HOW TO BE GRETA


Foto: © Aline Belfort


Pedro ist alt, lebt allein und arbeitet als Pfleger im Krankenhaus von Fortaleza im Nordosten von Brasilien. Morgens schleppt er sich mühselig aus dem Bett, schluckt ein paar Pillen und geht zur Arbeit. Abends sitzt er allein in seiner Wohnung und hört bei einem Glas Schnaps Musik von italienischen Sängerinnen. Seine Besessenheit von Greta Garbo lebt er in gelegentlichen Besuchen in der Schwulensauna und bei der poetischen Aussprache des Garbo-Satzes “I want to be alone“ aus dem Film Grand Hotel aus. So trostlos und einsam sein privater Alltag auch ist, bei der Arbeit widmet sich Pedro ganz seinen Patient*innen und geht liebevoll mit seinen Mitmenschen um. Zu ihnen gehört auch seine enge Freundin, die Trans*frau Daniela, die als Entertainerin arbeitet und an Nierenversagen leidet. Das Krankenhaus, in das sie eingeliefert wird und in dem das erste Drittel des Films fast ausschließlich spielt, ist weder weiß noch klinisch und sicher. Stattdessen ist es überfüllt, dunkel und bildet eine fast bedrohliche Szenerie. Als für Daniela dort kein Platz mehr ist, überschlagen sich in Pedros Leben die Ereignisse: Er verhilft Jean, einem Patienten, der nach einer Auseinandersetzung ins Krankenhaus eingeliefert wurde und seitdem von Polizisten überwacht wird, zur Flucht und lässt ihn bei sich unterkommen. Die beiden teilen Pedros Wohnung, den Alkohol und das Bett. Jean lässt Pedros Identifikation mit Greta Garbo freien Lauf und so entwickelt sich eine vielschichtige Beziehung, die schon bald auf die Probe gestellt wird. Gleichzeitig verschlechtert sich Danielas Zustand und lässt die wichtigen Themen in Greta ans Licht kommen: Freundschaft und Liebe, Leben, Krankheit, Alter und Tod.

© Aline Belfort

Armando Praças Debütfilm und Beitrag zum diesjährigen Berlinale Panorama lebt vor allem durch die besonderen Charaktere. So spielt Marco Nanini den Krankenpfleger Pedro mit seiner fürsorglichen, aber gleichzeitig traurigen Art grandios. Auch Denise Weinberg beeindruckt schauspielerisch und gesangstechnisch als die erkrankte Diva Daniela, die sich mit dem Tod konfrontiert sieht. Die zunächst zu flache Figur von Jean, gespielt von Demick Lopes, dessen Schnurrbart, Kleidung und Macho-Art einem 90er-Jahre-US-Film entsprungen sein könnte, nimmt im Laufe des Films eine erfreuliche Wendung und beweist ihre Vielschichtigkeit.

© Aline Belfort

Auch wenn die Handlung so manch seltsame oder abwegige Wendung nimmt, schafft es Greta doch, die Zuschauer*innen zu beeindrucken und nachdenklich zu machen. So beleuchtet der Film drei bemerkenswerte Persönlichkeiten und Lebensrealitäten. Besonders an Pedros Figur wird die Tiefe menschlicher Bedürfnisse nach Nähe und Vertrauen deutlich. Aus Einsamkeit, Mitgefühl und Hilfsbereitschaft zu seinen Mitmenschen riskiert der 70-Jährige viel, wenn nicht alles. Wer genau hinschaut, kann in der Geschichte um Jean, Pedro und Daniela auch kleine Hinweise auf die alltäglichen Erfahrungen und Probleme älterer LGBTI* im heutigen Brasilien erkennen.

Kämpfe um die Stadt der Zukunft

Fortaleza – Hauptstadt des Bundesstaates Ceará im Nordosten Brasiliens. Eine Stadt, in der zwei Drittel der Bebauung irregulär sind, ein Drittel der Bevölkerung in Favelas oder Problemvierteln lebt und das Stadtbild von sozialräumlicher Fragmentierung geprägt ist. Das auf der einen Seite unkontrollierte und auf der anderen Seite von kapitalistischen Interessen dominierte Wachstum der Stadt hat ein Fortaleza hervorgebracht, in dem soziale Ungerechtigkeit und die Ausgrenzung der armen Bevölkerung vorherrschen. Informelle Siedlungen stehen Luxushotels, geschlossenen Wohnanlagen und Hochhäusern der oberen Mittelschicht, die Hochsicherheitstrakten gleichen, gegenüber.

Der Masterplan

Schuld an solchen Fehlentwicklungen ist oft die ungenügende Planung. Fortaleza selbst besitzt seit 2002 keinen gültigen Masterplan zur Steuerung der Stadtentwicklung mehr.
Dem unkontrollierten Stadtwachstum brasilianischer Großstädte soll nun durch partizipativ erarbeitete Masterpläne Einhalt geboten werden. Das 2001 vom Städteministerium festgelegte Stadtstatut bietet eine Reihe innovativer Instrumente zur Umsetzung der avisierten Stadtreform, die auf dem Prinzip der gesellschaftlichen Funktion von Eigentum beruht und eine sozial gerechtere Stadtentwicklung anstrebt. Das Stadtstatut legt auch fest, dass Städte über 20.000 EinwohnerInnen bis Oktober 2006 ihren Plano Diretor zur Stadtentwicklung erarbeiten beziehungsweise erneuern müssen und zwar mit Beteiligung der BewohnerInnen. Dieser Masterplan hat eine Gültigkeit von zehn Jahren. Er legt die Nutzung und die Bebauungsdichte für die gesamte Stadt fest. Im Plano Diretor können auch sogenannte Sonderzonen Sozialen Interesses (ZEIS) ausgewiesen werden, die die BewohnerInnen informeller Siedlungen beispielsweise vor der Verdrängung durch Tourismusprojekte schützen sollen. Auch können in diesen Sonderzonen Grundstücke für den sozialen Wohnungsbau vorbehalten bleiben.

Der Plano Diretor als Spielfeld politischer Machtkämpfe

In Fortaleza begann der Prozess zur Erstellung des Plano Diretor bereits im Jahr 2002 unter dem damaligen Bürgermeister Juraci Magalhães der konservativen Partei PMDB (Partido do Movimento Democrático Brasileiro). Der Plan wurde ohne Beteiligung der BewohnerInnen und eher im Sinne der Ausweitung des Tourismus und der Interessen der Bauindustrie denn einer sozial gerechten Stadtentwicklung erarbeitet.
Infolge einer massiven Kampagne des Netzwerkes für sozialen und umweltgerechten Städtebau NUHAB wurde der Plano Diretor von der 2004 gewählten volksnahen Bürgermeisterin der Arbeiterpartei PT, Luizianne Lins, allerdings vor der Abstimmung durch die Abgeordnetenkammer wieder zurückgezogen. Das führte bei sozialen AktivistInnen zu Hochstimmung. Ebenso hoch waren die Erwartungen der Bevölkerung, nun aktiv an der Erstellung des Plans teilhaben zu können. Doch zunächst geschah gar nichts. Erst im Februar 2006 wurde das Thema innerhalb der Stadtverwaltung wieder aufgenommen.
Nun wird der Prozess zur Erstellung des Plano Diretor von der Nichtregierungsorganisation Instituto Pólis aus São Paulo koordiniert und von einem Beratungskomitee, das allerdings keine Entscheidungsbefugnis hat, begleitet. Das Komitee besteht aus VertreterInnen der Zivilgesellschaft, der Architektenkammer, der Bauindustrie und des Immobiliensektors. Die unterschiedliche Vorstellung vom Partizipationsprozess innerhalb dieser Gruppe ist offensichtlich.

Von der gescheiten Theorie…

Nichtsdestotrotz scheint das vom Instituto Pólis entwickelte Verfahren auf eine aktive Beteiligung der BewohnerInnen Fortalezas abzuzielen. Durch Weiterbildungen sollen die BewohnerInnen über den Prozess, die Instrumente des Masterplans und Beteiligungsmöglichkeiten informiert werden. In 14 Workshops und in regionalen Anhörungen sollen sie die Möglichkeit haben, Prioritäten für die Entwicklung bestimmter Regionen zu diskutieren und ihre Vorschläge einzubringen. Abschließend soll auf einem Kongress im September über die Aufnahme der Vorschläge in den Plano Diretor entschieden werden. Hier werden unter anderem Nutzung, Bebauungsdichte und maximale Geschosshöhe festgelegt, die erwähnten Sonderzonen ZEIS ausgewiesen und über den Erhalt und die Ausweisung von Freiflächen diskutiert. Weiter können Vorschläge zu Infrastruktur und Versorgungsreinrichtungen eingereicht und konkrete städtebauliche Maßnahmen zur Verbesserung der Wohn- und Lebenssituation der BewohnerInnen gefordert werden. Theoretisch sollen sich die BewohnerInnen also direkt an der Verbesserung ihres Wohnumfelds beteiligen können.

…zur scheiternden Umsetzung

Die bisherige Praxis gestaltete sich jedoch anders. Bei den diversen Veranstaltungen erschienen aufgrund der ungenügenden Mobilisierung nur wenige BewohnerInnen. Teilweise nahmen lediglich fünf BürgerInnen das Angebot wahr. Die angekündigte Medienkampagne wurde mit erheblicher Verspätung einen Tag vor der ersten Veranstaltung gestartet und enthielt keine handfesten Informationen über den Partizipationsprozess. Oft wurden die Veranstaltungsorte kurzfristig geändert. Von zivilgesellschaftlichen Organisationen bereitgestellte Busse voller beteiligungsfreudiger BürgerInnen fanden so nicht mehr ihr Ziel. Die Möglichkeiten zur Beteiligung waren erheblich eingeschränkt, da die BewohnerInnen keine genauen Informationen erhielten.
Deutlich wurde, dass die Bevölkerungsbeteiligung beim Erstellen des Plano Diretor keine Priorität für die Stadtverwaltung hat. Politischer Druck wird vehement von jenen AkteurInnen ausgeübt, die kaum Interesse an der Wahrung der Rechte der benachteiligten Bevölkerung haben dürften.
Bei den Versammlungen zum partizipativen Bürgerhaushalt, an dem die BewohnerInnen auch direkt mitbestimmen, funktioniert die Mobilisierung beispielsweise hervorragend. Hier wird jedoch nur über einen geringen Teil des Haushalts bestimmt. Die Festlegung der Nutzung Fortalezas, brasilianische Hauptstadt der Geldwäsche und inzwischen Hauptziel des Tourismus, bewegt ganz andere Summen in- und ausländischen Kapitals.
Ein weiterer Grund für das Scheitern des Partizipationsmodells der Stadtverwaltung ist das fehlende Bewusstsein der BewohnerInnen über die Macht, die ihnen die Beteiligung an der Erstellung des Plano Diretor gibt. Die Möglichkeit, ihre Lebenssituation konkret verändern zu können, erschließt sich ihnen beim kurzfristiger ausgerichteten Bürgerhaushalt deutlicher, beziehungsweise wird es ihnen deutlicher gemacht.
So ist beispielsweise auch José Meneleu, Sekretär für Planung in Fortaleza, der Meinung, dass bei einer langfristigen Planung die BürgerInnen die Stadtentwicklung nicht nur aus Sicht ihrer eigenen Wohn- und Lebensverhältnisse betrachten dürften. Der unzureichende BürgerInnenbezug ist also auch ihm bewusst. Zu bezweifeln ist daher, ob es den entsprechenden VertreterInnen der Stadtverwaltung gelingen wird mit Hilfe eines Masterplans, der die direkten Bedürfnisse der BürgerInnen nicht berücksichtigt, an einer sozial gerechteren Stadtentwicklung mitzuwirken.
Neben der schwachen Bürgerbeteiligung steht die Stadtverwaltung vor einem weiteren Problem: dem enormen Zeitdruck. Denn die Abgabefrist für den Masterplan ist im Oktober. Die Phase der Bestandsanalyse in den Stadtvierteln ist bereits abgeschlossen. Die regionalen Anhörungen, bei denen die Delegierten für den Kongress des partizipativen Masterplans im September gewählt werden, haben bereits begonnen. Die letzte Etappe findet einen Monat vor Ende der Frist statt.
Parallel zu den Aktivitäten der Stadtverwaltung initiierten die zivilgesellschaftliche Organisationen ein eigenes Programm in Sachen Plano Diretor. Dazu führten Nichtregierungsorganisationen des Netzwerks NUHAB einen einmonatigen Workshop durch. Ziel war, die BewohnerInnen und BürgerInnenbewegungen zur Beteiligung an der Erstellung des Masterplans zu befähigen. Zudem wurden konkrete Vorschläge zur Übernahme in den Plano Diretor erarbeitet.

Recht auf Stadt

An dem Workshop nahmen 100 bereits stadtpolitisch aktive BewohnerInnen teil, die sich in vier Gruppen mit besonders konfliktbelasteten Regionen der Stadt auseinander setzten. Während der ersten Woche fanden intensive Schulungen zum „Recht auf Stadt“, zu den Instrumenten des Plano Diretor und den Möglichkeiten ihres Einsatzes statt. In den folgenden zwei Wochen führten die Gruppen Bestandsaufnahmen und -analysen durch, auf deren Grundlage dann entsprechende Vorschläge zur Verbesserung der bestehenden Situation erarbeitet wurden. Anschließend tauschten sich die TeilnehmerInnen in einem zweitägigen Seminar aus und diskutierten die Vorschläge. Durch die Schulungen und die teilweise jahrelange Erfahrung im Kampf um eine sozial gerechtere Stadtentwicklung konnten die TeilnehmerInnen einige qualifizierte Vorschläge erarbeiten. Sie orientierten sich an den Bedürfnissen derjenigen, die in besonders großem Maß unter den Problemen der Stadt leiden.

Machtpolitik vs. BürgerInnenpartizipation

Eine Gruppe hat ihre Vorschläge bereits in einer öffentlichen Anhörung vorgestellt und dem Planungssekretär José Meneleu offiziell überreicht. Unter anderem schlug die Arbeitsgruppe vor, ein jahrelang brachliegendes Grundstück zur Sonderzone für Sozialen Wohnungsbau auszuweisen. Das entsprechende Grundstück befindet sich in einer Region die unter zunehmendem Spekulationsdruck steht und gehört einer der einflussreichsten Familien Fortalezas. Ob die Vorschläge tatsächlich in den Plano Diretor übernommen werden, ist nun eine rein machtpolitische Entscheidung.
Für Fortaleza und seine BewohnerInnen bleibt daher die Frage offen, ob die Stadtverwaltung die nötige Weitsicht und Durchsetzungskraft hat, wenigstens einige der erarbeiteten Vorschläge zu übernehmen. José Meneleu zumindest zeigte sich über die zahlreichen Vorschläge im Rahmen der ersten regionalen Anhörungen erfreut. Er geht davon aus, dass es in zehn Jahren, wenn der nächste Masterplan erarbeitet wird, bereits eine ausgeprägtere Partizipationskultur gibt.

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