversammlung wurde unter anderem auch eine bessere örtliche medizinische Versorgung gefordert. Es ist möglich, dass die aktuelle Mobilisierung die Änderung einiger Umweltnormen zur Folge haben wird, aber „ob diese dann umgesetzt werden, ist eine ganz andere Frage“, so Vivaceta. Da das Zusammenleben von Industriepark und Menschen langfristig unmöglich scheine, müsse es in absehbarer Zeit entweder zu einer Umsiedlung der Betroffenen oder zu einem Strukturwandel, beispielsweise durch umweltschonendere Technologien, kommen, fügt er hinzu.

Quintero-Puchuncaví, das ist „nur“ eine von vielen sogenannten „Opferzonen“ Chiles, in deen Umweltregulierungen in höchstem Maße die Unternehmen übervorteilen. Wie ein roter Faden durchziehen diese Zonen den neoliberalen Staat und bringen unverschleiert seine Vorgehensweise zum Ausdruck.

LAHMGELEGTES LAND

Taxifahrer*innen in Sorge Proteste gegen Uber verschmelzen mit Streiks der Staatsbediensteten (Foto: Hakan S. Krohn/Wikimedia.org CC-BY-2.0)

Es ist eine illustre Gruppe, die sich dort an der Absperrung trifft: Neugierige Tourist*innen, genervte LKW-Fahrer*innen und entspannte Busfahrer*innen. Sie alle sind zum Stauanfang gekommen, um zu sehen, was der Grund für die lange Wartezeit ist. Auf der anderen Seite der Absperrung steht eine Gruppe von etwa 200 Menschen. Eine Band spielt Musik, es gibt Grills und eine kleine Bühne. Was wie ein Volksfest wirkt, hat einen ernsten Hintergrund: Die Staatsbediensteten streiken. Und nicht nur das – die Angestellten des öffentlichen Dienstes blockieren die großen Verkehrsstraßen des Landes. In kleinen Gruppen versperren sie bevorzugt Brücken, also jene Engpässe, an denen es keine alternativen Routen gibt. Für das wirtschaftlich von Tourismus und Fruchtexport abhängige Land kommt das einer Erpressung gleich. Grund der Streiks ist die aktuelle Steuerreform. Die verheerende Haushaltslage des Landes verlangt nach Lösungen. Im laufenden Jahr droht eine Neuverschuldung von über sieben Prozent des BIP. Die Reform ist kein leichtes Unterfangen. Eine Besonderheit Costa Ricas ist die verfassungsrechtliche Regelung einiger Haushaltsposten. Insgesamt 34 Prozent des Staatshaushaltes sind von solchen festen Quoten, vor allem im Bildungs- und Gesundheitsbereich, betroffen. Gemeinsam mit den 53 Prozent für die Schuldentilgung stehen damit 87 Prozent des Haushaltes nicht zur freien Verfügung. Was übrig bleibt, reicht nicht mehr für politische Projekte und die öffentlichen Angestellten. Deshalb sei die Reform laut Präsident Alvarado zwar eine „bittere Pille“, aber unabdingbar für den Schutz des sozialstaatlichen Modells des Landes. Kernelement der Steuerreform ist eine allgemeine Mehrwertsteuer in Höhe von 15 Prozent, die die aktuelle Konsumsteuer von 13 Prozent ersetzt. Damit fallen auch Dienstleistungen unter diesen Steuersatz. Mit einem Prozent werden erstmals auch Grundnahrungsmittel wie Reis und Bohnen besteuert. Zudem werden neue Steuern auf hohe Verbrauchsmengen an Wasser, Strom und Wohnraum erhoben, wovon jedoch über 90 Prozent der Bevölkerung nicht betroffen sein werden.

Die Blockaden kommen einer Erpressung gleich

Das allein wird nicht reichen, um den Haushalt zu konsolidieren. „Im Rahmen der Krise suchten wir nach konkreten Einsparmöglichkeiten“, erklärt Silvia Artavia, Journalistin der Tageszeitung La Nación. „Dabei stießen wir auf horrende Ausgaben im öffentlichen Sektor, wie Luxusrenten, Bonuszahlungen und Privilegien“. Auch für Präsident Alvarado steht seit Beginn seiner jungen Amtszeit fest, dass „wir auch Ausgaben reduzieren und effizienter werden müssen.“ Deshalb sieht die Reform u.a. auch neue Obergrenzen für Gehälter im öffentlichen Dienst und leistungsbedingte Rentenzahlungen vor. Dieser Diskurs treibt seine Angestellten auf die Straße. Im Namen der Allgemeinheit kämpfen sie gegen die Politik „für die Wahrung unserer Würde“, wie ein Spruchband verrät. An der Absperrung gehen die Meinungen über die Blockade weit auseinander. Juan Pablo, ein Busfahrer, kann die Bewegung nachvollziehen. „Es gibt keine andere Weise, sich Gehör zu verschaffen. Viele Bürger*innen sind gegen die Steuerreform, aber nur der öffentliche Sektor hat die Möglichkeit zu streiken.“ Ein Truckfahrer regt sich auf: „Sollen sie doch streiken, aber den Rest des Landes seine Arbeit machen lassen.“ Melanie, eine junge Studentin, sieht die Demonstranten als Teil des Problems. „Warum haben sie nicht gestreikt, als der Haushalt in Schieflage geriet? Weil sie gut bezahlt werden. Sie haben sich ihr Schweigen teuer bezahlen lassen. Jetzt müssen sie die Konsequenzen für ihr korruptes Verhalten tragen.“ Zwischen den Fahnen der Protestierenden tauchen auch Taxifahrer*innen auf, die sich am Streik beteiligen. Ihr Motiv ist nicht direkt die Steuerreform, sondern der App-Anbieter Uber. Wie in vielen Teilen der Welt stören sie sich am preiswerten Personentransport, den die App ermöglicht. Seit drei Jahren existiert er in Costa Rica. Seitdem hat sich die Causa Uber zu einem weiteren Präzedenzfall jener ineffizienten Arbeitsweise von Politik und Verwaltung entwickelt, der der Präsident indirekt eine Mitschuld an der Krisensituation gibt.

Ein weiterer Präzedenzfall ineffizienter Arbeitsweise von Politik und Verwaltung

Wie in vielen lateinamerikanischen Ländern ist Uber in Costa Rica ein großer Erfolg. In dem Land mit knapp 5 Millionen Einwohner*innen bieten nach eigenen Angaben bereits 21.000 Fahrer*innen 800.000 Nutzer*innen Fahrten an. Die Attraktivität hat mehrere Gründe. Die Mehrheit der Costa-Ricaner*innen lebt in der Hauptstadtregion um San José, die ein Abbild des autozentrierten Stadtmodells der Vereinigten Staaten ist. Fußgänger*innen oder Radfahrer*innen finden darin keinen Platz, während der öffentliche Nahverkehr höchst ineffizient ist. Wer kein eigenes Auto besitzt, nutzt das Taxi – oder eben Uber. Taxifahrer*innen genießen aber einen schlechten Ruf. Das jahrzehntealte Monopol und lasche Kontrollen haben eine Servicewüste hinterlassen. Fahrten ohne Taximeter, Umwege und Belästigungen machen Uber zur sicheren Alternative. Das ausschlaggebende und zugleich umstrittenste Argument ist der Preis: Uber ist günstiger als die offiziellen Taxis. Der niedrige Preis ist jedoch durch die Illegalität der Dienstleistung teuer erkauft. Taxifahrer*innen organisieren sich in Genossenschaften, sie benötigen eine staatliche Lizenz und zahlen Steuern. Die Fahrer*innen von Uber überlassen 25 Prozent ihrer Einnahmen Uber, der Rest ist für sie. Trotz Ubers Wachstums und mehrerer Streikwellen der Taxifahrer*innen ist seitens der Politik wenig passiert. Die vergangene Regierung hat Uber offiziell für illegal erklärt, in der Praxis ist der Betrieb aber weitestgehend geduldet. In dieser unkontrollierten Illegalität sieht der Abgeordnete Enrique Sánchez der regierenden Partei der Bürgerlichen Aktion (PAC) den falschen Weg. Er ist einer der wenigen Abgeordneten, die öffentlich Lösungen präsentieren. Für ihn ist Uber mehr als ein Taxiunternehmen. Es ist der Vorbote neuer Arbeitsformen und Unternehmensmodelle. „Wir müssen uns entscheiden. Glauben wir, dass sich der Fortschritt an unsere Gesetze anpasst oder passen wir diese lieber an den Fortschritt an?“ Letztendlich gäbe es zwei Wege, mit Uber umzugehen: Ein komplettes Verbot oder die Legalisierung. In Costa Rica liefe es aber stets auf einen dritten Weg, einen „faulen Kompromiss“, hinaus. Sánchez macht sich für eine Liberalisierung des gesamten Personentransportes stark. Derzeit leiden auch die Taxifahrer*innen unter einer ausufernden Bürokratie und als Folge dessen an einem informellen Handel mit Lizenzen. „Nutzen wir die Gelegenheit und schaffen ein neues Lizenzverfahren für alle!“ Das legalisiere jede geleistete Arbeit, besteuere sie und biete allen den staatlichen Versicherungsschutz. „Dadurch öffnen wir Innovationen die Tür, schaffen mehr Wettbewerb und die Fahrer*innen können frei entscheiden, für welchen Anbieter sie fahren. Wir lösen das Problem langfristig und gerecht – auch für Technologien, die noch kommen.“

In Costa Rica läuft es stets auf einen faulen Kompromiss hinaus

Die Idee einer weitreichenden Reform der Lizenzstruktur trifft jedoch auf Widerstand. Das federführende Transportministerium fürchtet einen Bedeutungsverlust. Und der Vorsitzende der Taxigewerkschaft, Rubén Vargas, hält am Verbot von Uber fest. „Sie zerstören die Arbeitsplätze derer, die Steuern zahlen und ersetzen sie durch illegale Billigarbeit. Und am Ende gehen die Einnahmen in die USA. Ist das etwa die moderne Welt?“ Uber hält dem entgegen, dass es kein Transportunternehmen sei, sondern die Fahrten lediglich vermittele. Daher wäre eine Gleichstellung mit Taxiunternehmen nicht rechtens. Darüber hinaus gibt sich das Unternehmen öffentlichkeitsscheu, Kommunikationsexpert*innen wimmeln Presseanfragen ab. Man präferiert den direkten Draht zur Politik.

Dort wird im Transportministerium der Kompromissvorschlag verhandelt. Enrique Sánchez kennt und erklärt ihn: „Statt einer Gleichstellung mit den Taxiunternehmen verpflichtet sich Uber, 3Prozent seiner Einnahmen in einen Mobilitätsfonds zu zahlen und seine Fahrer*innen staatlich zu versichern.“ Den Taxifahrer*innen werde der Erwerb der Lizenz erleichtert. „Dieser Entwurf findet wahrscheinlich eine politische Mehrheit, löst aber die eigentlichen Probleme nicht.“ Statt einer weitreichenden Reform, wie Sánchez sie fordert, fördert der Entwurf die bestehenden Strukturen. Er geht nicht die vernachlässigten Kontrollen, die komplizierte Überregulierung und das autozentrierte Stadtmodell an – alles Aufgaben des Transportministeriums, das auch den neuen Mobilitätsfonds verwalten wird. Damit besteht die Gefahr, dass sich um ihn jene bürokratischen Hürden entwickeln, die die Modernisierung bremsen. Und, dass die Mittel aus dem Fonds eher in den Straßenbau als in den öffentlichen Nahverkehr investiert werden. Zudem fehlen wichtige argumentative Stützen des Kompromisses. Sánchez kann nicht sagen, wie die drei Prozent zustande kamen. Als Vorbild dienen ähnliche Gesetze z.B. aus Chile. Costa-ricanische Eigenheiten, wie das Sozialstaatssystem, werden dabei nicht berücksichtigt. Da Uber derzeit illegal ist, liegen auch keine Zahlen vor. Es ist offen, was diese drei Prozent ausmachen und wie sie mit potenziellen Schäden der Volkswirtschaft durch einen reduzierten Taxisektor im Verhältnis stehen. Es ist daher schwer zu sagen, ob die drei Prozent „Steuern“ angemessen sind – und gemessen woran? Gerade im Rahmen der aktuellen Krise hätten makroökonomische Argumente der Debatte helfen können, der vom Präsidenten geforderten Effizienzsteigerung ein Gesicht zu verleihen.

Das wäre etwas Neues: Radwegebau statt Straßenausbau

Der benötigte Erneuerungsprozess droht daher an den internen Strukturen der Ministerialbürokratie zu scheitern. Auch deren Mitarbeiter*innen stehen neben den Taxifahrer*innen und gemeinsam legen sie das gesamte Land lahm im Kampf um ihre Würde. Eine wahrlich illustre Zusammenkunft also, auf beiden Seiten der Absperrung, mündet in einer konfusen Rollenverteilung bezüglich Problem, Verantwortlichkeit und Opfer. Doch plötzlich regt sich was an der Streikfront. Die Polizei räumt die Barrieren beiseite. Wird die Blockade geöffnet? „Ja“, erklärt Juan Pablo, der Busfahrer. „Es ist 16 Uhr. Der Streik ist für heute vorbei. Ab jetzt haben wir freie Fahrt bis San José.“ Ein bisschen Ordnung herrscht also doch: Selbst, wenn es um die eigene Würde geht, macht der öffentliche Dienst pünktlich Feierabend.

POLITIK NACH GUTSHERRENART

Nationalfahne als Protestmittel In Masaya gilt Nicaragua vielen als Diktatur (Foto: Flickr.com Jorge Mejía Peralta CC BY 2.0)

Wir fragen uns, wie es möglich ist, dass eine aus einer revolutionären Befreiungsbewegung hervorgegangene Partei, deren historische Reputation vor allem darin lag, ihr Land von einer der grausamsten Diktaturen in Lateinamerika befreit zu haben, jener Diktatur so ähnlich werden kann. Aufstandsbekämpfungseinheiten gegen unbewaffnete Demonstrant*innen. Paramilitärs mit Kriegswaffen ausgerüstet zum Töten. Jugendliche Schlägerbanden unter dem Banner der Juventud Sandinista, die in den Stadtvierteln die Bevölkerung terrorisieren. Willkürliche Verhaftungen und Entführung von Menschen, die verschwunden bleiben. Quälereien bis hin zu Folter in Polizeigewahrsam und Gefängnissen. Kriminalisierung und Verfolgung angeblicher Anführer*innen auf der Grundlage eines kürzlich verabschiedeten Antiterrorgesetzes. Zuletzt Massenentlassungen von Beschäftigten im Gesundheitswesen, im Bildungssektor, in Universitäten und staatlichen Institutionen, deren illoyale Haltung angesichts des Terrors das Regime mit dem Verlust ihrer Existenz bestraft. All das trägt die Handschrift eines diktatorischen Regimes, das gemessen am Einsatz der Mittel, auf den Moment seiner Bedrängnis offensichtlich gut vorbereitet war.

Viele Aktivist*innen ehemaliger Solidaritätskomitees sind schon vor Ortegas Amtszeit auf kritische Distanz gegangen, da der politische Kurs der Sandinistischen Nationalen Befreiungsfront (FSLN) mit progressiven Inhalten nicht mehr vereinbar war. Personenkult, neoliberale Wirtschaftspolitik, Korruption, Paktiererei mit den reaktionärsten Kräften, dann das Mammut­-Kanalprojekt, mit weitreichenden Umwelt­zerstörungen und massenhaften Umsiedlungen verbunden, brachten einen zunehmend totalitären Regierungsstil auf den Weg.

Das Klima der Repression und Verfolgung vermeintlicher Gegnerschaft ist nicht neu, es herrscht teils auf subtile Weise, teils offen, bereits seit langem vor. Die zivilgesellschaftlichen sozialen Bewegungen und die mit ihnen verbundenen NGOs waren immer wieder Angriffen und Einschüchterungsversuchen ausgesetzt. Hiervon besonders betroffen sind Umwelt-, LGBTI- und Menschenrechtsgruppen, Indigene sowie die seit fünf Jahren um den Erhalt ihrer Lebensgrundlagen kämpfende Anti-Kanalbewegung. Noch jede ihrer Demonstrationen wurde mit Polizeigewalt unterdrückt, ihre Teilnehmer- und Sprecher*innen Repressalien ausgesetzt und als Landesverräter*innen diffamiert.

Die schrecklichsten Auswüchse des machismo wurden klein geredet oder tot geschwiegen

Mit die härtesten Rückschritte mussten nach der Revolution Nicaraguas Frauen hinnehmen. Der vorherrschende machismo wurde auch unter der Regentschaft von Ortega und Murillo nicht bekämpft, sondern eher noch ermuntert. Seine schrecklichsten Auswüchse klein geredet oder tot geschwiegen. Die autonome Frauenbewegung mit ihren Forderungen nach legalisierter Abtreibung und effektiver Aufklärung der zahllosen femicidios (Frauenmorde) war immer wieder übelster Diffamierung und Anfeindungen ausgesetzt. Unterstützer*innen aus dem Ausland wurden feindlicher Infiltration und der Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Landes bezichtigt. Das unter der Bolaños-Regierung (2002-2007) mit den Stimmen der FSLN-Abgeordneten verabschiedete Abtreibungsgesetz ist das radikalste und frauenfeindlichste Gesetz in ganz Lateinamerika. Es bedeutet das totale Verbot des Schwangerschaftsabbruchs ohne jede Ausnahme und zwingt sogar missbrauchte Minderjährige ihre Kinder auszutragen. Diese Frauenverachtung setzt selbst 13-jährige Mädchen der Gefahr aus, während der Schwangerschaft oder der Geburt zu sterben. Auch die Schließung von Frauenhäusern, wie dem in Masaya, zeigt den Umgang der Regierung mit der Bewegung. Das Haus wurde mit Hilfe der baskischen Regierung aufgebaut, doch anstatt das Haus vereinbarungsgemäß von nicaraguanischer Seite zu unterhalten, verleibte es sich die Gemeindeverwaltung mit allem, was sich darin befand, für eigene Zwecke ein. Auch die erkämpften Frauen-Kommissariate für misshandelte Frauen, die gegen die Straflosigkeit ein wirksames Instrument sein sollten, wurden geschlossen.
Vor dem Hintergrund der fortgesetzten Weigerung des Regimes, die Forderungen der Frauen, Studierenden, Umweltaktivist*innen und vielen anderen überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, hat sich die angesammelte Frustration im April 2018 schließlich entladen.

 

Die Behauptung der äußeren Einmischung hat einen seltsamen Beigeschmack

Den Argumenten einiger linker Gruppierungen, der Aufstand sei von außen organisiert, sei entgegen gehalten, dass es keineswegs zu den Neuigkeiten gehört, die USA unterhielten und finanzierten verdeckte Strukturen. Wie in kaum einem anderen Land in Lateinamerika hat die nordamerikanische Interventionspolitik so oft zugeschlagen wie in Nicaragua, nicht zuletzt der in Erinnerung aller noch lebhafte Contra-Krieg der 1980er Jahre. Allerdings bekommt die Behauptung der äußeren Einmischung dann einen seltsamen Beigeschmack, wenn sie wieder einmal dazu benutzt wird, Verfehlungen schlimmsten Ausmaßes einer „linken“ Regierung nicht zur Kenntnis nehmen zu wollen und das eigene Versagen äußeren Verhältnissen zuzuschreiben bzw. die eigene Verantwortung zu leugnen.

Auf die Verstrickungen der katholischen Kirche und des mächtigen Unternehmerverbands COSEP mit dem Regime wurde in den LN bereits verschiedentlich hingewiesen (LN Nr. 527, 528, 529/530). Dem Land hat diese „wunderbare Freundschaft“ vergleichsweise gute Wirtschaftsdaten beschert, mit Zuwächsen des Bruttoindlandsprodukts von 4,9 Prozent 2017 und 4,7 Prozent 2018. Darüber mögen sich die neoliberalen Wirtschaftslenker freuen, solche makroökonomischen Ziffern sagen jedoch nichts darüber aus, wie es den Menschen am Fuß der sozialen Pyramide ergeht. Und die ist in Nicaragua besonders breit. Meist ändert sich für sie nicht viel, sie bleiben so arm wie eh und je.
Allein mit Kirche und Unternehmerschaft im Boot sind indes noch keine Wahlen zu gewinnen. Die soziale Basis der FSLN ist die arme und mittellose Bevölkerungsmehrheit. Im Vergleich zu den Anhänger*innen der bürgerlichen Eliten stellt sie zahlenmäßig eine überlegene Größe dar. Nicht von ungefähr lassen sich Kandidat*innen vor Wahlen in Elendsvierteln blicken und versprechen eine Stromleitung.

Paternalistisches Gutsherrenprinzip als Gesellschaftsmodell

Ohne das Versprechen sozialer Projekte wäre auch die FSLN trotz Wahlmanipulation 2006 möglicherweise nicht an die Macht gekommen. Deshalb wurden Sozialprogramme aufgelegt: Schulbesuch und Gesundheitsversorgung wurden wieder kostenlos. In einem Null-Hunger-Programm erhalten Schulkinder täglich eine unentgeltliche Mahlzeit. Ein anderer Teil waren Unterstützungsleistungen wie die Bereitstellung von Zinkplatten für Dächer, Fahrräder, Kleintiere und Land zur Bewirtschaftung sowie andere verdeckte Zuwendungen − finanziert mit venezolanischem Geld. Jedoch bedeutet es für die Empfänger*innen solcher milden Gaben einen fundamentalen Unterschied, ob man von willkürlichen Zuwendungen profitiert, die einem jederzeit wieder entzogen werden können, oder ob man per Gesetz ein Anrecht auf solche Leistungen hat, die gegebenenfalls einklagbar sind. Vergünstigungen dieser Art erheben das paternalistische Gutsherrenprinzip zum Gesellschaftsmodell. Sie nehmen weder Rücksicht auf deren produktive Verwendung, noch fördern sie die wirtschaftlichen Voraussetzungen zur nachhaltigen Verbesserung der Lebensumstände der Menschen. Durch die Willkür, die in dieser Art des Regierens herrscht, werden Menschen in Abhängigkeit gehalten. Sie sind dadurch beeinflussbar, weil das Land, das sie erhalten haben, ihre einzige Lebensgrundlage bildet. Wie sehr, das zeigt sich gerade an der Stärke der Anti-Kanalbewegung, wo Bauern und Bäuerinnen um nicht weniger als den Erhalt ihrer Existenz kämpfen. Derzeit dienen solche Wohltaten allerdings dazu, die abtrünnigen Unternehmer*innen wegen ihres Seitenwechsels abzustrafen. Agent*innen der Regierung ermuntern mit vagen Versprechen von Landtiteln ganze Familienverbände dazu, Ländereien der Unternehmer*innen zu besetzen. Seit sie sich gegen Ortega gestellt haben, weht auf ihrem Grund zwischen den Plastikbehausungen der Besetzer*innen die FSLN-Fahne.

Zum Staatsmodell des Duos Ortega/Murillo gehört auch, wichtige Positionen mit regierungstreuen Personen zu besetzen, namentlich den Obersten Wahlrat und Obersten Gerichtshof. Betroffen davon sind ebenfalls die Medien, die Bildungseinrichtungen, das Erziehungswesen und andere mehr. So wird die totale Kontrolle gewährleistet. Gleichzeitig notwendig sind zahnlose und devote Gewerkschaften, die sich allen Regierungsvorgaben beugen. Die Verkommenheit des Regimes zeigt sich wohl am deutlichsten an der Pervertierung der Jugendorganisation Juventud Sandinista. Gefügig gemachte verwahrloste Jugendliche aus den Armenvierteln sind jetzt Teil von Ortegas Schutzmacht und werden auf die aufbegehrende Bevölkerung losgelassen.

Eine Armee negiert ihre Niederlagen, um die Truppe nicht zu demoralisieren

Die FSLN stand nach den verlorenen Wahlen 1990 am Scheideweg. Sie hätte das Ruder noch herumreißen und gegen die Korruption in den eigenen Reihen vorgehen können: Unter anderem auf ihrem Parteikongress im Juli 1991, spätestens aber auf dem Parteitag im Mai 1994. Stattdessen hat man dem keineswegs unumstrittenen Führungsanspruch Daniel Ortegas den Weg geebnet, woraufhin die Fraktion der „Danielistas“ fortan den Ton angeben sollte und viele verdiente Mitglieder die Partei nach und nach verließen. Manche taten dies öffentlich, andere stillschweigend.

Gegenwärtig, angesichts zunehmender Isolation und ihres drohenden Machtverlusts, hat sich die FSLN eine gebräuchliche Kriegslist zugelegt: eine Armee negiert ihre Niederlagen, um die Truppe nicht zu demoralisieren. In diesem Fall, wo alle Welt weiß, dass der Gegner unbewaffnet ist, ist ihr moralischer Niedergang jedoch unaufhaltsam und endgültig.

Bedeutet das Desaster nun die Entwertung der Revolution von 1979? In Adiós Muchachos schreibt der nicaraguanische Schriftsteller Sergio Ramírez: „Dann fragte mich jemand, ob ich auch heute noch glaube, dass die Revolution sich gelohnt habe, und ich antwortete (…) Allein der Gedanke, ein wenig eher oder ein wenig später geboren worden zu sein und sie deshalb verpasst zu haben, macht mich unruhig. Denn trotz aller Enttäuschungen fühle ich mich immer noch durch sie belohnt.“ Hier wird etwas ausgedrückt, das sicher viele empfinden, die Nicaragua in der damaligen Zeit sehr nah gewesen sind. Und diese Empfindung materialisiert sich auch heute wieder in einer Kultur der Solidarität, die sich da zeigt, wo aufs Neue Menschen zusammen kommen und sich fragen, wie sie in der gegenwärtigen Situation die Nicaraguaner*innen unterstützen können.

Sie reißen alles mit sich in den Abgrund. Werden sie nicht leben, soll niemand leben

Doch für Menschen, die sich solidarisch verhalten wollen, ist die Lage unübersichtlich. Wer kann schon zuverlässig sagen, wer die Opposition wirklich ist, welche Kräfte und Strömungen sie bilden? Dieser Prozess ist in Nicaragua längst nicht abgeschlossen. Die Protestbewegung ist sehr breit und vielfältig. Auf ihre Forderungen dürfte sich jedoch leicht zu einigen sein: sofortiges Ende der Repression, Rücktritt der Regierung, Aufklärung aller Verbrechen, Verurteilung der Verantwortlichen und Freiheit für alle politischen Gefangenen. Aber bis es so weit ist, wie viele Menschenleben werden dann noch zu beklagen sein, wie viele Existenzen ruiniert? Beispiele aus der Geschichte zeigen, dass Potentaten, die wissen, dass ihr Ende gekommen ist, alles mit sich in den Abgrund reißen. Werden sie nicht leben, soll niemand leben. Ortega und sein Umfeld lassen zum jetzigen Zeitpunkt in keiner Weise erkennen, dass sie vorhaben aufzugeben.

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