“Diese Verfassung ist schlimmer und gefährlich”

“Für meine Oma, für meine Mama, für meine Schwester” Feministischer Demonstrationszug am 8. März 2022 auf der Alameda in Santiago (Foto: Josefa Jiménez)

Die feministische Bewegung gehörte zu den ersten Akteur*innen, die sich gegen die neue Verfassung ausgesprochen haben. Warum? Was war der entscheidende Moment?
Wir haben von Anfang an kritisch auf bestimmte Aspekte hingewiesen. Zuerst einmal darauf, dass alle sozialen Bewegungen von diesem Ver­fassungs­­­prozess ausgeschlossen waren. Der Prozess wurde von jenen politischen Kräften getragen, die in den vergangenen 30 Jahren das neoliberale System verwaltet und während der sozialen Revolte breite Ablehnung erfahren haben. Er sah keine Geschlechter­parität vor, keine reservierten Sitze für Indigene. Er war in gewisser Weise das Gegenteil des ersten verfassung­gebenden Pro­zesses und eine fast schon strafende Antwort darauf. Das war das erste Alarmsignal. Zum zweiten Mal schlugen wir Alarm, als mit der Republikanischen Partei eine ultrarechte und neoliberale Kraft eine Mehrheit im Verfassungsrat gewann. Das dritte Alarmsignal war für uns das Ergebnis ihrer Arbeit im Verfassungsrat.

Welches sind – aus feministischer Perspektive – die kritischsten Punkte des Textes?
Wir sehen darin Verfassungsnormen, die unsere Leben als Frauen in Gefahr bringen und unsere Lage sogar verschlechtern würden. Zum Beispiel die Norm, die das Recht auf Abtreibung in drei Fällen in Gefahr bringt. Eine weitere Verfassungsnorm könnte das sogenannte Papito Corazón-Gesetz außer Kraft setzen. Das Gesetz ist erst im Mai 2023 in Kraft getreten und ermöglicht es dem Staat, unterhaltspflichtige Personen – in Chile sind das zu 95 Prozent Männer – dazu zu bringen, ihrer Verantwortung nachzukommen. Das Gesetz ist ein historischer Erfolg der Mütter in Chile und steht jetzt auf dem Spiel. Kritisch sehen wir auch den Umgang mit Sorgearbeit in der Verfassung. Sorgear­beit wird darin aus­schließlich auf den familiären Rahmen bezogen, nicht etwa auf die Gesellschaft als Ganzes wie etwa im ersten Verfassungsentwurf. Als feministische Bewegung kämpfen wir seit langem für die Anerkennung einer gesellschaftlichen Verantwortung von Sorgearbeit.

Als Coordinadora 8M konntet ihr nicht aktiv auf die Ausarbeitung dieser Normen einwirken. Wie habt ihr den Prozess von außen begleitet?
Wir haben an diesem Prozess nicht teilgenommen, denn wir waren davon ausgeschlossen. Unsere Rolle bestand vor allem darin, über die Gefahren dieses Verfassungsprojekts zu infor­mieren. Wir sehen das als unsere Pflicht an, denn der Entwurf ist nicht nur eine Gefahr für Frauen, Kinder und Queers, sondern auch für das ganze Land: Er behält die neoliberalen Elemente bei, die wir seit 30 Jahren kritisieren und die unsere Leben arm gemacht haben, oder vertieft sie sogar noch.

Wie sieht eure aktuelle Arbeit aus?
Wir haben die „Kampagne von Frauen und Queers für das Dagegen“ gestartet, die sich vor allem an Frauen und Jugendliche richtet, die noch unentschieden sind. Unter dem Motto „Die Verfassung ist noch schlimmer und gefährlich“ arbeiten wir mit anderen feministischen Organi­sationen zusammen, zum Beispiel ABOFEM, einer Vereinigung feministischer Anwältinnen, oder den compañeras von La Rebelión del Cuerpo. Unsere Arbeit folgt zwei Achsen: erstens die Verbreitung über soziale Netzwerke und Medien, zweitens die Arbeit vor Ort mit Frauen, Nachbar­schaftsgruppen und lokalen gemeinschaftlichen Zusammen-hängen. Letzte Woche waren wir zusammen mit Universitätsstudierenden unter­wegs, denn für sie steht auch das staatliche System für Hochschulbildung auf dem Spiel. Außerdem könnte die Verfassung die jüngsten Fortschritte beim Umgang mit Missbrauch in Bildungs-einrichtungen zunichtemachen.
Es ist eine mühsame Arbeit, aber wir sind überzeugt, dass wir die Ultrarechten nicht gewinnen lassen dürfen, denn das würde eine direkte Gefahr für die Leben von Frauen und Queers bedeuten.

Wie stehen die Chancen für den 17. Dezember?
Im Allgemeinen sehen die Prognosen einen Vorsprung für das „Nein” voraus. Wir haben aber beschlossen, den Umfragen nicht zu vertrauen und uns nicht darauf auszuruhen. Denn es gibt noch immer einen großen Anteil unentschiedener Wähler*innen, der das Ergebnis umdrehen könnte. Wir haben also noch nicht gewonnen, sondern müssen unsere Anstrengungen verdoppeln, um mit der Kampagne noch mehr Menschen zu erreichen.

Welche Themen werden gerade am meisten diskutiert?
Die Rechte setzt Themen und Diskurse, die wir widerlegen müssen. Dazu gehört die Behauptung: „Wenn das ‚Ja’ gewinnt, werden wir als Land stabiler.“ Wir vertreten die Ansicht, dass das nicht stimmt. Denn die Probleme, die seit 30 Jahren ungelöst sind, werden damit nicht gelöst. Die Rechte spielt mit der Idee, den Verfassungs­konflikt abzuschließen und bringt viele Leute dazu, für die neue Verfassung zu stimmen – ganz unabhängig von ihrem Inhalt, sondern nur, weil die Leute es müde sind, in ständigem Konflikt zu sein. Wir sagen klar: Dieser Konflikt bleibt ungelöst, denn wir haben als Land noch keine Lösung für die Probleme gefunden, die während der sozialen Revolte, aber auch schon davor eine Rolle spielten: seit 2000 mit der Schüler*innen- und Studierenden­ewegung und mit den sozialen und Umwelt­bewegungen. Denn das ist das Gefährliche an der Verfassung: Sie stärkt das System der Privati­sierung unserer Rechte, die komplette Kontrolle des Marktes.

Ein Nein zur neuen Verfassung ist ein Ja dazu, die Pinochet-Verfassung zu erhalten. Wie geht ihr mit diesem Dilemma um?
Wir stehen vor der Wahl, entweder die Verfassung von Pinochet zu erhalten oder eine Verfassung anzunehmen, die von Pinochetisten geschrieben wurde. Aber diese Verfassung kann 50 Jahre nach dem Putsch nicht die Alternative sein. Sie ist das Ergebnis des Scheiterns der Demokratie in den vergangenen 30 Jahren und zeigt, dass wir es nicht geschafft haben, wiederaufkommenden pinochetistischen Kräften klare Grenzen aufzuzeigen. Dazu gehört es, Diskurse, die Menschenrechtsverletzungen gutheißen, nicht einfach zuzulassen. Es fehlt auch eine Politik gegen die Straflosigkeit, für die Entschädigung der Opfer und Bildung in Sachen Menschenrechte und Erinnerungspolitik. Im jetzigen Moment können wir uns nicht erlauben, Rückschritte zu machen. Wir können keine Verfassung verabschieden, die noch schlimmer ist, wir können die kleinen Fortschritte, die wir als soziale Bewegungen gemacht haben, nicht einbüßen. Aber ja, natürlich ist das eine brutale Entscheidung.

Mit der Arbeit im Verfassungskonvent haben 2021/2022 viele Bewegungen wie die Coordi­nadora aktiv an einem institutionellen Prozess teilgenommen. Wie seht ihr das heute?
Als Coordinadora sind wir eine undogmatische Organisation. Wir haben damals die Möglichkeit erkannt, die Lage analysiert und bereuen es nicht, in die Institution gegangen zu sein, denn es handelte sich beim Verfassungskonvent um eine außerordentliche Institution. Uns war es aber immer wichtig, unseren eigenständigen Charakter nicht zu verlieren: die Unabhängigkeit von politischen Kräften in Machtpositionen, auch linken Parteien. Jetzt gerade sehen wir, dass es keine Möglichkeit gibt, auf die Institutionen einzuwirken. Wir sehen weder kurz- noch langfristig eine Chance darin, wieder in die Institutionen zu gehen. Unsere Anstrengungen werden sich weiterhin auf die Arbeit vor Ort, auf den Dialog und die Eigenständigkeit beziehen, die schon seit langem die Arbeit der femi­nistischen Bewegung in Chile auszeichnet.

In Chile und vielen anderen Ländern gewinnt die Rechte gerade an Kraft. Wie versucht ihr, dieser Entwicklung entgegenzutreten?
Eine der wichtigsten Aufgaben für feministische und andere soziale Bewegungen ist es jetzt, wieder eigene Alternativen zu schaffen und attraktive politische Projekte aufzubauen. Wir haben zu lange nur reagiert, statt selbst die Initiative zu ergreifen. Eine andere unmittelbare Aufgabe ist die des Zuhörens. Wir müssen die Menschen, die Probleme und Nöte, die wir alle erleben, wieder hören, aufmerksam sein und in Dialog darüber treten. Außerdem müssen wir breite Bildungsprozesse von unten schaffen. Darauf konzentrieren wir uns als Coordinadora und wollen ein Ausbildungs­zentrum aufbauen. Es soll nicht darauf ausgelegt sein, dass die Leute nichts wissen und wir schon, sondern zu einem Dialog einladen.
Bei alledem geht es darum, die Rebellion und Frustration der Menschen aufzufangen. Die Rechte hat genau das geschafft: Sie hat der Aufsässigkeit und dem Ärger der Leute einen Sinn gegeben und ihnen eine Alternative angeboten. Wir wissen, dass uns diese Alternative am Ende nicht helfen wird, denn zumindest in Latein­amerika bedeutet sie den Erhalt und Ausbau des neoliberalen Systems. Die Linke und wir soziale Bewegungen scheitern immer nur. Wir müssen dieses Scheitern jetzt als Möglichkeit sehen, als Impuls. Denn noch können wir uns neue Welten, neue Arten des Zusammenlebens miteinander und mit der Umwelt erträumen. Diesen Wunsch nach einer anderen Welt müssen wir uns wieder aneignen. Und dafür ist jetzt ein fruchtbarer Moment.

// REALITÄTSABGLEICH

„Brüder und Schwestern, setzen wir uns für die Würde ein. Setzen wir uns für soziale Gerechtigkeit ein. Lasst uns Frauen das Patriarchat in unserem Land beseitigen. Setzen wir uns für die Rechte der vielfältigen LGBTQ+ Gemeinschaft ein. Setzen wir uns für die Rechte unserer Mutter Erde ein, unseres großen Hauses. Schützen wir unser großes Haus und die Artenvielfalt. Lasst uns gemeinsam den strukturellen Rassismus beseitigen.“ Die Schlussworte von Francia Márquez’ Rede nach ihrer Wahl zur Vizepräsidentin Kolumbiens im Juni 2022 beschreiben die Hoffnung, die den sozialen Aufbruch und den Aufruhr auf den Straßen in vielen lateinamerikanische Länder seit 2019 getragen hat. Millionen Menschen protestierten für mehr soziale Gerechtigkeit und waren dabei heftiger Repression ausgesetzt. Schüler*innen und Studierende, Feminist*innen und Indigene waren tragende Säulen vielfältiger Bewegungen, die auch dafür sorgten, dass ehemalige Aktivist*innen wie Francia Márquez und Gabriel Boric seitdem regieren.

Sexisten, Rassist*innen und korrupte Rechtspopulist*innen wurden dagegen zuletzt mehrfach nach Hause geschickt – rechte beziehungsweise rechtsextreme Kandidat*innen wie Rodolfo Hernández in Kolumbien, José Antonio Kast in Chile oder Keiko Fujimori in Peru mussten in die Opposition. Sollte sich nun am 30. Oktober Lula in der Stichwahl in Brasilien durchsetzen, würden die sieben bevölkerungsreichsten Länder Lateinamerikas „links“ oder „progressiv“ regiert. Zwei Jahrzehnte nach der sogenannten Pink Tide schwappt also wieder eine linke Welle durch Lateinamerika. Das gibt etwas Hoffnung in sonst sehr kruden Zeiten.

Doch was ist überhaupt links an den neugewählten Regierungen und was verbinden wir mit ihnen über die notwendige Abwehr von rechtsextremen Demagog*innen hinaus? Wie gehen wir damit um, wenn Gabriel Boric ganze Regionen im Süden Chiles zur „Terrorabwehr“ militarisiert? Wenn AMLO in Mexiko die Rolle des Militärs im Inneren immer weiter ausweitet, während das Schicksal zehntausender Verschwundener unaufgeklärt bleibt? Wenn die argentinische Regierung auf Fracking setzt oder Pedro Castillo in Peru gegen das Recht auf Abtreibung und queere Menschen schwadroniert? Wie nah Euphorie und Frust beieinander liegen können, zeigte sich ganz besonders in Chile, als der progressive Entwurf für eine neue Verfassung bereits nach einem halben Jahr Boric-Regierung auf breite Ablehnung stieß.

Ob die neuen Linksregierungen einen nachhaltigen Wandel auf den Weg bringen können – ob sie etwa mehr soziale Rechte und eine Abkehr vom Extraktivismus durchsetzen können – oder ob diese Erwartungen an fehlenden parlamentarischen Mehrheiten und leeren Staatskassen scheitern und am Ende Wunschdenken bleiben, wird sich erst zeigen. Anstatt eine neue Ära des sozialen und gesellschaftlichen Wandels zu feiern, wollen wir daher in diesem Dossier erst einmal genauer hinsehen. Für was stehen die neuen Regierungen im Einzelnen, welche Bündnisse gehen sie ein, gibt es über diskursive Fortschritte hinaus auch Perspektiven auf tatsächliche Transformationen?

Von der Hoffnung, dass der Staat für ein besseres Leben sorgt, haben sich nicht erst seit den Zapatistas viele emanzipatorische Bewegungen und Projekte bereits verabschiedet. Sie versuchen stattdessen, in kollektiver Eigenregie Fakten zu schaffen und Autonomie aufzubauen. Schlaglichthaft wollen wir Euch daher in diesem Dossier auch einige dieser Erfahrungen vorstellen. Sie haben im Hinblick auf konkrete Veränderungen oft schon einiges erreicht – trotz Repressionen von staatlicher Seite, auch von so mancher „Linksregierung“. Es bleibt zu hoffen, dass Regierungen wie die von Petro und Márquez oder Boric nicht die Bewegungen vergessen, die sie an die Macht gebracht haben.

// STRASSE UND INSTITUTIONEN

„Si tocan a une, tocan a todes!“ Diese Erkenntnis aus Argentinien ging als Kampfruf durch die feministischen Bewegungen Lateinamerikas und der Welt: „Wenn sie eine* anfassen, fassen sie uns alle an!“ Feministische Bewegungen haben gezeigt, dass Kämpfe auf allen Ebenen stattfinden können – zu Hause, am Arbeitsplatz, in der Nachbarschaft und auf der Straße. Und auch vor und in politischen Institutionen. Warum das funktioniert? Weil es um das Alltägliche geht!

Weil es um das Alltägliche geht!

Die Politisierung der eigenen alltäglichen Erfahrungen patriarchaler, rassistischer, queerfeindlicher oder ökonomischer Gewalt ist der Dreh- und Angelpunkt der feministischen Theorie und Praxis in Lateinamerika: Zu verstehen, dass es nicht daran lag, was ich an hatte oder wo ich war, zu begreifen, dass das, was mir passiert, nicht selbst verschuldet oder mein Schicksal ist, sondern eine geteilte Erfahrung. Das feministische Kollektiv Minervas aus Uruguay brachte es so auf den Punkt: „Die Beziehungen zwischen uns neu zu gestalten und Gemeinsamkeiten vor dem Hintergrund wirtschaftlicher, patriarchaler und rassistischer Verhältnisse herzustellen“, das sei das Wesentliche

Wie kraftvoll die Politisierung von Erfahrungen sein kann, zeigen in den vergangenen Jahren – wie kaum andere – die Kämpfe für die Liberalisierung von Abtreibungsgesetzen in zahlreichen Ländern Lateinamerikas. Erst vor wenigen Tagen hat das kolumbianische Verfassungsgericht entschieden, dass eine Schwangerschaft bis zur 24. Woche ohne Einschränkungen abgebrochen werden kann. Wir erinnern uns an die mit grünen Halstüchern gefluteten Straßen Argentiniens Ende 2020, als nach Jahren der feministischen Organisierung das Recht auf sichere und kostenlose Schwangerschaftsabbrüche garantiert wurde. „Das hat klargemacht, wie wichtig ein unermüdlicher Kampf ist, in dem Demonstrationen mit Lobbyarbeit im Parlament verbunden werden“, erklärt Verónica Gago im Interview mit LN. Gleichzeitig argumentiert sie, dass die Verabschiedung von Gesetzen nie das Ende feministischer Kämpfe bedeuten dürfe, sondern lediglich die Form der Kämpfe verändere.

Angewiesen auf politische Mehrheiten, um Forderungen von der Straße gesellschaftliche Realität werden zu lassen, besteht immer die Gefahr, dass soziale Bewegungen vereinnahmt werden und damit an Radikalität, Mobilisierungs- und Analysefähigkeit einbüßen. Wie ein direkter Dialog mit den sozialen Bewegungen aus dem Parlament heraus geführt werden kann, zeigt das feministische Kollektiv JUNTAS Codeputadas aus Brasilien. Bestehend aus fünf Frauen, haben die JUNTAS seit 2018 ein feministisches, partizipatives und transparentes Abgeordnetenmandat im Landesparlament des Bundesstaats Pernambuco. Ihre Erfahrungen zeigen, dass der Einzug in politische Institutionen nur einer von vielen Ansätzen feministischer Kämpfe ist, aber ein entscheidender sein kann.

„Räume zu besetzen – in Parteien, in der Gesetzgebung – in denen wir selbst über unsere Rechte entscheiden können, das gibt uns und unseren Kämpfen Sinn“, sagt Joelma Carla, eine der JUNTAS, im Interview mit LN . Sie hoffen, dass sie mit ihrem Format der Verbindung zwischen Parlament und sozialen Bewegungen andere Frauen inspirieren, „effektive Politik für unsere Anliegen“ zu machen. Denn es geht auch um konkrete Verteilungskämpfe, die in der politischen Arena ausgetragen werden – um Zugang zu öffentlicher Infrastruktur für alle, um eine gerechte und gute Gesundheitsversorgung, um reproduktive Gerechtigkeit oder um bezahlbaren Wohnraum. Errungenschaften, die auf der Straße, in asambleas und letztlich auch in Parlamenten erkämpft werden.

Der Wunsch alles zu verändern, beginnt weder in den Parlamenten, noch endet er dort. Der Wunsch, alles zu verändern, ist ein Prozess, der sich durch alle Fasern unserer Gesellschaft, unserer Körper und Beziehungen erstreckt.

STIMMEN DES PROTESTS

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In Chile wird gefoltert“ An den Händen von Präsident Piñera klebt Blut (Foto: Diego Reyes Vielma)

Dieser Tage in Chile aufzuwachen, ist wie verkatert aufzustehen. Am Freitag, den 18. Oktober waren wir auf einer Party. Die Straßen waren voller Leute, die tanzten, schrien und über die Drehkreuze der U-Bahn sprangen. Zu sehen, wie das Land das System herausfordert, erfüllte uns mit einer Vitalität, die nur der Ungehorsam und die Jugend zu verleihen vermögen. Und als das Feuer auf den Straßen ausbrach, waren wir überrascht, aber es schmerzte nicht, denn es erschien beinahe wie eine natürliche Reaktion auf die mangelnde Scham der politischen Klasse. Von ihr hörte man, dass die Menschen sich zum Vergnügen in die Schlangen vor den Arztpraxen stellten, um dort ihr soziales Leben zu pflegen. Ein anderer sagte, wir sollten früher aufstehen, um die höheren U-Bahn-Preise während der Rushhour zu umgehen. Und der Präsident machte sich Sorgen um die Wirtschaft und bat uns, uns der Jungfrau anzuvertrauen. In ihren Augen haben wir uns in Zahlen verwandelt, in Ziffern, Wählerstimmen. Politiker, linke und rechte, widmeten sich der Wirtschaft, um Chile zu einem für das Ausland ertragreichen Land zu machen, in das zu investieren sich lohnt. Aber, was ist mit dem Leben der Menschen und ihren Träumen? Heute gibt es Tote, Verwundete, Vergewaltigte und Gefolterte, Traumata der Geschichte, die wieder aufgebrochen sind, und die politische Klasse führt weiterhin Diskurse ohne Lösungen, ohne Sensibilität, ohne Verpflichtung und ohne Reflexion. Das ist der schlimmste Teil des Katers: Übelkeit, Schwindel, das allgemeine Unwohlsein im ganzen Körper, das die Psyche durchdringt und dein Herz, zwischen Angst und Unsicherheit, bricht. Wir werden zur Opposition, die nicht weiß, was sie mit der Macht, die sie erobert, anfangen soll, und wir sind weiterhin betrunken vom Missbrauch und verfügen über kein Gegenmittel.

// Juan Cruz Giraldo (27), Journalist, Santiago 

 

Die Schließung aller U-Bahnstationen von Santiago löste die Explosion aus. Gewalttätig. Chaotisch. In diesem Moment hatten meine Frau und ich Angst; erst am nächsten Tag konnten wir nach Hause gehen. Im Laufe der Zeit stellten wir fest, dass diese „Revolution“ nicht aufhören würde, bis Präsident Piñera zurücktritt. Es war an der Zeit, 30 Jahre Machtmissbrauch zu beenden. Wir begannen, an den Demonstrationen teilzunehmen, wir sahen die Hoffnung in den Augen, Schreien und Lächeln der Menschen, dieses Fest der Freiheit erfüllte unsere Seele. Tage vergingen, eine Woche, und es gab keine Antwort der Regierung (außer rigorose, unbefriedigende und ungeschickte Antworten) und die Erschöpfung begann körperliche und geistige Spuren zu hinterlassen.
Die letzte Demonstration war die Probe: Wir hatten Angst vor der gewaltsamen Unterdrückung der Polizei. Vielleicht ist es das, worauf die Regierung setzt, auf Erschöpfung und Angst: mächtige Verbündete der Repression. Jetzt überfällt uns die Angst. Die Angst, nichts zu erreichen und dass alles Gelebte wie eine Postkarte von der Plaza Italia in Erinnerung bleiben wird, mit Fahnen gefüllt, aber ohne das angestrebte Ziel erreicht zu haben. Angst, die latent wird. Angst, die sich breit macht. Es gibt Tote, Verwundete, schwere Menschenrechtsverletzungen, und ich frage mich, was sie bereit sind zu tun, um „Ordnung zu schaffen“?

// César Calquín Cavieres (36), Journalist, Santiago

 

Im Alter von 16 Jahren zerstörte der Faschismus meine Jugend, aber nicht mein Bewusstsein. Er zerstörte meinen Traum, eine freie Dichterin zu sein, aber nicht meine Verantwortung und mein Engagement für das Leben. Er tötete meine nächsten Lieben, aber mein Herz erlaubte kein Vergessen. Er brachte ein Volk von Arbeitern zum Schweigen, das nach Gerechtigkeit und Gleichheit strebte, aber aus dem tiefsten Schmerz erwuchs ein Kampf, der den Diktator zu Fall brachte. Heute sind es dieselben Menschen, die weiter eine ausgebeutete, verarmte und marginalisierte Bevölkerung missbrauchen. Und es sind dieselben Menschen, die heute Kugeln und Unterdrückung auf die Straße bringen. Aber heute begegnen ihnen Tausende und Abertausende von Menschen; Junge, Alte, Anarchisten, Mutige, Rebellen – wach und bereit, die Würde zu verteidigen.

// Ana Maria Rojo, Horcón, Valparaíso

 

Ich lebe in der Población Nuevo Amanecer, auch bekannt als Ex-Nueva Habana. Viele Jahre lang folgten die Menschen hier derselben neoliberalen und kapitalistischen Logik der Nabelschau und der Sorge um das eigene Wohlbefinden. Die Familien hörten auf, gemeinsam Eis auf dem Platz zu essen, der Nachbar wurde zum Unbekannten und damit sogar zum potentiellen Feind. Der Nachbarschaftsrat, ein Raum für nachbarschaftliche Organisation in jedem Viertel, diente nur noch der Ausstellung von Dokumenten und anderen bürokratischen Verfahren.
Heute haben sich die Dinge geändert. Das Militär lässt die Población (marginalisierte Viertel) in Ruhe, weil es damit beschäftigt ist, anderswo Menschen zu foltern und verschwinden zu lassen. Auch die Polizei bleibt auf Abstand – wegen „Personalmangel“. Währenddessen erwacht die nachbarschaftliche Organisation wieder zum Leben, durch einfache Dinge wie Whatsapp-Gruppen, gemeinsame cacerolazos (Kochtopfproteste) auf dem Platz, Volksküchen, oder die Sicherstellung der Wasserversorgung für alle.
Ich lebe seit 23 Jahren in dieser Población und empfinde eine tiefe Liebe für sie; für ihre Räume, ihre Menschen und ihren Kampf. Aber nie zuvor waren es meine Räume, meine Menschen und mein Kampf. Diese Veränderung findet in vielen Häusern und Vierteln des Landes statt – und genau davor muss sich die Regierung fürchten, lässt sie nicht aufhören, vor Angst zu zittern. Die Nachbarschaftsorganisation ist aufgewacht, hat die Benommenheit der Routine hinter sich gelassen. Heute ist die Logik nicht mehr „Ich kämpfe für mich und meine Familie“, heute heißt es „Ich kämpfe, um mein Land zu verbessern“. Als Regierung könnte ich mir kein schrecklicheres Szenario vorstellen.

// Dante (22), Pädagogik-Student, Puente Alto, Santiago

 

Die Diktatur war nie zu Ende, sie war immer da und es fehlte nur die Rebellion der Menschen, um auch die militärische Unterdrückung wieder zu sehen. Als Kind hörte ich die Geschichten der Erwachsenen, Geschichten von Toten auf den Straßen, Soldaten, die in den Vierteln schossen, von Folterungen, Verschwinden und Vergewaltigungen. Heute sehe ich mit Wut, wie das Militär zum Massaker am eigenen Volk zurückgekehrt ist, heute sehe ich mit Enttäuschung, wie die Polizei Menschen erschießt, die demonstrieren oder einfach ihrem Leben nachgehen – ein Leben, das seit dem 18. Oktober nicht mehr dasselbe ist.
Letztes Wochenende, Anfang November, sah ich die schlimmste Unterdrückung in meiner eigenen Nachbarschaft. Wie die Militärhorden im Zweiten Weltkrieg schoss die die Polizei in den Straßen meines Viertels, es war wie eine Filmszene. Die Nachbarn erzählten, dass auch in den Schulen geschossen wurde. Ich ging zur Polizeistation und sah mit Entsetzen, dass es stimmte. Ich sah die Rücken der Kinder, die von der Polizei gefoltert und bis zur Verformung ihrer Körper geschlagen worden waren. Die Körper von 13 bis 16-Jährigen, die sich der Gewalt jener Diktatur widersetzt hatten, die heute der korrupte und mörderische Sebastián Piñera verwaltet.
Von Chile aus bitte ich alle Bürger der Welt, zu rebellieren und die Rebellionen, die heute in der Welt stattfinden, zu unterstützen. Um die Diktatoren loszuwerden und uns zu helfen, den chilenischen Staat Chile und den mordenden Präsidenten unter Druck zu setzen, zurückzutreten und aufzuhören, sein eigenes Volk zu ermorden. Lateinamerika wird das Grab des Kapitalismus sein.

// Victor Novoa (31), Maipú, Santiago

 

Polizei außer Kontrolle “Sicherheitskräfte“ zielen auf Köpfe (Foto: Diego Reyes Vielma)

 

Gestern habe ich mich vom Leben verabschiedet, als ein Paco (Polizist) mir gegenüber seine Waffe hob. Ich wandte mich in Umarmung meiner Freundin zu, während ich dachte „das war’s, jetzt beschütze ich wenigstens sie“. Sie sagte nur „Weona“ (umgangssprachliche Anrede) und sah mich an, als wäre es das Ende. Dann rief eine Retterin: „Scheiß Paco, ich filme dich!“ Damit hörte es auf. Der Paco begann, mich einer Identitätskontrolle zu unterziehen. Als er meinen Namen falsch sagte, traute ich mich nicht, ihn zu korrigieren. Ich hörte auf, mich zu fürchten, als ich erkannte, dass er mehr Angst hatte als ich. Denn er befürchtete, dass, wenn dieses System den Bach runter geht, Gerechtigkeit walten wird und er mit der ganzen Scheiße untergeht. Ich hoffe, es passiert.

// Aissa (28), Maipú, Santiago

 

Cacerolazo Das Topfschlagen als Protestform hat in Chile Tradition (Foto: Vania Berríos)

In diesen Tagen habe ich nicht aufgehört mir die Töpfe der Menschen anzusehen. Ich habe viele porträtiert, sie gebeten sich ihre Töpfe wie eine Maske vorzuhalten, damit ihre Töpfe sie beschreiben. Sie sind etwas ganz Besonderes. Zunächst ist da das Originalobjekt, nicht immer ein Topf. Manchmal ist es eine Pfanne, ein Deckel, sogar ein Kessel oder ein Stück Regenrinne. In manchen Fällen ist der Topf gar nicht billig gewesen. Dein Topf sagt etwas über dich aus. Du hast ihn ausgewählt. Oder es ist der, den dir das System gegeben hat. Zeig mir deinen Topf und ich sage dir wer du bist. Oder was dir zugeschrieben wurde zu sein. Oder was dir zugeschrieben wurde wo du bist. Aber was mich am meisten beeindruckt, sind die Dellen der Schläge im Metall. Wie viele Schläge jeder einzelne Topf bekommen hat, mit welcher Kraft sie gegeben wurden, mit welcher Häufigkeit. Ich sehe die Töpfe als Mittler der angestauten Wut. Wenn ich einige sehe, die aussehen wie ein zerknittertes Papier, in denen sich die ursprüngliche Form gar nicht mehr erkennen lässt, dann denke ich, dass seine Besitzer*in schon seit Langem ihre Frustration in sich hineingefressen haben muss. Und wenn ich einen neuen Topf sehe, denke ich: „Dein Topf hat gar keine Macken, Was machst du also hier?“. Aber dann merke ich, dass es Menschen gibt, die sich gerade erst über die Wut bewusst geworden sind, die sie in sich tragen. Und dass es gut war, dass sie anfingen diese endlich herauszulassen. Auch wenn sie dafür erst sehen mussten, wie Millionen an ihrer Seite dies schon seit längerer Zeit taten.

// Moisés Sepúlveda, Cineast, Santiago

 

Was in den letzten Wochen in Chile passiert ist, habe ich nicht kommen sehen, ich glaube niemand hat das. Die soziale Unzufriedenheit erreichte so große Ausmaße, dass die Mobilisierungen historisch waren. Seit Wochen befinden sich unsere Leben im Stillstand und wir gehen mit Töpfen und Holzlöffeln auf die Straße, damit unsere Forderungen gehört werden. Leider will die Regierung nicht zuhören und versucht, uns durch Gewalt zum Schweigen zu bringen. In diesen Tagen haben Carabineros und Militärs getötet, verstümmelt, vergewaltigt und gefoltert. Als Studentin des Journalismus verurteile ich die Handlungen der Medien und ihr Bündnis mit der Regierung, nicht zu zeigen, was wirklich auf den Straßen passiert und den Anschein zu erwecken, dass die Demonstranten die Gewalttäter sind. Meine Großmutter rief mich an, um mir zu sagen, dass ich mich bedeckt halten und nicht schick machen sollte, denn wenn ein Militär es wollte, könnte er mich vergewaltigen. Ich habe Trauer, Wut und auch Angst, aber ich glaube an diejenigen, die darum kämpfen, die Realität, in der wir leben, zu verändern.

// Gabriela Pineda Cárcamo (22), Journalismus-Studentin, Santiago

 

Mari mari pu lamngen (Hallo an alle meine Schwestern). Diese „Revolution“ des chilenischen Volkes macht mich als Mapuche sehr froh. Ich spüre, dass das Bewusstsein der Menschen endlich aufgewacht ist. Und, dass sie für das richtige kämpfen: ihre Rechte. Viele Dinge, für die die Menschen sich jetzt einsetzen, sind die gleichen, für die wir Mapuche schon seit vielen Jahren kämpfen. Die Dekonstruktion des chilenischen Staats muss jetzt beginnen, eine neue Verfassung muss geschaffen werden, die für die Menschen gerecht ist. Es ist sehr bedauerlich, wie die Menschenrechte zurzeit verletzt werden. Ich ganz persönlich glaube, dass uns das noch mehr Kraft geben muss, um weiterzukämpfen. Ich bewundere alle, die auf der Straße sind und alles geben. Manchmal muss erst alles verbrannt werden, um mit dem Aufbau von etwas Besserem beginnen zu können. Fey muten pu lamngen (Mehr gibt es nicht zu sagen, Schwestern).

// Ninoska Pailakurra (25), Trangül, Wallmapu

 

Aus dem Süden des Landes bewerte ich das Aufbegehren des Volkes als etwas, dass unweigerlich aufgrund der vielen ungelösten sozialen Probleme auftreten musste. Auch in den bäuerlichen Territorien finden Proteste statt, da auch hier dieselben Probleme. Die Regierung versucht uns glauben zu lassen, dass ihre Maßnahmen die Probleme lösen, doch es sind nur Scheinlösungen, die die wahren Ursachen unangetastet lassen.
Als Bäuerin vertrete ich die Ansicht, dass der Erhalt der natürlichen Ressourcen Teil der neuen Verfassung werden muss, da dies existentiell für unser Fortbestehen auf dem Land ist. Viele der Probleme stehen auch in Zusammenhang mit dem Zugang zu Gesundheit oder der Bildung. Aber auch das Bewahren traditionellen Saatguts und des solidarischen Handels erscheint mir zentral dafür, dass wir eine auf Vertrauen und Solidarität basierende Ökonomie praktizieren können. Ich denke, dass unsere bäuerlichen Forderungen Teil der Mobilisierungen sein sollten und dass diese nicht eher enden dürfen, als dass es Voraussetzungen für eine verfassungsgebende Versammlung gibt, welche uns alle in die Neugestaltung des Landes einbezieht. In meiner Region wird der Volksaufstand von friedlichen Demonstrationen, kulturellen Veranstaltungen und lokalen Räten begleitet, bei denen wir über Themen diskutieren, die in die verfassungsgebende Versammlung einfließen könnten.

// Alejandra Carrillo Manríquez (39), Bäuerin, Coyhaique, Region Aysén

 

Vor 1990, dem Ende der Diktatur, gab es für mich keinen Präsidenten und keine nationale Autorität. Wir waren nur Leute, die im Hinterhof mit einem Holzlöffel auf einen Topf schlugen und aufpassten, wie viele Nachbarn sich uns aus dem Verborgenen anschlossen. Am 18. Oktober, als die U-Bahn ihre Stationen schloss, um den „gewalttätigen Angriff von Schülern“ abzuwehren, die in einem erneuten Versuch, uns zum Handeln zu bewegen, dazu aufriefen, die Bezahlung des Fahrpreises zu verweigern, war ich in einem Gebäude im Zentrum Santiagos. Die Straßen füllten sich mit Arbeitern, die kilometerweit gingen, um zu ihren Familien zu kommen. Ein unmenschlicher Schlag gegen diese nieder gedrückte Gesellschaft, durch Regeln zum Schweigen gebracht von und für die Reichen. Durch ein Fenster sah ich Studenten und verzweifelte Arbeiter mit der Polizei zusammenstoßen, die kam, um diejenigen niederzumachen, die sich in den Stationen zusammendrängten und ihre Frustration heraus schrien. Einer nach dem anderen nahmen sie Steine und warfen sie gegen die Wasserwerfer, sie erhielten Tränengas und Kugeln. Man wollte sie davon abhalten, aber wohin sollten die Leute gehen, wenn sie nicht nach Hause kamen? So begann die Explosion. Wir blieben wieder ohne Präsident und erkannten uns durch das Geräusch der Töpfe und Pfannen.

// Fernanda Guerra Vidal (35), Anwältin, Santiago

 

Kein Vergleich „Piñera hat 388 Millionen Pesos unterschlagen. Du 83 Pesos“- (83 Pesos beziehen sich auf die Erhöhung der U-Bahnpreise (Foto: Diego Reyes Vielma)

 

Das Laufen ist schwierig geworden; die Freiheit eingeschränkt. Das erwachende Bewusstsein erschreckt diejenigen, die die Macht haben, diejenigen, die immer die meiste Sonne hatten. Heute schwimmen wir auf einer Welle der Revolution, der Zuneigung und Emotionen. Gefühle haben diese so schöne gesellschaftspolitische Bewegung mobilisiert. Wir werden von den Mächtigen angegriffen, weil wir glauben, gestoppt, weil wir lieben, getötet, weil wir Freiheit fordern.
Der Süden weint für diejenigen, die ins Erdreich gehen. Und weint für diejenigen, die unter dem Missbrauch des chilenischen Staates leiden. Er weint für die Menschheit, denn wenn Menschentier weint, weint die Erde, und die Tränen werden zu Regen. Wir stehen mit einem offenen Herzen, mit einer erhobenen Faust, mit einer Kehle voller Wut, mit einer wachsamen Erinnerung und vor allem mit Liebe bereit, allem, was uns umbringt, ein Ende zu setzen.

// Rodrigo De la Mar Palma Nuñez (30), Psychopädagoge, Melipulli, Wallmapu
(durch die Kolonisator*innen Puerto Montt, Region Los Lagos genannt)

 

Plötzlich war ich wieder ein 11-jähriges Mädchen und hörte die Kampfflugzeuge über mir, plötzlich war ich wieder ein Teenager und ertrug das Stigma der Stille. Nach 46 Jahren erneuerten sich die Angst und eine Schuld, weil ich vielleicht nicht alles bis zum letzten Atemzug gegeben hatte. Ich gehöre zu einer Generation von Frauen, die mit der Gewissheit aufgewachsen sind, dass sexueller Missbrauch Teil eines Systems der systematischen Unterdrückung ist und dass die Phantasie immer von der Realität übertroffen wird. Die Erinnerung an das Haus der Folter, genannt „Venda Sexy“ (Sexy Augenbinde), welches es während der Diktaturzeit in Chile gab, drang in meinen Körper bis zum intimsten Zittern.
Nach 46 Jahren, habe ich das Militär wieder in die Augen schießen sehen, als ob ein Gummigeschoss die Geschichte blenden könnte. Und ich sah zum ersten Mal die Flammen, die in die Straßen der Stadt strömten, wie ein Scheiterhaufen, der eine Ordnung verbrennt, die unbesiegbar schien. Ich habe mit jungen Menschen gesprochen, vor allem habe ich sie vor der Gefahr gewarnt und ihnen zugehört. Unsere gemeinsamen Analysen sind nicht ausreichend. Die Regierung muss nicht nur lernen zuzuhören, denn der Scheiterhaufen, der in den Städten Chiles brennt, verlangt von uns allen eine neue Perspektive und konsequentes Handeln.

// Uca Torres Mora (57), Poetin, Concepción, Region Bío Bío

 

// Übersetzungen: Caroline Kassin, Martin Schäfer, Susanne Brust, Elisabeth Erdtmann, Hannah Katalin Grimmer, Wiebke Stork, Sophie Metzler & Julian Keck

„SIE KÖNNEN ALLES VON UNS ERWARTEN, NUR KEINE STILLE”

Foto: © Bruno Miranda


Warum müssen wir für unsere Bildung kämpfen, wenn Bildung doch unser Recht ist?” Das fragen sich Nayara, Marcela und Koka, die diese jüngste Geschichte Brasiliens aus Sicht der Schüler*innenbewegung erzählen, von den ersten Protesten gegen die Erhöhung der Preise für den öffentlichen Nahverkehr 2013 bis zur Wahl des rechtsextremen Jair Bolsonaros Ende 2018. Espero tua (re)volta, der fünfte Dokumentarfilm der Journalistin und Regisseurin Eliza Capai, berichtet von vielen Brüchen und Niederlagen, aber auch von Mut, Power und Erfolgserlebnissen. Der Film könnte aktueller nicht sein und weiß dies auch. Eine seiner großen Stärken ist die Fülle an Material zu den verschiedenen Formen jugendlicher Rebellion gegen all das, was schon immer ein Problem in Brasilien war und nun mit dem neuen Präsidenten immer akuter wird: Sexismus, Homo- und Trans*phobie, Rassismus und die Unterteilung der Gesellschaft in Menschen erster und zweiter Klasse.

© Eliza Capai

Espero tua (re)volta, das die „Revolte“ schon im Titel trägt, ist eigentlich ein klassischer Dokumentarfilm – Bilder von Demonstrationen, Versammlungen, besetzten Schulen und, natürlich, exzessiver Polizeigewalt –, die Erzählform ist jedoch besonders. Nayara, Koka und Marcela waren von Anfang an bei den Protesten und den Schulstreiks im Bundesstaat São Paulo dabei, kommentieren die Szenen, in denen ihre jüngeren Ichs teils selbst vorkommen, und leiten die Kamera an. „Geh’ noch mal kurz zurück zu der Szene davor, ich war noch nicht fertig“ oder „wir müssen jetzt doch nochmal einen kurzen Exkurs ins Jahr 2012 machen“, heißt es, und die Kamera gehorcht. Mit viel Humor achten Nayara und Marcela darauf, dass Koka als männlicher Erzähler nicht zu viel Redezeit bekommt. „Jetzt sind wir Frauen wieder dran, deine Zeit ist abgelaufen“, heißt es gleich zu Beginn, und Koka gehorcht, verliert dabei aber nie seinen Mitteilungsdrang.

© Carol Quintanilha

Passend zur Energie der drei Erzähler*innen geht der Film musikalisch genauso kraftvoll vor, Baile Funk und Hiphop unterstreichen die rebellischen Szenen, in denen ein Meer junger Menschen durch die Straßen São Paulos zieht und Gerechtigkeit fordert, oder in denen die besetzten öffentlichen Schulen – insgesamt 200, deren Schüler*innen sich gegen die Schließung wehren – zu Orten der Selbstverwaltung werden, wo sich Arbeitsgruppen zu Themen wie Sexismus und Rassismus bilden und die Jungs putzen und kochen müssen. Nicht selten erfolgt plötzlich ein musikalischer Bruch, zu dem die drei ankündigen, dass Szenen voller Polizeigewalt gegen Minderjährige folgen werden. Dazu erfahren wir: „Die Diktatur ist vorbei, aber die Repression blüht.” In diesen Szenen wird deutlich, wie viel die Schüler*innen der Bewegung bereits an Gewalt haben ertragen müssen und wie sehr sie der eigene Kampf mitnimmt. Immer wieder folgt die Warnung: „Dies ist erst der Anfang, es wird wieder passieren“.

Umso wichtiger, dass Espero tua (re)volta trotz allem Hoffnung schenkt. Hoffnung in eine Generation junger Brasilianer*innen, die früh gelernt haben, was es heißt, für die eigenen Rechte zu kämpfen und nicht daran denken, diesen Kampf aufzugeben.

 

DAS LAND BRENNT, STEHT ABER NICHT IN FLAMMEN

Foto: Daniel Kulla

Am 21. Februar blockierten mehrere hunderttausend Menschen den ganzen Tag die Hauptverkehrsachse der Innenstadt von Buenos Aires. Verschiedene bekannte Gewerkschaftsführer wie Hugo Moyano, zur Zeit der peronistischen Kirchner-Regierungen Generalsekretär des größten Gewerkschaftsdachverbands CGT, verurteilten die Massenentlassungen vor allem im öffentlichen Sektor und die Kürzungen von Subventionen und Staatsausgaben – doch sie riefen zu keinen weiteren Aktionen oder Streiks auf. Die konservative Presse hörte trotz der Siegesmeldungen der Kirchneristas nicht auf, abschätzig von „Moyanos Demo“ zu sprechen. Präsident Macri sagte gleich gar nichts dazu. Dessen Blick ist aufs Ausland gerichtet – während seiner ausgedehnten Europareise nach Davos, zu Merkel und Macron, wie auch in seinen endlosen als „Klausuren“ verbrämten Ferien auf dem Golfplatz. Nichts deutet darauf hin, dass die „Erste Welt“, der Macri so gern angehören will, an Argentiniens Rolle als Rohstoff-Lieferant, Billiglabor (auch für deutsche Pharmaunternehmen) und Billigzulieferer (auch für die deutsche Autoindustrie) Nennenswertes ändern will. In den Worten des linken Abgeordneten Patricio del Corro möchte Macri jedoch für die Weltöffentlichkeit bis zum G20-Gipfel Ende November in Buenos Aires „seinen Laden in Ordnung” präsentieren, in der Hoffnung auf den vielbeschworenen „Investitionsregen”, der nie kommt. Also eröffnete er ein G20-Forum zu Erneuerbarer Energie, erwähnte in seiner dortigen Ansprache die Proteste mit keinem Wort und widmete sich weiter seinem Notverordnungsdekret. Mit diesem will er ohne entsprechenden Notstand das Parlament umgehen, um 19 nationale Gesetze aufzuheben und 140 substanziell abzuändern, auch in Bereichen, die von der Verfassung vor Dekreten geschützt sind. Es soll geringere Strafen für Unternehmen bei Verstößen gegen das Arbeitsrecht geben; Pfändung von Lohneinkommen und die Spekulation mit Geldern des Sozialfonds auf den Finanzmärkten sollen möglich werden. All das bereitet eine allgemeine Arbeitsreform vor: mehr Beschneidung von Arbeitsrechten, weniger Lohnnebenkosten, mehr befristete Arbeitsverträge, vereinfachte Entlassungen.

Seit Macris Regierungsübernahme 2015 erwarten Linke, dass das Land demnächst in Flammen aufgeht. Als der Höhepunkt der Proteste im Dezember 2017 auf den Jahrestag des Aufstandsbeginns vom 19. Dezember 2001 fiel, beschworen nicht nur sie eine Wiederholung der damaligen Ereignisse, samt Sturz des Präsidenten.

Seit Macris Regierungsübernahme erwarten Linke, dass das Land demnächst in Flammen aufgeht.

Buchstäblich brannte das Land seither aber nur in den infernalischen Steppenbränden, die in der Weideprovinz La Pampa allein im Januar 700.000 Hektar erfassten und die teilweise bis in die nächste Umgebung der Bundeshauptstadt reichten. Die Brände haben sich wegen der Ausdehnung des Gensoja-Anbaus, größtenteils für den Export, und der damit einhergehenden Flurbereinigung zu einer alljährlichen Rekordveranstaltung entwickelt. Zusätzlich hat die Regierung das Budget der Feuerwehren gekürzt und zelebriert ihre Ignoranz: Umweltminister Bergman schlug vor, gegen die Brände zu beten.

Auch in Buenos Aires brennt die Luft, vor allem wegen des Dauerbetriebs abertausender Klimaanlagen, die immer mehr Nachbar*innen zwingen, mit eigener Klimaanlage deren Abwärme zu begegnen – trotz extrem gestiegener Strompreise.

Bislang ist das Erstaunliche jedoch gerade, dass das Land sozial nicht in Flammen aufgegangen ist. Wie in anderen Ländern nach offen neoliberalen oder nationalistischen Regierungswechseln werden die Proteste von links zwar schriller und entschlossener, manche linke Bewegungen und Organisationen wachsen durchaus beträchtlich und die Staatsgewalt stellt sich auf Aufstandsbekämpfung ein. Doch Macri kann seine sozialen Zumutungen auch gegen Proteste von Hunderttausenden nicht zuletzt deshalb durchsetzen, weil sich der Kirchnerismo als Alternative diskreditiert hat – durch die feindselige Behandlung abtrünniger Provinzen, durch die eigene Vetternwirtschaft, nun durch das Abstimmungsverhalten in der Opposition. Die öffentlichen Wortwechsel zum Thema Korruption entbehren nicht einer gewissen Komik – etwa, als die kirchneristische Abgeordnete Sandra Marcela in einer Parlamentsdebatte auf Vorwürfe gegen ihre Partei mit einem „Hallo, und wie geht’s Ihnen denn so?“ antwortete oder als der vermögende Hugo Moyano auf der Kundgebung am 21. Februar betonte, er habe (im Unterschied zu Macri) zumindest keine Gelder im Ausland geparkt. Die Mehrheit für die „Rentenreform“ erreichte Macri durch einen Deal mit oppositionellen Gouverneur*innen – eine Einmalzahlung an Pensionsberechtigte als „Ausgleich”, ein „lächerlicher Betrag“ (labournet), nur wenige Prozent dessen, was die „Reform“ ihnen wegnimmt. Bei der Abstimmung waren zehn Abgeordnete, darunter der kirchneristische Präsi­dent­schafts­kandidat von 2015, Daniel Scioli, abwesend.

Die Lage ähnelt der in vielen Ländern: Eine unglaubwürdig und angreifbar gewordene sozialdemokratische oder liberale Linke, der gegenüber die wenigstens „richtigen“ und unverblümten Neoliberalen oder Nationalist*innen gewählt werden – und eine sozialistische Linke, die zu klein ist (oder sich anderswo als in Argentinien auch oft zu sozialdemokratisch oder linksliberal gebärdet), um wiederum als Alternative zu funktionieren. Dennoch leben von deren Initiative entscheidende Teile des sozialen Widerstands.

Foto: Casa Rosada (CC-AR Presidency/doc)

Auch im Dezember hatte der CGT durch tagelange Proteste zum Streikaufruf gedrängt werden müssen, entschied sich erst 12 Stunden vor Beginn und mobilisierte auch nicht zur Demonstration vor dem Kongress, dem argentinischen Parlamentsgebäude. Vor allem das erzeugte die Situation vom 18. Dezember, in der zunächst in Erwartung begrenzter Proteste und zur Vermeidung hässlicher Bilder die paramilitärische Gendarmería nicht eingesetzt wurde, dann aber eine aufständische Menge beinahe die Absperrungen vor dem Kongress überwand und schließlich doch sämtliche verfügbare Polizeiverstärkung aufgeboten wurde. Sie ging zur unterschiedslosen Jagd auf alle Protestierenden über, trieb sie stundenlang mit Gummigeschossen und Gasgranaten durch die Innenstadt, wobei mindestens drei Protestierende ein Auge verloren, Gas in Cafés und die U-Bahn gefeuert und mehrere Menschen von Polizeifahrzeugen angefahren wurden.

An den Kampagnen und Demos zur Freilassung der im Dezember Inhaftierten beteiligten sich Großgewerkschaften wie auch Kirchneristas so gut wie gar nicht. Und auch der Protest vom 21. Februar wirkte eher wie deren Versuch, sich mittels Vereinnahmung der allgemeinen Unzufriedenheit selbst gegen Macri ins Spiel zu bringen. Rechte Teile der Gewerkschaftsführung hatten unter Berufung auf genau diesen Verdacht ihre Beteiligung abgelehnt.

Vorbildlich agieren unter diesen Umständen die revolutionär-sozialistische Wahlallianz FIT, seit 2013 im nationalen und in mehreren regionalen Parlamenten, sowie die mit ihr assoziierten Gewerkschafts- und Menschenrechtsorganisationen. Abgeordnete der FIT wurden wiederholt in vorderster Front der Proteste selbst von der Polizei schwer verletzt. In unermüdlicher Basisarbeit unterstützen sie Arbeitskämpfe und versuchen, sie mit indigenen und feministischen Mobilisierungen zusammenzuführen. Sie fordern und erreichen die Freilassung von Inhaftierten; drängen immer wieder auf die Ausweitung der Streiks in Straßenblockaden und der Proteste in landesweite Streiks. Am 21. Februar nahmen sie trotz ihrer Vorbehalte gegen die Großgewerkschaften zu Zehntausenden mit einem eigenen Demoblock teil. Sie bereiten weitere Streiks und Blockaden vor, so zum Beispiel für den Frauenkampftag am 8. März – der G20-Gipfel ist auch wegen dieser ständigen Überforderung bisher kein Thema. Zudem gelingt es der Polizei, gegenüber den vielen kleineren Mobilisierungen zu für Argentinien unüblichen, europäisch anmutenden Taktiken zu greifen: Einkesseln, Abdrängen, Spalier, komplettes Abfilmen.

Linke Hoffnungen ruhen somit auf dem Widerstandswillen der Bevölkerung, wie er sich vor allem am 18. Dezember gezeigt hatte. Nachdem große Gruppen tagsüber der Polizei standgehalten hatten, bildeten sich im Laufe des Abends überall im Stadtgebiet spontane cacerolazos, Kochtopfproteste in der Tradition des Dezember 2001, dessen soziale Errungenschaften letztlich von den schon erfolgten und den befürch­teten weiteren Kürzungen bedroht werden. Nach Mitternacht strömten wieder Hunderttausende vor den Kongress, bis in die Morgenstunden wie 2001 skandierend: „Que se vayan todos” (etwa: „Die sollen alle gehen”) und „Unidad de los trabajadores” („Einheit der Arbeiter”). Auch aus anderen Städten (z.B. Rosario, Córdoba, Mendoza, Neuquén und Ushuaia) wurden ähnliche nächtliche Massenaufläufe berichtet.

Es wird weitere Streiks, Proteste und Blockaden geben – so sehr ihnen der Erfolg zu wünschen ist, sind die Aussichten aber trübe. Öffentliches Interesse in einem der Länder, für dessen Kapital Präsident Macri sein Land derzeit so brutal „öffnet“, wäre sicherlich hilfreich. Deutschland ist eines der wichtigsten davon.

“BEWEGUNGSPARTEI STATT BEWAFFNETEM KAMPF”

Foto: David Graaff

Durch die Verwandlung in eine politische Partei, die sich mehr als 1000 Delegierte umfassend Ende August in einem großen Kongresszentrum der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá vollzog, schickt sich die ehemals größte und älteste Guerilla Lateinamerikas nun an, ihren Kampf für ein „Neues Kolumbien“ ohne Waffen fortzuführen.

Die Parteigründung ist Teil der Friedensvereinbarungen von Havanna, in denen die „farianos“ mit der Regierung Juan Manuel Santos das Ende des bewaffneten Konflikts ausgehandelt hatten. Nun geht es, nachdem die FARC ihre Waffen an die Vereinten Nationen übergeben haben, mit deren Umsetzung weiter, worunter die vereinbarten Maßnahmen zur Landreform ebenso fallen, wie die Schaffung des Systems der Sonderjustiz, in dem die von beiden Seiten begangenen Verbrechen des bewaffneten Konflikts aufgearbeitet werden sollen. „Wir haben das Feuer eingestellt, wir haben uns in den Übergangszonen versammelt, wir haben eine vollständige Waffenniederlegung vollzogen, ein Inventar unserer Kriegsökonomie angefertigt und damit begonnen, alle unsere Besitztümer zu übergeben. Ich wünschte, der kolumbianische Staat hätte bei der Erfüllung seiner Verpflichtungen die gleiche Sorgfalt gezeigt“, sagte der ehemalige Oberkommandierende der FARC und neue Parteivorsitzende Rodrigo Londoño, der besser unter seinem Pseudonym „Timoleón Jiménez“ bzw. „Timochenko“ bekannt ist, als er vor tausenden Menschen auf der Plaza Bolivar sprach und Scheinwerfer das neue FARC-Logo, eine rote Rose, auf die umliegenden Gebäude, darunter das Kapitol, projizierte. Damit spielte er nicht nur auf die zähe Verabschiedung der entsprechenden Gesetze und Normen im Kongress an, sondern auch auf die zunehmende Zahl von getöteten Aktivist*innen.

Laut einer Mitte August veröffentlichten Studie der NGO „Somos Defensores“ wurden seit Jahresbeginn 51 Aktivist*innen ermordet und zunehmend scheinen auch ehemalige FARC-Kämpfer*innen und ihre Familienangehörige ins Visier zu rücken. Hinter den Taten vermuten Analyst*innen des Forschungsinstituts INDEPAZ einen paramilitärischen Komplex, der aus bewaffneten Organisationen mit Interessen an illegalen Geschäften wie Drogenhandel und Bergbau besteht, zu dem aber auch lokale Eliten oder anti-subversive Einzelakteure innerhalb staatlicher Institutionen wie dem Militär oder dem Geheimdienst gehören. Die derzeit mächtigste bewaffnete Organisation, die Gaitanistischen Selbstverteidigungsgruppen Kolumbiens (AGC), erklärte Anfang September ihre Bereitschaft, in Verhandlungen mit der Regierung treten zu wollen. Schon seit längerem haben AGC-Vertreter*innen die Nähe zu Kongressabgeordneten und der internationalen Vertreten gesucht und laut der spanischen Zeitung El Mundo gab es bereits Wochen zuvor erste Gespräche zwischen AGC-Vertreter*innen und Regierungsmitgliedern.

Unabhängig aber von den gesamtpolitischen Entwicklungen ging es für die FARC in Bogotá darum, sich als Organisation neu aufzustellen.

Unabhängig aber von den gesamtpolitischen Entwicklungen ging es für die FARC in Bogotá darum, sich als Organisation neu aufzustellen. Aus dem ehemaligen 31 Mitglieder umfassenden Generalstab wurde ein aus mit 111 Mitgliedern recht großes neues Führungsorgan, der Nationalrat der Kommunen. Dieser bestimmte einen 15-köpfigen Politischen Rat, an dessen Spitze Timochenko steht. Personell gibt es damit wenig Erneuerung, was angesichts der straffen, horizontalen Organisationsstruktur der FARC als Guerilla wenig überraschend scheint. Die Delegierten stimmten, nicht nur was den Namen betrifft, für Kontinuität. Die Mitglieder des Sekretariats, des alten Führungsorgans der FARC, finden sich auch in der neuen Parteiführung wieder und im Nationalrat stehen neben ihnen vor allem verdiente Kommandanten und hochbetagte ehemalige Sekretariatsmitglieder, die zum Teil noch die Gründung der FARC anno 1964 miterlebt haben. Die FARC, die nach der Trennung von ihrer „Mutterorganisation“, der Kommunistischen Partei Kolumbiens (PCC) Anfang der 1990er-Jahre militärische und politische Führung im Sekretariat gebündelt hatten, bleiben damit ein von Männern dominierter Verein, dessen Mitglieder ihre Position vor allem militärischen Erfolgen verdanken.

Bislang, möglicherweise auch aus Sicherheitsgründen, finden sich nur einige wenige soziale Aktivist*innen aus den der FARC nahstehenden zivilgesellschaftlichen Organisationen im Nationalrat und mit dem Wirtschafts- und Politikwissenschaftler Jairo Estrada, der als Mitglied der Gruppe Voces de Paz seit Monaten die Verabschiedung der Vereinbarungen im Parlament begleitet, steht nur eine Person im Führungsgremium der Partei, die noch nie ein Gewehr für die revolutionäre Sache abgefeuert hat. Zudem sind lediglich 24 der 111 Nationalratsmitglieder Frauen. Vier von ihnen, Sandra Ramírez, Erika Montero, Victoria Sandino und Liliana Castellanos, die zum Teil bereits bei den Gesprächen von Havanna teilgenommen hatten und einen Geschlechterschwerpunkt in die Vereinbarungen hineinverhandelt hatten, schafften es in die Parteispitze. Auf sie geht auch zurück, dass sich die FARC, deren politische, am Marxismus-Leninismus orientierte politische Ideologie in der Vergangenheit oft als holzschnittartig und nicht mehr zeitgemäß beschrieben worden war, nun unter anderem als anti-patriarchale Partei bezeichnen und in der Geschlechterfragen keinen Nebenwiderspruch mehr zu sehen scheinen.

Welche langfristig die politischen Ziele der FARC sein werden, muss sich noch zeigen. In seiner Eröffnungsrede zu Beginn des Parteikongresses hatte Iván Márquez betont, die FARC wolle Teil eines historisch-gesellschaftlichen Prozesses sein, „der den Aufbau einer alternativen Gesellschaft ermöglicht, in der soziale Gerechtigkeit, wirkliche und fortgeschrittene Demokratie“ herrsche, „wirtschaftliche, soziale, ethnische, religiöse und geschlechtliche Diskriminierung und Ausgrenzung überwunden“ seien und ein würdevolles Leben in einer „neuen Art gesellschaftlicher Beziehungen in Kooperation, Brüderlichkeit und Solidarität“ garantiert werde. Die Vereinbarungen von Havanna, in denen es unter anderem um eine gerechtere Verteilung von Landbesitz geht, seien lediglich die Grundlage für weiterführende gesellschaftliche Veränderungen.

Wie genau dieses „Neue Kolumbien“ aussehen und erreicht werden soll, darüber kam es zu teils heftigen Debatten.

Wie genau dieses „Neue Kolumbien“ aussehen und erreicht werden soll, darüber kam es, wie Delegierte berichteten, während des dreitägigen Kongresses, auf denen Arbeitsgruppen ein erstes Eckpunkteprogramm der neuen Partei erarbeiteten, zu teils heftigen Debatten. Das verwundert wenig, trafen doch in Bogotá erstmals FARC-Mitglieder aufeinander, deren Realität während des Konflikts sehr unterschiedlich war. Es trafen Kader aus den Kerngebieten der FARC im Süden Kolumbiens auf Mitglieder der städtischen Milizen, kleinbäuerlich Geprägte und vom Krieg Gebeutelte auf an Universitäten geschulte und vom urbanen Alltagsleben geprägte Aktivisten. So wurde unter anderem lange darüber diskutiert, ob im Parteistatut auf „das Werk und das politische Handeln von Marx und Lenin“ verwiesen werden solle. Ein Disput, den letztlich jener Flügel um den Parteivorsitzenden Timochenko gewann, der zumindest nach außen hin eine politisch-ideologische Erneuerung der FARC anstrebt und sich von alten Dogmen lösen will. „Einige scheinen nicht verstanden zu haben, dass wir an einem neuen Punkt unserer Geschichte angekommen sind und hier nun auch einen Sprung machen müssen. Viele in unserer Organisation behandeln den Marxismus-Leninismus, als wäre er eine Religion“, sagte der Schriftsteller Gabriel Angel, der FARC-Chef Timochenko nahe steht im Gespräch mit den LN am Rande des Kongresses.

Dieser „Tendenz“, wie Angel sie bezeichnet, gegenüber steht eine Gruppe um den ehemaligen Verhandlungsführer von Havanna Iván Márquez und dem ihm nahestehenden Jesús Santrích, die das historische Erbe eines mehr als fünf Jahrzehnte dauernden Kampfes bewahren wollen. Besonders Santrích gilt dabei als wenig kompromissbereiter Traditionalist, dessen Vertrauen wie bei nicht wenigen FARC-Kämpfer*innen darin, dass der legale Kampf für die politischen Ziele der FARC möglich wird, gering ausgeprägt ist. Der Genozid an den Mitgliedern der 1985 gegründeten Linkspartei Unión Patriótica ist ihnen dabei ebenso ein mahnendes Beispiel wie die ansteigende Zahl der Morde und die Fortexistenz paramilitärischer Gruppen.

Iván Marquez wird es aller Voraussicht nach sein, der die Senatsliste der FARC 2018 anführen wird. Laut der Vereinbarungen von Havanna stehen ihr in den kommenden zwei Legislaturperioden je fünf Sitze im Senat und Repräsentantenhaus zu, unabhängig davon wie die FARC-Kandidat*innen beim Urnengang abschneiden. Einen eigenen Kandidaten für die Präsidentschaftswahl wenige Monate später wird man wohl nicht aufstellen, sondern stattdessen Stimmen zur Bildung einer Übergangsregierung und dessen Kandidaten beitragen wollen, der für die Umsetzung der Vereinbarung von Havanna eintritt. Es muss sich zeigen, ob es der neuen FARC-Partei einerseits gelingt, nicht nur in ihren Kerngebieten Stimmen einzusammeln, sondern gerade die Menschen in den Städten mit einem modernen Programm zu überzeugen. Ein Bestreben, das sich bereits an einem Diskurs abzeichnet, der sich an alle Unzufriedenen und unter dem neoliberalen Wirtschaftsmodell leidenden Bevölkerungsteile richtet. Andererseits muss sich nun zeigen, wie tief die FARC wirklich in der Zivilgesellschaft und in denen von ihr teils über Jahrzehnte kontrollierten Territorien verankert ist. Ein Aspekt, der ihnen in der Vergangenheit von anderen linken und revolutionären Kräften, darunter auch der Nationale Befreiungsarmee (ELN), oft abgesprochen wurde. Dass gesellschaftlicher Wandel nicht ausschließlich innerhalb der staatlichen Institutionen erkämpft werden kann, scheint der FARC, folgt man den Worten Iván Márquez, klar zu sein. Man sei Teil der politischen und sozialen Bewegung, die „mittels ihrer vielfältigen Kämpfe des Alltags neue Ausdrucksformen der gesellschaftlichen Macht hervorbringt und die Formen der Organisation der Staatsgewalt de facto ignoriert und überwindet“, sagte er vor den Delegierten des Parteikongresses und fügte hinzu: „Wir verstehen uns als Bewegungs-Partei“.

„BESSER LEBEN OHNE KOHLE”

El Cerrejón – so nannten die Wayúu einst den heiligen Berg. Heilig, weil er ihnen seit Jahrhunderten Medizinpflanzen spendete und das spirituelle Erbe der Gemeinschaft, der größten indigenen Gruppe Kolumbiens, barg. Heute steht El Cerrejón für einen Großkonzern, eine Mine, ein Loch, Zerstörung. Der Berg ist ausgehöhlt, die Menschen vertrieben.

Samuel Arregoces ist Sprecher der afrokolumbianischen Gemeinde Tabaco und wurde 2001 selbst Opfer einer gewaltvollen Vertreibung durch El Cerrejón. Der gesamte Ort wurde dem Unternehmen übergeben, um dort weiter Kohleabbau zu betreiben. Bis heute warten die Menschen von Tabaco darauf, dass ein Ort für die Neugründung ihrer Gemeinde bereitgestellt wird.

„Es geht hier um mehr als die physische Trennung zwischen Mensch und Territorium“

„Es geht hier um mehr als die physische Trennung zwischen Mensch und Territorium“, schildert Arregoces den Verlust. Mit der Vertreibung und Hinauszögerung der Umsiedlung sterbe etwas in der Gemeinschaft, im sozialen Gefüge. Der Aktivist ringt um Worte. „Unsere Kinder verlieren das Bewusstsein für die anzestrale Mythologie, hören auf zu träumen“. Ein wesentlicher Bestandteil der Wayúu-Spiritualität ginge somit verloren. „Der Verlust dieses Gedächtnisses des Territoriums ist irreparabel“, sagt Arregoces.

Hinzu kommt, dass die Dorfgemeinschaft beständig unter Druck von außen durch den Bergbaukonzern steht. Durch unterschiedliche Strategien wie zum Beispiel lukrative Jobangebote versucht El Cerrejón, den Zusammenhalt im Widerstand zu schwächen. Dass diese Strategie der internen Spaltung oft genug aufgeht, beschreibt Arregoces mit Bedauern: „Ein Riss zieht sich durch Familien und Freundschaften: Manche arbeiten in der Mine, andere verlieren durch sie jegliche Existenzgrundlage.“ Im Fall von Tabaco gestalte es sich darüber hinaus schwierig Widerstand zu organisieren, da alle ehemaligen Dorfmitglieder nun an verschiedenen Orten verstreut lebten. Geld für die Anreise und Organisation von Treffen sei fast nie da.

„Und daher sind wir nun hier in Deutschland, um uns mit sozialen Bewegungen und Aufklärungskampagnen zu vernetzen und internationalen Druck aufzubauen. Wenn man hier im Norden davon spricht, von der Kohle als Energiequelle wegzukommen, dann heißt das für uns notwendigerweise, dass man uns unsere Territorien zurückgibt.“ Arregoces verdeutlicht, dass es den Menschen von Tabaco nicht nur um die Einhaltung internationaler Standards und Verträge seitens des Unternehmens geht. Nein, auch ein definitives Ende des Extraktivismus in der Region, stehe auf ihrer Agenda. Die Rechtfertigung der Konzerne, Arbeitsplätze zu schaffen und den “Fortschritt” der Region zu befördern, hält Arregoces für einen Vorwand.

Tabaco ist nicht die einzige Gemeinde, die große Verluste zu beklagen hat. In den vergangenen drei Jahrzehnten wurden durch die Mine große Teile des Territoriums der Wayúu zerstört. Ganze Landstriche wurden verwüstet, Böden unbrauchbar gemacht, Biodiversität vernichtet und die Versteppung vorangetrieben. Wasserläufe versiegen aufgrund des riesigen Wasserbedarfs für die Mine, was die übliche kleinbäuerliche Subsistenzwirtschaft unmöglich macht. Vielen Dörfern droht nun mit der geplanten Erweiterung des Tagebaus bereits die zweite Vertreibung.

Die im Nordosten Kolumbiens gelegene Mine El Cerrejón ist der größte Steinkohletagebau der Welt.

Die auf der Halbinsel La Guajira im Nordosten Kolumbiens gelegene Mine El Cerrejón ist mit einer Gesamtfläche von 69.000 Hektar der größte Steinkohletagebau der Welt. Noch bis 2034 läuft der Vertrag zwischen den beteiligten Konzernen Anglo American aus Großbritannien, BHP Billiton aus Australien, dem Schweizer Glencore und dem kolumbianischen Staat. In dem „Plan Colombia País Minero 2019“ sieht Kolumbien eine Ausweitung aller bestehenden Minen vor, sowie eine Steigerung der landesweiten Kohleförderung. 98 Prozent der kolumbianischen Kohle sind für den Export bestimmt. Immer noch wird auf die Bergbauindustrie als „Lokomotive für die Entwicklung Kolumbiens“ gesetzt und verheerende Folgen für die Bevölkerung werden in Kauf genommen.

Während die Mine für die ansässige Bevölkerung den Inbegriff von Gewalt und Ungerechtigkeit darstellt, importieren Unternehmen wie Vattenfall, RWE oder E.ON weiterhin kolumbianische Kohle, um sie unter anderem in Deutschland zu verstromen. Die versprochene Energiewende in Deutschland, und das Einstellen der eigenen Steinkohleproduktion bis 2018, ist tatsächlich nur durch das Festhalten an Kohleimporten möglich. Deutschland allein importiert momentan pro Jahr rund 54 Millionen Tonnen Steinkohle und ist damit Spitzenreiter in der EU.

Rund ein Drittel der Importe stammt aus Russland. Nummer zwei der Importländer ist Kolumbien mit ungefähr 20 Prozent. Weiterhin gibt es kaum Transparenz über die Lieferbeziehungen, was der Missachtung von Grundrechten Tür und Tor öffnet. Laut einer aktuellen Studie von den Nichtregierungsorganisationen Germanwatch und MISEREOR betrifft ein Drittel der unternehmensbezogenen Vorwürfe zu Menschenrechtsverletzungen den Energie- und Rohstoffsektor. Anders als Frankreich, Großbritannien und die Niederlande hat sich Deutschland jedoch immer noch nicht dazu durchringen können, Gesetze mit Menschenrechtsvorgaben für Auslandsgeschäfte von Unternehmen zu verabschieden.

So kann ein hier geführter Protest gegen Vattenfall und Co. die Gemeinden in der Guajira ganz konkret in ihrem alltäglichen Widerstand unterstützen. Auch das ist eine Botschaft der drei Aktivist*innen. Die Ziele und Vorstellungen der betroffenen Menschen müssen in den Vordergrund gestellt werden, um Chancen und Möglichkeiten der Zusammenarbeit und Solidarität auszumachen.

Auftaktveranstaltung der Rundreise war die Filmvorführung des Dokumentarfilms La buena vida (Das gute Leben) von Jens Schanze in Berlin. Der Film erzählt die Geschichte der Dorfgemeinschaft Tamaquito am Río Ranchería, die 2011 zum Vorzeigeprojekt „gelungener Umsiedlung“ unter „Einhaltung internationaler Standards“ durch El Cerrejón werden sollte. Dies misslang vollauf.

Catalina Caro Galvis, ebenfalls Aktivistin und Bergbaureferentin der Umweltorganisation CENSAT – Agua Viva kann im Kampf gegen das Kohlegeschäft aber auch von Erfolgen berichten. So wurde im März 2017 ein Besuch einer Konzerndelegation von Vattenfall in der Guajira erwirkt, bei dem die Führungsebenen des schwedischen Staatskonzerns mit den Menschenrechtsverletzungen in den Minen Kolumbiens konfrontiert werden sollten. Die Besonderheit: Kolumbianische Aktivist*innen, unter anderem Caro Galvis, bestimmten den Ablauf dieses Besuches. Bis heute steht das versprochene Abschlussgutachten von Vattenfall jedoch aus. Caro Galvis vermutet, dass jede weitere zeitliche Verzögerung dazu führen wird, dass die Zustände abgeschwächt und beschönigt werden. Einmal mehr ruft sie daher dazu auf, von Deutschland aus Druck auf Vattenfall auszuüben und die Veröffentlichung eines weitreichenden und transparenten Gutachtens einzufordern.

Vattenfall spielt weiterhin auch im deutschen Kohleabbau eine bedeutende Rolle. Ironischerweise finanziert der Konzern seit 2006 das „Archiv verschwundener Orte“, in dem an die 136 Dörfer erinnert wird, die allein in der Lausitz seit 1924 dem Braunkohlebergbau ganz oder teilweise weichen mussten. Bei einer Fahrradtour um den Braunkohletagebau Jänschwalde an der deutsch-polnischen Grenze tauschen die kolumbianischen Gäste ihre Erfahrungen aus der Guajira mit deutschen und polnischen Klimaaktivist*innen aus. Arregoces zieht aus diesem Zusammentreffen vor allem eine Erkenntnis: dass Kohleabbau überall auf der Welt mit einer gewaltvollen Geschichte von Vertreibung und Umweltzerstörung verbunden ist – auch in Deutschland, dem vermeintlichen Vorreiter des Umweltschutzes und der Menschenrechte. Strategie, Logik und Argumentation der Konzerne seien überall auf der Welt gleich, wenn auch die Bedingungen der Vertreibung mehr oder weniger gewaltvoll sein können, schlussfolgert er aus der Rundreise. „Hinter all dem steht die gleiche Grundidee“, sagt er.

„Extraktivismus und Wirtschaftwachsum gehen vor, Menschen müssen weichen und Lebensräume werden zerstört.“

In den noch bis vor Kurzem bedrohten sächsischen Ortschaften Grabko, Atterwasch und Kerkwitz in der Lausitz können die Anwohner*innen mittlerweile aufatmen.

In den noch bis vor Kurzem bedrohten sächsischen Ortschaften Grabko, Atterwasch und Kerkwitz in der Lausitz können die Anwohner*innen mittlerweile aufatmen. Die jahrelangen Forderungen von Umweltschützer*innen erfüllen sich: Der Tagebau Jänschwalde wird nicht erweitert und Welzow-Süd in der Niederlausitz auf Eis gelegt. Fest steht nun: Spätestens 2050 ist Schluss mit der Kohleverstromung in der Lausitz. Und bereits im Oktober 2018 sollen in Jänschwalde erste Generatoren stillgelegt werden, voraussichtlich Mitte der 2020er Jahre wird das Feld ausgekohlt sein. Der Austausch bestärke alle Beteiligten einmal mehr, weiterzukämpfen, so die Aktivist*innen. Nicht nur der Protest, sondern auch die Möglichkeiten eines sozialverträglichen Kohleausstiegs und alternative Erwerbskonzepte müssten global gedacht werden.

Jakeline Romero Epiayu, Sprecherin von Fuerza de Mujeres Wayúu, macht sich darüber hinaus bei einem Vernetzungstreffen mit Berliner Anti-Kohle-Aktivist*innen von den Bewegungen Kohleausstieg Berlin, Ende Gelände und anderen dafür stark, das Thema Klimagerechtigkeit und Energie in den Diskurs um einen möglichen Frieden in Kolumbien zu integrieren. Sie fordert einen Friedensvertrag, in dem das aktuelle neoliberale Wirtschaftsmodell infrage gestellt wird. Eben dieses Modell sei seit jeher Triebfeder des Konfliktes. Romero Epiayu sagt das sowohl mit Blick auf die Situation der vertriebenen Gemeinden in der Guajira, als auch in Hinblick auf das Gebiet Catatumbo. Durch die dort herrschende Guerilla ist die Region bisher weitgehend von extraktivistischen Großprojekten verschont worden. Nun könnte Catatumbo jedoch als lukrativer Standort der Kohle- und Ölförderung ins Blickfeld der Konzerne geraten. Aktionen des zivilen Ungehorsams, wie sie Ende Gelände in den vergangenen Jahren in Deutschland durchführte, seien in Lateinamerika jedoch undenkbar, glaubt Romero Epiayu. „In Kolumbien gleicht eine Mine einer militärischen Festung und das Verhältnis zum Staat ist ein anderes“, erklärt sie. „Wenn du einen Tagebau betrittst, kann das jederzeit mit einem tödlichen Schuss enden.“ Gerade in der derzeitigen Implementierungsphase des Friedensabkommens werden Aktivist*innen in erhöhtem Maße Opfer von Kriminalisierung und Bedrohung. Auch Jakeline und Samuel erlebten bereits konkrete Gewaltandrohungen aufgrund ihrer politischen Tätigkeit. „Schutz, Unterstützung und Sichtbarmachung für Betroffene, als auch deren Familien, muss ein internationales Interesse werden“, fordert Romero Epiayu.

Letzte Station der Rundreise: Der Gipfel der Globalen Solidarität im Rahmen des Anti-G20-Protests in Hamburg. „Wir wollen erreichen, dass die Regierungschefs beim Thema Klimaschutz uns indigenen Gemeinschaften zuhören“, sagt Romero Epiayu. „Immerhin haben wir unsere Territorien und natürlichen Ressourcen über Jahrhunderte konserviert. Unsere Hoffnung ist, dass ein Leben ohne Minen und so, wie wir es uns vorstellen, irgendwann wieder möglich ist.“ Die Zukunft sieht die Aktivistin in lokalen Initiativen und kommunitären Formen des Zusammenlebens. Agerroces ergänzt: „Was man aus dem Süden in den Norden schafft, kontaminiert den ganzen Planeten. Vielleicht erinnern sich die G20 irgendwann daran, dass wir in einem einzigen gemeinsamen Ökosystem leben.“ Was die beiden zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen können, wenige Tage nach dem Gipfel jedoch feststeht: US-Präsident Donald Trump hat in Hamburg in Sachen Missachtung des Pariser Klimaabkommens einen Verbündeten gefunden. Überraschend stellt nun auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan die Umsetzung des Pariser Vertrages durch sein Land infrage. Ein Grund mehr für Aktivist*innen, sich weltweit zu verbünden.

Kämpfe um die Stadt der Zukunft

Fortaleza – Hauptstadt des Bundesstaates Ceará im Nordosten Brasiliens. Eine Stadt, in der zwei Drittel der Bebauung irregulär sind, ein Drittel der Bevölkerung in Favelas oder Problemvierteln lebt und das Stadtbild von sozialräumlicher Fragmentierung geprägt ist. Das auf der einen Seite unkontrollierte und auf der anderen Seite von kapitalistischen Interessen dominierte Wachstum der Stadt hat ein Fortaleza hervorgebracht, in dem soziale Ungerechtigkeit und die Ausgrenzung der armen Bevölkerung vorherrschen. Informelle Siedlungen stehen Luxushotels, geschlossenen Wohnanlagen und Hochhäusern der oberen Mittelschicht, die Hochsicherheitstrakten gleichen, gegenüber.

Der Masterplan

Schuld an solchen Fehlentwicklungen ist oft die ungenügende Planung. Fortaleza selbst besitzt seit 2002 keinen gültigen Masterplan zur Steuerung der Stadtentwicklung mehr.
Dem unkontrollierten Stadtwachstum brasilianischer Großstädte soll nun durch partizipativ erarbeitete Masterpläne Einhalt geboten werden. Das 2001 vom Städteministerium festgelegte Stadtstatut bietet eine Reihe innovativer Instrumente zur Umsetzung der avisierten Stadtreform, die auf dem Prinzip der gesellschaftlichen Funktion von Eigentum beruht und eine sozial gerechtere Stadtentwicklung anstrebt. Das Stadtstatut legt auch fest, dass Städte über 20.000 EinwohnerInnen bis Oktober 2006 ihren Plano Diretor zur Stadtentwicklung erarbeiten beziehungsweise erneuern müssen und zwar mit Beteiligung der BewohnerInnen. Dieser Masterplan hat eine Gültigkeit von zehn Jahren. Er legt die Nutzung und die Bebauungsdichte für die gesamte Stadt fest. Im Plano Diretor können auch sogenannte Sonderzonen Sozialen Interesses (ZEIS) ausgewiesen werden, die die BewohnerInnen informeller Siedlungen beispielsweise vor der Verdrängung durch Tourismusprojekte schützen sollen. Auch können in diesen Sonderzonen Grundstücke für den sozialen Wohnungsbau vorbehalten bleiben.

Der Plano Diretor als Spielfeld politischer Machtkämpfe

In Fortaleza begann der Prozess zur Erstellung des Plano Diretor bereits im Jahr 2002 unter dem damaligen Bürgermeister Juraci Magalhães der konservativen Partei PMDB (Partido do Movimento Democrático Brasileiro). Der Plan wurde ohne Beteiligung der BewohnerInnen und eher im Sinne der Ausweitung des Tourismus und der Interessen der Bauindustrie denn einer sozial gerechten Stadtentwicklung erarbeitet.
Infolge einer massiven Kampagne des Netzwerkes für sozialen und umweltgerechten Städtebau NUHAB wurde der Plano Diretor von der 2004 gewählten volksnahen Bürgermeisterin der Arbeiterpartei PT, Luizianne Lins, allerdings vor der Abstimmung durch die Abgeordnetenkammer wieder zurückgezogen. Das führte bei sozialen AktivistInnen zu Hochstimmung. Ebenso hoch waren die Erwartungen der Bevölkerung, nun aktiv an der Erstellung des Plans teilhaben zu können. Doch zunächst geschah gar nichts. Erst im Februar 2006 wurde das Thema innerhalb der Stadtverwaltung wieder aufgenommen.
Nun wird der Prozess zur Erstellung des Plano Diretor von der Nichtregierungsorganisation Instituto Pólis aus São Paulo koordiniert und von einem Beratungskomitee, das allerdings keine Entscheidungsbefugnis hat, begleitet. Das Komitee besteht aus VertreterInnen der Zivilgesellschaft, der Architektenkammer, der Bauindustrie und des Immobiliensektors. Die unterschiedliche Vorstellung vom Partizipationsprozess innerhalb dieser Gruppe ist offensichtlich.

Von der gescheiten Theorie…

Nichtsdestotrotz scheint das vom Instituto Pólis entwickelte Verfahren auf eine aktive Beteiligung der BewohnerInnen Fortalezas abzuzielen. Durch Weiterbildungen sollen die BewohnerInnen über den Prozess, die Instrumente des Masterplans und Beteiligungsmöglichkeiten informiert werden. In 14 Workshops und in regionalen Anhörungen sollen sie die Möglichkeit haben, Prioritäten für die Entwicklung bestimmter Regionen zu diskutieren und ihre Vorschläge einzubringen. Abschließend soll auf einem Kongress im September über die Aufnahme der Vorschläge in den Plano Diretor entschieden werden. Hier werden unter anderem Nutzung, Bebauungsdichte und maximale Geschosshöhe festgelegt, die erwähnten Sonderzonen ZEIS ausgewiesen und über den Erhalt und die Ausweisung von Freiflächen diskutiert. Weiter können Vorschläge zu Infrastruktur und Versorgungsreinrichtungen eingereicht und konkrete städtebauliche Maßnahmen zur Verbesserung der Wohn- und Lebenssituation der BewohnerInnen gefordert werden. Theoretisch sollen sich die BewohnerInnen also direkt an der Verbesserung ihres Wohnumfelds beteiligen können.

…zur scheiternden Umsetzung

Die bisherige Praxis gestaltete sich jedoch anders. Bei den diversen Veranstaltungen erschienen aufgrund der ungenügenden Mobilisierung nur wenige BewohnerInnen. Teilweise nahmen lediglich fünf BürgerInnen das Angebot wahr. Die angekündigte Medienkampagne wurde mit erheblicher Verspätung einen Tag vor der ersten Veranstaltung gestartet und enthielt keine handfesten Informationen über den Partizipationsprozess. Oft wurden die Veranstaltungsorte kurzfristig geändert. Von zivilgesellschaftlichen Organisationen bereitgestellte Busse voller beteiligungsfreudiger BürgerInnen fanden so nicht mehr ihr Ziel. Die Möglichkeiten zur Beteiligung waren erheblich eingeschränkt, da die BewohnerInnen keine genauen Informationen erhielten.
Deutlich wurde, dass die Bevölkerungsbeteiligung beim Erstellen des Plano Diretor keine Priorität für die Stadtverwaltung hat. Politischer Druck wird vehement von jenen AkteurInnen ausgeübt, die kaum Interesse an der Wahrung der Rechte der benachteiligten Bevölkerung haben dürften.
Bei den Versammlungen zum partizipativen Bürgerhaushalt, an dem die BewohnerInnen auch direkt mitbestimmen, funktioniert die Mobilisierung beispielsweise hervorragend. Hier wird jedoch nur über einen geringen Teil des Haushalts bestimmt. Die Festlegung der Nutzung Fortalezas, brasilianische Hauptstadt der Geldwäsche und inzwischen Hauptziel des Tourismus, bewegt ganz andere Summen in- und ausländischen Kapitals.
Ein weiterer Grund für das Scheitern des Partizipationsmodells der Stadtverwaltung ist das fehlende Bewusstsein der BewohnerInnen über die Macht, die ihnen die Beteiligung an der Erstellung des Plano Diretor gibt. Die Möglichkeit, ihre Lebenssituation konkret verändern zu können, erschließt sich ihnen beim kurzfristiger ausgerichteten Bürgerhaushalt deutlicher, beziehungsweise wird es ihnen deutlicher gemacht.
So ist beispielsweise auch José Meneleu, Sekretär für Planung in Fortaleza, der Meinung, dass bei einer langfristigen Planung die BürgerInnen die Stadtentwicklung nicht nur aus Sicht ihrer eigenen Wohn- und Lebensverhältnisse betrachten dürften. Der unzureichende BürgerInnenbezug ist also auch ihm bewusst. Zu bezweifeln ist daher, ob es den entsprechenden VertreterInnen der Stadtverwaltung gelingen wird mit Hilfe eines Masterplans, der die direkten Bedürfnisse der BürgerInnen nicht berücksichtigt, an einer sozial gerechteren Stadtentwicklung mitzuwirken.
Neben der schwachen Bürgerbeteiligung steht die Stadtverwaltung vor einem weiteren Problem: dem enormen Zeitdruck. Denn die Abgabefrist für den Masterplan ist im Oktober. Die Phase der Bestandsanalyse in den Stadtvierteln ist bereits abgeschlossen. Die regionalen Anhörungen, bei denen die Delegierten für den Kongress des partizipativen Masterplans im September gewählt werden, haben bereits begonnen. Die letzte Etappe findet einen Monat vor Ende der Frist statt.
Parallel zu den Aktivitäten der Stadtverwaltung initiierten die zivilgesellschaftliche Organisationen ein eigenes Programm in Sachen Plano Diretor. Dazu führten Nichtregierungsorganisationen des Netzwerks NUHAB einen einmonatigen Workshop durch. Ziel war, die BewohnerInnen und BürgerInnenbewegungen zur Beteiligung an der Erstellung des Masterplans zu befähigen. Zudem wurden konkrete Vorschläge zur Übernahme in den Plano Diretor erarbeitet.

Recht auf Stadt

An dem Workshop nahmen 100 bereits stadtpolitisch aktive BewohnerInnen teil, die sich in vier Gruppen mit besonders konfliktbelasteten Regionen der Stadt auseinander setzten. Während der ersten Woche fanden intensive Schulungen zum „Recht auf Stadt“, zu den Instrumenten des Plano Diretor und den Möglichkeiten ihres Einsatzes statt. In den folgenden zwei Wochen führten die Gruppen Bestandsaufnahmen und -analysen durch, auf deren Grundlage dann entsprechende Vorschläge zur Verbesserung der bestehenden Situation erarbeitet wurden. Anschließend tauschten sich die TeilnehmerInnen in einem zweitägigen Seminar aus und diskutierten die Vorschläge. Durch die Schulungen und die teilweise jahrelange Erfahrung im Kampf um eine sozial gerechtere Stadtentwicklung konnten die TeilnehmerInnen einige qualifizierte Vorschläge erarbeiten. Sie orientierten sich an den Bedürfnissen derjenigen, die in besonders großem Maß unter den Problemen der Stadt leiden.

Machtpolitik vs. BürgerInnenpartizipation

Eine Gruppe hat ihre Vorschläge bereits in einer öffentlichen Anhörung vorgestellt und dem Planungssekretär José Meneleu offiziell überreicht. Unter anderem schlug die Arbeitsgruppe vor, ein jahrelang brachliegendes Grundstück zur Sonderzone für Sozialen Wohnungsbau auszuweisen. Das entsprechende Grundstück befindet sich in einer Region die unter zunehmendem Spekulationsdruck steht und gehört einer der einflussreichsten Familien Fortalezas. Ob die Vorschläge tatsächlich in den Plano Diretor übernommen werden, ist nun eine rein machtpolitische Entscheidung.
Für Fortaleza und seine BewohnerInnen bleibt daher die Frage offen, ob die Stadtverwaltung die nötige Weitsicht und Durchsetzungskraft hat, wenigstens einige der erarbeiteten Vorschläge zu übernehmen. José Meneleu zumindest zeigte sich über die zahlreichen Vorschläge im Rahmen der ersten regionalen Anhörungen erfreut. Er geht davon aus, dass es in zehn Jahren, wenn der nächste Masterplan erarbeitet wird, bereits eine ausgeprägtere Partizipationskultur gibt.

Neues in El Viejo

Um 18 Uhr beginnt sich der zentrale Platz vor der Kirche in El Viejo zu füllen. Viele Menschen aus der Stadt sind anwesend. Von der Bevölkerung aus den zum municipio gehörenden Dörfern ist hingegen aufgrund mangelnder Transportmöglichkeiten fast niemand gekommen. Eine große Bühne ist aufgebaut, auf der alle StadträtInnen und der Bürgermeister sitzen. Eine Stunde später erklingt die Nationalhymne zur offiziellen Eröffnung des cabildos.
Cabildos sind Volksversammlungen, die jedeR BürgermeisterIn in Nicaragua nach den ersten hundert Tagen im Amt sowie jährlich während der Haushaltsberatungen einberufen muss. Denn seit der Reform des Gemeinderechts von 1992 bedürfen Haushaltsentwürfe vor Verabschiedung durch den Gemeinderat der Annahme durch ein cabildo. Nach Verabschiedung müssen sie ebenfalls wieder dort vorgestellt werden. Bei dieser offenen Zusammenkunft von BürgerInnen haben diese die Möglichkeit, Empfehlungen auszusprechen und Fragen zu stellen. Alle PolitikerInnen und Verwaltungsangestellten müssen sich für ihre Politik und ihr Verhalten rechtfertigen. So auch in der Stadt El Viejo, wo German Muñoz Monacada, ein alter Gewerkschafter und bisher FSLN-Abgeordneter im Parlament zum Bürgermeister gewählt wurde.
Das etwa140 Kilometer westlich von Managua gelegene El Viejo ist eine sandinistische Hochburg. Wie in 90 weiteren der 140 Gemeinden des municipios, stellt die Sandinistische Befreiungsfront (FSLN) die Kommunalregierung. Die FSLN regiert das municipio mit einer bequemen Mehrheit. Der Bürgermeister und sein Stellvertreter sind Sandinsten, ebenso wie fünf der acht Ratsmitglieder. Die FSLN verfügt über ein flächendeckendes Organisationsnetz und ist in diesem Sinne die einzige wirkliche politische Kraft im municipio.
Daneben gibt eine große Anzahl von NGOs für spezifische Politikfelder sowie große Agrarkooperativen, die durch ihre enge Verflechtung mit der FSLN in die Politik eingreifen. In El Viejo sind Agenten sämtlicher Ebenen der internationalen Entwicklungszusammenarbeit tätig. Das Investitionsvolumen der NGOs übersteigt das der öffentlichen Verwaltung um einiges. Lokale Regierung, Zivilgesellschaft und internationale Geber bilden eine Einheit im munizipalen Entwicklungskomitee, dem CDM (Comité de Desarrollo Municipal). Dieses hat beratenden Charakter und ist die erste sichtbare Form der BürgerInnenbeteiligung an Planungsprozessen. Es dient als Dialogorgan zwischen Zivilgesellschaft und Staat und hat beratenden Charakter.
Auf dem cabildo in El Viejo werden heute als erstes per Beamer Darstellungen über die Politik der ersten 100 Tage unter Muñoz Monacada gezeigt. Es folgen Vorträge des Bürgermeisters, seines Stellvertreters und anderer PolitikerInnen. Gegen 20 Uhr dürfen dann endlich die EinwohnerInnen El Viejos ihre Fragen stellen. Zunächst geht es um nicht eingehaltene Versprechen aus dem Wahlkampf. Zunehmend werden die Fragen konkreter. Vor allem die SprecherInnen aus den verschiedenen Stadtteilen stellen die PolitikerInnen mit ihren Fragen bloß. Dann kommt ein ganzer Kritikblock zum Verhalten des Bürgermeisters. Dieser glänze zu oft durch Abwesenheit. Zwar haben sich einige der Anwesenden gut auf die Versammlung vorbereitet, doch ihr Faktenwissen reicht meist nicht aus, um dem rhetorisch geschulten Bürgermeister etwas entgegensetzen zu können. Viele bleiben deshalb skeptisch, mit den cabildos wirklich etwas bewegen zu können.

Das Gesetz 475

Die Versammlungen sind ein Element zur BürgerInnenbeteiligung in Nicaragua. Durch ein 2004 in Kraft getretenes Gesetz wurden außerdem Bürgerbegehren und die Durchführung von Referenden ermöglicht. Dieses so genannte Gesetz 475 sieht des Weiteren vor, dass BürgerInnen selbst Gesetzesinitiativen einbringen können und Akteneinsicht erhalten.
Das Gesetz entstand im Kontext der Kritik großer Geldgeberländer, die die Unregierbarkeit Nicaraguas als eines der größten Entwicklungshemmnisse diagnostizierte. Demnach bilden mangelnder Zugang zu Bildung und deren schlechte Qualität sowie tief greifende soziale Probleme einen Teufelskreis. Um aus diesem auszubrechen, migrieren jährlich Tausende NicaraguanerInnen in die USA oder nach Costa Rica. Den Menschen fehlt das Vertrauen in den Staat.
Die internationale Gemeinschaft sieht in der Stärkung bürgerlich-demokratischer Systeme und ihrer Funktionsfähigkeit einen wesentlichen strategischen Beitrag zur Armutsbekämpfung. Bei der Demokratieförderung und dem Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen kommt der kommunalen Ebene eine zentrale Bedeutung zu. Hier sollen Erlebnisräume zur direkten Erfahrung einer funktionierenden Demokratie geschaffen werden und damit demokratiefeindlichen Bestrebungen entgegengewirkt werden.
Die Ursachen für die Probleme Nicaraguas bei der Demokratieentwicklung liegen tief. Paternalismus, Korruption und die Instrumentalisierung der Verfassungsorgane sind Ausdruck der herrschenden politischen Kultur. Die politischen Akteure lösen sich nur schwer von der Rolle des bevormundenden Staates. 50 Jahre Diktatur unter Somoza haben mehrere Generationen erleben lassen, wie verlockend einfach es ist, autoritäre Strukturen zu nutzen.
Die Errungenschaften der Revolution waren spätestens mit dem Beginn des Bürgerkriegs von militaristischen Entscheidungsstrukturen verdrängt worden, so dass nur wenig Entwicklungspotential für demokratische Verfahren blieb. Dennoch gab es in der sandinistischen Zeit erste Ansätze, Politik zu demokratisieren. Auf lokaler Ebene wurde 1986 das Gemeinderecht erlassen und Formen der BürgerInnenbeteiligung festgeschrieben.
Seit den 90er Jahren, mit den Regierungen Violetta Chamorros und Arnoldo Alemáns sowie unter der jetzigen Bolaños-Administration wurden sehr langsam neue Formen der Politikformulierung wirksam – weit entfernt von einer Institutionalisierung der bürgerlichen Demokratie.

Zivilgesellschaft und Geschlechterdemokratie

Noch immer spielen Zivilgesellschaft und Medien in Nicaragua eine untergeordnete Rolle in ihrer Kontrollfunktion der Politik. So gibt es in El Viejo keine örtliche Presse und nur zwei lokale Radiostationen. Auch die EntscheidungsträgerInnen der NGOs in El Viejo sind, wie in vielen Bereichen des Landes üblich, verwandt oder verschwägert mit örtlichen PolitikerInnen.
Auch die Wirklichkeit der Geschlechterdemokratie sieht düster aus. Viele Voraussetzungen fehlen, um etwa geschlechtergerechte Haushaltsentwürfe durchzusetzen. Auch wenn einige politische Schlüsselpositionen in El Viejo von Frauen besetzt sind, so konzentriert sich ihre Beteiligung doch auf niedere Posten. Auf der untersten Ebene, die mit der sozialen Organisation der Gemeinden befasst ist, dominieren Frauen. Auch im munizipalen Entwicklungskomitee (CDM) sind mindestens die Hälfte Frauen. Im Kreisrat sind dagegen nur zwei Frauen vertreten, und auf der Verwaltungsebene besetzt keine einzige Frau eine Führungsposition. Damit Frauen an politischen Entscheidungen wirklich gleichberechtigt teilhaben können, bedarf es grundlegender Veränderungen der Geschlechterverhältnisse. Dagegen sperren sich aber nicht zuletzt viele Männer in den Gemeinden.
Vor Ort gibt es in El Viejo nur eine Organisation, die Genderarbeit komplementär zum machistischen Mainstream leisten kann. Mit der speziell auf die Entwicklungsbedürfnisse von Frauen ausgerichteten Vereinigung APADEIM (Asociación para el Desarrollo Integral de la Mujer) gibt es eine moderne, in der politischen Landschaft verankerte Organisation, die für die strukturelle Veränderung von Geschlechterungleichheit und die Bekämpfung sexistischer Gewalt eintritt. APADEIM unterstützt aktiv die Schaffung einer Frauenkommission, die im November 2005 gegründet wurde. Dies ist ein erster Meilenstein, um den lokalen Geschlechter-Diskurs von innen heraus zu verändern.

Die Bevölkerung ist unterrepräsentiert…

Ein weiteres Hindernis auf dem Weg zu einer demokratischen Gesellschaft Nicaraguas liegt darin, dass die WählerInnen auf kommunaler Ebene stark unterrepräsentiert sind. In El Viejo vertreten acht Kreisratsmitglieder, der Bürgermeister und sein Stellvertreter den politischen Willen der fast 100.000 EinwohnerInnen. Eine vergleichbare Gebietskörperschaft in Deutschland verfügt über mindestens 30 Mitglieder im Kreisrat und die dazugehörenden Ausschüsse.
Das politische System Nicaragus besteht aus vier Ebenen. Auf der ersten, nationalen Ebene gibt es eine präsidiale Struktur. Auf der zweiten, departamentalen Ebene vertreten die BürgermeisterInnen der municipios ihre Interessen in einem Rat. Diese 140 vom Volk gewählten BürgermeisterInnen mit ihren Gemeinderäten wiederum bilden die dritte Ebene. Die unterste Ebene ist die kommunale Basis. Von den BürgermeisterInnen können entweder HilfsbürgermeisterInnen für die Gemeinden und Dörfer ernannt werden oder dort werden GemeindeleiterInnen gewählt.
Der Unterrepräsentanz der BürgerInnen auf kommunaler Ebene soll nun ebenfalls das Gesetz 475 entgegen wirken, indem beispielsweise die Rolle und Funktion der partizipativen Instanzen auf lokaler Ebene gestärkt werden. Im Widerspruch dazu steht allerdings die starke Stellung des Bürgermeisters, der die parlamentarische Arbeit weitgehend ignorieren kann. Er wird alle vier Jahre zusammen mit dem Gemeinderat direkt gewählt und bleibt zentrale Figur. Er bestimmt die Inhalte und Normen lokaler Politik und entscheidet weiterhin allein in der Personalpolitik. Da eine Wiederwahl nicht zulässig ist, stellt sich nach Ablauf der jeweiligen Amtszeit die Frage: Wohin mit den 140 BürgermeisterInnen im Land? Viele der politischen SpitzenfunktionärInnen bauen vor und bereichern sich dementsprechend während ihrer Amtszeit. Oder sie hoffen auf eine Abgeordnetenkarriere.

…und doch beharrlich

Gegen 22 Uhr hat der Bürgermeister von El Viejo die Kritik an seiner Politik durch die BürgerInnen seines municipios überstanden. Für heute ist das cabildo zu Ende. Denn auch wenn die Sonne nicht mehr scheint, so bleibt es in El Viejo heiß, nicht nur politisch. Es bleibt der Eindruck eines mündigen Volks in Nicaragua, dass die Umsetzung der Beteiligung trotz aller Hindernisse beharrlich begleiten wird.

Von der Bronx von Buenos Aires zum Vorzeigeprojekt?

Die argentinische Hauptstadt ist als selbständige Verwaltungseinheit erst zehn Jahre jung. Sie war und ist Bühne der nationalen Politik. Politische Eitelkeiten und wirtschaftliche Interessen stehen bei den Verantwortlichen an vorderster Stelle. Die Interessen der StadtbewohnerInnen sind dabei, sofern sie nicht den Zielen der Regierenden dienen, meist nur hinderlich. Eine lokale Tradition zivilgesellschaftlicher Teilhabe, die von den politischen Autoritäten entsprechend geschätzt und akzeptiert wird, muss in diesem Umfeld erst noch wachsen.
Zivilgesellschaftliche Partizipationsstrukturen zu schaffen, ist angesichts der wechselhaften argentinischen Geschichte und beständig wiederkehrenden wirtschaftlichen Krisen kein leichtes Unterfangen. Die letzten Jahrzehnte wurden, auch nach der Rückkehr zur Demokratie 1983, durch zwei schwerwiegende wirtschaftliche Krisen geprägt. Die letzte Krise pulverisierte 2001 die Ersparnisse großer Teile des argentinischen Mittelstandes und verschliss innerhalb einer Woche vier Präsidenten. Der Wechsel ist in Buenos Aires die Regel, politische Kontinuität und wirtschaftliche Stabilität bisher die Ausnahme.
Doch auch in diesem Umfeld hat in den letzten Jahren eine Entwicklung hin zur BürgerInnenbeteiligung stattgefunden. Nach jahrelanger Planung und Diskussion soll nun auf Grundlage eines Gesetzes aus dem Jahr 2005 im kommenden Jahr das gesamte Stadtgebiet in 15 Kommunen, so genannte comunas, untergliedert werden. Vorgänger der comunas sind die bisherigen 16 Zentren für Geschäftsführung und Partizipation (CGP), die einerseits den BürgerInnen verschiedene Verwaltungsaufgaben näher bringen sollen und andererseits als Vermittlerin für Beschwerden und Wünsche zwischen den lokalen AnwohnerInnen und der Stadtregierung fungieren.
Durch die Kommunen sollen diese Aufgaben, insbesondere die Möglichkeiten der Teilhabe und des Einflusses der BewohnerInnen der Stadtviertel nun erweitert und gestärkt werden. Die Leitung der Kommunen wird zukünftig direkt durch die BürgerInnen gewählt und die Kommunen werden über einen eigenen Haushalt und festgeschriebene Kompetenzen verfügen. Es soll außerdem ein fester Beirat geschaffen werden, der sich aus den lokal aktiven Nichtregierungsorganisationen und Basisgruppen zusammensetzt, die aktuell das Bild zivilgesellschaftlicher Partizipation in Buenos Aires bestimmen.

Kulturelles Zentrum

So auch im alten Marktviertel Abasto, das am westlichen Rand des Stadtzentrums gelegen ist. Geprägt wird das etwa hundert Blöcke umfassende Gebiet durch den ehemaligen Lebensmittelgroßmarkt Abasto, dessen Gebäude im Zentrum des Viertels liegen. Am Ende des 19. Jahrhunderts eröffnet, konzentrierte sich hier ein bedeutender Teil des städtischen Lebensmittelhandels. In seinem Umfeld siedelten sich zum großen Teil EinzelhändlerInnen mit ihren Familien an. Italienische, französische oder jüdische ImmigrantInnen, deren Lebensunterhalt mehr oder weniger abhängig vom Großmarkt war. Es entstand ein ArbeiterInnen- und Marktviertel, das stadtbekannt für seine Vielfalt und sein kulturelles Leben wurde. Stellvertretend hierfür steht die Person von Carlos Gardel, Gallionsfigur des Tango und schillernde Persönlichkeit aus dem Buenos Aires der 1920er Jahre. In den 50er und 60er Jahren folgte ein zweite Welle von ImmigrantInnen, meist aus dem argentinischen Inland, die ebenfalls den Charakter des Viertels prägten.
Doch in den 80er Jahren wandelte sich das Viertel. Der Lebensmittelhandel wurde an den Stadtrand verlagert, der Großmarkt geschlossen. Die von ihm abhängigen EinzelhändlerInnen zogen nach und nach weg. Die umliegenden Straßen verödeten, die leer stehenden Gebäude wurden mit ärmsten Bevölkerungsgruppen, vor allem ImmigrantInnen aus Bolivien, Peru oder Paraguay besetzt. Die so genannten casas tomadas, besetze Häuser, entstanden. Das Viertel erhielt den Beinamen „Bronx von Buenos Aires“, da die steigende Kriminalität das Abasto zunehmend dominierte. Dies hatte zur Folge, dass aus dem ehemals lebendigen Viertel eine „No-go-Area“ wurde. Das Gebiet wurde für InvestorInnen, die in anderen, attraktiveren Gebieten uniforme Wohntürme hochzogen, uninteressant. Somit blieb ein bedeutender Teil der urspünglichen Bebauung erhalten.
Im Zuge des neoliberalen Konsenses hielt 1998 der Handel erneut Einzug in den Hallen des ehemaligen Großmarktes. Diesmal jedoch in Form des Einkaufzentrums „Shopping Abasto“, realisiert mit Finanzmitteln nationaler wie internationaler InvestorInnen. Neben wirtschaftlichen Zielen versprach sich die Stadtverwaltung hiervon einen Aufschwung für das gesamte Viertel. Grundstücke wurden aufgekauft, die Spekulation ließ die Preise rapide in die Höhe schnellen, alte leer stehende wie besetzte Häuser wurden geräumt und abgerissen, um Platz für gewinnträchtigere Wohnhochhäuser zu schaffen. Viele BewohnerInnen der casas tomadas wurden vertrieben, obwohl sie zum Teil seit über zehn Jahren im Abasto wohnten.

Erfolgsgeschichte für Abasto?

Doch eine Revitalisierung und Wiederbelebung der umliegenden Straßenzüge blieb weitgehend aus. Die Wege der EinkäuferInnen verliefen von Parkplatz oder U-Bahn direkt zum Konsum und wieder zurück. Die Wirtschaftskrise von 2001 bereitete der Bauaktivität und Spekulation ein rasches Ende. Die geforderten Grundstückspreise wurden unbezahlbar, weitere Investitionen für den Moment uninteressant. Abasto erhielt eine weitere Atempause. 2002 gründete sich Cultura Abasto, ein Zusammenschluss von ansässigen Geschäftsleuten, KünstlerInnen und AnwohnerInnen mit Unterstützung des lokalen CGP 2 Sur. Dahinter steht der Versuch, den fortschreitenden Verfall und Abriss der verbliebenen historischen Gebäude zu verhindern, das kulturelle Erbe von Abasto am Rande des kommerziellen Zentrums von Buenos Aires zu bewahren und das Zusammenleben aller sozialen Gruppen zu fördern. Seitdem ist es gelungen, die historisch wichtigen Bauten weitgehend zu erhalten, die den Markt umgebenden Straßen und Gebäude teilweise zu sanieren und diverse kulturelle Projekte, darunter auch ein Museum, permanent zu etablieren. Das alles ohne einen eigenen Fonds oder bezahlte MitarbeiterInnen und OrganisatorInnen. Eine Erfolgsgeschichte.
Selbstformuliertes Hauptziel von Cultura Abasto ist der Erhalt des kulturellen Erbes im Stadtviertel. Die Inwertsetzung alter Wohnhäuser und die Revitalisierung des Tango um die Person Carlos Gardel sind Maßnahmen, die den sozialen Zusammenhalt und letztendlich die Lebensqualität im Viertel verbessern sollen. Für Abasto bedeutet diese Rückkehr traditionellen Bewusstseins auch eine verstärkte wirtschaftliche Tätigkeit durch AnwohnerInnen und TouristInnen.
Mittlerweile hat auch innerhalb der Stadtverwaltung ein Umdenken begonnen, weswegen inzwischen alle noch existierenden Altbauten in Abasto unter Denkmalschutz stehen. In den letzten Jahren wurden das Museum Carlos Gardel gegründet, historisierende Fassadenmalereien erneuert und ein Theater-Rundgang angelegt, der die unabhängigen Theater verbindet. Die Mittel für diese Maßnahmen wurden über den CGP Stück für Stück bei verschiedenen Fonds und der Stadtverwaltung beantragt.

Schwergewichte aus der Wirtschaft

Doch worin liegt der Grund für diese Erfolge? Es gibt viele weitere lokale AnwohnerInnenbündnisse im Abasto, die mit ihren Projekten und Zielen weniger Erfolg haben. Offiziell sind Mittel und Wege für alle gleich, geregelte Kanäle und Zugang zu Finanzhilfen bestehen über den CGP 2 Sur, der als Mittler zwischen BürgerInnen und Stadtverwaltung für Beschwerden, Forderungen und Anträge fungiert. Die Wege sind lang, und die Bewilligung von Projekten hängt oft von einzelnen Personen im städtischen Verwaltungsapparat ab, welche auch von ihren eigenen Interessen geleitet werden.
Zweifelsohne trägt die Zusammensetzung der Mitglieder von Cultura Abasto zu diesem Erfolg bei. Neben lokalen KünstlerInnen, unabhängigen Theatern, Nichtregierungsorganisationen, EinzelhändlerInnen, Betrieben und AnwohnerInnen gehören der Gruppe auch die BetreiberInnen des Einkaufzentrums, des ansässigen Abasto Plaza Hotels sowie der ehemalige und die aktuelle Direktorin des lokalen CGP an. Im Gegensatz zu anderen Bündnissen verfügen die Letztgenannten über die notwendigen Mittel, Räumlichkeiten und Kontakte, die eine kontinuierliche, kostenlose und erfolgreiche Organisationsarbeit ermöglichen. Dennoch werden auf den wöchentlichen Sitzungen die Entscheidungen durch alle Anwesenden im Konsens getroffen, eine unterschiedliche Gewichtung der einzelnen Mitglieder existiert nicht. Cultura Abasto funktioniert auch auf Grund seines intern informellen Charakters und der noch geringen Zahl an Mitgliedern. Die Erfolge, die Cultura Abasto verzeichnet, wären jedoch ohne die lokalen „Schwergewichte“ in Wirtschaft und Verwaltung und deren Beziehungen sicherlich nicht möglich gewesen.

Partizipation oder Lobbyarbeit?

Tatsächlich stellt sich die Frage, ob Cultura Abasto als Partizipation von unten zu verstehen ist oder als eine einflussreiche Lobbygruppe mit lokal orientierten Zielen. Die bisherige, weit gehende Beschränkung auf wirtschaftliche und kulturelle Ziele zur Förderung des Tourismus im Quartier legt Letzteres nahe. Doch in diesem Jahr haben auch soziale Projekte ein größeres Gewicht bei Cultura Abasto gefunden. Dadurch, dass das Projekt Rechtsstatus erhielt, konnte beispielsweise ein Abkommen unterschrieben werden, das den Kindern im Stadtviertel erlaubt, die Sportplätze der argentinischen Marine zu benutzen. Außerdem wurde eine kleine Fußballschule gegründet, ein Spender finanziert Ausrüstung und Transport.
Darüber hinaus finden auch sozial orientierte Projekte einzelner Mitglieder rascher Gehör bei den Verantwortlichen, auch wenn diese Projekte bislang nicht über Cultura Abasto laufen. „Das ist unsere Stärke,“ sagt Mariano Ameghino, Mitglied von Cultura Abasto und rechte Hand des Direktors, „wir sind einerseits durch einzelne Mitglieder etwas privilegiert, andererseits haben wir auch Mitglieder, die viel mehr an der Basis arbeiten.“ Insofern ist Cultura Abasto eher als die Antwort engagierter und einflussreicherer BürgerInnen auf fehlende Kanäle zu verstehen, um einen direkten und einfacheren Zugang zu Mitteln zu gewinnen, die ansonsten nicht oder zumindest schwieriger zu erreichen wären.
Die Erneuerung des Abasto hat so in den letzten Jahren wieder an Tempo gewonnen. Die Möglichkeiten, sich gegen einen starken Investor zu wehren, bleiben aber gering. Recht und Denkmalschutz bieten nur beschränkten Schutz. Innerhalb der Stadtverwaltung finden sich immer wieder Mittel und Wege, Beschränkungen und Verbote zu umgehen oder außer Kraft zu setzen. Unter den ärmeren BewohnerInnen des Viertels besteht nach Auskunft von Gustavo Dieguez, Dozent an der Universität Palermo, immer noch Skepsis gegenüber einer weiteren Erneuerung des Viertels, da dies für viele Menschen unbezahlbare Mieten und Wegzug bedeuten würde. Zudem lässt der für viele alltägliche Kampf um das Notwendigste eine Partizipation an Projekten selten zu. Obwohl es keinerlei Restriktionen gibt, haben die Armen einfach nicht die Möglichkeit oder Zeit, sich bei Cultura Abasto zu engagieren.
Für Cultura Abasto wird die Verbindung von ökonomisch-touristischen Zielen mit sozialen Belangen in Zukunft die größte Herausforderung sein. „Es gibt neben denen, die mehr für touristische Ziele arbeiten auch diejenigen bei uns, welche mehr für die Menschen machen wollen, die am wenigsten Schutz haben“ so Ameghino. „Wir müssen die Bedürfnisse der Ärmsten mit der sozialen Verantwortung der Unternehmen und den Pflichten der öffentlichen Verwaltung verbinden. Ich glaube, dieses Jahr sind wir auf diesem Weg ein Stück vorangekommen.“

Mit Selbsthilfe zum Eigenheim

Im sozialistischen Kuba laufen viele Dinge anders als in Europa – der Weg zu den eigenen vier Wänden zum Beispiel. Dessen Ziel ist in der Regel nicht das freistehende Eigenheim oder Reihenhaus. In den kubanischen Städten, in denen ungefähr 75 Prozent der KubanerInnen leben, geht es selten um Häuser: Wer von seiner „casa“ spricht meint zumeist eine ein, zwei oder drei Zimmer große Wohnung. Aber er oder sie meint eine eigene Wohnung, denn seit der Revolution sind die meisten KubanerInnen zu Wohn- und HauseigentümerInnen geworden. Möglich wurde dies nach den 1960 verabschiedeten Reformen zur Gestaltung des städtischen Wohnraums.
Anfang der 90er Jahre jedoch schien dieses Modell ernsthaft bedroht. Die kubanische Regierung versuchte mit der Ausrufung der so genannten „Sonderperiode zu Friedenszeiten“ der veränderten Weltordnung zu begegnen. Diese Sonderperiode wurde nach dem Ende der Sowjetunion und dem daraus resultierenden Zusammenbruch der kubanischen Wirtschaft eingeleitet. Aufgrund von Ressourcenknappheit setzte der Staat erhebliche Sparmaßnahmen in der Baubranche durch, was bis hin zu staatlich verhängten Baustopps führte. Diese Situation hat sich bis heute nicht geändert. Die staatlichen Baufirmen, die sich nach sowjetischem Vorbild auf Wohnblocks aus Fertigteilen spezialisiert haben, können unter diesen Bedingungen nur schwerlich bauen.
Ende der 80er Jahre, das heißt noch kurz vor dem Zusammenbruch der kubanischen Wirtschaft, wurde außerdem klar, dass Investitionen im Bausektor nicht nur in den Neubau fließen konnten. Besonders der Bestand in den Altstädten wies durch die jahrelange Vernachlässigung mittlerweile erhebliche Mängel auf. Weder verfügten die BewohnerInnen, meist ja auch EigentümerInnen, über die notwendigen Mittel zur Instandhaltung der Gebäude, noch existierte eine öffentlich-administrative Infrastruktur auf diesem Gebiet. Aus dieser Situation heraus wurden 1988 die „Sozialen Mikrobrigaden“ gegründet.

Heimwerkern statt staatlichem Wohnungsbau

Ihre Vorbilder, die betrieblichen Mikrobrigaden, setzten sich aus ArbeiterInnen eines nicht voll ausgelasteten Betriebs zusammen. In kollektiver Selbsthilfe bauten sie Wohnungen für sich und ihre regulär in der Firma arbeitenden KollegInnen. Für die Zeit, in der die BrigadistInnen von ihrer regulären Arbeit freigestellt wurden, zahlte der Betrieb, vom Staat subventioniert, ihnen weiterhin ihr Gehalt aus.
Das Modell der auf Neubauten konzentrierten betrieblichen Mikrobrigaden wurde Ende der 80er Jahre durch die Sozialen Mikrobrigaden ergänzt. In ihnen organisieren sich BewohnerInnen der häufig benachteiligten Viertel an den Rändern der Städte, um gemeinsam Gebäude aus dem Quartier zu renovieren, zu erhalten und auch, um neue zu baue. Dies gilt für Privatgebäude ebenso wie für Gemeindeeinrichtungen, Schulen, Arztpraxen, Lebensmittelläden oder Polizeigebäude. Wie bei den betrieblichen Mikrobrigaden auch wird der Lohn für die Zeit der außerbetrieblichen Arbeit vom ehemaligen Lohngeber weitergezahlt. Arbeitslose, RentnerInnen oder allein erziehende Mütter werden für ihre Arbeit in der Sozialen Mikrobrigade direkt vom Staat bezahlt.
Durch das gemeinsame Wirken im eigenen Quartier wurde ein neuer Motor für die gemeinschaftliche Arbeit in den Stadtteilen geschaffen. Die neuen Arbeitsplätze brachten neben den materiellen Veränderungen auch neue soziale Bindungen der BewohnerInnen zueinander. Angeregt werden diese durch gemeinsame Tagesabläufe, neue Verantwortungen und eine Stärkung der gemeinschaftlichen Aktivität. „Hier bin ich zu dem geworden, der ich heute bin. Ich bin sehr stolz auf diesen Stadtteil“, sagt der ehemalige Mikrobrigadist Lázaro Mesa. Indem die BewohnerInnen aktiv zur Verbesserung der eigenen und allgemeinen Lebensbedingungen aufgefordert werden, entsteht eine Form der Partizipation, bei der die bauliche, kulturelle und soziale Entwicklung des Bezirks in die Hände der dort Lebenden gelegt wird. Allerdings stößt das Engagement der Sozialen Mikrobrigaden auch an seine Grenzen. Da der Rahmen und die Ressourcen zentral vorgegeben werden, verfügen sie über keine eigenen Mittel und dürfen auch keine generieren.

Die Soziale Mikrobrigade Chichí Padrón

Die Stadt Santa Clara ist die Hauptstadt der Provinz Villa Clara im Zentrum des Landes. Obwohl sie nicht am Meer liegt und auch kaum TouristInnen anzieht, ist sie zu einer wichtigen Stadt auf Kuba geworden. Dies hat sie ihrer Lage an der Hauptachse des Straßen- und Schienenverkehrs der Insel zu verdanken, ebenso wie ihrer bedeutenden Rolle während der Revolution.
Im Südwesten der Stadt bildete sich 1990 im Stadtteil Nuevo Condado die Soziale Mikrobrigade Chichí Padrón. Wie der Architekt der Mikrobrigade, Eddy López-Chávez Bermúdez, betont, blühte damals allein der Schwarzmarkt. Ansonsten dominierten in Nuevo Condado Armut und Kriminalität, das kulturelle Niveau war niedrig und das Stadtbild heruntergekommen.
In diesem Klima initiierten der damalige Stadtrat und die lokal gewählte Quartiersvertreterin das Projekt der Sozialen Mikrobrigade. Wichtige Unterstützung fanden sie bei lokalen Persönlichkeiten wie der spirituellen Führerin des afro-kubanischen Santería-Kults, Gladys Cabeza, und dem Kulturmanager des Quartiers, Lázaro Abreu Molina. Eine gute Basis für die Mikrobrigade war ebenfalls der Verein für Freunde des Stadtteils. „Es ergab sich eine Mischung aus politischem Willen und Potenzialen vor Ort“, bestätigt Lázaro Molina.
Nach wenigen Jahren Tätigkeit der Sozialen Mikrobrigade waren bereits mehrere Wohnhäuser fertig gestellt. Ferner waren das Gemeindezentrum und verschiedene Infrastruktureinrichtungen errichtet. Die Praxis für den Quartiersarzt wurde in einem besonderen Projekt in Kooperation zwischen ehemaligen StraftäterInnen aus der Sozialen Mikrobrigade und PolizistInnen gebaut.

Die Aufnahme ist die halbe Miete

Leonardo ist einer derjenigen, denen die Verwandlung von Nuevo Condado zu verdanken ist. 1994 zog er mit seiner Familie vom Land nach Santa Clara. In der Stadt hatte er weder Verwandte noch Freunde, bei denen er hätte unterkommen können. Also musste die Familie sich am Stadtrand niederlassen, wo Leonardo aus Brettern, Planen und sonstigen Fundstücken eine Unterkunft baute. Ohne Kanalisations- oder Elektrizitätsanschluss und ohne Wasserversorgung lebte die Familie am Rande des Stadtteils Nuevo Condado. Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre war dies nichts Ungewöhnliches im Viertel.
Während seiner Arbeitssuche erfuhr Leonardo, dass in seinem Quartier eine Soziale Mikrobrigade tätig war. Als er hörte, dass er für ein Gehalt vom Staat vielleicht seine eigene Wohnung bauen durfte, bewarb er sich sofort. Seine Bewerbung wurde direkt angenommen, denn die Wohnsituation der Familie wurde als sehr notdürftig eingestuft. Außerdem wussten Leonardos Nachbarn über sein soziales Engagement Positives zu berichten.
Bereits eine Woche später stand er morgens um sieben Uhr mit den weiteren Mitgliedern seiner Brigade auf der Baustelle. Vier Jahre lang baute und renovierte er Häuser und reparierte die von Hurrikans hinterlassenen Schäden. Freiwillige Arbeit in der Landwirtschaft und sonntags auf den Baustellen gehört auch zum Alltag der MikrobrigadistInnen.
An manchen Tagen stellte Leonardo auch in Vorfabrikation Teile für den Wohnungsbau her. Fenster- und Türrahmen, Waschzuber, Fensterlamellen, Balken oder Hohlsteinblöcke wurden allesamt aus Zement gefertigt, da Holz und andere Materialien nicht verfügbar waren. Auch um die Wasserversorgung, die Kanalisation und teilweise den Straßenbau kümmerte er sich zusammen mit seinen KollegInnen. Die Sozialen MikrobrigadistInnen in Nuevo Condado bauten nicht nur private Wohnungen, sondern auch technische und soziale Infrastruktur.
Gelegentlich mussten sie allerdings lange Leerlaufzeiten akzeptieren, denn die anhaltende Sonderperiode erschwerte die Arbeit. So kamen versprochene Zementlieferungen nie an, oder bestellter Sand konnte wegen Benzinmangels nicht in den Stadtteil geliefert werden. Trotz der erschwerten Bedingungen wurde die Arbeit fortgeführt.

Mit hohem Einsatz zum Ziel

Geplant und organisiert werden die baulichen Tätigkeiten der BrigadistInnen vom Zentrum der Stadt Santa Clara aus. Dort sitzen ein staatliches Planungs- und Architekturbüro und die Investitionseinheiten, die im Austausch untereinander und in Rücksprache mit der Sozialen Mikrobrigade die jeweiligen Schritte einleiten.
Nach vier Jahren Arbeit konnte sich Leonardo bei der Bewerbung auf ein fertig gestelltes Haus durchsetzen. Er bekam eine einzugsbereite Wohnung zugewiesen. Entschieden hatte dies eine Kommission aus ArbeiterInnen der Mikrobrigade. Kommissionsmitglieder sind dabei die Arbeiter, die weniger als zwei Jahre in der Brigade mitwirken und sich daher noch nicht selber bewerben dürfen. Zugelassen sind außerdem jene Arbeiter, denen bereits eine Wohnung zugewiesen wurde.
Dass die Entscheidung der Kommission schließlich auf ihn fiel verdankt Leonardo seinem sozialen Engagement, der Zahl seiner Überstunden und den anderen Bonuspunkten, die er hatte sammeln können. Letztere erhielt er unter anderem für aktives Recycling, besonders gute Ideen zur Verbesserung des Arbeitsprozesses, Blutspenden, Baustellenwachen und verschiedene freiwillige Arbeiten. Diesem Einsatz ist es zu verdanken, dass Leonardo und seine Familie recht schnell in die neue Wohnung ziehen konnten – einige seiner Kollegen mussten bis zu sechs Jahre auf ihre „casa“ warten. In den ersten Jahren der Sozialen Mikrobrigade waren die Wartezeiten mit ein bis drei Jahren noch sehr viel kürzer.
Das staatlich subventionierte Haus werden Leonardo und seine Familie in Raten von 10 Prozent des monatlichen Einkommens, höchstens 20 Jahre lang, abbezahlen. Falls die Kinder irgendwann nicht mehr in Santa Clara leben sollten, können die Eltern die freien Zimmer gegen eine Lizenz vermieten. Verkaufen werden sie das Haus allerdings nicht können – nur tauschen. Wenn Leonardo eines Tages nach Havanna ziehen möchte, so könnte er seine Wohnung mit der einer Familie tauschen, die es nach Santa Clara zieht.
Aber Leonardo macht nicht den Eindruck, als wolle er fort – er und seine Familie sind glücklich. Sie haben eine eigene Wohnung, und Leonardo hat einen Job. Dank der Ausbildung zum Maurer, die er in der Sozialen Mikrobrigade gemacht hat, kann Leonardo weiter im Baugewerbe tätig sein. Auf diese Weise kommen BrigadistInnen in verschiedenen kubanischen Städten zu ihrer eigenen Wohnung, während sie gleichzeitig aktiv an der Gestaltung der Stadt teilhaben.

Begrenzte Teilnehmerzahl

Die Sozialen Mikrobrigaden sind ein effektives Instrument der Stadtteilentwicklung, vor allem weil sie vielseitig im sozialen, wirtschaftlichen und städtebaulichen Bereich wirken. Technische wie soziale Probleme werden durch die Selbsthilfe im Wohnungsbau angegangen. Allerdings können nicht alle BewohnerInnen von den Vorteilen der Sozialen Mikrobrigade profitieren. Durch lange Mitgliedszeiten von sechs Jahren bis zur eigenen Wohnung und begrenzten Teilnehmerzahlen ist die Partizipation eingeschränkt. Aus diesem Grund hat die kubanische Regierung Mitte 2005 ein paralleles Wohnungsbauprogramm gestartet. Dieses fördert alle BürgerInnen, ihre „casa“ statt dessen in individueller Selbsthilfe zu bauen. Wegen ihres positiven gesellschaftlichen Einflusses sollen die Sozialen Mikrobrigaden jedoch bestehen bleiben.

Nachbarschaftsvereinigung gegen Gemeinderat

Partizipation ist ein Modewort in Venezuela. Laut Verfassung ist die Demokratie partizipativ-protagonistisch. Seit Ende der 90er Jahre wird mit partizipatorischen Ansätzen auf Gemeindeebene experimentiert. Und im April diesen Jahres wurde mit dem Ley Orgánica de Participación Ciudadana y Poder Popular ein weiteres Gesetz zur Stärkung von Teilhabeprozessen erlassen.
Die Erfahrungen mit partizipativen Planungsansätzen sind in Venezuela allerdings älter als die Regierung Chávez. Seit knapp 15 Jahren werden in den venezolanischen Nationalparks partizipative Verfahren im Umgang mit den lokalen Interessengruppen ausprobiert. Nicht immer sind sie erfolgreich. Im Nationalpark Avila scheiterte ein Partizipationsplan am Streit zwischen traditionellen Nachbarschaftsorganisationen und bolivarianischen Gemeinderäten.

Partizipation in Nationalparks

In Venezuela bedecken 64 Nationalparks und Naturmonumente 15 Prozent der Landesfläche – ein Spitzenwert, der die Forderungen internationaler Umweltabkommen bereits seit langem erfüllt.
Der Ölstaat an der Karibikküste rangiert unter den zehn Ländern mit der höchsten Biodiversität weltweit. Bereits 1937 wurde mit dem Parque Nacional Henri Pittier der erste Nationalpark des Landes gegründet. Der zeitgleich einsetzende Ölboom führte zu einer starken Landflucht, und Präsidenten wie der zwielichtige Sozialdemokrat Carlos Andres Perez nutzten Öl-Einnahmen für große Investitionen im Naturschutz.
Die großen Erfolge im Naturschutz der letzten Jahrzehnte haben allerdings auch ihre Kehrseite. In vielen Parks entstand bald die widersprüchliche Situation, dass die ansässige Bevölkerung zwar langfristig weichen sollte, aber nicht genug Geld und politischer Wille zur Verfügung standen, um eine Entschädigung und Umsiedlung vorzunehmen. Daher wurden die SiedlerInnen nur geduldet und oft regelrecht schikaniert. Diese Situation führte in den Parks zwischen karibischer Küste, Anden und Amazonastiefland zu andauernden Konflikten.
Weltweit galt eine Besiedlung von Nationalparks lange als undenkbar. Nach der ursprünglichen Definition dieser Schutzgebietskategorie sind Nationalparks große Gebiete frei von Besiedelung. Aber einen solchen Schutzansatz, der sich auf die Formel „Zäune und Bußgelder“ bringen lässt, vertreten heute nur noch einige ÖkologInnen der alten Garde. Seit dem Umweltgipfel in Rio 1992 verbindet die Umweltschutzbewegung zunehmend den Schutz und die Nutzung der Biodiversität miteinander. Für Naturschutzgebiete aller Art bedeutet das, dass Besiedelung zunehmend akzeptiert wird. Außerdem führte der neue Trend dazu, dass in den Schutzgebieten partizipative Planungsstrategien etabliert wurden. Auch bei dieser Entwicklung hatte Venezuela eine Vorreiterrolle inne. Schon vor der Weltkonferenz in Rio wurden auf dem Weltparkkongress in Caracas partizipative Ansätze im Management von Nationalparks diskutiert. Kurze Zeit später wurde die neuen Verfahren in verschiedenen venezolanischen Nationalparks ausprobiert. Die Ergebnisse dieser Bemühungen sind insgesamt recht unterschiedlich. Im berühmten Canaima Nationalpark kooperiert man erfolgreich mit den lokalen indigenen Gemeinden, die über traditionelle Regelungen zur Entscheidungsfindung verfügen.

Konfliktfall El Avila

Am Beispiel des Avila Nationalparks, den die TeilnehmerInnen bei jedem Blick aus dem Fenster ihres Konferenzzentrums vor Augen hatten, zeigen sich jedoch Schwierigkeiten, die der neue Ansatz hervorrufen kann.
Der Avila ist ein Gebirgszug, der sich zwischen der Millionenmetropole Caracas und der Karibikküste erstreckt. Nach ihm heißt der etwa 85.000 Hektar große Nationalpark. Das in dem Massiv gelegene Hochtal von Galipán ist seit dem 18. Jahrhundert von SiedlerInnen bewohnt, die ursprünglich von den kanarischen Inseln kamen. Als der Nationalpark im Jahr 1958 eingerichtet wurde, hatte man die verstreut lebenden Bauernfamilien dort zunächst wenig beachtet. Später gab es dann viele Konflikte zwischen der Parkverwaltung und den SiedlerInnen, die sich weigerten, ihr Zuhause aufzugeben. Meistens ging es bei den Streits um den Bau oder die Erweiterung von Häusern. Erst Mitte der 1990er Jahre konnte ein Teil der Streitigkeiten beigelegt werden. Damals wurde ein Gesetz erlassen, welches – ganz im Geiste des neuen Biodiversitätsparadigmas – die Bauern und Bäuerinnen erstmalig als ursprüngliche SiedlerInnen mit einem Bleiberecht anerkannte.
Seither bemühten sich sowohl die Parkverwaltung als auch die SiedlerInnen, die Nutzung des Gebiets gemeinsam so zu organisieren, dass sowohl der Naturschutz als auch die Lebensqualität der Galipaner@s ausreichend berücksichtigt werden. Seit vor zwei Jahren ein weltbankgefördertes Partizipationsprojekt gescheitert ist, hat sich allerdings Resignation breit gemacht – bei den SiedlerInnen im Hochtal ebenso wie beim Wachpersonal am Parkeingang.

Resignation in Galipán

Das Ziel dieses gescheiterten Projekts war ein detaillierter Flächennutzungsplan für das 1.700 Hektar große Gebiet, in dem 400 Familien wohnen. Der Plan sollte unter anderem Bebauungsgrenzen, Auflagen für Wohnhäuser, Gaststätten und Pensionen enthalten. Außerdem sollten das Wegenetz und die Wasser- und Abwasserversorgung neu geregelt werden. Eine staatliche Universität war mit der Durchführung des Projekts beauftragt. Die dringende Notwendigkeit für einen solchen Plan wurde deutlich, als bei einem Erdrutsch in dem geologisch instabilen Gebiet 17 Menschen ums Leben gekommen waren. Sowohl Siedler Innen als auch die Verwaltung betonten, es habe in beiden Reihen eine breite Zustimmung für den Planungsprozess gegeben. Für dessen Scheitern weisen sie sich nun gegenseitig die Schuld zu.
Ein Grund für das Scheitern vieler Partizipationsprojekte ist, dass alle Beteiligten – von betroffenen BewohnerInnen bis zur BeraterIn – häufig nur einen sehr diffusen Begriff davon haben, was Partizipation überhaupt bedeutet. Die entscheidenden Fragen, die es zu beantworten gilt, sind: Wer partizipiert? Wie weit geht die Teilhabe und in welcher Form findet der Partizipationsprozess statt? Was ist der Zweck der Partizipation? Im Fall von El Avila und Galipán lohnt es sich besonders, diese Fragen zu stellen, um Gründe für den Misserfolg zu finden.

Wer Partizipiert?

Ein zentrales Problem bestand in Galipán darin, dass die beauftragten WissenschaftlerInnen am Anfang nur mit einem Teil der Bevölkerung zusammen arbeiteten. Zwar traten die Galipaner@s gegenüber der Parkverwaltung oft als geschlossene Gruppe auf, nach innen gab es jedoch zahlreiche Differenzen. Für das Partizipationsprojekt besonders hinderlich war die Rivalität zwischen der Nachbarschaftsvereinigung und dem bolivarianischen Gemeinderat, dem Consejo Comunitario de Planificación. Im Rahmen des Partizipationsprojektes kooperierte die Universität bevorzugt mit lokalen Kaziken von den Nachbarschaftsvereinigungen, die lange Zeit die lokale Politik bestimmt haben.
Im bolivarianischen Venezuela haben sie jedoch an Einfluss verloren, seit mit dem Gemeinderat auf gleicher Ebene eine neue Institution geschaffen wurde. Dementsprechend sind sie offenbar auch im öffentlichen Ansehen gesunken. „Die Leute sind nicht zu den Treffen erschienen, weil die Einladung von der Nachbarschaftsvereinigung kam“, erklärt Carlos González, ein Galipanero, der als gewähltes Mitglied in einem unter Chávez neu geschaffenen Gemeinderat, dem Consejo Comunitario de Planificación, sitzt.
Die Gräben zwischen den NachbarInnen haben sich in den letzten Jahren immer weiter vertieft, berichten andere SiedlerInnen. Hauptkonflikte waren dabei der illegale Verkauf von Bauland an reiche Hauptstadtbewohner Innen und die Konkurrenz um öffentliche Gelder für die regionale Wirtschaftsförderung. Eine gleichberechtigte, unverzerrte Willensbildung war in diesem Klima nicht möglich.
„Wir haben das Projekt gestoppt, weil der Consejo Comunitario an den Planungen nicht beteiligt wurde“, erklärt Andrés Marín, ein alter Rivale des Nachbarschaftspräsidenten Roberto Pérez. Früher war er selbst Funktionär bei den Sozialdemokraten, doch jetzt gibt sich Marín als überzeugter Chavist: „Die neue Regierung hilft den Armen, deshalb haben wir sie gewählt.“ Maríns Familie hat einen großen Kredit zum Aufbau einer Tourismuskooperative vom Staat erhalten, doch selbst überzeugte Chavisten wie die örtliche Schulleiterin kritisieren, dass das Geld anders besser verwandt worden wäre.

Die Behörde fürchtet sich

In der Presse und in der Verwaltung schlug der Konflikt um Galipán so hohe Wellen, dass ein Abteilungsleiter sowie ein weiterer Mitarbeiter der Nationalparkbehörde INPARQUES ihren Job verloren. Dort traut man sich seitdem nicht mehr, den Partizipationsprozess fortzuführen. Für José Delgado, den Leiter des Parks, ist die Situation in Galipán ein delikates Problem, das mit Samthandschuhen angefasst werden muss: „Die Initiative muss jetzt von den Siedlern ausgehen, denn INPARQUES ist jetzt so verschreckt, als wäre es von einer Schlange gebissen worden. Um nichts in der Welt wird INPARQUES das Thema noch einmal anfassen, bis die Siedler selbst danach verlangen.“
Was fehlt seien nicht einige zusätzliche Workshops sondern ein kontinuierlicher Prozess, bei dem die SiedlerInnen selbst in Arbeitsgruppen Lösungen für die wichtigsten Probleme suchen können, meint ein Galipanero, der anonym bleiben möchte. Er kritisiert, dass die WissenschaftlerInnen von der Universität nur ihr Honorar im Auge und daher wenig Interesse an einer wirklichen Umsetzung des Plans gehabt hätten. Die Entwürfe für den Flächennutzungsplan seien zudem nicht sorgfältig und exakt gewesen, hört man von verschiedenen Seiten. Ob sich die SiedlerInnen von Galipán bei all den Rivalitäten irgendwann zusammenraufen, ist mehr als ungewiss.
Partizipation ist gerade deshalb ein so komplexer Prozess, weil bestehende lokale Machtverhältnisse nie unberührt davon bleiben. Eines zeigt das Beispiel von Galipán jedenfalls deutlich: Um soziale Ungleichheiten und Machtstrukturen abzubauen statt diese noch zu verstärken, ist ein politischer Einsatz notwendig, der über den üblichen Projektzyklus hinaus reicht.

Kein Plan bei der Planung

Fast die Hälfte der EinwohnerInnen Recifes verfügt über keinen angemessenen Wohnraum. Viele Siedlungen sind durch Landbesetzung entstanden oder ihr rechtlicher Status ist nicht geklärt. Der Mangel an sozialer und technischer Infrastruktur bestimmt den Alltag von 650.000 Menschen im Stadtgebiet von Recife.
Heute leben viele BewohnerInnen informeller Siedlungen in so genannten „Zonen von besonderem sozialen Interesse“ (ZEIS). Mit der planungsrechtlichen Festschreibung dieser Gebiete sollen die BewohnerInnen vor Vertreibung durch Bodenspekulation geschützt werden. Außerdem bilden die ZEIS Schwerpunkte für den Sozialen Wohnungsbau.

Selbstverwaltung im Stadtteil

Vor 20 Jahren setzen die sozialen Bewegungen in den als ZEIS ausgewiesenen Stadtteilen über den „Plan zur Regularisierung und städtischen Integration“ (PREZEIS) einen gewissen Grad der Selbstverwaltung gegenüber der Stadtverwaltung durch. So verfügen sie über ein eigenes Budget, das sie etwa für bauliche Verbesserungen im Stadtteil und die Legalisierung von bereits bewohnten Grundstücken einsetzen können.
Die BewohnervertreterInnen, die Stadtverwaltung und VertreterInnen der organisierten Zivilgesellschaft tragen in paritätisch besetzten Gremien gemeinsam die Verantwortung für die Entwicklung dieser Gebiete. Sie betreuen die Planung und Umsetzung von Baumaßnahmen und die Bodenordnung. Dabei wird besonders Wert auf die Beteiligung der Bevölkerung gelegt.
Im Forum, der Entscheidungsinstanz des PREZEIS, haben die BewohnervertreterInnen bis heute eine Stimmenmehrheit von 80 Prozent. Dort wird über Investitionen und strategische Ziele des PREZEIS abgestimmt.
In Recife wurde 1992 zusätzlich der Beteiligungshaushalt, der Orçamento Participativo (OP), eingeführt. Er ermöglicht den BürgerInnen, über die Verteilung der jährlichen Investitionsmittel des städtischen Haushalts mitzubestimmen. Dieses Verfahren wird vor allem von der zurzeit regierenden Arbeiterpartei (PT) unterstützt.

Konkurrierende Beteiligungsverfahren

Beide Beteiligungsverfahren sind von Anfang an in eine sehr unproduktive Konkurrenzsituation geraten. Die gewählten VertreterInnen des OP entscheiden über die Investitionen für das gesamte Stadtgebiet, während im PREZEIS nur über Investitionen in den entsprechenden Zonen entschieden wird. Für mehr als 35 ZEIS bestehen städtebauliche Rahmenpläne mit Vorgaben für die Flächennutzung. Diese werden bei den Entscheidungen des OP nicht berücksichtigt. Der OP stimmt hauptsächlich über Einzelmaßnahmen ab.
An aufeinander abgestimmte Investitionen der vorhandenen Haushaltsmittel ist nicht zu denken. Die KoordinatorInnen des PREZEIS verhandelten erfolglos mit dem Planungsdezernenten über die Berücksichtigung der bestehenden Rahmenpläne. Und auch im Stadtparlament konnten keine Mehrheiten für ein gemeinsames Vorgehen gefunden werden. Oft waren die RepräsentantInnen des PREZEIS aus parteipolitischen Gründen nicht gewillt, ihre Vorschläge in das PT- dominierte OP einzubringen. Umgekehrt sahen auch die Delegierten des OP keinen Grund, auf die Anregungen ihrer politischen GegnerInnen einzugehen.
Die von der Bevölkerung gewählten RepräsentantInnen in den Beteiligungshaushalten sind oft parteipolitisch gebunden oder arbeiten direkt mit Stadtverordneten oder Landtagsabgeordneten zusammen. Durch die „Politisierung“ der Beteiligungshaushalte treten die Sachentscheidungen oft in den Hintergrund und die Qualität der Partizipation wird fragwürdig.

Fehlende Kontinuität

Zudem leidet die BürgerInnenbeteiligung in Recife unter einem ständigen Wechsel der Programme und der Schwerpunktsetzung. In der Vergangenheit machte jeder neu gewählte Bürgermeister eine andere Form des Beteiligungshaushalts zur Chefsache oder schloss die Beteiligung der Bevölkerung an Haushaltsentscheidungen gleich ganz aus.
Und all zu oft werden die in den Beteiligungshaushalten getroffenen Entscheidungen nicht umgesetzt. Entweder fehlen der politische Wille oder die finanziellen Mittel.
Solange sich OP und PREZEIS nicht auf eine gemeinsame Strategie einigen und sich im Konkurrenzkampf um die bescheidenen Haushaltsmittel gegenseitig schwächen werden sie nie den politischen Einfluss gewinnen, der nötig wäre, um wirksame Maßnahmen für die benachteiligten Stadtteile umzusetzen.

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