“BEWEGUNGSPARTEI STATT BEWAFFNETEM KAMPF”
Die FARC-Guerilla wird zur Partei
Durch die Verwandlung in eine politische Partei, die sich mehr als 1000 Delegierte umfassend Ende August in einem großen Kongresszentrum der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá vollzog, schickt sich die ehemals größte und älteste Guerilla Lateinamerikas nun an, ihren Kampf für ein „Neues Kolumbien“ ohne Waffen fortzuführen.
Die Parteigründung ist Teil der Friedensvereinbarungen von Havanna, in denen die „farianos“ mit der Regierung Juan Manuel Santos das Ende des bewaffneten Konflikts ausgehandelt hatten. Nun geht es, nachdem die FARC ihre Waffen an die Vereinten Nationen übergeben haben, mit deren Umsetzung weiter, worunter die vereinbarten Maßnahmen zur Landreform ebenso fallen, wie die Schaffung des Systems der Sonderjustiz, in dem die von beiden Seiten begangenen Verbrechen des bewaffneten Konflikts aufgearbeitet werden sollen. „Wir haben das Feuer eingestellt, wir haben uns in den Übergangszonen versammelt, wir haben eine vollständige Waffenniederlegung vollzogen, ein Inventar unserer Kriegsökonomie angefertigt und damit begonnen, alle unsere Besitztümer zu übergeben. Ich wünschte, der kolumbianische Staat hätte bei der Erfüllung seiner Verpflichtungen die gleiche Sorgfalt gezeigt“, sagte der ehemalige Oberkommandierende der FARC und neue Parteivorsitzende Rodrigo Londoño, der besser unter seinem Pseudonym „Timoleón Jiménez“ bzw. „Timochenko“ bekannt ist, als er vor tausenden Menschen auf der Plaza Bolivar sprach und Scheinwerfer das neue FARC-Logo, eine rote Rose, auf die umliegenden Gebäude, darunter das Kapitol, projizierte. Damit spielte er nicht nur auf die zähe Verabschiedung der entsprechenden Gesetze und Normen im Kongress an, sondern auch auf die zunehmende Zahl von getöteten Aktivist*innen.
Laut einer Mitte August veröffentlichten Studie der NGO „Somos Defensores“ wurden seit Jahresbeginn 51 Aktivist*innen ermordet und zunehmend scheinen auch ehemalige FARC-Kämpfer*innen und ihre Familienangehörige ins Visier zu rücken. Hinter den Taten vermuten Analyst*innen des Forschungsinstituts INDEPAZ einen paramilitärischen Komplex, der aus bewaffneten Organisationen mit Interessen an illegalen Geschäften wie Drogenhandel und Bergbau besteht, zu dem aber auch lokale Eliten oder anti-subversive Einzelakteure innerhalb staatlicher Institutionen wie dem Militär oder dem Geheimdienst gehören. Die derzeit mächtigste bewaffnete Organisation, die Gaitanistischen Selbstverteidigungsgruppen Kolumbiens (AGC), erklärte Anfang September ihre Bereitschaft, in Verhandlungen mit der Regierung treten zu wollen. Schon seit längerem haben AGC-Vertreter*innen die Nähe zu Kongressabgeordneten und der internationalen Vertreten gesucht und laut der spanischen Zeitung El Mundo gab es bereits Wochen zuvor erste Gespräche zwischen AGC-Vertreter*innen und Regierungsmitgliedern.
Unabhängig aber von den gesamtpolitischen Entwicklungen ging es für die FARC in Bogotá darum, sich als Organisation neu aufzustellen.
Unabhängig aber von den gesamtpolitischen Entwicklungen ging es für die FARC in Bogotá darum, sich als Organisation neu aufzustellen. Aus dem ehemaligen 31 Mitglieder umfassenden Generalstab wurde ein aus mit 111 Mitgliedern recht großes neues Führungsorgan, der Nationalrat der Kommunen. Dieser bestimmte einen 15-köpfigen Politischen Rat, an dessen Spitze Timochenko steht. Personell gibt es damit wenig Erneuerung, was angesichts der straffen, horizontalen Organisationsstruktur der FARC als Guerilla wenig überraschend scheint. Die Delegierten stimmten, nicht nur was den Namen betrifft, für Kontinuität. Die Mitglieder des Sekretariats, des alten Führungsorgans der FARC, finden sich auch in der neuen Parteiführung wieder und im Nationalrat stehen neben ihnen vor allem verdiente Kommandanten und hochbetagte ehemalige Sekretariatsmitglieder, die zum Teil noch die Gründung der FARC anno 1964 miterlebt haben. Die FARC, die nach der Trennung von ihrer „Mutterorganisation“, der Kommunistischen Partei Kolumbiens (PCC) Anfang der 1990er-Jahre militärische und politische Führung im Sekretariat gebündelt hatten, bleiben damit ein von Männern dominierter Verein, dessen Mitglieder ihre Position vor allem militärischen Erfolgen verdanken.
Bislang, möglicherweise auch aus Sicherheitsgründen, finden sich nur einige wenige soziale Aktivist*innen aus den der FARC nahstehenden zivilgesellschaftlichen Organisationen im Nationalrat und mit dem Wirtschafts- und Politikwissenschaftler Jairo Estrada, der als Mitglied der Gruppe Voces de Paz seit Monaten die Verabschiedung der Vereinbarungen im Parlament begleitet, steht nur eine Person im Führungsgremium der Partei, die noch nie ein Gewehr für die revolutionäre Sache abgefeuert hat. Zudem sind lediglich 24 der 111 Nationalratsmitglieder Frauen. Vier von ihnen, Sandra Ramírez, Erika Montero, Victoria Sandino und Liliana Castellanos, die zum Teil bereits bei den Gesprächen von Havanna teilgenommen hatten und einen Geschlechterschwerpunkt in die Vereinbarungen hineinverhandelt hatten, schafften es in die Parteispitze. Auf sie geht auch zurück, dass sich die FARC, deren politische, am Marxismus-Leninismus orientierte politische Ideologie in der Vergangenheit oft als holzschnittartig und nicht mehr zeitgemäß beschrieben worden war, nun unter anderem als anti-patriarchale Partei bezeichnen und in der Geschlechterfragen keinen Nebenwiderspruch mehr zu sehen scheinen.
Welche langfristig die politischen Ziele der FARC sein werden, muss sich noch zeigen. In seiner Eröffnungsrede zu Beginn des Parteikongresses hatte Iván Márquez betont, die FARC wolle Teil eines historisch-gesellschaftlichen Prozesses sein, „der den Aufbau einer alternativen Gesellschaft ermöglicht, in der soziale Gerechtigkeit, wirkliche und fortgeschrittene Demokratie“ herrsche, „wirtschaftliche, soziale, ethnische, religiöse und geschlechtliche Diskriminierung und Ausgrenzung überwunden“ seien und ein würdevolles Leben in einer „neuen Art gesellschaftlicher Beziehungen in Kooperation, Brüderlichkeit und Solidarität“ garantiert werde. Die Vereinbarungen von Havanna, in denen es unter anderem um eine gerechtere Verteilung von Landbesitz geht, seien lediglich die Grundlage für weiterführende gesellschaftliche Veränderungen.
Wie genau dieses „Neue Kolumbien“ aussehen und erreicht werden soll, darüber kam es zu teils heftigen Debatten.
Wie genau dieses „Neue Kolumbien“ aussehen und erreicht werden soll, darüber kam es, wie Delegierte berichteten, während des dreitägigen Kongresses, auf denen Arbeitsgruppen ein erstes Eckpunkteprogramm der neuen Partei erarbeiteten, zu teils heftigen Debatten. Das verwundert wenig, trafen doch in Bogotá erstmals FARC-Mitglieder aufeinander, deren Realität während des Konflikts sehr unterschiedlich war. Es trafen Kader aus den Kerngebieten der FARC im Süden Kolumbiens auf Mitglieder der städtischen Milizen, kleinbäuerlich Geprägte und vom Krieg Gebeutelte auf an Universitäten geschulte und vom urbanen Alltagsleben geprägte Aktivisten. So wurde unter anderem lange darüber diskutiert, ob im Parteistatut auf „das Werk und das politische Handeln von Marx und Lenin“ verwiesen werden solle. Ein Disput, den letztlich jener Flügel um den Parteivorsitzenden Timochenko gewann, der zumindest nach außen hin eine politisch-ideologische Erneuerung der FARC anstrebt und sich von alten Dogmen lösen will. „Einige scheinen nicht verstanden zu haben, dass wir an einem neuen Punkt unserer Geschichte angekommen sind und hier nun auch einen Sprung machen müssen. Viele in unserer Organisation behandeln den Marxismus-Leninismus, als wäre er eine Religion“, sagte der Schriftsteller Gabriel Angel, der FARC-Chef Timochenko nahe steht im Gespräch mit den LN am Rande des Kongresses.
Dieser „Tendenz“, wie Angel sie bezeichnet, gegenüber steht eine Gruppe um den ehemaligen Verhandlungsführer von Havanna Iván Márquez und dem ihm nahestehenden Jesús Santrích, die das historische Erbe eines mehr als fünf Jahrzehnte dauernden Kampfes bewahren wollen. Besonders Santrích gilt dabei als wenig kompromissbereiter Traditionalist, dessen Vertrauen wie bei nicht wenigen FARC-Kämpfer*innen darin, dass der legale Kampf für die politischen Ziele der FARC möglich wird, gering ausgeprägt ist. Der Genozid an den Mitgliedern der 1985 gegründeten Linkspartei Unión Patriótica ist ihnen dabei ebenso ein mahnendes Beispiel wie die ansteigende Zahl der Morde und die Fortexistenz paramilitärischer Gruppen.
Iván Marquez wird es aller Voraussicht nach sein, der die Senatsliste der FARC 2018 anführen wird. Laut der Vereinbarungen von Havanna stehen ihr in den kommenden zwei Legislaturperioden je fünf Sitze im Senat und Repräsentantenhaus zu, unabhängig davon wie die FARC-Kandidat*innen beim Urnengang abschneiden. Einen eigenen Kandidaten für die Präsidentschaftswahl wenige Monate später wird man wohl nicht aufstellen, sondern stattdessen Stimmen zur Bildung einer Übergangsregierung und dessen Kandidaten beitragen wollen, der für die Umsetzung der Vereinbarung von Havanna eintritt. Es muss sich zeigen, ob es der neuen FARC-Partei einerseits gelingt, nicht nur in ihren Kerngebieten Stimmen einzusammeln, sondern gerade die Menschen in den Städten mit einem modernen Programm zu überzeugen. Ein Bestreben, das sich bereits an einem Diskurs abzeichnet, der sich an alle Unzufriedenen und unter dem neoliberalen Wirtschaftsmodell leidenden Bevölkerungsteile richtet. Andererseits muss sich nun zeigen, wie tief die FARC wirklich in der Zivilgesellschaft und in denen von ihr teils über Jahrzehnte kontrollierten Territorien verankert ist. Ein Aspekt, der ihnen in der Vergangenheit von anderen linken und revolutionären Kräften, darunter auch der Nationale Befreiungsarmee (ELN), oft abgesprochen wurde. Dass gesellschaftlicher Wandel nicht ausschließlich innerhalb der staatlichen Institutionen erkämpft werden kann, scheint der FARC, folgt man den Worten Iván Márquez, klar zu sein. Man sei Teil der politischen und sozialen Bewegung, die „mittels ihrer vielfältigen Kämpfe des Alltags neue Ausdrucksformen der gesellschaftlichen Macht hervorbringt und die Formen der Organisation der Staatsgewalt de facto ignoriert und überwindet“, sagte er vor den Delegierten des Parteikongresses und fügte hinzu: „Wir verstehen uns als Bewegungs-Partei“.