SEX EDUCATION AUF ARGENTINISCH

Foto: Germán Biglia (La Tinta)

Ein Meter zwanzig. Aus dieser Perspektive erschließt die argentinisch-französische Miniserie Metro Veinte die Welt ihrer Protagonistin Juana.

Die 17-jährige Rollstuhlfahrerin ist vor Kurzem mit ihrer Mutter und Schwester nach Córdoba gezogen. Die Lehrer*innen der öffentlichen Schule, an die sie kommt, geben sich übertrieben rücksichtsvoll, sind aber vor allem stockkonservativ. Die Schüler*innen sind dafür umso rebellischer.

Schnell freundet sich Julia mit den beiden Queers Efe und Julia an, die für das Recht auf umfassende Sexualbildung (Educación Sexual Integral, ESI) kämpfen. Diese steht Schüler*innen in Argentinien per Gesetz zu, wird aber oft nicht umgesetzt. Die Chatgruppe, in der der Kampf an der Schule organisiert wird, heißt „Sex Education“. Ein deutliches Augenzwinkern in Richtung der erfolgreichen britischen Netflix-Produktion, die im Gegensatz zum bunten und rasant erzählten Metro Veinte jedoch fast bieder wirkt.
Bei der queeren Coming-of-Age-Story geht es aber noch um mehr: um die Suche nach Identität und der Entdeckung von Sexualität einer Protagonistin, der von vielen Seiten die Selbstbestimmtheit abgesprochen wird.

Der Regisseurin María Belén Poncio war wichtig, die Realität anderer Körper auf der Leinwand erfahrbar zu machen und die Schönheit von Diversität darzustellen. Körper, denen die Scham angeboren ist, die nicht passen und deshalb unauffällig bleiben sollen, wie Juana in einer beeindruckenden Auseinandersetzung mit einem Journalisten sagt. Sowohl Hauptdarstellerin Marisol Agostina Irigoyen, die hier in ihrer ersten Schauspielrolle brilliert, als auch die Co-Regisseurin Rosario Perazolo Masjoan nutzen selbst einen Rollstuhl.

Die Darstellung Juanas gelebter und geträumter Sexualität wird nie voyeuristisch, fließt in Zeichnungen über, die ihr Erleben verdeutlichen. Nahtlos wird an die Realität der argentinischen Gesellschaft angeknüpft. So treten die Socorristas en Red auf, medizinisch und psychologisch ausgebildete Frauen und Queers, die da, wo der Staat bis zur Verabschiedung des Gesetzes zur freien und kostenlosen Abtreibung abwesend war, bei Schwangerschaftsabbrüchen unterstützten. Zum Ende der Serie geht es auf einen pañuelazo, die bekannte feministische Protestveranstaltung mit grünen Tüchern.
Dabei wird deutlich, dass Intersektionalität auch in emanzipatorischen Kämpfen nicht immer mitgedacht wird. Eine ohne Juana geplante Aktion ist für sie unzugänglich, auf ihre Kritik daran wird ihr vorgeworfen, immer nur an sich zu denken und sich in der Opferrolle wohlzufühlen. So kämpft Juana stellvertretend für viele andere Schüler*innen um Repräsentation und Selbstbestimmung.

Die Protagonist*innen von Metro Veinte sind witzig, wortgewandt, kämpferisch, selbstbestimmt, queer und einfach absolut cool: Es lohnt sich wirklich, dieser Serie etwas Zeit zu widmen.

ABSURD IST ANSICHTSSACHE


Isabella Pereira, Pedro Ribeiro, Jonata Vieira in Três Tigres Tristes (Foto: © Cris Lyra)

Bewertung: 4/5

Mit der Corona-Pandemie kreativ umzugehen, fällt vielen Filmemacher*innen auch zwei Jahre nach ihrem Beginn nicht leicht. COVID wird im Kino weitgehend ignoriert, selbst Masken sind auf der großen Leinwand kaum zu sehen. Umso interessanter, wenn jemand den Mut hat, den Elefanten im Raum – also das Virus – nicht nur zu thematisieren, sondern sogar für sein Anliegen zu nutzen. Dem brasilianischen Filmemacher Gustavo Vinagre ist das mit seinem queeren Tagtraum Três Tigres Tristes (Drei traurige Tiger) gelungen und er hatte offensichtlich auch noch großen Spaß daran. Belohnt wurde er dafür auf der Berlinale 2022 mit dem Teddy Award für den besten queeren Spielfilm.

Gustavo Vinagre ist erst 35 Jahre alt, kann aber schon auf einen beeindruckenden cineastischen Output verweisen. Die meisten seiner zwölf Filme beschäftigen sich mit queerem Leben und Lifestyle in und um São Paulo. Auch Três Tigres Tristes spielt in der brasilianischen Megastadt. Seine Protagonist*innen sind Pedro, Jonata und Isabella, die einen Tag durch deren Außenbezirke streifen und dabei allerhand Alltägliches und Absurdes erleben. Was genau dabei normal ist und was nicht, bleibt dem Urteil der Zuschauer*innen überlassen – die Drei nehmen die Dinge meist gelassen und mit einer Prise Humor. Anders geht es vermutlich auch gar nicht, denn die Stadt und ganz Brasilien befinden sich mitten in einer Pandemie. Allerdings geht es hier nicht um das, wonach es aussieht. Denn die Virusinfektion im Film ist zwar nicht weniger tödlich als COVID-19, führt aber im Gegensatz dazu zu massivem Gedächtnisverlust. Und so muss sich Jonata jedes Mal neu am Empfang anmelden, wenn er das Gebäude seines (gleichaltrigen) Onkels Pedro betritt. Und Ghosting (Kontaktabbruch ohne Ankündigung) beim Daten bekommt eine ganz neue Dimension, wenn das Gegenüber sich gar nicht mehr erinnern kann, wer man eigentlich ist.

Neben dem eleganten Umgang mit dem Thema Corona spielt Três Tigres Tristes auch geschickt mit den Konzepten Normalität und Außenseitertum. Der Sexarbeiter Pedro, die Drag Queen Jonata und die trans* Frau Isabella leben nicht nur an der Peripherie der Großstadt, sondern auch der Gesellschaft. Doch sie halten zusammen und treffen bei ihrem Spaziergang auf Verbündete: eine Sammlerin, die mit ihren Objekten sprechen kann („Den Namen hat mir dein Rucksack verraten!“), ein haarloses Meerschweinchen, eine YouTuberin, die nach Models für ihr Makeup sucht. Heiße Eisen wie Diskriminierung, HIV (Jonata ist positiv) oder Einsamkeit im Alter packt Três Tigres Tristes dabei angenehm beiläufig an, ohne sie zu sehr zu problematisieren. Vinagre benutzt dafür oft (Galgen-)Humor, der auch mal ins Absurde rutschen kann – wenn es so etwas wie Absurdität überhaupt gibt in einer Welt, in der jede*r ein Päckchen zu tragen hat oder irgendeinen Spleen versteckt oder offen auslebt. Lange Zeit funktioniert der unterhaltsame Stadtspaziergang, der gar nicht so traurigen Drei so wirklich hervorragend. Erst gegen Ende übertreibt es der Film mit etwas zu ausgedehnt-freakigen Performances, die nicht unbedingt nötig gewesen wären. Dennoch ist Três Tigres Tristes ein vergnüglich-melancholischer Trip durch das queere São Paulo geworden, der Gelassenheit in harten Zeiten verströmt.

DAS PATRIARCHAT HACKEN

Erstes analoges Treffen Feministische Kollektive im Austausch über digitale Protestformen (Foto: MediaRe)

Digitale Protestformen sind in Uruguay seit 2015 immer sichtbarer geworden. Damals waren es zuerst #NiUnaMenos aus Argentinien und digitale Aktionen zu lokalen und aktuellen Anlässen, die feministischen Protest ins Netz brachten. Zuletzt haben die Pandemie und der monatelange Lockdown gezeigt, wie wichtig digitale Plattformen geworden sind. Aus diesem Grund haben feministische Kollektive wie die Gruppe Entramada Feminista in Uruguay das erste cyberfeministische Treffen des Landes einberufen. Es fand Anfang November im Departament Durazno statt und wurde mit Geldern der feministischen Stiftung Fondo de Mujeres del Sur und dem Fondo Indela für digitale Rechte gefördert.

Außer den Organisator*innen aus den Kollektiven Datysoc, MediaRed, dem Encuentro de Feministas Diversas (EFD) und Durazno nahmen Dutzende Mitglieder feministischer Gruppen teil. Viele der Teilnehmer*innen kannten sich noch nicht oder standen bisher nur über Videokonferenzen oder Chatgruppen in Kontakt. Der Zusammenhalt, der den digitalen Kontakt bisher geprägt hatte, setzte sich auch an den zwei Tagen des Treffens fort. Bereits am Samstagmorgen kamen die Teilnehmer*innen zusammen, mit Enthusiasmus und der Freude, sich in einem gemeinsamen Raum in die Augen blicken zu können.

Der Cyberfeminismus stützt sich im Wesentlichen auf zwei Aspekte: Einerseits betont er die Notwendigkeit, zu verstehen, wie digitale Plattformen funktionieren, wer das Internet aufbaut und wie Algorithmen definiert werden. Das alles sind Aufgaben, von denen Frauen häufig ausgeschlossen sind. Andererseits geht es dem Cyberfeminismus darum, digitale Räume praktisch zu nutzen, um Kommunikationsstrategien und Aktionen gegen digitale Gewalt gegen Frauen und antifeministische Diskurse im Netz zu entwickeln. So erklärte es María Goñi Mazzitelli, Mitglied von Datysoc, gegenüber la diaria. Es gehe darum, Frauen zu empowern, damit sie die Angst, diese Räume für sich zu besetzen, verlieren.

„Heutzutage ist ein Feminismus ohne virtuellen Aktivismus unvorstellbar“

Goñi Mazzitelli meint, dafür „braucht es nicht notwendigerweise ein elaboriertes Wissen über das Netz“, aber „jede, die Plattformen benutzt, kann mit bestimmten Aktionen dazu beitragen“. Dazu zählen beispielsweise „Aktionen zum Selbstschutz und zum kollektiven Schutz und Reflexionen darüber, wie wir mit anderen kommunizieren und welche Narrative wir erschaffen wollen“. In gewissem Sinne seien alle feministischen Aktivist*innen auch Cyberfeminist*innen. Denn „heutzutage ist ein Feminismus ohne virtuellen Aktivismus unvorstellbar“, so Mazzitelli.

Um diese Themen ging es auch im ersten Workshop des Treffens. Die Teilnehmer*innen tauschten sich über individuelle und kollektive Nutzungsmöglichkeiten der sozialen Netzwerke aus, teilten Erfahrungen digitaler Gewalt und problematisierten den ungleichen Zugang zum Internet für unterschiedliche Geschlechter. Auch das Thema digitale Rechte wurde besprochen.

In diesem Zusammenhang stellten die Organisator*innen von Datysoc eine Sammlung von Prinzipien für den Aufbau eines „feministischen Internets“ vor: ein Internet ohne Gewalt und Diskriminierung, in dem Frauen sich ausdrücken können, ohne sich von anderen Personen „ausgespäht zu fühlen“. Zu ihren Forderungen gehören ein gerechterer Zugang zum Internet, die Stärkung der Meinungs- und sexueller Freiheit in digitalen Räumen, die Möglichkeit Bewegungen und Mitbestimmung aufzubauen und das Recht, über die eigene digitale Identität zu bestimmen – sei es die tatsächliche, eine anonyme oder ein Pseudonym.

Viele der teilnehmenden Kollektive sind zwar in sozialen Netzwerken präsent, verfolgen aber bisher keine konkreten Strategien. Diana von Mujeres en Libertad aus San José etwa erzählt, wann ihr Kollektiv in den sozialen Netzwerken wie reagiert. „Wenn etwas zu viel Lärm macht, sprechen wir Klartext“, versichert sie. Eines sei jedoch klar: Die Gruppe antwortet nicht auf gewalttätige Kommentare, denn „die Menge der Leute, die sich auf diese Weise ausdrücken, ist belastend.“

Für Colectiva Durazno hat der Lockdown in Zeiten der Pandemie die Notwendigkeit eines Wandels sichtbar gemacht, meint Silvana Cunha, eine der Aktivist*innen des Kollektivs. Deshalb habe die Gruppe ihre Aktivitäten in sozialen Medien gestärkt und nach Werkzeugen gesucht, „sicher“ in diesen Räumen unterwegs zu sein. Ihre Netzwerke seien als „konstruktiver und informativer Raum“ gedacht, damit „andere Personen die Veröffentlichungen lesen und interagieren wollen“. Wenn es aber Gewalt gegen Frauen und Queers gäbe, würden sie nicht zögern, diese auch im Digitalen anzuprangern.

Die feministische Aktivistin Camila Díaz erzählt, dass sie sehr aktiv in persönlichen Netzwerken ist und Fotos und Informationen über Feminismen teilt, die andere Personen oder Kollektive erstellen. Díaz meint, es sei wichtig, dass feministische Diskurse im Netz präsent seien, um mehr Menschen zu erreichen. Viele junge Feminist*innen würden die Netzwerke nutzen, um ihre Meinung auszudrücken, Gewalt anzuprangern und an Bewegungen teilzunehmen, auch wenn sie nicht in Kollektiven organisiert seien.

Digitale Gewalt muss ebenso anerkannt werden wie physische Gewalt

Das Kollektiv EFD ist in sozialen Netzwerken entstanden: Zuerst auf Twitter und später auf Telegram. Von Beginn an sei es darum gegangen, mit digitalem Aktivismus Präsenz zu zeigen, erzählen Gabriela Mathieu und Natalia Vera. In diesem Prozess hätten die Frauen sich auch die entsprechenden technischen Mittel angeeignet. „Heute haben wir eine eigene Cloud über Nextcloud und unterstützen andere sichere Vorgehensweisen für den virtuellen Raum“, meint Mathieu. „Was wir anderen Kollektiven vielleicht mitgeben müssen, ist die Nutzung anderer Messengerdienste und sicherer und freier Technologien.“ Der virtuelle Raum sei zwar wichtig und bringe viele Werkzeuge für den Aktivismus mit sich. „In einem feministischen Raum aktiv zu sein, bedeutet jedoch auch, körperlich in diesem Umfeld präsent zu sein.“ Diese Meinung teilen auch andere Aktivist*innen. Diana von Mujeres en Libertad meint etwa: „Virtuelle Präsenz zu zeigen ist wichtig. Aber auf den Straßen sichtbar zu sein ist wichtiger. Denn der Wandel geschieht nicht in den Netzwerken.“

Durch alle Workshops zieht sich das Thema der digitalen sexualisierten Gewalt. „Die geschlechtsspezifische Gewalt in digitalen Umgebungen gegen Frauen und Queers beruht auf patriarchalen Mechanismen“, definiert Mariana Fossatti von Datysoc das Problem. Diese Gewalt drücke sich zum Beispiel in Kommentaren in Privatnachrichten oder öffentlich in sozialen Netzwerken aus, häufig auch in der Verbreitung von Bildern und Videos ohne vorherige Zustimmung des Opfers. „Dazu zählt jede Handlung mit dem Ziel, eine unterdrückerische, unbehagliche und unaushaltbare Atmosphäre für Frauen und Queers zu erschaffen und uns aus diesen Räumen zu vertreiben“, erklärt Fossatti. Diese Gewalt führe zu psychologischem und emotionalem Schaden und ziehe Verpflichtungen in Mitleidenschaft. So könnte digitale Gewalt Auswirkungen auf die Arbeitssituation der Opfer haben und zu wirtschaftlichen Verlusten führen. Ebenso könnte sie zu Formen physischer, auch sexueller Gewalt führen. „Deswegen sagen wir, dass digitale Gewalt real ist“, denn ihr Effekt „beschränkt sich nicht auf den digitalen Rahmen“, meint Fossatti. Sie erklärt, dass es daher nicht ausreiche, Konten zu schließen und Geräte abzuschalten. Digitale Gewalt müsse genauso anerkannt werden wie physische Gewalt, so die Aktivistin von Datysoc.

Frauen befähigen, digitale Räume für sich zu besetzen

In einem der Workshops wurden unterschiedliche Strategien zur Vorbeugung digitaler Aggressionen vorgestellt. Schon das Nutzen sicherer Passwörter und Browser könne verhindern, dass Daten und Inhalte für alle zugänglich sind. Außerdem könnte man auf intimen Bildern das Gesicht unkenntlich machen und anonyme Profile unter Pseudonymen verwenden. In einem sind sich die Feminist*innen einig: Das wichtigste sei es, nahestehende Vertrauenspersonen oder feministische Kollektive zu kontaktieren und ein Verzeichnis gewalttätiger Kommentare und Fotos mithilfe von Screenshots anzulegen.

Der Workshoptag ging mit einem Seminar zu antifeministischen Diskursen im Internet weiter. Dazu gehören etwa frauenfeindliche, rassistische, transfeindliche, homofeindliche Einstellungen oder auch das sogenannte Bodyshaming. Die Teilnehmer*innen diskutierten über Meinungsfreiheit und darüber, welche Äußerungen unter dieses Recht fallen und welche nicht. Ebenso ging es darum, sichere Strategien zu entwickeln, um eine starke Antwort entgegenzusetzen, ohne sich einerseits selbst in Gefahr zu begeben und andererseits der Nachricht noch mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen.

Antifeministische Diskurse können unterschiedliche Effekte zur Folge haben. Da wäre zum einen die individuelle oder kollektive Selbstzensur, etwa „Kommentare aus Angst vor den Antworten viel stärker zu analysieren“ oder sogar „das Löschen eigener Konten“, erklärte Fossatti. Außerdem habe dieses Verhalten einen „kulturellen Zweck“: Antifeministische Diskurse haben zum Ziel, „zu disziplinieren“ und versuchen „zur Norm zurückzukehren“, indem feministische und queere Kollektive aus den virtuellen Räumen verbannt werden.

Vor dem Ende des Treffens verteilten sich die Teilnehmer*innen auf unterschiedliche Gruppen, um aus Bildern eine Collage über ihre Erfahrungen, Gefühle und das Gelernte zu erstellen. Die Aufgabe verstand sich als „Feministisches Hacking antifeministischer Diskurse“. „Die Entramada soll hier nicht enden“, machte Federica Turbán, Mitglied von MediaRed, in der abschließenden Runde klar. So gibt es die Möglichkeit, die Strategien in weiteren Treffen an unterschiedlichen Orten des Landes weiterzuführen. Für das Jahr 2022 ist schon ein weiteres Treffen geplant.: „Raus aus dem Zoom und aus Montevideo!“, rief eine compañera spontan aus. Bis dahin bleibt die Entramada Feminista über die digitalen Medien verbunden

SCHILLERND UND SCHWERMÜTIG

© Agustina Comedi

Der Kurzfilm Playback. Ensayo de una despedida der argentinischen Dokumentarfilmerin Agustina Comedi (El silencio es un cuerpo que cae) entführt die Zuschauer*innen in das Nachtleben der Gruppe Kalas (Grupo Kalas). Als trans Frauen und Dragqueens begehrten sie mit ihren Auftritten gegen die Unsichtbarkeit queeren Lebens im postdiktatorischen Argentinien auf. Doch statt Aufbruch und Ausbruch erleben die in wackeligen Videoaufzeichnungen festgehaltenen Mitglieder den Verlust ihrer „Soldatinnen“ durch HIV.

„La Delpi“, die einzige Überlebende der Gruppe Kalas, kommentiert die alten VHS-Videos. Zeugnis und Bild fallen auseinander, treffen wieder zusammen oder werden von den Antworten ihrer Freund*innen während eines Drag-Contests unterbrochen. In ihren Aussagen bricht sich die Lebensrealität der Trans*-Community schonungslos Bahn. Da wird durch die klassische Frage an die Schönheitskönigin: „Wenn sie Präsidentin sind, welches Dekret würden sie als erstes verabschieden?“ der Graben deutlich, der zwischen situativer Selbstermächtigung und gesellschaftlicher Akzeptanz liegt: „Ein Dekret, dass jede*r Trans* sicher die Straße entlanglaufen kann.“

Dieser Wunsch hat sich in Argentinien auch nicht durch die Verabschiedung des Gesetzes zur Genderidentität (Ley de Identidad de Género) im Jahr 2012 erfüllt. Infolge des Gesetzes verzeichnete das Land zwar einen relativen Rückgang staatlicher Repressionen gegen trans Personen, doch der Kampf gegen die – oftmals tödliche – Gewalt auf den Straßen und im Haus ist weiterhin eine zentrale Forderung von Aktivist*innen.

Vor diesem Hintergrund ist der Film von Comedi zweierlei: eine Hommage an die Akteur*innen der sich nach der Diktatur rekonstituierenden Trans*-Community und ein wertvolles Zeitdokument für heutige Aktivist*innen. Die dokumentarische Tätigkeit als eine Form des Aktivismus zu begreifen, wird in Argentinien seit 2012 von der Gruppe rund um das Archiv der Trans*-Erinnerung (Archivo de la memoria trans) vorgelebt. Auch deren Mitglieder haben die Diktatur überlebt, viele im Exil. Das Sammeln der Dokumente, das Wiederentdecken und Zeigen der gemeinsamen Geschichte bildet eine Grundfeste, von der Trans*–Aktivismus in Argentinien heute ausgeht. Comedi leistet durch ihren Kurzfilm einen ebenso schillernden wie schwermütigen Beitrag über das solidarische Miteinander in vergangenen Kämpfen gegen Marginalisierung und gegen den Tod.

TRANS, SCHWER ZU SCHLAGEN

© Beija Flor Filmes

Also Leute, ihr kennt mich als Alice Júnior. Ich bin trans, schwer zu schlagen und bereit für alles, was da so kommen mag!“ So beginnt die 14-jährige, charismatische Trans*-Teenagerin Alice (Anne Celestino Mota) ihre Morgenroutine als Youtuberin in Recife, der weltoffenen Metropole im Nordosten Brasiliens. Als sie ihr neuestes Video dreht, platzt ihr Vater Jean (Emmanuel Rosset) ins Zimmer, der ihr mitteilt, dass sie aufgrund seines Jobs in eine kleine, konservative Stadt in den Süden Brasiliens ziehen müssen. In dieser Kleinstadt scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Vor allem die katholische Schule, die Alice nun besuchen soll jagt ihr zunächst einen Schock ein – kein leichter Neuanfang. Als die Schulleiterin sie auch noch zwingt, die Schuluniform für Jungen zu tragen (ein Albtraum für die modebewusste Teenagerin), möchte sie am liebsten sofort nach Recife zurückkehren.

Doch natürlich gibt Alice so schnell nicht auf. Anders als in vielen Filmen, die sexuelle Minderheiten thematisieren, wird in diesem nicht die Geschichte eines Opfers, sondern die einer Heldin erzählt. Die hat unter anderem das Glück, von ihrem französischstämmigen Vater, der sie sehr liebt, unterstützt und verwöhnt zu werden. Auch in der Schule stehen der Newcomerin bei Weitem nicht alle Klassenkamerad*innen und Lehrer*innen feindlich gegenüber. Alice, die auf der Suche nach ihrem ersten Kuss ist, erobert durch ihren starken Charakter, ihren Witz und ihre Lebensfreude schnell die Herzen von Mitschüler*innen und Kino-Zuschauer*innen. Das liegt vor allem an der herausragenden Hauptdarstellerin, die in ihrer Rolle so aufgeht, dass man glauben könnte, die Figur Alice würde nicht nur im Film, sondern auch im echten Leben herumspazieren.

Vom vielfach ausgezeichneten Regisseur Gil Baroni war von Anfang an vorgesehen, dass eine Trans*person die Rolle besetzt. Und wohl keine*r hätte Alice Júnior besser verkörpern können als Anne Celestino Mota, die im wahren Leben eine national bekannte Bloggerin und Trans*-Aktivistin ist. Für ihre Performance wurde sie in Brasilien bereits mit zwei Preisen als beste Schauspielerin belohnt. Vom Filmanfang bis zum Ende fiebert man mit und freut sich mit ihr über neue Freundschaften und positive Veränderungen, die sie in ihrer neuen Schule erreicht. Vor allem die mal resoluten, mal kreativen Methoden, mit denen sie sich in der vorurteilsgeprägten, konservativ-religiösen Kleinstadtwelt durchsetzt, sind beeindruckend und ermutigend. Aber auch im Kontakt mit ihren neuen besten Freund*innen Viviane (Thaís Schier, Preis für die beste Nebendarstellerin auf dem Filmfestival von Brasilia) und Bruno (Matheus Mora) oder anderen Schüler*innen kommt Alice/Anne wie das ganze Ensemble sehr authentisch und spielfreudig rüber. Da glaubt man Gil Baroni ohne Weiteres, wenn er verrät, dass der Filmdreh dem ganzen Team sehr viel Spaß bereitet hat.

Besonders ansprechend gestaltet ist der Film für Jugendliche, da er stilistisch die digitale Welt widerspiegelt: Mit Glitzer, Emojis, schrillen Soundeffekten und schnellen Bildwechseln erreicht Alice Júnior locker den aktuellen State of the (Youtube-) Art. Einen wichtigen Stellenwert nimmt auch die gelungen ausgewählte Musik (meistens brasilianischer Funk) ein. Viele Lieder werden von “Funkeirxs” gesungen, die gesellschaftliche Tabus brechen, wie z.B. von MC Xuxú, einem Travesti-Künstler und Feministen (Um beijo para as travestis” – „Ein Kuss für die Transvestiten”) oder der Drag Queen Gloria Groove aus São Paulo.

Alice Júnior ist aber nicht nur ein Film, sondern in Zeiten des rechtsextremen Präsidenten Bolsonaro, unter dem es sich in Brasilien für sexuelle Minderheiten gefährlich lebt, auch ein wichtiges Empowerment für Trans*-Personen. Zwar findet glücklicherweise nach wie vor am 29. Januar der „Día da Visibilidade Trans” („Tag der Trans*-Sichtbarkeit”) statt, der durch Travestis und Transgenderpersonen initiiert wurde und auf Menschenrechtsverletzungen und Diskriminierung aufmerksam macht. Dennoch wurden allein im Jahr 2019 in Brasilien mindestens 124 Transgender-Personen ermordet. Und genau wie die Protagonistin im Film ständig mit ihrem männlichen Geburtsnamen konfrontiert wird und sich ihren selbst gewählten Namen erkämpfen muss, erging es der Schauspielerin Anne Celestino Mota auch im wirklichen Leben. Oft werde ich gefragt: Was ist dein richtiger Name? Sie leugnen meine Identität, als ob sie leugnen würden, dass ich eine Frau bin.” Genau aus diesem Grund sieht die aus Recife stammende Bloggerin Alice Junior auch als repräsentativen Film für die Transgender-Community, der nach ihrer Auffassung die Meinung der Menschen verändern kann. Alice ist ein Transgendermädchen und ihre Existenz ist ein Synonym für Widerstand”, bestätigt der aus Guarapava (Südbrasilien) stammende Regisseur Baroni. Wir durchleben schwierige Momente in Brasilien, wo Exklusions-Reden Raum gewinnen, Hass schüren, Angst und Unsicherheit hervorrufen.” Umso wichtiger ist es, dass Filmemacher*innen wie er sich in ihren Werken mit Themen wie Empowerment von Minderheiten, Geschlechtergerechtigkeit, Klassenkampf und LGBTIQ-Anliegen beschäftigen. So wie Alice Junior, der in Brasilien bereits 8 Preise gewonnen hat (unter anderem beim renommierten Rio International Film Festival) und eine klare Message vermittelt: Soziale Barrieren sind künstlich, von der Gesellschaft geschaffen und diskriminieren Menschen, die anders sind. Stattdessen sollte die Schönheit, die in der Diversität liegt, gefeiert werden, denn wahre Liebe und Menschlichkeit kennen keine Grenzen.

DIE TRÄNEN DES FALLENDEN PATRIARCHATS

No están solas! Auf der Plaza San Martín ist keine* mehr alleine (Foto: marcha.org.ar)

„Es gibt drei Mechanismen, die uns Frauen einschränken und die wir bekämpfen müssen: Die Schuld, die Scham und das Schweigen“, verkündet Sandra Morán, die erste und einzige lesbische Abgeordnete in Guatemalas Parlament, die extra zum Frauentreffen nach Argentinien gereist ist. „Deswegen werde ich jetzt ein Gedicht vortragen. Es heißt: Schluss mit dem Schweigen!“, ruft sie, trommelt wild auf eine kleine Djembe und schreit immer wieder in die Menge: „Schluss mit dem Schweigen!“ Jedes Mal schreit die Menge zurück: „Schluss damit!“ und hat damit ihren Ruf schon lautstark in die Tat umgesetzt.

„Schluss mit dem Schweigen!“

Es ist der zweite Tag des mittlerweile 34. Frauentreffens in Argentinien und auf einem der vielen Plätze der belagerten Stadt, der Plaza San Martín, findet eine riesige Asamblea (Versammlung) der antikolonialen Feminist*innen des Abya Yala statt. Abya Yala ist der Begriff in der Sprache der Kuna, unter dem der Kontinent Amerika vor der Ankunft Kolumbus‘ bekannt war. Wie viele Menschen auf dem Platz versammelt sind, ist unmöglich zu zählen, aber soweit das Auge reicht, sieht man in die Luft gestreckte Fäuste mit ums Handgelenk gebundenen grünen Tüchern, dem Zeichen des Kampfes für das Recht auf Abtreibung. An diesem Nachmittag sprechen hier viele Frauen* aus verschiedenen Regionen des Abya Yala, erzählen von ihren Kämpfen in ihren Territorien: Honduras, Ecuador, Wallmapu, dem sogenannten Chile und vielen anderen. Ihre Territorien sind eng verbunden mit ihren Körpern, ihren Leben und der sozialen Reproduktion. Viel zu oft handelt es sich dabei um Kämpfe, um diese Territorien zu verteidigen – gegen Ausbeutung, Plünderung und Gewalt, gegen den repressiven Staat, das internationale Kapital, das Patriarchat. „No están solas“ – „Ihr seid nicht allein!“ skandieren die tausenden Anwesenden immer wieder und ein warmes, aufregendes, das Herz zum Zerspringen bringendes Gefühl, nicht mehr allein mit den Kämpfen und Sorgen und dem Ungehorsam zu sein, hat die ganze Plaza eingenommen.

Seit 34 Jahren findet das selbstorganisierte Treffen statt

An allen Ecken und Enden der Kleinstadt, die nur etwa 60 Kilometer vom Zentrum von Buenos Aires entfernt liegt, finden dieser Tage Asambleas, Workshops, Talkrunden, Märkte und Aktionen statt. Jeder Raum, der nicht von Diskussionsrunden besetzt ist, dient als Unterkunft für die zehntausenden Frauen und Queers, die aus dem ganzen Land angereist sind, um an dem Treffen teilzunehmen – dem Grundpfeiler der feministischen Bewegung Argentiniens. Schon seit 34 Jahren findet das selbstorganisierte Treffen der Frauenbewegung statt. Zum ersten Treffen 1986 kamen etwa 300, von da an wuchs es beständig, auf 15.000 im Jahr 2007, auf 70.000 im Jahr 2017 und auf über 200.000 in diesem Jahr. Das Wort massiv fällt oft, innerhalb dieser Massen bekommt es jedoch erst eine wirkliche Bedeutung. Es ist ein Treffen, bei dem die ganze Stadt von Feminist*innen übernommen wird. Überall laufen und diskutieren, versammeln und drängeln sie sich, singen und marschieren sie in Gruppen durch die Straßen und schmettern Melodien aus dem schier unerschöpflichen Repertoire an Parolen gegen das Patriarchat: „Achtung, Achtung! Passt auf euch auf, Machistas, ganz Lateinamerika wird feministisch!“, oder „Hey, hey, wir sind die Enkelinnen der Hexen, die ihr nicht verbrennen konntet!“. Hier eine Demo, da eine asamblea, an dieser Plaza ein pañuelazo (Protestveranstaltung mit grünen Tüchern), an jener eine Kundgebung, hier eine Küfa, dort eine peña (Tanzveranstaltung) und alles voller singender Feminist*innen. Jedes Jahr wechselt der Ort des Treffens, die nächste ausrichtende Stadt wird auf der Abschlusskundgebung bestimmt. Manchmal sind es kleine Provinzhauptstädte mit 3.000 Hotelbetten wie vor zwei Jahren in der Provinz Chaco im armen Nordosten Argentiniens. Dieses Jahr ist der Austragungsort La Plata durch die geografische Nähe zur Hauptstadt und die zeitliche zur Präsidentschaftswahl besonders gut besucht und die Stimmung ebenso angespannt. Der erste Tag des Treffens fällt jedoch zunächst ins Wasser – die Tränen des fallenden Patriarchats, wie man munkelt – die Auftaktveranstaltung muss wegen Gewitters abgesagt werden. Wie in jedem Jahr wird als Vorsichtsmaßnahme die Kathedrale weitläufig mit Hamburger Gittern abgesperrt und von großem Polizeiaufgebot bewacht, denn die alljährliche Demonstration, das Herzstück des Treffens, führt immer einen radikaleren Teil der Demonstrant*innen, gerne oben ohne, an der Kirche vorbei, wo nicht selten Graffitis gegen die katholische Doppelmoral gesprüht werden, Mülleimer brennen und Mollis fliegen. Auch in diesem Jahr werden sieben Aktivistinnen vor der Kathedrale festgenommen, bald jedoch wieder freigelassen. Und während die größte feministische Demonstration, die es je auf einem Encuentro gegeben hat, langsam zu Ende geht, läuft im Fernsehen wie in einer Parallelwelt die erste TV-Debatte der Präsidentschaftskandidaten: sechs Männer diskutieren ernst vor schwarzem Hintergrund. Unzählige weitere unterhalten sich öffentlich darüber, was die sechs im Fernsehen gesagt haben. Von der Revolution in der Nachbarstadt scheint dort niemand was mitbekommen zu wollen.

„Achtung, Achtung! Passt auf euch auf, Machistas, ganz Lateinamerika wird feministisch!“

Die übergreifende Debatte, die sich durch alle der über 100 verschiedenen thematischen Workshops und unzähligen Nebenveranstaltungen zieht, ist wie auch schon im letzten Jahr die des Namens: der Umbenennung des Treffens von Nationales Treffen der Frauen in Plurinationales Treffen von Frauen, Lesben, Travestis, Trans, intersexuellen, bisexuellen und nicht-binären Personen. Auch in diesem Jahr hat das offizielle Organisationskomitee, das sich immer in der ausrichtenden Stadt zusammenfindet, allerdings meist von den Strukturen der kommunistischen Partei dominiert wird, keinen Raum zur Abstimmung über die Namensänderung eröffnet. Im Kampf um die Umbenennung hat sich eine nicht ganz selbstverständliche Allianz aus indigenen, migrantischen und queeren Aktivist*innen gebildet, zunächst zögernd, doch immer plausibler finden die verschiedenen Kämpfe um längst überfällige Inklusion solidarisch zueinander und mit ihnen ihre Protagonist*innen. So erobern Lolita Chávez, Maya k’iche’, Umweltaktivistin aus Guatemala und Claudia Vasquez Haro, Dozentin an der Universität von La Plata und Präsidentin des Vereins OTRANS, der für Rechte von Trans und Travestis in Argentinien eintritt, trotz Redeverbot mit vollem Körpereinsatz gemeinsam die Bühne der Abschlusskundgebung und rufen von dort unter johlendem Applaus die Umbenennung des Treffens aus. Denn die Realität des Treffens ist längst plurinational und queer, indigene Frauen* sind seit langer Zeit genauso wichtiger Teil der Bewegung wie verschiedene queere Identitäten. „Wir erkennen uns in diesem breiten Feminismus von unten wieder und kämpfen gegen jede Form von Gewalt, gegen Gewalt gegen Queers, gegen Xenophobie, gegen Rassismus“, ruft Vazquez Haro von der Bühne. „Compañeras, wir müssen lernen, uns gegenseitig zuzuhören und uns in unserer Verschiedenheit zu respektieren. Der Feind ist nicht hier unter uns, der Feind ist das Patriarchat!“ appelliert sie, jedoch bleibt die offizielle Anerkennung der Umbenennung auch in diesem Jahr aus. Eine Enttäuschung für die Feminist*innen des Abya Yala und die disidencias sexuales, der sexuellen Dissident*innen gegen die erzwungene Heteronormativität. Es bleibt unklar, ob das offizielle Organisationskomitee aus San Luis, dem Ort des Treffens im nächsten Jahr, die Namensänderung anerkennen wird.
Dennoch ist es wieder einmal vollbracht: Zehntausende Frauen und Queers haben sich organisiert, um oft etliche hunderte Kilometer zu dem wichtigsten Treffen des Jahres zu reisen. Und wie in jedem Jahr wird immer wieder gesungen: „¡Qué momento! A pesar de todo, les hicimos el encuentro“, will sagen: „Was für ein Moment! Trotz allem haben wir das Treffen gemacht“ – gegen „sie“, gegen die da oben, die, die nie zuhören wollen, die, die uns nie gesehen haben. Und es ist dieses Durchhaltevermögen einer jahrzehntelangen Tradition, sich gegen alle Hindernisse zu organisieren, sich zusammenzutun, um wieder zum nächsten Treffen zu reisen. Diese Praxis von Autonomie und Organisation und vor allem die Erfahrung, das Zusammensein zu zelebrieren, was die Bewegung in Argentinien so stark und mächtig gemacht hat. „Heute, compañeras, heute sind wir widerständig aufgewacht…” schließt Sandra Morán ihr gesungenes Gedicht, „und das Herz, das beinahe zu explodieren schien, hat es soeben getan!”

 

NICHT MEHR ZU STOPPEN


Grüne Flut Demonstration am 28. Mai in Buenos Aires // Foto: Inés Ripari

Trommelwirbel und Sprechgesänge schallen durch das Zentrum von Buenos Aires. Wo sonst Busse und Autos fahren, werden Infozelte und Essensstände aufgebaut. Es ist ein sonniger Herbstnachmittag und der Strom an Menschen, die ein grünes Tuch um den Hals oder ans Handgelenk gebunden tragen und auf den Vorplatz des Kongresses ziehen, bricht über Stunden nicht ab. Grün, das ist die Farbe der argentinischen Kampagne zur Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen. Und diese hat am 28. Mai zu einer erneuten „Marea Verde“, einer „grünen Flut“ im ganzen Land aufgerufen.

Es sind vor allem Schüler*innen, junge Frauen und Queers, die den Platz an diesem Dienstagnachmittag einnehmen. Das grüne Glitzer ist zurück auf den Wangen und Augenlidern. Sie wirken entschlossen. Man merkt, dass sie mit der feministischen Bewegung der letzten Jahre groß geworden sind. Chiara ist 15 Jahre alt und mit ihren Schulfreund*innen da, über mehrere Stunden performen sie ausgefeilte Choreografien zu selbstgetexteten Demoliedern. In einer kurzen Pause erzählt sie: „Wir haben kaum Sexualkundeunterricht an unserer Schule, obwohl es seit 2006 ein gesetzliches Recht auf eine integrale Sexualerziehung gibt. Die Aufklärungsworkshops, die alle paar Monate stattfinden, sind grottenschlecht. Also haben wir angefangen, uns selbst zu organisieren, Versammlungen in der Schule abzuhalten und uns gegenseitig zum Thema Abtreibung zu informieren. Das Recht auf Sexualerziehung und auf Abtreibungen gehört für uns zusammen.“

„Macri Ciao, Macri Ciao, Macri Ciao Ciao Ciao“

Während Chiara spricht, stimmen ihre Freund*innen den nächsten Song an: Ein Bella Ciao-Cover auf argentinisch. Sie schleudern ihre grünen Halstücher in die Höhe und rufen dabei gen Kongress „Macri Ciao, Macri Ciao, Macri Ciao Ciao Ciao.“ Dass im Oktober gewählt wird und dass die Sparpolitik des Präsidenten Macri nicht mehr auszuhalten ist, ist seit Monaten allgegenwärtiges Thema bei den feministischen Mobilisierungen. „Alles was Macri macht, ist einfach nur schlecht.“, findet Chiara. „Wir fordern kostenlose Abtreibung in allen staatlichen Krankenhäusern und er schafft erstmal das Gesundheitsministerium ab. Das ist doch ein Witz.“ Im September letzten Jahres, nach einem rasanten Anstieg des Dollarpreises, hatte Macri sein Kabinett von 19 Ministerien auf 10 zusammengeschrumpft. Dabei wurde aus dem vorher eigenständigen Gesundheitsministerium ein Se­kretariat innerhalb des neugegründeten Ministeriums für Gesundheit und soziale Entwicklung. Mehrere Ministerien in einem bedeutet weniger Ressourcen für die einzelnen Bereiche. Diese Voraussetzungen erschweren die Umsetzung des aktuellen Gesetzesvorschlags.

”Wir trans Männer treiben auch ab” Federico auf einer Demo

Im Kern hat sich an den Forderungen seit 2005 wenig verändert. Diese lauten: Legale, kostenlose und sichere Abtreibung bis zur 14. Schwangerschaftswoche, im Fall einer Vergewaltigung sowie wenn die Gesundheit oder das Leben der schwangeren Person bedroht sind, auch nach der 14. Woche. Es sollen Beratungsstellen im ganzen Land eingerichtet werden. Diese aufzusuchen, soll aber freiwillig bleiben. Ein Abbruch soll innerhalb von fünf Tagen in jedem öffentlichen Krankenhaus möglich sein. Veränderungen gab es bei der Inklusivität des Entwurfs. Abtreibungen sollen für alle Menschen, unabhängig vom Aufenthaltsstatus, zugänglich sein. Außerdem ist nicht mehr nur von Frauen die Rede, sondern von allen gebärfähigen Personen. „Dadurch, dass insgesamt mehr öffentlich über Abtreibungen gesprochen wurde, wurde ein Bewusstsein dafür geschaffen, dass nicht nur cis-Frauen abtreiben, sondern auch Menschen mit anderen Genderidentitäten, zum Beispiel wir Trans und Nonbinaries“, erklärt der 17-jährige Federico, der auch schon 2018 bei den Mobilisierungen dabei war. Auf die Frage, warum er für die Legalisierung von Abtreibung auf die Straße geht, antwortet Federico: „Das Grundrecht, selbst über unsere Körper zu bestimmen, ist uns der Staat seit dem Ende der Diktatur in Argentinien noch schuldig. Für uns war die Demokratie nie eine richtige Demokratie, denn unsere Identität, unsere Körper, unsere Lebens­weisen werden unterdrückt. Wir wollen selbst über unsere Lebensentwürfe und Familienplanung entscheiden können.“

Obwohl Schwangerschaftsabbrüche in Argentinien momentan unter den drei Umständen der Bedrohung der Gesundheit beziehungsweise des Lebens der schwangeren Person oder nach einer Vergewaltigung bereits legal sind, gibt es täglich Fälle, in denen Ärzt*innen oder ganze Krankenhäuser Schwangeren ihr Recht auf eine Abtreibung verweigern. Viele Schwangere suchen daher erst gar kein Krankenhaus auf, um sich nicht mit der Situation von Schuldzuweisung und Stigmatisierung konfrontieren zu müssen. „Etwa 500.000 klandestine Schwangerschaftsabbrüche finden pro Jahr in Argentinien statt“, beschreibt Victoria Tesoriero, Dozentin für Soziologie und Aktivistin der Kampagne, die Situation. „In den letzten Jahren sind daher feministische Netzwerke und Beratungsstellen entstanden, die Abtreibungen mit Misotropol-Tabletten begleiten. Diese finden zu Hause statt. Aber diese Informationen kommen nicht bei allen Schwangeren an. Es gibt eine riesige Kluft zwischen Buenos Aires und den restlichen Provinzen was den Zugang zu medizinischer Grundversorgung betrifft. Das Risiko, an einer klandestinen Abtreibung zu sterben, hängt davon ab, in welcher Provinz und in welcher sozialen Klasse man geboren wird. 2018 sind 33 Frauen bei klandestinen Abtreibungen umgekommen, in den Jahren zuvor noch viel mehr.“ Sie hat selbst mit 15 abgetrieben. „Meine gesamte Familie hat damals Geld zusammengelegt, damit ich in eine Klinik gehen konnte. Mein Vater dachte, ich würde sterben. Viele Jahre lang habe ich nicht darüber geredet. Gegen Ende meiner Schulzeit fing ich dann an, mich in Frauenorganisationen zu engagieren, ich fuhr zum ersten Mal zum Nationalen Frauentreffen und lernte dort die Aktivist*innen der Kampagne kennen und schloss mich der Gruppe an. Das war vor elf Jahren.“

Vom Geschehen auf dem Platz bekommt Victoria diesmal nur über die Whatsapp-Nachrichten etwas mit, die sie immer wieder drinnen im Kongress erreichen. Sie ist Teil der Delegation der Kampagne, die die Pressekonferenz im Abgeordnetenhaus hält. Diese wird per Livestream auf einem Bildschirm draußen übertragen. Es ist bereits dunkel, als der letzte der 20 Punkte des Gesetzesentwurfs verlesen wird. Die Vertreter*innen der Kampagne drinnen wie die Menschen auf der Straße brechen in Jubel aus. Immer wieder werden Erinnerungen an die Demos des letzten Jahres geteilt, wie kalt es im Juni bei der Debatte im Abgeordnetenhaus war, wie sie unter mitgebrachten Decken zusammenrückten und Wein zum Aufwärmen tranken. Wie unangenehm der Regen bei der Senatsdebatte im August war, wie still es wurde, als die Entscheidung des Nein die Runde machte, wie fassungslos alle waren. Es klingt, als seien diese kollektiven Momente im Kampf um reproduktive Rechte Schlüsselereignisse dieser Generation argentinischer Frauen und Queers. Alle sind sich sicher, dass das Gesetz durchkommt. Wenn nicht dieses Jahr, dann spätestens im nächsten.

“Unser Hauptziel ist es gerade, Einfluss auf den Wahlkampf zu nehmen und Druck aufzubauen”


„Zu einer Abstimmung über das Gesetz kommt es wahrscheinlich erst nach den Wahlen. Unser Hauptziel ist es gerade, Einfluss auf den Wahlkampf zu nehmen und Druck aufzubauen. Die Kandidat*innen und Parteien sollen öffentlich Stellung nehmen, wie sie zum Thema Abtreibungslegalisierung stehen“, erklärt Victoria nach der Pressekonferenz. Noch am Dienstag unterschreiben 70 von 257 Abgeordneten den Gesetzesentwurf. Eine Umfrage der Kampagne hat 2018 ergeben, dass 70 Prozent der Argentinier*innen für die Legalisierung von Abtreibungen sind. Ersten Schätzungen zu Folge sind es 500.000 Menschen, die am Dienstag an über 100 Orten in Argentinien auf der Straße sind. In den sozialen Netzwerken zirkulieren Fotos von Kundgebungen aus der ganzen Welt, stets mit einem Meer aus grünen Pañuelos. Über das Ausmaß der Demonstrationen zeigt sich Victoria überrascht. „Es war ja ‚nur‘ die Präsentation des Gesetzesentwurfs. Wie wird das erst, wenn tatsächlich abgestimmt wird? Diese Bewegung ist nicht mehr zu stoppen.“

Als der offizielle Akt vorbei ist, stehen in den Straßen des Kongressviertels schon die Grills bereit. Es gibt Bier und Musik und der Geruch nach Grillfeuer mischt sich mit dem Rauch grüner Bengalos, die immer wieder gezündet werden. Um kurz vor Mitternacht leert sich der Platz, denn für den 29. Mai ist ein Generalstreik angesagt und der öffentliche Verkehr steht für 24 Stunden still. Doch schon bald sollten sie alle zurückkommen. Das feministische Kollektiv Ni Una Menos hat für den 3. Juni zum fünften Mal zur jährlichen Großdemo ausgerufen.

 

SICHTBAR, ENGAGIERT UND HARTNÄCKIG

Wettbewerb Miss America Continental in Tegucigalpa, Honduras // Fotos: Markus Dorfmüller

Die Regenbogenfahne ist natürlich dabei, wenn es am 17. Mai wieder auf die Straße geht. Sie hängt im Aufenthaltsraum von Arcoíris (Regenbogen) an der Wand. Im Zentrum von Tegucigalpa, nur ein paar Steinwürfe vom Busbahnhof, hat die 2003 gegründete LGBTI*-Organisation ihr Büro, zu dem auch Aufenthaltsräume gehören. Hier trifft sich die queere Szene der honduranischen Hauptstadt, organisiert Kampagnen, tritt für die eigenen Rechte ein und feiert hin und wieder auch Partys. „Bei unserem ersten Marsch gegen die Homophobie und für die Rechte unserer queeren Community waren wir gerade zwanzig, im letzten Mai immerhin rund tausend Personen“, erinnert sich Donny Reyes.
Der stämmige Mann Ende 40 ist Gründungsmitglied und Koordinator von Arcoíris, einer Organisation, die sich für die Menschenrechte der queeren Gemeinde engagiert. Um die ist es mies bestellt, denn Honduras gehört weltweit zu den gefährlichsten Ländern für LBGTI*-Aktivist*innen. 38 Morde wurden von den LGBTI*-Organisationen des Landes im Laufe des letzten Jahres registriert – ein Mord weniger als 2017. Alle anderen Angriffe summieren sich zu Hunderten. „Am sichtbarsten und am verwundbarsten sind trans Frauen“, so Donny Reyes. Die organisieren sich bei Arcoíris als Muñecas de Arcoíris, auf deutsch übersetzt Regenbogenpüppchen. Ein sarkastischer Titel, den die Frauen bewusst gewählt haben. Jeden Dienstag treffen sie sich im Büro in der dritten Avenida des Concepción, einem Handwerkerviertel am Rande des Zentralmarkts von Tegucigalpa. „Nur ein paar Blocks entfernt, rund um den Parque El Obelisco, befindet sich der trans Strich von Tegucigalpa“, so Donny Reyes. Viele der trans Frauen, die dort ihren Lebensunterhalt verdienen, haben keine Ahnung von ihren Rechten und das versuchen Reyes und seine Kolleg*innen zu ändern – mit Workshops, aufklärender Informationsarbeit und Beratung in den Räumen der Nichtregierungs­organisation.

Mit einem Musterprozess soll die Straflosigkeit beendet werden


Die beiden trans Frauen Bessy Ferrera und Paola Flores leiten und koordinieren die Arbeit der Muñecas de Arcoíris und haben selbst einschlägige Erfahrungen mit Diskriminierungen gemacht. Bessy Ferrera fährt sich mit dem Daumen über die Kehle. Dann deutet sie auf die wulstige rund fünfzehn Zentimeter lange Narbe unterhalb ihres Schlüsselbeins. „Ein Freier wollte nach dem Sex nicht zahlen und hat mir von hinten versucht die Kehle durchzuschneiden“, sagt die Frau von Mitte dreißig. „Nur weil er das Messer zu tief angesetzt hat, sitze ich noch hier“, sagt sie mit einem bitteren, rauen Lachen. Fast verblutet ist sie damals, konnte sich aus dem Hinterhof gerade so auf die Straße schleppen, wo jemand einen Krankenwagen rief. Die mit groben Stichen genähte Narbe erinnert sie bei jedem Blick in den Spiegel an den Angriff vor ein paar Jahren. In einem der Hinterhöfe rund um den „Parque El Obelisco“ im Zentrum von Tegucigalpa fand er statt, nur ein paar Steinwürfe von den Markthallen entfernt. Handwerksbetriebe und mobile Verkaufsstände dominieren das Ambiente tagsüber, nachts dreht sich alles um Sex. Trans- und Homosexuelle gehen mitten in der honduranischen Hauptstadt der Sexarbeit nach. Bessy Ferrera ist eine von ihnen. „In Honduras hat man als trans Frau keine Chance auf einen regulären Job. Was bleibt ist für viele von uns nur die Prostitution“, meint sie und streicht sich eine rotblondgefärbte Strähne aus der Stirn. Abfinden will sich Bessy Ferrera mit der alltäglichen Diskriminierung und Verfolgung aber nicht und deshalb engagiert sie sich bei Arcoíris.

Bessy Ferrera…

und Paola Flores leiten die Arbeit von Muñecas de Arcoíris

„Ein großes Problem ist, dass kaum jemand von uns genau weiß, was für Rechte wir eigentlich haben. Worüber frau nichts weiß, kann sie auch nicht verteidigen“, erklärt Bessy Ferrera mit einem koketten Grinsen. Daran will sie etwas ändern und ist deshalb bei Arcoíris eingestiegen . Erst als Freiwillige, mittlerweile als Stellvertreterin von Paola Flores. Die schmale trans Frau ist das Gesicht der Muñecas de Arcoíris. Vor ein paar Jahren hat sie angefangen rund um den „Parque El Obelisco“ trans Frauen anzusprechen, sie über ihre Rechte im Umgang mit Freiern, aber auch der Polizei aufzuklären. Die eigenen Rechte sind zentrales Thema bei den wöchentlichen Treffen, aber auch die Probleme, denen sich Trans- Bi-, Homosexuelle und die restliche Queer-Szene in Honduras gegenübersieht.

„Wir werden ausgegrenzt, diskriminiert, gedemütigt, vergewaltigt und ermordet“, zählt Paola mit leiser Stimme auf. „Honduras ist eine christlich verbrämte Macho-Gesellschaft in der Rechte der Anderen nicht geachtet werden“, schildert sie das Grundproblem. Hinzu kommt ein nicht funktionierendes Justizsystem. Straftaten gegen LGBTI*-Personen werden nicht geahndet, das monierte auch die Menschenrechtskommission der OAS (Organisation für Amerikanischer Staaten) bei ihrer letzten Visite im August 2018. Laut der Kommission habe es in den letzten fünf Jahren 177 Morde gegeben, von denen kaum einer aufgeklärt worden sei.
Das hat viele Gründe. Einer ist aber laut Paola Flores, dass bei den Verbrechen aus Hass nicht richtig ermittelt werde. „Das beginnt bei der Spurensicherung und endet im Gerichtssaal – wenn es denn überhaupt so weit kommt“, klagt Flores. Wie ein Musterprozess laufen sollte, worauf bei der Spurensicherung, bei der Gerichtsmedizin, aber auch bei der Zeug*innen­vernehmung und im Gerichtssaal geachtet werden muss, wollen die Muñecas anhand eines realen Falles aufzeigen. „Eines Kapitaldeliktes wie Vergewaltigung oder Mord“, so Flores, die derzeit mit Jurist*innen, Ermittler*innen und Gerichts­mediziner*innen im Gespräch ist, um das beispielgebende Tribunal vorzubereiten. Demnächst soll es in Tegucigalpa stattfinden, gefilmt und ins Netz gestellt werden, um so etwas wie einen Leitfaden für den Umgang mit Verbrechen gegen LGBTI*-Personen zu liefern. „Das ist überfällig und positiv ist, dass wir die Zusage über die Finanzierung aus einem EU-Justizfonds haben“, erklärt Flores. Weniger positiv ist allerdings, dass das Geld immer noch nicht eingegangen ist und die Vorbereitungen zum symbolischen Gerichtsprozess deshalb auf Sparflamme laufen. Nichts Neues für die Aktivist*innen von Arcoíris, die nur punktuell Spenden aus dem Ausland erhalten und bei ihren Bemühungen Vorurteile aufzubrechen oft auf sich allein gestellt sind. Journalist*innen, die Fotos rund um den „Parque El Obelisco“ machen, und sich nicht nur privat, sondern auch öffentlich über sie lustig machen, sind, so Bessy Ferrera, alles andere als selten. Oft werden Homo- genauso wie Bi- und Transsexuelle von ihren Familien verstoßen, ergänzt Paola Flores und reibt sich die narbige Wange. Sie hat seit ein paar Jahren die Unterstützung ihrer Familie, während ihre Kollegin Bessy Ferrera Waise ist und nach ihrem Outing von den Pflegeltern vor die Tür gesetzt wurde. So landete sie in der Prostitution und für sie ist Arcoíris so etwas wie ein zweites Zuhause.

Eine der schönsten Drag-Queens des Landes auf dem Laufsteg

Vor allem ihrer Mutter hat es hingegen Paola Flores zu verdanken, dass der Kontakt zur eigenen Familie nicht abriss, obwohl mehrere Familienangehörige evangelikalen Kirchen sowie der katholischen Kirche angehören. Die verteidigen die Heterosexualität als das Non plus Ultra und machen gemeinsam mobil gegen alle Anläufe die gleichgeschlechtliche Ehe in Honduras auf den Weg zu bringen. Folge dieser rigiden Positionierung sind tiefe Gräben, die sich durch viele Familien ziehen. So auch bei den Flores, wo die sexuelle Orientierung des jüngsten Kindes von den Älteren mit Unverständnis und Ablehnung quittiert wurde. „Nur meine Mutter hielt zu mir. Doch das änderte sich mit dem Überfall“. Der ereignete sich im Juni 2009 und Paola Flores hat ihn nur knapp überlebt. „Drei Männer haben mich in meiner eigenen Wohnung, dort wo ich mich sicher fühlte, überfallen. Mich zusammengeschlagen und mit Benzin übergossen und angezündet“, erinnert sich Flores und deutet auf die Transplantate die rechts und links vom Kinn zu sehen sind. Sie hat um ihr Leben gekämpft, sich gewehrt, geschrien und überlebt. Zwei Monate im Koma, neun Monate im Krankenhaus und schließlich ein Jahr im Exil in Mexiko. „Was mir passiert ist, kann auch allen anderen passieren. Dagegen kämpfe ich und deshalb bin ich zurückgekommen“, sagt sie mit fester Stimme und zupft das Halstuch zurück, welches die Narben am Hals verbirgt. Die drei Männer gingen genauso wie der Freier, der Bessy Ferrera umbringen wollte, bisher straffrei aus. Ein häufiges Geschehen in Honduras, wo deutlich über 90 Prozent der Gewaltdelikte gegen LGBTI* nicht geahndet werden. Die Fotos von ermordeten Arcoíris-Aktivist*nnen, die im Treppenhaus neben denjenigen hängen, die sich engagieren, zeugen davon.

Plakat gegen die Diskriminierung von Lesben in Tagucigalpa/Honduras // Foto: Knut Henkel

Die Straflosigkeit soll beendet und der Musterprozess der Muñecas de Arcoíris soll dazu beitragen. „Wir wollen einen Leitfaden publizieren, den Prozess mit der Kamera dokumentieren und zumindest Teile davon auf YouTube oder Facebook posten. Die Justiz darf nicht mehr weggucken“, fordern die beiden Frauen mit ernster Mine.
Dafür engagiert sich auch Donny Reyes, der im Rat der Menschenrechtsorganisationen mitarbeitet, den Kontakt zu Botschaften und Nichtregierungsorganisationen hält und die Events der LGBTI*-Szene vorbereitet. Nicht nur den für den 17. Mai anstehenden bunten Marsch durch die Hauptstadt von Honduras, sondern auch die Parties wie den alljährlich im Februar stattfinden Wettbewerb zur „Königin meiner Heimat“ (La Reina de mis Tierras). Dort laufen dann die schönsten Drag-Queens aus dem Land über den Laufsteg und werden prämiert. „Das ist Party und Polit-Event in einem, denn die Drag-Queens sind auch Botschafter*innen der Szene, engagieren sich für die Menschenrechte und haben eine Aufgabe.“
Doch nun steht als nächstes erst einmal die 17. Mai-Parade im Kalender. Ziel ist es mehr als die 1000 Menschen vom letzten Jahr auf die Straße zu bringen – in einem Ambiente, das alles andere als einfach ist.

 

SCHWERE ZEITEN FÜR QUEERE KUNST

Fotos: Lanchonete.org

Die christliche Rechte in Brasilien befindet sich im Aufwind. Unlängst wurde eine Ausstellung in Porto Alegre nach Protesten abgesagt. Was ist genau passiert?
Es sollte eine Ausstellung mit den Werken von zahlreichen jungen und anerkannten queeren Künstler*innen stattfinden. Dagegen organisierten konservative Gruppen Proteste. Im Gegensatz zur Linken ist die Rechte in Brasilien sehr gut organisiert. Es ist ihnen gelungen, einige Werke mit Pädophilie und Zoophilie in Verbindung zu bringen. Das ist riesiger Schwachsinn! Die Werke, die vermeintlich Pädophilie rechtfertigen, stammen von Künstler*innen, die selbst darunter gelitten haben. Mit den Werken sollte thematisiert werden, dass auch viele junge LGBT Opfer von Pädophilie werden. Das große Problem für diese Menschen ist, dass Kindern eine sexuelle Orientierung zugeschrieben wird. Die Solidarisierung mit den Protesten war leider sehr groß. Es war zu hören: „Diese Schwuchteln machen degenerierte Kunst“. Das erinnert mich an die Rhetorik der Nazis.

Und daraufhin wurde die Ausstellung abgesagt?
Ja, sie hatten damit Erfolg. Am Ende hat die Santander-Bank, die Sponsor war, die Ausstellung abgesagt. Es war aber nicht einfach nur die Entscheidung einer privaten Bank – es geht viel weiter. Das war eine Rechtfertigung, um Menschen zu diskriminieren. Den Künstler*innen wurde ein Stempel aufgedrückt: Wenn man jetzt ihre Namen bei Google sucht, wird ihre Kunst mit Pädophilie in Verbindung gebracht. Das ist ungerecht und absurd!

Gibt es noch weitere Beispiele?
Ein Theaterstück, bei dem eine transsexuelle Schauspielerin Jesus spielt, wurde in verschiedenen SESCs (Kulturzentren, Anm. d. Red.) aufgeführt. Als es in der Stadt Jundiaí im Bundesstaat São Paulo gezeigt werden sollte, entschied ein Richter, dass das Stück eine Beleidigung des Christentums darstelle. Konsequenz: Es durfte nicht aufgeführt werden. Das war Zensur! In anderen Städten wurde das Stück zwar weiter gespielt und am Ende wurde das Urteil von einem anderen Richter aufgehoben. Trotzdem bleibt: Ein Theaterstück in Brasilien wurde zensiert. Das ist unglaublich. So etwas sollte eigentlich keinen Platz in einer Demokratie haben. In einem anderen Fall wurde ein Künstler aus Brasília während einer Performance brutal von Polizisten verhaftet, weil er nackt war.

Wie erklären Sie diesen massiven Rechtsruck?
Es gibt verschiedene Gründe. Die Bildung in Brasilien ist sehr schlecht. Keine Regierung nach dem Ende der Diktatur konnte daran etwas ändern – auch weil man kaum Fortschritte in ein oder zwei Amtszeiten erreichen kann. Auch mit dem Rohstoffboom gab es keine Verbesserungen. Zum anderen befindet sich der Katholizismus seit den neunziger Jahren im Rückgang und die evangelikalen Kirchen gewinnen immer mehr Einfluss. Die Kirche Igreja Universal do Reino de Deus besitzt den am drittmeist gesehenen Fernsehsender des Landes. Auch die anderen evangelikalen Kirchen haben großen Raum in den Medien. Die Sendezeit erkaufen sie sich mit dem Geld ihrer Anhänger*innen. Bei vielen Gottesdiensten können die Gläubigen ihren „Zehnten“ (Kirchensteuer, Anm. d. Red.) direkt mit der Kreditkarte bezahlen.

Warum sind die evangelikalen Kirchen so erfolgreich in Brasilien?
Weil diese Kirchen eine der wenigen Orte sind, wo die Armen und Allerärmsten ein Gemeinschaftsgefühl bekommen. Mehr noch: Sie erhalten dort psychologische Unterstützung. Für viele Brasilianer*innen wäre dies sonst undenkbar. In der öffentlichen Gesundheitsversorgung sind Therapien nicht eingeschlossen. Die evangelikalen Kirchen haben ein strenges moralisches Wertesystem. Das führt dazu, dass die Gläubigen anfangen zu denken, dass sie immer recht haben und die anderen auf jeden Fall falsch liegen. Auch hat sich bei diesen Menschen die Idee durchgesetzt, dass Künstler*innen nichts mit ihrer Realität zu tun haben und ihre Anliegen Wohlstandsprobleme seien. Das mag für die Künstler*innen von Globo (größter Fernsehsender und Medienmonopol, Anm. d. Red.) stimmen – aber für den Rest ist eher das Gegenteil der Fall.

Im vergangenen Jahr übernahm Michel Temer nach einem juristisch fragwürdigen Amtsenthebungsverfahren den Präsidentschaftsposten. Welche Rolle spielt seine Regierung in den aktuellen Debatten?
Auf den ersten Blick scheint die Regierung nichts damit zu tun zu haben. Temer hat sich zu keinem der Fälle öffentlich geäußert, die ich anfänglich erwähnt habe. Der Präsident arbeitet aber gerade mit Hochdruck daran, die Rechte abzubauen, die sich die Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten hart erkämpft hat. Viele Künstler*innen haben das scharf kritisiert. Die Menschen kümmern sich aber leider mehr um vermeintliche Pädophilie in Kunstwerken, als um eine Arbeitsrechtsreform oder einen erneuten Freispruch von Temer, der wegen mehrerer Verbrechen angeklagt ist. Die aktuellen Debatten schaffen also für die Regierung eine perfekte Nebelwand, um die verheerende Austeritätspolitik zu verschleiern.

Sie stammen aus São Paulo. Wie ist die Situation für LGBT in ihrer Heimatstadt?
Auf der einen Seite ist São Paulo als größtes Finanzzentrum Lateinamerikas sehr konservativ. Auf der anderen Seite hat es aber auch eine lange queere Geschichte. Der wirklich bewegende Film São Paulo em Hi-Fi zeigt die LGBT-Szene während der Militärdiktatur in den sechziger und siebziger Jahren. In dieser Zeit gab es herausragende Persönlichkeiten wie Celso Curi, der die erste Kolumne für LGBT in Brasilien geschrieben hat. Er gründete auch ein wichtiges Kulturzentrum. Das war der erste Ort für homosexuelle Paare und ist bis heute eine wichtige Referenz.

Was macht die Szene so besonders?
Ich bin viel gereist und was São Paulo wirklich besonders macht, ist die hohe Anzahl von homosexuellen Paaren in der Öffentlichkeit. Anfang der Nullerjahre haben wir angefangen, uns in Einkaufszentren und auf Plätzen zu treffen. Zum ersten Mal konnten wir uns öffentlich so zeigen, wie wir waren, und mit derjenigen Person zusammen sein, mit der wir wollten. Die unheimliche Dynamik der Stadt hat auch dazu geführt, dass LGBT mit viel Geld aus ganz Brasilien nach São Paulo kamen. Auf der anderen Seite gibt es aber auch Orte wie den Arouche-Platz, wo man einen halben Liter Schnaps für zwei oder drei Reais kaufen kann. Die Stadt spricht verschiedene sozioökonomische Bevölkerungsgruppen an.

Sie haben als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Ausstellung Queer City – Geschichten aus São Paulo mitgearbeitet, die derzeit im Schwulen Museum in Berlin zu sehen ist. Glauben Sie, dass Kunst ein Mittel für politische Veränderungen sein kann?
Das will ich hoffen! Ich wünsche mir, dass das, was wir machen, Auswirkungen haben wird und unsere Kunst die Menschen in Brasilien und außerhalb zum Denken anregt. Auch für Deutschland und den Rest der Welt beginnt gerade eine schwierige Phase – deshalb will ich daran glauben.

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