Berliner Collage

© Distruktur, If You Hold a Stone, 2016

Einsam ist es auf dem Containerschiff, das Melissa und Gustavo über den Atlantik bringt. Die Wellen rauschen, auf dem Deck steht ein Liegestuhl und von der Crew ist kaum etwas zu sehen. Dazu hört man aus dem Off gesprochene Poesie. Fast fühlt es sich an wie eine Kreuzfahrt über den unwirklich blauen Atlantik, von Brasilien nach Deutschland.

Doch so träumerisch-unkompliziert bleibt es nicht die ganze Zeit über in Melissa Dullius’ und Gustavo Jahns experimentellem Film Muito Romântico, der bereits 2016 auf der Berlinale Premiere feierte und 2025 im Rahmen der Reihe Forum Expanded Jubiläum neu aufgelegt wurde. In Berlin angekommen, werden die beiden Filmemacher*innen aus dem Süden Brasiliens mit den Freuden und Leiden der Künstler*innenexistenz konfrontiert: Neben dem Finden neuer Freundschaften sowie unvermeidlichen Partys und Drogentrips steht auch die mühselige Wohnungssuche in der deutschen Hauptstadt an. Dazu stellt sich nach der Anfangseuphorie ein Fremdheitsgefühl ein, das auch anderen Migrant*innen zu schaffen macht. Doch die Zeit hilft, darüber und über andere persönliche Probleme hinwegzukommen und sich in der neuen Realität zurechtzufinden.

Muito Romântico ist ein interessanter Mix aus experimenteller Collage und autobiografischer Mockumentary über das Leben zweier Filmemacher*innen. Oft poetisch verfremdet, lassen sich die episodischen Ausschnitte aus dem Leben von Melissa und Gustavo gut nachvollziehen. Besonders schön ist das am Aussehen der Wohnung zu sehen, die sich im Laufe des Films durch neue Möbel und Dekorationen ständig verändert und so zum Symbol des Lebens und der Beziehung des Paars wird.

Zum Ende hin will der Film allerdings etwas zu viel: Da öffnet sich ein kosmisches Portal in der Wohnung, das angeblich Verbindungen zwischen verschiedenen Dimensionen und Zeitebenen herstellt. Das verwirrt etwas (unter anderem werden die Protagonist*innen nun durch andere Personen dargestellt) und wäre so auch gar nicht nötig gewesen, da der Film auch vorher schon durch andere Symboliken diese Transzendenz spürbar macht. Dennoch ist Muito Romântico eine atmosphärisch-künstlerische Betrachtung migrantischer Erfahrungen in Berlin geworden, in der viele zugezogene Berliner*innen einige Momente ihres eigenen Lebens aus der Anfangszeit in der Stadt wiederentdecken dürften. Der Film erhielt deshalb auch eine Special Mention beim Preis für den besten Kunstfilm auf dem New Horizons Filmfestival in Breslau 2016.


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Durch die Erinnerung neu erzählt

Bajo las banderas, el sol | Under the Flags, the Sun von Juanjo Pereira
PRY, ARG, USA, FRA, DEU 2025, Panorama

Über die Militärdiktaturen in Brasilien (1964-1985), Argentinien (1966-1973) und Chile (1973-1990) ist schon viel gesagt worden. Die 35 Jahre dauernde Diktatur im benachbarten Paraguay steht im Vergleich dazu weniger oft im Blickpunkt. Unter dem Vorwand, la paz y el progreso („Frieden und Fortschritt“) zu garantieren, übernahm General Alfredo Stroessner 1954 die Macht und blieb bis 1989 in der Hauptstadt Asunción im Amt.

Juanjo Pereiras historischer Dokumentarfilm Bajo las banderas, el sol (Under the Flags, the Sun) basiert auf der Wiederherstellung von Bild- und Tonarchiven aus mehr als drei Jahrzehnten, die die Stroessner-Regierung, die Reaktion der Bevölkerung auf die Diktatur und die Kommentare der internationalen Presse aus den Vereinigten Staaten, Frankreich, Deutschland und Brasilien zeigen. Durch kreativen und intelligenten Schnitt konstruiert der Film eine zugängliche Erzählung über den Aufstieg und Fall des paraguayischen Diktators und seiner Regierung. 

General Stroessner wurde ohne Gegenkandidaten zum Präsidenten gewählt und regierte mit der Unterstützung der Armee und der konservativen Colorado-Partei. Wie in anderen südamerikanischen Diktaturen wurde die Figur desAnführers von seinen Anhänger*innen vergöttert: der angebliche Retter des Vaterlands und der Familie, der die Nation von der kommunistischen Bedrohung befreit hatte. Mit Unterstützung der Vereinigten Staaten nahm Paraguay zusammen mit anderen südamerikanischen Ländern an der Operation Condor teil, die offiziell zur Bekämpfung von „Terrorismus und Subversion“ durchgeführt wurde.

Wie Bajo las banderas, el sol  gut dokumentiert, verbündete sich das Regime nicht nur mit anderen Diktaturen der Südhalbkugel bei der Unterdrückung von Gegnern, sondern unterhielt auch zwielichtige Beziehungen zu flüchtigen Nazi-Verbrechern wie Josef Mengele. Der Nazi-Offizier und Arzt im Konzentrationslager Auschwitz pendelte in der Nachkriegszeit straflos zwischen Argentinien, Paraguay und Brasilien hin und her.

Das Stroessner-Regime war verantwortlich für Folter, Verschwindenlassen, Todesfälle und ins Exil getriebene Menschen. Der Film zeigt, was mit Bürger*innen geschah, die eine regierungsfeindliche Haltung einnahmen: Die Ermittlungsbehörden folterten politische Gefangene – wie mutmaßliche Kommunist*innen oder Mitglieder von Gewerkschaften und Arbeitnehmerorganisationen. Die systematischen Menschenrechtsverletzungen führten zu internationalen Beschwerden und mobilisierten Organisationen wie Amnesty International.

Auch auf dem Land gab es Repressionen. Ein kurzes Interview mit einem Bauern spricht diesbezüglich Bände: „Wenn der Bauer vom Polizeichef vorgeladen wird, hat der Polizeichef Recht, und der Bauer hat den Mund zu halten (…) Ich als Bauer habe kein Recht, der Behörde auch nur ein halbes Wort zu sagen“.

Die Gegenüberstellung von offiziellen Reden, Interviews und internationalen Kommentaren ermöglicht in Bajo las banderas, el sol  einen kritischen Blick auf die Vergangenheit. Dabei wird auch eine sehr wichtige Stimme respektiert: das Schweigen. Es hat nicht nur eine ästhetische Funktion, sondern dient auch der Überleitung und Reflexion. Das Schweigen wird von Pereira strategisch eingesetzt, um die Bilder für sich selbst sprechen zu lassen – beispielsweise in den Szenen, die die Zivilbevölkerung zeigen, die sich zur Unterstützung von Stroessners Regierung versammelt hat.

Nicht alle der wiedergefundenen Bilder sind von höchster Qualität: einige weisen Reproduktionsfehler auf. Die Entscheidung, diese Bilder im Film zu belassen, scheint beabsichtigt zu sein, denn sie verweist auf den Verlust des historischen Gedächtnisses und die Herausforderungen bei der Bewahrung der Vergangenheit.

Der Dokumentarfilm von Juanjo Pereira zeichnet sich nicht nur durch sein unglaubliches erzählerisches Können aus, sondern auch durch eine ästhetische Intellektualität, die die didaktische Kraft der Aufarbeitung der tragischen Geschichte eines Landes unterstützt. Und er unterstreicht die politische Rolle des Kinos bei der Bewahrung der Erinnerung und der sozialen Reflexion. 


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Zwischen Erwachen und Erwachsenwerden

Foto: Plan B Entertainment

Eines Nachmittags vertraut Cecilia (Andrea Suárez Paz) ihrem Sohn Olmo an, sich um seinen Vater Néstor (Gustavo Sánchez Parra) zu kümmern. Der ist mit Multipler Sklerose bettlägerig und zum Überleben auf seine Familienmitglieder angewiesen. Auch sonst geht es der Familie nicht wirklich gut: Sie sind drei Monatsmieten schuldig, es gibt weder Zeit noch Geld für selbstgekochtes Essen (außer der Tiefkühl-Lasagne, die der Vater nicht essen will) und die Stereoanlage ist kaputt. All das hält den 14-jährigen Olmo aber nicht davon ab, sich für seine Nachbarin Nina (Melanie Frometa) zu interessieren. Seiner älteren Schwester Ana (Rosa Armendáriz) geht es ähnlich wie ihm: Sie will ihre Jugend abseits von Verpflichtungen erleben. Währenddessen versucht ihre überforderte Mutter, ihren häuslichen und finanziellen Verpflichtungen nachzukommen, indem sie Doppelschichten in einem Restaurant arbeitet.

Fernando Eimbckes Film Olmo wurde in der Sektion Panorama der Internationalen Filmfestspiele Berlin 2025 uraufgeführt. Es ist Eimbckes vierter Film und das zweite Mal, dass der mexikanische Regisseur an der Berlinale teilnimmt. Das erste Mal war er 2008 mit Lake Tahoe vertreten, einem Film, der mit dem Silbernen Bären für den Alfred-Bauer-Preis ausgezeichnet wurde. Sein Regiedebüt gab er 2004 mit Temporada de Patos, der in Cannes uraufgeführt wurde und in seinem Heimatland mehrere Preise gewann. Im Jahr 2013 präsentierte er Club Sandwich, seinen dritten Spielfilm, der beim 61. Internationalen Filmfestival von San Sebastian unter anderem mit dem Preis für die beste Regie ausgezeichnet wurde.

Olmo spielt 1979 in New Mexico und schildert auf humorvolle Weise den komplexen Übergang vom Heranwachsen zum Erwachsenwerden in einem von Unsicherheit geprägten Umfeld. Aivan Uttapa spielt darin den Protagonisten: Olmo ist ein junger Mann, der versucht, den Härten seines Zuhauses zu entkommen, indem er sich in seine Freundschaft mit Miguel (Diego Olmedo) und seine romantischen Träume zurückzieht.Sein Freund nimmt dabei im Laufe des Films die Rolle des treuen Helfers für ihn ein, fast wie Sam Gamdschie für den Helden Frodo in der Fantasy-Saga Herr der Ringe. Unter anderem unterstützt er ihn dabei, seinen Schwarm Nina dazu zu bringen, ihn zu einer Party einzuladen. Aber die Sache hat einen Haken: Die Eintrittskarte dafür ist, sich die Stereoanlage der Familie auszuleihen. So muss sich Olmo zwischen der Verantwortung für seine Angehörigen und dem Wunsch, seine Jugend zu leben, entscheiden. Auf diese Weise zeigt der Film eine unausweichliche Wahrheit: Erwachsenwerden bedeutet, schwierige Entscheidungen zu treffen.

Doch Olmo ist mehr als nur eine Coming-of-Age-Geschichte, sondern auch ein intimes Porträt einer Migrant*innenfamilie, in der die Eltern auf Spanisch kommunizieren und die Kinder auf Englisch antworten. Einer Familie, die durch die Krankheit von Néstor zerbrochen ist, der als Vater, obwohl körperlich eingeschränkt, immer noch versucht, seiner Rolle mit Anekdoten und Ratschlägen gerecht zu werden, auf die seine Kinder nicht immer hören wollen. Das fehlende Gleichgewicht in seiner Familie hinterlässt Olmo in einem großen Dilemma: Inwieweit soll er mit Aufgaben belastet werden, die seinem Alter nicht entsprechen? Während seine Mutter und seine Schwester versuchen, auf ihre Weise zu entkommen, sehnt auch er sich nach einer solchen Pause. So erinnert uns der Film daran, dass das Erwachsenwerden nicht nur ein Prozess der Selbstfindung ist, sondern auch ein Akzeptieren der familiären Bindungen, mit all der Last, die sie mit sich bringen.

Olmo ist kein effekthascherischer Film, aber wenn er erst einmal angefangen hat, überzeugt er mit seinen Charakteren, einer soliden Geschichte und einem sorgfältigen Setting. Er handelt vom Aufwachsen und von Beziehungen in einer unvollkommenen Familie und erinnert uns daran, dass das Leben wie ein Film sein kann. In dieser Geschichte ist die Familie kein idealisierter Zufluchtsort, sondern ein komplexes Band, das von Opfern und kleinen täglichen Kämpfen aufrechterhalten wird. Jede Figur geht auf ihre eigene Weise mit der Realität um, aber alle sind durch eine gemeinsame Wahrheit verbunden: Trotz ihrer Brüche bleiben sie ein Team, in dem Verantwortung und Zuneigung in einem fragilen Gleichgewicht koexistieren.



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Chronik des Unvorhersehbaren

Einfühlsame Darbietungen und fesselnder Schnitt Arame Farpado (Barbed Wire) lief im diesjährigen Berlinale-Panorama (Renato Groberman Hojda)

In einem Dorf auf dem Land in São Paulo überredet Angelina (Isabella Guido) ihren jüngeren Bruder Santiago (Gabriel Novaes), ihr dabei zu helfen, einen Stacheldraht zu befestigen, der die unbefestigte Straße durchschneidet. Dort fährt ihr Stiefvater Zé Luis (Ricardo Bagge) normalerweise mit seinem Lastwagen vorbei. Was als eine Art „kleine Rache“ dafür gedacht war, dass Zé Luis den Platz seines Vaters eingenommen hat, als dieser fortging, wird zu einer Tragödie, als die Radfahrerin Ariane (Dione Castro), ihren Weg kreuzt. So beginnt Gustavo de Carvalhos Kurzfilm Arame Farpado (Barbed Wire).

Kurz nach dem Unfall trifft die ältere Schwester Evita (Camila Botelho) die Kinder auf der Straße. Sie bittet ihren Bruder, nach Hause zu gehen, und fährt mit Angelina und Ariane in die Notaufnahme. Zé Luís folgt ihnen im Auto.  Während Ariane versorgt wird, kümmert sich Evita darum die Familie des Opfers zu finden, während Angelina und Zé Luis gemeinsam warten. In dieser Zeit des Wartens und noch immer von Schuldgefühlen wegen des tragischen Unfalls überwältigt, lässt sich das Mädchen auf ein Gespräch mit ihrem Stiefvater ein und scheint sich mit ihm zu versöhnen, indem es seine Sicht der Dinge versteht.

Mit einfühlsamen Darbietungen und fesselndem Schnitt ist der Kurzfilm eine Momentaufnahme des Alltags einer Familie auf dem Lande, die in einen Unfall verwickelt wird, der eine unerwartete Unterbrechung der Routine auslöst. Er erinnert daran, dass das Leben nicht linear verläuft und von plötzlichen Ereignissen und plötzlichen Veränderungen überrollt werden kann – von denen viele manchmal durch einen Dialog vermieden werden könnten. Ein Ereignis zieht das nächste nach sich und das „Schicksal“, falls es so etwas gibt, ist ebenso von unseren Entscheidungen wie von unkontrollierbaren Faktoren geprägt.

Arame Farpado ist eine Erinnerung daran, dass Kino nicht nur aus den fantastischen Ereignissen großer urbaner Zentren besteht, sondern dass auch alltägliche, lokale Geschichten eine Dimension im internationalen Film einnehmen können. Die 22 Minuten dieses Films sind wie die Lektüre einer Chronik: ein Ausschnitt aus der alltäglichen Realität, ohne Kontext, ohne Einleitung und ohne wirkliches Ende. Die ganze Geschichte stellt nur einige Stunden eines Ereignisses dar, das auf den geografischen Raum einer kleinen Stadt auf dem Lande beschränkt ist. Doch selbst dieser einfache Schnitt vermag die Tiefe der familiären Beziehungen und die unerwarteten Interaktionen, die sich mit Fremden ergeben können, anzudeuten.

Arame Farpado liefert keine Antworten, aber er zeigt, wie der Zufall das tägliche Leben beeinflussen und Gefühle freilegen kann, die wir manchmal zu ignorieren versuchen. Zwischen Schuldgefühlen, Bedauern und einem Gefühl der Resignation gegenüber dem, was man nicht ändern kann, zeigt uns der Kurzfilm, dass der Alltag voller Überraschungen ist.


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Magisch und realistisch

© Aline Arruda

Drei Filme aus Lateinamerika im Wettbewerb der Berlinale – das ist selten. Aber selten war es auch so verdient wie 2025, denn alle drei Beiträge konnten vollends überzeugen. Als Außenseiter ins Rennen gegangen, verließen sowohl O Último Azul (Der Blaue Pfad) aus Brasilien (Großer Preis der Jury) als auch El Mensaje (Die Nachricht) aus Argentinien (Preis der Jury) mit je einem Silbernen Bären das Festival. Die Preise, die auch als zweiter bzw. dritter Platz des Wettbewerbs bezeichnet werden können, gingen an zwei vor allem stilistisch mutige Filme, die ohne große Budgets mit Leichtigkeit und einer gewissen Magie die Geschichten von Aussteiger*innen aus dem vorgezeichneten Leben erzählten. Etwas zugänglicher ist Regisseur Gabriel Mascaros sanfte Dystopie O Último Azul. In dieser gar nicht so unrealistischen Zukunftsvision nimmt der Staat alten Menschen die Selbstbestimmung.

Dagegen rebelliert die 75-jährige Tereza (Denize Weinberg) und flieht in einem Boot ins Herz des Amazonasgebiets (siehe Rezension auf Seite 46). Während hier wunderschöne Bilder fast zu erwarten waren, hat Iván Fund mit El Mensaje das Kunststück geschafft, selbst der rauen und spröden Landschaft Nordargentiniens durch eindrucksvolle und warme Schwarz-Weiß-Bilder einen Zauber zu verleihen. Manche Zuschauer*innen erinnerte das Roadmovie über ein Mädchen, das mit Tieren sprechen kann und damit Geld für seine Familie verdienen soll, sogar an Werke des italienischen Großmeisters Federico Fellini. Durch seine langen Einstellungen und seine eher assoziative als lineare Erzählweise ist der Film aber sperriger, als es zunächst scheint. Mit Michel Francos Dreams (Mexiko) ging der dritte lateinamerikanische Wettbewerbsbeitrag zwar leider ohne Preis nach Hause. Die radikale Abrechnung mit dem mexikanisch-amerikanischen Traum am Beispiel einer toxischen Abhängigkeitsbeziehung von Personen aus beiden Ländern konnte aber trotzdem auf vielen Ebenen überzeugen und bereicherte das Festival.

Der dritte große Erfolg für das Cine Latino war El diablo fuma (y guarda las cabezas de los cerillos quemados en la misma caja) („Der Teufel raucht – und bewahrt die verbrannten Streichholzköpfe in derselben Schachtel auf“) aus Mexiko. Der Film mit dem längsten Titel der Berlinale 2025 gewann den ersten Preis in der neuen Sektion Perspectives, die den besten Debütant*innenfilm auszeichnet. In der kammerspielartig erzählten Geschichte aus den 1990er Jahren werden fünf Kinder von ihren Eltern verlassen und müssen versuchen, zu Hause mit ihrer schizophrenen Großmutter ihr Leben weiterzuführen. Auch hier mischt sich die harte Realität mit magischen Elementen, denn nicht nur die Großmutter hat das Gefühl, dass der Teufel dem Haus regelmäßige Besuche abstattet.

In weiteren Sektionen gab es Lobende Erwähnungen für lateinamerikanische Filme. So wurde die peruanische Dokumentation La memoria de las mariposas („Die Erinnerung an die Schmetterlinge“), die aus dekolonialer Perspektive die brutalen Verbrechen des Kautschukhandels im 20. Jahrhundert aufarbeitet, verdientermaßen von der Jury des Dokumentarfilmpreises gewürdigt. In der Jugendfilmsektion Generation konnten besonders die Kurzfilme überzeugen: Die Internationale Jury erwähnte lobend den Kinderkurzfilm Akababuru: Expresión de asombro („Akababuru: Ausdruck des Erstaunens“, Kolumbien), in der ein Indigenes Mädchen mit magischer Unterstützung lernt, sich zu behaupten. Die Jugendjury belohnte außerdem die poetische chilenische Reflexion Atardecer en América („Dämmerung über Amerika“) über die gefährliche Migrationsroute durch die Anden und Lucia Murats brasilianische Dokumentation Hora do recreio („Playtime“), in der Schüler*innen durch Diskussion und Theaterspiel ihre Diskriminierungserfahrungen austauschen, mit einer Würdigung.

Erfreulicherweise bleibt das Niveau im lateinamerikanischen Film also weiter erstaunlich hoch, und das über alle Genregrenzen hinweg. Denn auch andere Beiträge wie zum Beispiel der wilde peruanische Horror-Stilmix Punku (das Quechua-Wort für Tor), der einfühlsame Familienfilm A natureza das coisas invisíveis (Das Wesen unsichtbarer Dinge“, Brasilien) oder die persönlich-politische Aktivist*innendoku Colosal aus der Dominikanischen Republik konnten die LN-Redaktion überzeugen. Auf unserer Website gibt es Kritiken dieser und vieler weiterer lateinamerikanischer Filme der 75. Berlinale zu lesen. Viel Spaß dabei!


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Aus dem Kino ins kollektive Gedächtnis

Die Mittelschichtsfamilie Paiva führt in den 1970er Jahren in Rio de Janeiro ein ruhiges Leben, obwohl sie inmitten einer zivil-militärischen Diktatur lebt – bis der Ingenieur und ehemalige Abgeordnete Rubens Paiva (Selton Mello) vom Militärregime gefangen genommen und verschwinden gelassen wird. Eunice (Fernanda Torres/Fernanda Montenegro), die an ein Leben als Hausfrau gewöhnt ist, ist gezwungen, sich allein um ihre fünf Kinder zu kümmern und um den Verbleib ihres Mannes zu kämpfen, während sie der Zensur und der Repression des Regimes ausgesetzt ist.

Ainda estou aqui (Für immer hier) basiert auf dem gleichnamigen Buch von Marcelo Rubens Paiva, dem Sohn des Paares, das 2015 im Alfaguara-Verlag erschienen ist. Einfühlsam schildert er die verschiedenen, grausamen Ebenen der militärischen Gewalt, die von 1964 bis 1985 andauerte: vom Polizeieinsatz, den die älteste Tochter Vera (Valentina Herszage) mit ihren Freundinnen erlebt, über die Zeit von Eunice und der zweiten Tochter Eliana (Luiza Kosovski) im Folterzentrum DOI-CODI bis hin zu Rubens’ Verschwinden. Seine Sterbeurkunde wurde ihrer Familie erst 1996 ausgehändigt, noch ohne Angabe der Todesursache. Nach der Veröffentlichung des Films in Brasilien wurde die Bescheinigung um die Todesursache „unnatürlich; gewaltsam; durch den brasilianischen Staat verursacht“ ergänzt; ein Beschluss des Nationalen Justizrats, der den brasilianischen Staat verpflichtete, die Aufzeichnungen über die Toten und Verschwundenen während der Diktatur anzuerkennen und zu berichtigen.  Viele der bis dahin von der Diktatur verschwiegenen Informationen konnten erst 2012 von der Nationalen Wahrheitskommission (CNV) untersucht werden. Diese wurde von der ehemaligen Präsidentin Dilma Rousseff eingesetzt, um schwere Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen, die zwischen dem 18. September 1946 und dem 5. Oktober 1988 stattgefunden haben. Die CNV legte Dokumente und Zeugenaussagen vor, die den Eintritt von Rubens Paiva in das DOI-CODI am 20. Januar 1971 belegen und beweisen, dass der Politiker gefoltert wurde und aufgrund der Schwere seiner Verletzungen starb. Der Reggisseur und Produzent des Films Walter Salles ist bekannt für Central do Brasil (Central Station, 1998), der zwei Oscar-Nominierungen für den besten fremdsprachigen Film und die beste Schauspielerin, Fernanda Montenegro, erhielt. Sein neuer Film Für immer hier versetzt die Zuschauerinnen gekonnt in die räumliche und zeitliche Umgebung der Diktaturzeit in Brasilien. Von den Kostümen und dem Soundtrack bis hin zu den 1970er-Jahre-Autos, die während der Dreharbeiten von Sammlerinnen gemietet wurden, lädt der Film dazu ein, bei der Fa­mi­­lie zu sein und sie hautnah zu begleiten. Man spürt die anfängliche Leichtigkeit einer glücklichen Familie, aber auch den Abscheu vor der physischen und symbolischen Gewalt der Militärdiktatur. Und am Ende bleibt das Gefühl der Hoffnung und des Handlungsdrangs, dass „man einen Weg finden muss, mein Freund“ (É preciso dar um jeito, meu amigo, Erasmo Carlos), wie es im markantesten Lied des Soundtracks heißt. Der Film versteht es auch, die familiären Beziehungen zwischen den Figuren mit Tiefe zu entwickeln – von Eunices Komplizenschaft mit ihren beiden ältesten Töchtern bis zu ihrem Versuch, ihren Schmerz vor ihren beiden jüngeren Töchtern und ihrem jüngsten Sohn zu verbergen. Auf subtile, aber kritische Weise wird auch die Figur der Hausangestellten dargestellt, die als Quasi-Familienmitglied gesehen wird, aber in Krisenzeiten dennoch leicht entbehrlich scheint. Ein weiteres Detail ist der Kontrast zwischen Licht und Schatten, Lärm und Stille, offenem und geschlossenem Raum, als Symbol für den vorherrschenden Frieden im Gegensatz zur Spannung des militärischen Terrors. Während die glücklichen Momente in hellen, offenen Räumen, am Strand oder an Orten mit Musik und Konversation, auf Partys unter Freundinnen, stattfinden, werden Spannung und Angst durch die dunkle, geschlossene Umgebung des DOI-CODI sowie durch die Großaufnahme symbolisiert, die sich auf Eunice Paivas statisches, nachdenkliches und stilles Gesicht konzentriert.

Ein großer Teil der Kraft von Ainda estou aqui ist der Hauptdarstellerin Fernanda Torres in der Rolle der Eunice Paiva zu verdanken. Der Film zeigt Eunices Entwicklung angesichts des Verlusts ihres Mannes und ihr Bedürfnis, stark und widerstandsfähig zu werden ausgezeichnet. Zwei Jahre nach dem Verlust beschließt Eunice, Jura zu studieren, und wird Anwältin, die sich auf die Rechte der Indigenen Völker spezialisiert. Obwohl Torres´ Filmkarriere im Bereich Komödie liegt, wusste sie, wie man die Rolle im Drama einfühlsam spielt. Am beeindruckendsten ist ihre Fähigkeit, eine Mutter und Ehefrau zu verkörpern, die ihre Gefühle, ihre Angst und ihren Hass unterdrücken muss. In der Verdrängung des Schmerzes im Kontext staatlicher Unterdrückung hat die Schauspielerin einmal mehr ihre Exzellenz bewiesen.

Fernanda Torres’ Leistung wurde mit einem Golden Globe Award in der Kategorie „Beste Drama-Darstellerin“ ausgezeichnet. Der Film konkurrierte auch um den Preis in der Kategorie „Bester nicht-englischsprachiger Film“ und war bei vielen weiteren internationalen Filmfestspielen erfolgreich mit Auszeichnungen. Mit fünf Millionen Zuschauer*innen hat er an den Kinokassen über 22 Millionen US-Dollar eingespielt.

Vom apolitischen Mittelschichtsleben zum Kampf gegen das Regime Fernanda Torres spielt einfühlsam (Foto: © Alile Onawale / Video Films / DCM)

Ainda estou aqui ging bei der Oscar-Verleihung in drei Kategorien ins Rennen: Bester internationaler Film, Beste Schauspielerin mit Fernanda Torres und Bester Film – es ist das erste Mal, dass ein brasilianischer Film in der Hauptkategorie antrat. Der Film gewann den Preis in der Kategorie Bester internationaler Film. Da die Preisverleihung mitten im Karneval stattfindet, ist der Jubel der brasilianischen Bevölkerung garantiert.

Die Sichtbarkeit von Für immer hier und die internationale Anerkennung von Fernanda Torres haben ein Phänomen des kollektiven Selbst­bewusstseins bei der brasilianischen Bevölkerung ausgelöst. Eine Botschaft, dass das nationale Kino kritisch, schön und gut produziert ist und von anderen Kulturen gesehen werden muss. Darüber hinaus vermittelte diese Sichtbarkeit die Botschaft, dass das nationale Kino für das Volk gemacht wird. Fernanda Torres und Selton Mello verstanden es sehr gut, über die sozialen Medien zu kommunizieren und den Menschen den Film näherzubringen – vielleicht einer der Gründe für seinen Erfolg.

Die Anerkennung eines Films, der eine so tiefe Wunde der brasilianischen Geschichte – die zivil-militärische Diktatur – berührt, zeigt zudem die Bedeutung der Kunst als Mittel zur Wiederherstellung der Erinnerung und zur Beeinflussung des kritischen Denkens und der politischen Anklage.

In einer Zeit des Aufschwungs der extremen Rechten und der Putschbewegungen, die eine Rückkehr zur Militärdiktatur fordern, sind Filme wie dieser unerlässlich, um die Geschichte fassbar zu machen und die Vergangenheit zu beleuchten, damit sie sich nicht wiederholt. Ainda estou aqui ist ein Beispiel dafür, wie die soziale Rolle der kritischen Kunst gestärkt werden kann und Kino zeigen kann, dass all die von der Diktatur Getöteten und Verschwundenen in Erinnerung bleiben und für immer hier sind.


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Dekonstruktion des Vergessens

© Miti Films / Community of Puerto Millán-La Chorrera

Der Putomayo-Völkermord gehört zu den grausamsten Verbrechen der europäischen Kolonialherrschaft in Lateinamerika. Während des Kautschukbooms im Amazonasgebiet wurden am peruanischen Río Putomayo zwischen 1879 und 1912 bis zu 250.000 Menschen mit unvorstellbarer Grausamkeit versklavt, missbraucht, verstümmelt und getötet. Wie nähert man sich diesen Verbrechen, ohne dabei koloniale Bilder und Narrative zu reproduzieren? Dieser Aufgabe hat sich ein Filmteam um die peruanische Künstlerin und Regisseurin Tatiana Fuentes Sadowski gewidmet, das auf der Berlinale in der Sektion Forum seine Weltpremiere feierte.

Fuentes Sadowski konstruiert La memoria de las mariposas ausgehend von der Fotografie zweier junger Männer aus der Gemeinschaft der Uitoto. Omarino und Aredomi, so ihre Namen, die im Film immer wieder wiederholt werden, reisten 1911 mit einem britischen Konsul nach London und sollten dort Zeugnis über die in ihrer Heimatregion begangenen Grausamkeiten ablegen. Für die Dokumentation wurden zeitgenössische Archivaufnahmen verwendet, die natürlich aus kolonialem Blickwinkel aufgenommen sind. Sadowski hat sich viele Gedanken gemacht, wie das Material so benutzt und komponiert werden kann, dass es die gezeigten Personen nicht aus einer Opferperspektive zeigt und gleichzeitig ihre Würde wahrt – schließlich wurden die meisten Aufnahmen sehr wahrscheinlich ohne Zustimmung der Gezeigten gemacht. Auch die Frage, woher sie die Berechtigung nimmt, als Nicht-Indigene Person die Geschichte von Omarino und Aredomi zu erzählen, beantwortet die Regisseurin im Film: Die Vorfahren des Vaters ihres Kindes entstammten einer Familie von Kautschukhändler*innen. Durch diese persönliche Betroffenheit entstand bei ihr der Wunsch, etwas zur Aufarbeitung der Geschichte und der Dekolonialisierung der Perspektive beizutragen, denn in Iquitos, der größten Stadt des peruanischen Amazonasgebiets, gibt es bis heute keine Gedenkstätte für die Opfer des Genozids an den Kautschukarbeiter*innen.

Im Film geschieht die Aufarbeitung durch die Verwendung historischer Quellen wie die Briefe des irischen Anwalts Roger Casement, der Omarino und Aredomi nach England begleitete. Bei diesen scheint durch, dass er sie trotz seiner guten Intentionen nach wie vor als „Barbaren“ und auch als „interessantes Experiment“ für sich selbst bezeichnet. Der ansonsten in Schwarz-Weiß gehaltene Film färbt manche Szenen blutrot ein, kontextualisiert einige Aufnahmen und lässt bei anderen bewusst Leerstellen. Letzteres ist auch eine Folge von Besuchen des Drehteams bei indigenen Gemeinschaften, die heute in der Region leben – so soll laut Sadowski „Raum für spirituelle Kräfte“ wie die Geister der Verstorbenen aus der Vergangenheit geschaffen werden.

La memoria de las mariposas ist keine leicht verdauliche Kost, was der Film angesichts des schwierigen Themas und der komplexen Herangehensweise aber auch gar nicht sein kann. Aufgrund seiner nicht-linearen Erzählung, lässt sich auch nicht alles sofort ohne den Kontext verstehen. Der Versuch der antikolonialen und feministischen filmischen Aufarbeitung der Vergangenheit ist Tatiana Fuentes Sadowski aber hervorragend geglückt. Bei der Berlinale wurde durch den Film einem großen Publikum auf respektvolle und innovative Weise ein nicht überall präsentes Thema näher gebracht, das nicht vergessen werden darf. Der Film erhielt deshalb auch zu Recht eine lobende Erwähnung bei der Preisverleihung für den besten Dokumentarfilm des Festivals.


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Wo ist der Mate?

© Likeliness Increases, LLC

2024 ging eine Tiktok-Abstimmung mit dem Titel „Man vs. Bear“ viral. Darin wurden Frauen gefragt, wem sie lieber allein im Wald begegnen würden: Einem Mann oder einem Bären? Der Bär gewann mit überwältigendem Vorsprung. Als Gründe wurden genannt, Bären seien vorhersehbarer, würden Frauen als Menschen behandeln und zudem sei das Schlimmste, was sie begehen könnten, ein Mord. Was den Schluss zulässt: Männer, die allein durch den Wald streifen, sollte man tunlichst meiden.

Hätte Isabel (Mia Maestro), die Protagonistin des mehr als seltsamen Berlinale Special-Beitrags After this Death diesen Ratschlag nur beherzigt, sie hätte sich und vor allem dem Publikum ihres Films Einiges erspart. Unglücklicherweise sucht sie aber nicht sofort das Weite, als ihr beim Waldspaziergang der nervige mansplainer Elliott (Lee Pace) in einer Höhle auflauert, wo sie unschuldig an ihrem Matebecher nippt (an irgendetwas muss man schließlich erkennen, dass sie Argentinierin ist!). Zunächst geht sie auf seine alles andere als subtilen Avancen noch nicht ein. Doch abends nimmt Isabels Freundin Alice (wie immer ein Lichtblick: Gwendolin Christie) sie mit ins Wunderland eines Indierock-Clubs. Und Sachen gibt’s, am Mikro der offenbar sagenhaft angesagten Band steht tatsächlich Elliott! Auf der Bühne verdreht dieser zur Freude seines sektenartigen Publikums zu kryptischen Lyrics und dünnen Elektrobeats meist seltsam die Finger, warum auch immer. Obwohl es ihm an Groupies nicht mangelt, sucht er sich dann die verheiratete und hochschwangere Isabel als Objekt der Begierde aus. Die ist auch schon bald bereit zur Paarung – wer kann schon einem echten Rockstar widerstehen? An der folgenden Affäre ist dann Isabels plötzlicher Fetisch für seine verschwitzten Füße bei Weitem nicht das Einzige, was Fragen aufwirft. Warum wohnt Elliott, der große Star, allein mit seinem Bruder in einem Bretterverschlag mitten im Nirgendwo? Wieso nennt er einen gigantischen Katzenbaum sein Eigen, obwohl weit und breit keine Katze zu sehen ist? Und warum trinkt Isabel plötzlich keinen Mate mehr?

Die Antworten kennt wohl allein der argentinische Regisseur Lucio Castro (End of the Century). Oder auch nicht, wie er bei der Fragerunde nach der Premiere des Films auf der Berlinale überdeutlich durchscheinen ließ. Er schreibe Drehbücher nach der „Eichhörnchen-Methode“, mal vor, mal zurück, mal zur Seite – deshalb sei es auch gar nicht so wichtig, welche Szene des Films an welcher Stelle komme. Aha. After this Death macht gegen Ende noch eine Reihe weiterer absurder Geheimnisse auf, die aber allesamt nicht aufgelöst werden und deswegen auch nicht groß etwas zur Sache tun. Wer in dem Film wann stirbt oder auch nicht, soll sich sein Publikum offensichtlich selbst zusammenreimen – beliebiger kann man ein Drehbuch nicht schreiben. Für diejenigen, die sich Stress und Eintrittsgeld sparen möchten, hier deshalb eine plausible (wenn auch nicht ganz ernst gemeinte) Erklärung: Isabel hat die Höhle nie verlassen, denn in ihrer Kalebasse befand sich kein Mate sondern Ayahuasca oder ein ähnlich halluzinogenes Getränk. So wäre der Rest des chaotisch-mysteriösen Plots nichts weiter als ein schiefgegangener Drogentrip. Fazit: Von diesem Film sollte man sich besser so weit fern halten wie von einsamen Männern im Wald.


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Das Leben ist nicht immer schön

Rihanna und Benin, zwei Kinder sitzen auf einem Wagen, sie haben den Mund offen, als ob sie singen oder schreien würden. Das kleine Mädchen hält einen Ball in der Hand. Der kleine Junge hat eine Mütze auf. Vor dem Wagen befindet sich eine Lautsprecherbox.
© Aline Arruda

Von oben gesehen sieht oft alles viel schöner aus. So auch der Müllwagen von Gal, den sie zu Fuß über das Labyrinth der Stadtautobahnen von São Paulo zieht. Doch als die Kamera in Anna Muylaerts Film A melhor mãe do mundo (Die beste Mutter der Welt) von der furiosen Drohnenaufnahme auf das Straßenlevel wechselt, wird klar: Müllsammler*in zu sein, ist eine schweißtreibende, staubige Knochenarbeit. Die zweifache Mutter Gal (stark: Shirley Cruz) steuert ihr Gefährt dennoch mit scheinbar unerschütterlicher Energie und Fröhlichkeit durch die Peripherie. Ohne Jammern und Klagen werden vor allem recycelbare Plastikflaschen auf den Wagen geladen und später sortiert und gewogen. Die Bezahlung reicht zum Leben, aber nicht für eine Mietwohnung für drei. Und hier beginnt Gals Problem: Denn wer dafür zahlt, ist ihr Partner Leandro (Seu Jorge), ein gewalttätiger Alkoholiker, der sie regelmäßig schlägt. Als auch die Sozialberatung, bei der Gal ihn anzeigt, keine schnelle Hilfe bietet, packt sie kurzerhand ihre beiden Kinder auf den Wagen. Los geht es auf eine mehrtägige Fahrt zum Haus ihrer Cousine, die am anderen Ende der Megalopolis lebt.

Regisseurin Anna Muylaert hat ein großes Herz für die Außenseiter*innen der Gesellschaft.  Que horas ela volta (Der Sommer mit Mamá) gewann 2015 mit einer Geschichte über eine Hausangestellte den Panorama Publikumspreis auf der Berlinale. Nun ist sie mit A melhor mãe do mundo zurück auf dem Festival. Im Zentrum ihres Films steht wieder eine Frau in einem Job, der trotz seiner Relevanz für die Gesellschaft nicht ausreichend gewürdigt wird. Muylaert zeigt vor allem zu Beginn Gals Alltag, die verschiedenen Schritte des Müllsammelns, Sortierens und Recyclings, was zu Verständnis und Respekt für ihre Tätigkeit beiträgt. Daneben kommt in kleinen Szenen und Dialogen immer wieder Solidarität in der Working Class zum Vorschein: Unter anderem leihen die Müllarbeiter*innen sich gegenseitig Kleidung oder es wird ein Essen für die Kinder spendiert. So entsteht ein warmherziges Porträt der Menschen, die im wahrsten Sinne des Wortes täglich die Drecksarbeit für die Zwölfmillionenstadt  São Paulo erledigen.

Für Gals Flucht vor den Schlägen ihres Ehemanns hat sich Muylaert dann am Drehbuch von Roberto Benignis Oscar-prämiertem Film „Das Leben ist schön“ von 1997 orientiert. Denn die beste Mutter der Welt verkauft ihren Kindern die Obdachlosigkeit während ihrer Fahrt durch São Paulo als großes Abenteuer: Schlafen im Park labelt sie als Camping, in der Fußgängerzone wird getanzt und ein Brunnen kurzerhand zum Schwimmbecken. Während der junge Benin mit herzerwärmender Begeisterung bei allen Aktivitäten voll dabei ist, beginnt die ältere Tochter Rihanna irgendwann, Fragen zu stellen. Denn auf dem Weg lauern Gefahren und selbst manche vertrauten Personen sind plötzlich nicht so liebenswürdig, wie sie vorher schienen.

Der Plot von A melhor mãe do mundo verliert durch die Benigni-Vorlage natürlich ein wenig an Originalität und auch das Ende ist schon weit vor der Hälfte der Laufzeit absehbar. Dafür ist der Film aber nicht nur unterhaltsam, sondern erfüllt auch als Empowerment für Frauen aus der Arbeiter*innenklasse, die gegenüber häuslicher und struktureller Gewalt besonders vulnerabel sind,  eine wichtige Funktion. Schicksale wie das von Gal sind in Brasilien und anderswo leider immer noch viel zu normal und haben es deshalb verdient, auf der großen Bühne Aufmerksamkeit zu erhalten.


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Toxische Träume

© Teorema

Man hat das Bild zu viele Male gesehen, um dabei nicht sofort ein übles Gefühl in der Magengrube zu spüren: Ein verlassener, verschlossener Lastwagen mitten in der Wüste ist die erste Einstellung in Michel Francos beeindruckendem mexikanischen Berlinale-Wettbewerbsbeitrag Dreams. Und die Ahnung bestätigt sich: Der Truck ist voll mit lateinamerikanischen Migrant*innen, die die Grenze zu den USA auf der Suche nach einem besseren Leben überquert haben und denen nun langsam Luft und Wasser ausgehen. Erst kurz vor der Katastrophe öffnet sich doch noch die Tür zur Ladefläche. Doch die Retter sind keine Wohltäter, sondern Verbrecher: Das restliche Geld und die wenigen Dinge, die sie noch haben, werden denen, die knapp dem Tod entronnen sind, sofort von einer kriminellen Schieberbande entrissen. Wer noch kann, macht sich danach so schnell wie möglich davon auf den Weg ins Ungewisse.

Diese Auftaktsequenz dauert in Dreams nur wenige Minuten, zeigt aber gerade wegen ihrer Kürze die lebensgefährliche Realität der Migrant*innen in schockierender Klarheit. Es gelingt auch, weil der mexikanische Regisseur Michel Franco (u.a. New Order, Chronic, After Lucia) ein Meister seines Fachs ist und bei der Konstruktion seiner oft in Totalen gefilmten Bilder und Schnitte kein Detail dem Zufall überlässt. Im weiteren Verlauf folgt der Film dem jungen Balletttänzer Fernando (Isaac Hernández, auch in der Realität einer der besten Balletttänzer der Welt). Der erreicht zwar völlig ausgelaugt und mit nicht mehr als der Kleidung, die er am Leib trägt, sein Ziel San Francisco. Schon bald wird aber klar: Fernandos Motive, in die USA zu migrieren, waren nicht Armut und Chancenlosigkeit, sondern Ambition und Liebe. Auch in Mexiko hatte er ein gutes Leben in der Oberschicht – eine Ballettausbildung muss sich eine Familie erst einmal leisten können. Weil er aber exzellent in dem ist, was er tut, will er das auch auf dem höchstmöglichen Niveau weiterverfolgen. Dabei soll ihm seine Mäzenin Jennifer (Jessica Chastain) helfen, die in San Francisco eine Stiftung ihrer reichen Familie leitet und mit ihrem Geld eine Ballettschule in Mexiko-Stadt aufgebaut hat. Die Beziehung zwischen den beiden, auch das ist schnell kein Geheimnis mehr, geht weit über das Professionelle hinaus. Doch während Fernando sich bei Jennifer angekommen am Ziel seiner privaten Träume wähnt, will sie die Beziehung geheim halten. Die Dynamik von Macht und Privilegien, die die Lebensverhältnisse aller illegalen Migrant*innen durchdringt, beginnt sich unaufhaltsam zu entfalten.

Dreams ist ein hochrelevanter Beitrag zur Migrationsdebatte, vor allem weil Fernando nicht als hilfloses Objekt gezeigt wird. Für eine Rolle als Spielzeug im Goldenen Käfig ist er sich zu schade. Er weiß um seine exzellente Qualifikation und behält trotz seiner Rechtlosigkeit immer seine Würde und die Zügel seines eigenen Schicksals in der Hand. Jennifer verkörpert dagegen als seine Partnerin und Gegenspielern in einer Person, je länger der Film dauert, in immer unheimlicherer Weise das Phänomen des white privilege Bei ihr ist vieles gut gemeint, selbst ihre romantischen Gefühle für Fernando nimmt man ihr ab. Und doch ist sie blind für die Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse, die sie seit ihrer Geburt ausnutzt, ohne sich dessen bewusst zu sein. Bei ihren Reisen per Privatjet nach Mexiko kann sie in ihrem eigenen Haus ein- und ausgehen wann und wie sie will. Die luxuriösen Auszeiten vom Familienclan in ihrer Heimat sprechen im Kontrast zur Lastwagenszene zu Beginn Bände. Spanisch zu lernen hat sie ebenfalls nicht nötig: In den Kreisen, in denen sie in Mexiko verkehrt, ist perfektes Englisch Standard.

Interessant wird es immer dann, wenn Fernando in irgendeiner Form zur Bedrohung für den Status quo der weißen Mehrheitsgesellschaft wird und deren tolerante Fassade innerhalb von Sekunden in sich zusammenfällt. Sei es durch den offenen Rassismus eines Kollegen in der Ballettgruppe in San Francisco oder die Ressentiments von Jennifers Familie gegen den jüngeren Partner aus Mexiko (hier spielt fast beiläufig auch noch sexistische Diskriminierung mit hinein – bei umgekehrten Geschlechterrollen wäre eine soziale Akzeptanz wahrscheinlicher). Diese toxische Mischung wartet nur darauf, zu explodieren, zumal Michel Franco bekannt dafür ist, mit provokanten oder gar tabubrechenden Plot-Twists sein Publikum zu verstören. Ohne zu viel zu verraten, wird er diesem Ruf auch in Dreams gerecht. Vor allem eine Szene gegen Ende des Films muss dabei als problematisch und gleichzeitig unnötig bezeichnet werden, da sie weder für die Botschaft noch für die Dramaturgie entscheidende Impulse liefert. Davon abgesehen ist Dreams aber eine ästhetisch und inhaltlich exzellente Parabel auf Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse in den Beziehungen USA/Mexiko geworden, die auch auf der Meta-Ebene funktioniert. Bei der Preisvergabe auf der Berlinale dürfte er deshalb und wegen des hochaktuellen Themas eine wichtige Rolle spielen.

Triggerwarnung: Darstellung von Gewalt


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Widerstandsfähige Kindheit unter dem Schutz des Teufels

© Odei Zabaleta

Bei der 75. Ausgabe der Berlinale feiert die mexikanische Filmproduktion El Diablo Fuma (y guarda las cabezas de los cerillos quemados en la misma caja) ihre Weltpremiere. Das Debüt des Regisseurs Ernesto Martínez Bucio ist der einzige lateinamerikanische Beitrag in der Sektion Perspectives, die interessante Erstlingsfilme vorstellt. 

Das Drehbuch, das der Regisseur gemeinsam mit Karen Plata verfasst hat, porträtiert das Leben von fünf mexikanischen Geschwistern, Kindern, die mit der Abwesenheit ihrer Eltern konfrontiert sind: Zuerst durch die plötzliche Flucht der Mutter und später auch durch die des Vaters, der sich auf die Suche nach ihr begibt. Die Kinder bleiben allein zu Hause zurück und übernehmen alle Verantwortlichkeiten, einschließlich der Pflege ihrer Großmutter, die an Schizophrenie leidet. 

El Diablo fuma ist ein hartes, aber gleichzeitig bewegendes Porträt, mit einer fragmentierten Erzählweise, die den Alltag in kleine Episoden unterteilt. Der Film taucht in die Welt der kindlichen Vorstellungskraft ein, was im Zusammenspiel mit der Schizophrenie der Großmutter Spannung erzeugt. Vor allem angesichts der Idee eines ungewöhnlichen Besuchers in diesem Zuhause: dem Teufel. 

Mit einem Stil, der dem des beobachtenden Dokumentarfilms nahekommt, richtet Martínez seinen Blick auf die Intimität des Zusammenlebens. Der Film spielt fast vollständig innerhalb des Hauses, vermittelt jedoch kein Gefühl von Klaustrophobie. Die Geschichte ist in den neunziger Jahren in Mexiko City angesiedelt und scheint von nostalgischen Elementen geprägt zu sein. Die Auswahl historischer Ereignisse ist sehr symbolträchtig. So wie der Besuch von Papst Johannes Paul II., einer umstrittenen Figur in der Geschichte Lateinamerikas aufgrund seiner politischen Einmischung, im Kontrast zu der Begeisterung, die er unter seinen Gläubigen auslöste. Insbesondere in Kulturen wie der mexikanischen, wo die katholische Religion eine starke Präsenz hat.  Auch die Kampagne gegen die Cholera-Epidemie, die in mehreren Szenen durch den eingeschalteten Fernseher zu hören ist, während die Kinder vertieft in ihrer Welt spielen, trägt zur Konstruktion dieser analogen Zeit bei, in der der Klang des Fernsehers ein charakteristisches Element vieler Haushalte war. 

Die visuelle Gestaltung unter der Leitung von Odei Zabaleta kombiniert Elemente wie Archivbilder und Handycam-Aufnahmen. In manchen Momenten scheint sie den Fotografien von Alex Webb und Rebecca Norris Webb Tribut zu zollen, die unter anderem in Mexiko das alltägliche Leben auf poetische Weise durch Schichten von Handlung und inneren Bewegungen innerhalb eines einzigen Bildes einfangen und ein breites Spektrum von Kindheitsdarstellungen aufweisen. Eindrücklich wird das Thema der Vernachlässigung in der Kindheit, dysfunktionaler Familien und Elternschaft in El Diablo Fuma dargestellt.  Mutterschaft und soziale Gewalt ziehen sich als übergreifende Motive durch das Werk von Ernesto Martínez Bucio. Mehrere Kurzfilme des Regisseurs wie Las razones del mundo (2018) und La madre (2012, beide auf Youtube verfügbar) befassen sich mit diesen Themen.

In seiner Gesamtheit ist El Diablo Fuma (y guarda las cabezas de los cerillos quemados en la misma caja) ein Film mit  konstruierten Details und Atmosphären geworden. Das übernatürliche Element, das in der Werbung für den Film beschrieben wird, bleibt fast unbemerkt, ist aber auch nicht unbedingt notwendig.


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Das Sichtbare und Unsichtbare des Todes

Fotoquelle: A natureza das coisas invisíveis

Glória (Laura Brandão) ist es leid. Die meisten ihrer Ferien muss sie im Krankenhaus verbringen, während Antônia (Larissa Mauro), ihre Mutter, lange Schichten als Krankenschwester hat. Sie kennt das Krankenhaus bereits in- und auswendig und ist an die Gesellschaft älterer Menschen gewöhnt, die sich im Zustand der Vorbereitung auf den Tod befinden – ältere Menschen, die ihre Freunde werden, Pseudogroßeltern, die ihr Geschichten erzählen.

In Rafaela Carmelos Film A Natureza das Coisas Invisíveis (Das Wesen der unsichtbaren Dinge) hat die zehnjährige Glória deshalb in ihrer Freizeit wenig Kontakt zu anderen Kindern. Bis sie Sofia  kennenlernt, die mit ihrer Urgroßmutter Francisca im Krankenhaus gelandet ist. Aufgrund von Alzheimer hatte ihre Bisa (kurz für Bisavô, Urgroßmutter) medizinische Komplikationen und musste ins Krankenhaus eingeliefert werden. Glória hilft Sofia, ihre blutverschmierten Kleider zu wechseln und die beiden Mädchen beginnen, ihre Umgebung zu erkunden und über den Tod, die Toten, den Glauben – oder Aberglauben – und das Leben nach dem Tod zu sprechen.

Nach ein paar Tagen, in denen Francisca relativ stabil ist, gelingt es Sofia, ihre Mutter Simone zu überreden, die Bisa zurück zu ihrem sítio (kleiner Bauernhof) zu bringen, dem Ort, an dem sie wirklich glücklich war. Glória und ihre Mutter kommen mit. In einem Dorf, das stellvertretend für jede Kleinstadt auf dem brasilianischen Land stehen könnte, stärken die Mädchen ihre Freundschaft und auch die Beziehung zu ihren Müttern. Und auf einfühlsame Weise tauschen sie sich über ihre unterschiedlichen Bedeutungen des Todes aus. Nicht nur den buchstäblichen Tod, sondern auch einen symbolischen: einen Neuanfang.

A natureza das coisas invisíveis zeigt alltägliche Porträts Brasiliens, die sich aber auch auf andere soziokulturelle und geografische Kontexte übertragen lassen, so wie Glórias Schule zu Beginn, das Krankenhaus und das Leben auf dem sítio. Davon ausgehend gelingt es dem Film, einen Dialog mit einem universellen Publikum zu führen. Nicht nur, weil er vom Tod handelt, sondern auch, weil er die Entwicklung der Familienbeziehungen und der Freundschaft zwischen zwei Mädchen aufzeichnet.

Selbst in spezifischeren und weniger universellen Szenen, wie denjenigen, in denen Gebete und traditionelle religiöse Zeremonien dargestellt werden, könnte es der Film sschaffen, ein eher distanziertes und sogar atheistisches Publikum emotional für sich zu gewinnen.

Das vielleicht Berührendste an Rafaela Carmonas Werk ist gerade die Einfachheit der beiden Kinder, wenn es um ein so komplexes Thema wie den Tod geht. Und trotz der metaphysischen Ansätze, die der Film vorschlägt – wie die Kommunikation mit denjenigen, die nicht mehr von dieser Welt sind  – ist das, was ihn dem Publikum wirklich näher bringt, das alltägliche Leben: die Routine einer Krankenschwester und Mutter, ein Kind im Urlaub, das Leben auf dem sítio.

Einige stilistische Elemente können als Rahmen für den tangentialen Charakter des Todes gedeutet werden. So wie Übergänge, die sich auf Baumblätter mit dem Himmel im Hintergrund konzentrieren, oder der unscharfe Blick aus einem Fenster, bei dem nicht das Bild in der Szene, sondern die Gespräche im Hintergrund wirklich wichtig sind. Szenen, die eine Loslösung von der irdischen Realität suggerieren.

Der 90-minütige Film erforscht das Tabu des Todes durch das Gesagte und das Ungesagte, das Sichtbare und das Unsichtbare sowie das Spirituelle. Der Tod wird sowohl durch eine alte mystisch-religiöse Weisheit als auch durch die Augen eines zehnjährigen Kindes betrachtet. Ein reiner Blick, aber nicht völlig naiv. Diese beiden Perspektiven laden uns ein, den Tod neu zu definieren. „Er ist nicht das Schlimme, von dem sie sprechen“, sagt die Urgroßmutter einmal. „Er ist nicht das Beste. Aber er ist ein Teil des Lebens.“ Es liegt in unserer Natur, einfach zu sterben. Und zu wissen, wie man mit dem Tod lebt.

A natureza das coisas invisíveis ist bewegend, da er ein schweres Thema aus der Sicht von Kindern behandelt, und es durch seine mitfühlende Betrachtung schafft, denjenigen, die sich darauf einlassen, Tränen in die Augen zu treiben. Der Film läuft auf der Berlinale in der Kinderfilmsektion Generation Kplus und dürfte dort gute Chancen auf eine Auszeichnung haben.


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Stranger Things in Quillabamba

© J.D. Fernández Molero

Zu Beginn scheint alles wie eine typische Legende: Ein kleiner Junge mit Namen Iván erzählt in einer Videoaufnahme, im Wald seiner Heimatstadt Quillabamba gäbe es Elfen – magische Wesen mit spitzen Ohren. Was niedlich klingt, erweist sich in der Folge als alles andere als harmlos. Denn das nächste Mal sehen wir den mittlerweile 14-jährigen Iván mit einer klaffenden Wunde an der Stelle seines einst gesunden rechten Auges und erfahren, dass er zwei Jahre im Dschungel verschollen und für tot erklärt worden war. Nach einer so drastischen wie blutigen Operationsszene (nichts für schwache Gemüter) steht fest: Nicht nur Iváns Auge ist verloren, sondern er selbst ist auch psychisch sichtbar verstört. Er hat Alpträume, isst nur wenig und spricht nicht mehr mit den Menschen in seiner Umgebung. Dazu gehört neben seinem Onkel, bei dem er aufwächst, auch die 19-jährige Indigene, junge Frau Mechía, die ihn aus dem Wald zurück nach Quillabamba gebracht hat. Mechía, die mit großen Träumen in die Stadt gekommen ist (unter anderem möchte sie Model für Kim Kardashians Modemarken werden) wird schon bald ebenfalls von teils realen, teils übersinnlichen Schrecken verfolgt.

Punku (Quechua für „Portal“) ist der neueste Film des peruanischen Regisseurs Juan Daniel Fernández Molero. Sein letzter Film, der preisgekrönte Videofilia (and other viral syndroms) nahm die Parallelrealität der jugendlichen Internet-Communities in der Hauptstadt Lima unter die Lupe. Punku behandelt hingegen die mythischen Dimensionen und Fabelwesen in einer Provinz des peruanischen Amazonasgebiets. Doch auch hier spielt die Jugendkultur und das Aufwachsen in einer konservativen und machistischen Umgebung eine große Rolle. Das bekommt vor allem Mechía zu spüren, die im Zuge ihrer Teilnahme an einem Schönheitswettbewerb mit sexistischen Sprüchen und Annäherungen bombardiert wird. Dazu transportiert offenkundig ein geheimes Portal – ähnlich wie in der US-Erfolgsserie Stranger Things – allerhand unheilvolle Wesen aus anderen Dimensionen ins beschauliche Quillabamba.

Regisseur Fernández Molero spart auch ansonsten nicht mit unverhüllten Zitaten verschiedenster Horrorfilme. Die Super-8- und 16mm-Kameraaufnahmen, die er experimentell mit digitalem Material mixt, sind eine Parallele zum Genre-Klassiker Blair Witch Project. Eine Kamerafahrt über Serpentinen erinnert an Stanley Kubricks The Shining, ein mysteriöser Maskenmann an die Scream – Filme. Manche Szenen und Handlungsebenen bleiben dabei im Stile eines David Lynch mysteriös. Das macht Punku neben der fragmentierten und nicht immer linearen Erzählweise vermutlich für einige Kinogänger*innen zu einer Herausforderung. Zudem schafft es der Film auch nicht über die vollen zwei Stunden, einen roten Faden beizubehalten. Dennoch ist Punku durch sein ungewöhnliches, frisches Narrativ und seine originelle Bildsprache ein sehenswerter Berlinale-Beitrag geworden, an dem speziell Freund*innen experimenteller Formate und Horrorfilme auf jeden Fall ihre Freude haben dürften.

Triggerwarnung: Explizite Darstellung von Verletzungen und Operationen am Auge


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Das Öffentliche ist politisch

© Avante Films, Vulcana Cinema

Matias ist sauer. Zusammen mit seinem Mitbewohner Fabio spielt er die Hauptrolle in einem Stück seines Theaterensembles im brasilianischen Porto Alegre. Nun kommt die Produktion einer großen TV-Serie in die Stadt und bietet ausgerechnet Fabio die Chance an, ihn groß herauszubringen: Er soll den Frauenschwarm der Serie spielen. Für den schwulen Matias (Gabriel Faryas) zwar kein zusätzlicher Anreiz. Trotzdem hält er sich für den besseren Schauspieler und wendet sich in der Folge gekränkt seiner Dating-App zu. Dort matcht er den geheimnisvollen Politiker und Bauunternehmer Rafael (Cirillo Luna), der ursprünglich nur auf einen One-Night-Stand aus ist. Doch schon bald wird mehr daraus und als sie beide in der Öffentlichkeit bekannter werden, müssen sie entscheiden, wie und wann sie ihre Beziehung mit ihren Karrieren in Einklang bringen können.

Ato noturno (Night Stage), der neueste Film des queeren Regisseur-Duos Marcio Reolon und Filipe Matzembacher (u.a. Tinta Bruta), bringt satte Farben und eine Handlung im schönsten Telenovela-Stil in die eher spröde Metropole des brasilianischen Südens (wer schon einmal in Porto Alegre war, weiß, dass die Suche nach pittoresken Film-Locations dort nicht einfach ist). Im Zentrum steht dabei die Frage, wie sehr offene Homosexualität für Figuren öffentlichen Interesses – seien es Politiker*innen oder Schauspieler*innen in bestimmten Rollen – auch heute noch mit Tabus belegt ist. Für Rafael und Matias, die eine sehr sexuelle Beziehung führen und die sie zudem gerne an öffentlichen Orten ausleben, wird diese Frage zur Zerreißprobe. Dabei geht es nicht nur darum, im Zeitalter von Social Media durch kompromittierende Fotos und Videos bloßgestellt zu werden, sondern auch um den Verlust von beruflichen und persönlichen Bindungen, die ein Publikmachen ihres Verhältnisses mit sich bringen würde.

Die an und für sich sehr reizvolle Geschichte leidet darunter, dass Reolon und Matzembacher sie etwas arg oberflächlich im Telenovela-Stil inszeniert haben. Den (trotz guter schauspielerischer Leistungen) klischeehaft daherkommenden Figuren hätte angesichts der differenzierten Thematik mehr Nuancierung gut getan. Vor allem der unvermeidliche Bösewicht wirkt, als hätte man die Beta-Version eines KI-Programms mit seiner Charakterisierung beauftragt. Zudem istAto Noturno etwas zu lang geraten – eine Novela-Folge trägt nun mal nicht über zwei Stunden. Und auch das überzogene Ende hilft dem Film nicht wirklich.Wenn man Ato Noturno vor allem als Statement für die Öffentlichkeit queerer Beziehungen sehen möchte und kein Problem mit unterkomplexen Plots und Figurenzeichungen hat, kann man trotzdem durchaus Spaß daran haben. Für Kinogänger*innen mit höheren Ansprüchen an dramaturgische Ambivalenz ist der Film dagegen nur eingeschränkt zu empfehlen.


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Im Hipster-Horrorland

© MUBI

1998 veröffentlichte die ecuadorianische Band Los Conquistadores ein Video zu ihrem Song „Mi conejito“ (Mein Häschen). Zu einer Cumbia mit schlüpfrigem Text (Ein Hase „ohne Unterhose“ hüpft dort des Nachts durch allerhand Betten) tanzt die Gruppe darin in lächerlichen Hasenkostümen vor einem Bergpanorama. Das Video ging viral und ist bis heute ein steter Quell der Heiterkeit vor allem im lateinamerikanischen Teil des Internets.

So weit, so gut. Wäre da nicht die argentinische Künstlerin und Regisseurin Amalia Ulman. Die scheint bis heute von „Mi conejito“ dermaßen fasziniert zu sein, dass sie diese kulturelle Meisterleistung aus den Anden zum Anlass für ihren neuesten Kinofilm Magic Farm nahm. Klingt nach einer Idee, die nur schiefgehen kann? Bingo. Magic Farm ist einer dieser Filme, bei denen man schon nach 10 Minuten weiß: In der Zeit, die nun folgt, könnte ich wahrscheinlich auch meine Steuererklärung machen oder das Bad putzen und der Erkenntnisgewinn wäre größer.  

Der Plot klingt bereits ziemlich verdächtig. Ein Hipster-Team, das Content für einen TV-Trash-Kanal produziert, soll in Lateinamerika nach einem Sänger mit Hasenmaske (na, klingelt’s?) suchen und ihn seinem Publikum als Absurdität der Woche zum Fraß vorwerfen. Stattdessen landet man aber aufgrund einer Fehlbuchung in einem völlig anderen Land (Argentinien), weil dort ein Ort den gleichen Namen hat. Dass die gringos dort über eine Ansammlung billigster und altbackenster Lateinamerika-Klischees stolpern, geschenkt. Noch schlimmer ist, dass die Geschichte nach den ersten 20 Minuten im Prinzip auch schon endet, denn im Film passiert fortan nichts mehr von Belang. Lieblose Love-Stories, vorhersehbare Enthüllungen der Filmcrew-Mitglieder und vor allem extrem unlustige Versuche im Feld Humor (sie Gags zu nennen, würde den ernsthaften Versuchen anderer Filmemacher*innen nicht gerecht) geben sich die Klinke in die Hand. Nur ein Beispiel: Vier oder fünf Mal werden spanisch/englische Missverständnisse und Verwechslungen (auf dem Niveau „My Online Friends – OnlyFans“) als Lacher herangezogen. Und als wäre das noch nicht genug, werden diese meist auch noch von einer dritten Person (zum Beispiel die selbst mitspielende Regisseurin Ulman) übersetzt – irgendwie müssen die gähnenden Lücken in der Handlung schließlich gefüllt werden.

Die „subversive“ Message des Films ist ebenfalls sehr schnell klar: Das Dorf hat ein massives Problem mit giftigen Pestiziden. Was die plan- und kulturlosen Hipster-Gringos natürlich nicht kapieren, obwohl es ihnen buchstäblich ins Gesicht springt. Und so wird der „Witz“ die restliche Laufzeit des Films noch ermüdend ausgewalzt, damit ihn auch wirklich alle Zuschauer*innen verstehen. 

Amalia Ulman kann es viel besser, wie sie mit ihrem Debütfilm El Planeta bereits bewiesen hat. Nach Magic Farm bleibt dagegen als einzige Frage, warum eine eigentlich renommierte Schauspielerin wie Chloë Sevigny sich diese Farce angetan hat. Sollte sie für einen Film mit dem gleichen Namen zugesagt haben und dann unverhofft in dieser Nummer gelandet sein, es würde zumindest thematisch ins Bild passen. Ach ja, und wer noch nach einem Wink mit dem Hasenohr gesucht hat: Im Abspann des Films läuft das Lied „Mi conejito“ von Los Conquistadores…


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