DAS PATRIARCHAT TÖTET WEITER

Wir sind alle Úrsula Der Feminizid an der 18-jährigen Úrsula Bahillo hat ganz Argentinien erschüttert (Fotos: Daniela Cilli)

„Wenn ich nicht zurückkomme, dann legt alles in Schutt und Asche“, schrieb die 18-jährige Úrsula Bahillo wenige Tage vor ihrem Tod auf Instagram. Und sie kam nicht zurück. Am 8. Februar wurde sie von ihrem Ex-Freund, dem Polizisten Matías Ezequiel Martínez, nahe der im Nordosten der Provinz Buenos Aires gelegenen Kleinstadt Rojas auf offenem Feld mit mehreren Messerstichen ermordet. Nach der Tat fügte sich Martínez selbst schwere Verletzungen zu und versuchte dennoch zu fliehen, als erste Einsatzkräfte den Tatort erreichten. Früher am selben Tag war er von der Hilfsstaatsanwaltschaft in Rojas darüber in Kenntnis gesetzt worden, dass er sich seiner Ex-Freundin nicht auf weniger als 200 Meter annähern darf. Es war nicht das erste gegen ihn ausgesprochene Annäherungsverbot, aber es blieb auf dramatische Weise ebenso wirkungslos.

Der Fall Úrsula Bahillo zeigt mit erschreckender Klarheit die Stellen auf, an denen bereits vor Jahren eingeführte Maßnahmen zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt in Argentinien nicht ausreichend in die Praxis umgesetzt wurden. Mindestens drei Anzeigen hatte die Betroffene allein in diesem Jahr gegen Martínez erstattet. Nachdem er das erste im Januar gegen ihn verhängte Annäherungsverbot mehrmals missachtet hatte, bat Bahillo den Friedensrichter Luciano Callegari um einen Antipanik-Knopf – ein kleines Gerät, welches bei Aktivierung automatisch einen Notruf sendet, die GPS-Daten übermittelt und das Geschehen aufnimmt. Jedoch war kein funktionierendes Gerät verfügbar. Bahillos Ersuchen wurde erst zwei Tage nach ihrer Ermordung stattgegeben. Callegari forderte damals auch ein psychologisches Gutachten von Bahillo an und trug so seinen Teil zu ihrer Reviktimisierung bei.

In der Zeitschrift Anfibia heißt es, Betroffene von geschlechtsspezifischer Gewalt würden bei dem Versuch, dem Teufelskreis machistischer Gewalt zu entkommen, in den nächsten Teufelskreis, den der institutionellen Gewalt, geraten. Und so auch hier: „Ich hätte nie gedacht, dass ich jemanden wegen geschlechtsspezifischer Gewalt anzeigen würde“, schrieb Bahillo auf ihrem Twitter-Profil, „Ich will die Letzte sein, die das tun muss.“ Polizei und Justiz nahmen die zahlreichen Anzeigen gegen ihren Ex-Freund nicht ernst; verzögerten ihre Arbeit; erkannten nicht einmal, dass der Täter bereits wegen anderer Fälle geschlechtsspezifischer Gewalt hätte verurteilt werden müssen. Úrsula Bahillos Tod hätte, wie der so vieler Frauen und Queers, verhindert werden können.

Die politischen Maßnahmen sehen nur auf dem Papier gut aus

Hier zeigt sich, dass die politischen Maßnahmen der vergangenen Jahre auf dem Papier gut aussehen mögen, die zahlreichen Feminizide jedoch nicht stoppen. 59 Frauen und Queers sind laut der Nichtregierungsorganisation Observatorio contra la violencia patriarcal Lucía Pérez im Januar und Februar 2021 ermordet worden. Die Zahlen der Beobachtungsstelle MuMaLá belegen auch, dass bisherige Präventionsmaßnahmen nicht immer greifen: 17 Prozent der im Januar 2021 ermordeten Frauen und Queers hatten ein Annäherungs- oder Kontaktverbot gegen den Täter erlassen, nur vier Prozent hatten einen Antipanik-Knopf.

Schon frühere Regierungen hatten sich das Ziel gesetzt, der machistischen Gewalt ein Ende zu bereiten. Noch unter dem damaligen Präsidenten Mauricio Macri trat im Januar 2019 das Ley Micaela in Kraft, das jährliche verpflichtende Sensibilisierungsschulungen für Staatsangestellte auf allen Ebenen vorsieht, 2020 wurde jedoch nur etwa die Hälfte der Beamt*innen geschult.
Das unter Präsident Alberto Fernández gegründete Ministerium für Frauen, Geschlechter und Diversität rief 2020 einen zweijährigen Aktionsplan gegen geschlechtsspezifische Gewalt ins Leben, der finanzielle Unterstützung für Betroffene und Angehörige, die Schaffung neuer Schutzeinrichtungen, Sensibilisierungsprogramme und die Modernisierung der Hilfshotline 144 vorsieht.
Nach der historischen Entscheidung des argentinischen Parlaments zur Legalisierung von Abtreibungen Ende vergangenen Jahres (siehe LN 560) verkündete Fernández gar, „dem Patriarchat ein Ende bereitet“ zu haben. Die Bilanz der gerade einmal zwei Monate, die seitdem vergangen sind, und die Einzelheiten des Falls Úrsula Bahillo offenbaren das Gegenteil.

Es reicht! Landesweit wird gegen Feminizide protestiert

Dass Úrsula Bahillos Ex-Freund Martínez gewaltbereit ist, war schon lange bekannt – ohne Folgen. Möglicherweise war er zum Zeitpunkt von Bahillos Tod nur noch auf freiem Fuß, weil er Polizist war – wenn auch seit September 2020 suspendiert. Während Ermittlungen der Innen­revision wegen der Bedrohung einer Vorgesetzten wurde der Behörde bekannt, dass gegen Martínez zusätzlich eine Anzeige wegen der Vergewaltigung eines 14-jährigen Mädchens vorlag.

Der Mord an Úrsula hätte verhindert werden können

Die Innenrevision gab ein medizinisch-psychiatrisches Gutachten in Auftrag und entzog dem 25-Jährigen das Recht, eine Schusswaffe zu tragen. Im Fall der Vergewaltigung der 14-Jährigen hatte der Staatsanwalt zweimal die Verhaftung Martínez’ beantragt. Der erste Versuch im Januar wurde gerichtlich kassiert, auf ein zweites Ersuchen vom 4. Februar war nicht reagiert worden. Und während Martínez wegen des Feminizids an Úrsula Bahillo in Untersuchungshaft saß, verurteilte ein Gericht in Junín ihn am 22. Februar in einem anderen Fall geschlechtsspezifischer Gewalt an seiner Ex-Freundin Belén Miranda zu vier Jahren Haft. Die Beziehung der beiden, während der Martínez Miranda misshandelte und sie auch mit seiner Dienstwaffe bedrohte, lag da schon vier Jahre zurück.

Dass Polizisten gegenüber Frauen und Queers gewalttätig werden, ist keine Ausnahme. Landesweit wird laut einem Bericht des Dokumentationszentrums Correpi jeder fünfte Feminizid von Sicherheitskräften verübt. Weil viele Beamte die Dienstwaffe mit nach Hause nähmen, sei die Gefahr, als (Ex-)Partner*in eines Polizisten ermordet zu werden, 50 Prozent höher als im Durchschnitt. Bereits im Dezember erließ die Regierung ein Dekret, demzufolge Polizisten, die wegen geschlechtsspezifischer Gewalt angezeigt wurden, keine Waffen mehr tragen dürfen.

Jeder fünfte Feminizid wird von Sicherheitskräften verübt

Ohnehin fällt die hohe Zahl der Anzeigen gegen Polizisten ins Auge. Laut Recherchen des Portals Perycia, die sich auf behördliche Daten berufen, sind aktuell in der Provinz Buenos Aires knapp 6.000 Polizeibeamte im Dienst, die in den vergangenen sieben Jahren mindestens einmal wegen geschlechtsspezifischer Gewalt angezeigt wurden – also einer von neun Polizisten. 22 von ihnen arbeiten derzeit in Polizeiwachen, die auf ebenjene Form der Gewalt spezialisiert sind. In 80 Prozent führten die internen Ermittlungen lediglich zu einer kurzen Suspendierung vom Dienst.

Seit dem 8. Februar muss sich die Regierung dem Thema und dem Druck von Angehörigen wieder stärker stellen. Präsident Fernández zeigte sich erschüttert über den Feminizid an Úrsula Bahillo. Wenige Tage danach empfing er ihre Eltern im Präsidentenpalast und berief ein Treffen der Gouverneur*innen ein, um Pläne für eine nun angekündigte Bundesstelle für die Prävention und den Umgang mit Feminiziden, Travestiziden und Transfeminiziden zu schmieden.
Die politische Reaktion auf den Feminizid an Úrsula Bahillo ist gleichzeitig eine Antwort auf die bislang unerwiderten Fragen und Forderungen zahlreicher Angehöriger ermordeter Frauen und Queers. Organisiert im Colectivo Familiares Sobrevivientes de Femicidios haben sie seit Fernández‘ Amtsantritt im Dezember 2019 sechs offene Briefe mit der Bitte um Audienz an den Präsidenten geschickt. Ihre zentralen Forderungen wiederholen sich dabei immer wieder: volles Strafmaß und keine vorzeitige Entlassung für die Täter, finanzielle und unmittelbare Hilfe für die Angehörigen, die Umsetzung bestehender Maßnahmen. Zuletzt steht die Forderung nach staatlicher Anerkennung der Familien der Opfer. „Dieser Staat ist blind, taub und bestechlich. Wir sind es müde, dass all diese Fälle straflos bleiben. Und die Liste wächst weiter. […] Wir sind heute hier, aber wir wollen nicht, dass es auf diesem Platz noch mehr Angehörige werden“, so Marisa Rodríguez, die Mutter der 2017 ermordeten Luna Ortiz, gegenüber dem Nachrichtenportal lavaca.

„Dieser Staat ist blind, taub und bestechlich.“

Nach Úrsula Bahillos Tod füllten sich die Plätze und Straßen im ganzen Land. Schon als Familie und Freund*innen von Bahillos Tod erfahren hatten, waren sie spontan protestierend durch Rojas gezogen und vor der Polizeiwache durch die Beamt*innen angegriffen worden. Einige Tage nach dem Feminizid protestierten Tausende Menschen landesweit vor den Gerichten.

Die strukturelle Dimension der Verbrechen und das Versagen auf staatlicher Ebene sind klare Kritikpunkte der Protestierenden. Immer wieder wird gemahnt, dass Úrsula Bahillos Tod hätte verhindert werden können. So zitiert lavaca Alfredo Barrera, den Vater der 2019 ermordeten Carla Soggiu, bei einer Protestaktion: „Das mit Úrsula hätte nicht geschehen müssen und das mit meiner Tochter auch nicht. […] Hoffen wir, dass dies hier eine Wende ist und die bestehenden Gesetze jetzt angewandt werden.“ Soggiu hatte einen Antipanik-Knopf, sie betätigte ihn, doch keine Maßnahmen folgten.

Viele der Protestierenden gehen in ihren Forderungen noch weiter. So meint Mónica Ferreyra, Mutter von Araceli Fulles, deren Körper im Jahr 2017 erst Wochen nach ihrem Verschwinden aufgefunden wurde: „Ich fordere eine feministische Justizreform. Es ist vier Jahre her, dass sie meine Tochter ermordet haben und seitdem haben wir keine Gerechtigkeit.“ Dem schließen sich auch Hunderte von Aktivist*innen – darunter die Abuelas de Plaza de Mayo Nora Cortiñas und Estela de Carlotto sowie die Anthropologin und Feministin Rita Segato – in einem offenen Brief an Präsident Fernández an. Darin zeigen sie die Notwendigkeit konkreter Schritte im Kampf gegen sexualisierte Gewalt auf: die Erklärung des landesweiten Notstands und die sofortige Freigabe von Geldern für Betroffene und Behörden, eine bessere Zusammenarbeit zwischen juristischen Institutionen, den Sicherheitsbehörden und Verwaltungen zur besseren Informationsübertragung und Verknüpfung von Fällen. Weiterhin fordern sie besondere Schulungen für alle Beamt*innen und ein zentrales Melde- und frühzeitiges Alarmsystem für Anzeigen, das Betroffene 24 Stunden am Tag und sieben Tage die Woche besser schützen soll. Hinter diesen konkreten Forderungen und Ideen zum Schutz von Frauen und Queers stehe jedoch die Forderung nach einer Justizreform unter Einbezug einer Geschlechterperspektive, so der offene Brief.

Für eine feministische Justizreform

Damit sprechen die Unterzeichner*innen auch das grundlegende Problem an. Härtere Strafen, effizientere Erfassung der Fälle und frühere Prävention können das Problem geschlechtsspezifischer Gewalt – wenn überhaupt – nur kurzfristig angehen. Langfristig lösen kann es nur breites gesellschaftliches Umdenken. So hält es auch Marisa Rodríguez, Mutter von Luna Ortiz, fest: „Wir brauchen eine Gesellschaft, die uns unterstützt.“ Eine Gesellschaft, in der Frauen und Queers sich sicher fühlen und selbstbestimmt leben und lieben können. Ohne Antipanik-Knopf, ohne die inzwischen so selbstverständlich von sich sorgenden Freund*innen und Angehörigen gestellte Frage „Bist du gut nach Hause gekommen?“, ohne Feminizide.

HARMONISIERUNG STATT STRAFE

Foto: Israel Rivera, Cátedra Jorge Alonso, Universidad de Guadalajara

Wie wird in den indigenen Gemeinschaften im Norden des Cauca mit Fällen geschlechtsspezifischer Gewalt umgegangen?
In der kolumbianischen Verfassung von 1991 ist festgeschrieben, dass wir in unseren Territorien unser eigenes indigenes Rechtssystem ausüben. Es gibt viele Bereiche, in denen wir uns mit den vielen Formen von Gewalt auseinandersetzen: Erstens die cabildos, Räte, die regelmäßig aus Mitgliedern der indigenen Gemeinschaften gewählt werden. Die cabildos arbeiten jeweils mit einem Justizteam. Dieses Team nimmt alle Arten von Anklagen entgegen, führt Ermittlungen durch und ruft die asamblea ein. Die asamblea ist eine Versammlung der gesamten Gemeinschaft und gilt als höchste Autorität. In Anwesenheit aller werden dann die Anklage und die Beweise vorgetragen. In jedem Rat wird unter Mitarbeit verschiedener Kommissionen diskutiert und entschieden, welche Art von „Heilmittel“, das heißt welche Art von Behandlung im jeweiligen Fall angemessen ist. Von Bestrafung ist keine Rede, denn es wird davon ausgegangen, dass eine gewalttätige Person nicht in Harmonie ist und deshalb harmonisiert werden muss. Es wird also gemeinschaftlich bestimmt, welches Heilmittel dem oder der Täter*in zugesprochen wird.

Was können wir uns unter Harmonisierungen von Gewalttätern vorstellen und welche Heilmittel gibt es?
Im Gegensatz zu gewöhnlichen Gefängnisstrafen, bei denen isoliert und bestraft wird und die Sträflinge nach der Haft noch schlechter dastehen als zuvor, ist das Ziel, sie nicht noch weiter zu isolieren. Es wird stattdessen versucht, ein Heilmittel aus zwei Teilen anzuwenden: Je nach Gewaltdelikt, bestehendem Gefahrenpotential des oder der Täter*in und Systematik der Gewalt werden in den asambleas dafür Peitschenhiebe oder Zeit am Fußblock verhängt [hier wird der oder die Täter*in kopfüber zwischen zwei Holzpfählen aufgehängt; Anm. d. Red.]. Diese Maßnahmen werden von den Sicherheitskräften der Gemeinschaft ausgeübt. Andererseits findet auch ein Ritual mit spirituellen Anführer*innen statt, die auf Nasa Yuwe, der Sprache der Nasa, tegualas heißen: Mit Hilfe von spezifischen Geistern und Heilpflanzen, je nach Disharmonie, wird der oder die Täter*in kosmogonisch-spirituell orientiert und der Körper harmonisiert, damit es der Person anschließend besser geht. In der zweiten Instanz werden die Gewalttäter dann in fast allen Territorien in sogenannte Harmonisierungsstellen geschickt. Das sind Gemeinschaftshäuser, wo die Täter*innen bleiben und alle mögliche Arbeiten verrichten, die in der Gemeinschaft anfallen. Ob nun gerade Zuckerrohr geerntet, Mais gepflanzt, oder etwas anderes geschehen muss, die Täter*innen werden angehalten für das Wohl der Gemeinschaft zu arbeiten, und nicht in einer Zelle eingesperrt zu sein.

Wird das Rechtssystem des Staates mit eingebunden?
Ja, mit der staatlichen Justiz wird auch kooperiert. Bei besonders schweren Fällen, also bei Feminiziden oder auch bei anderen Tötungsdelikten werden von der Gemeinschaft Hafturteile von bis zu 20, 40 oder 60 Jahren verhängt. In diesen Fällen werden die Täter in die Gefängnisse der staatlichen Justiz geschickt. Der Gemeinderat bleibt für sie verantwortlich, aber sie gehen dennoch ins Gefängnis. Es sollte aber klar sein, dass sowohl das externe staatliche als auch unser internes Rechtssystem angesichts der Gewalt gegen Frauen nicht wirklich funktioniert. Frauen werden in all diesen Räumen in ihren Rechten verletzt. Die compañeras aus der Frauenbewegung sprechen häufig von einer Reviktimisierung der Betroffenen. So ist es häufig der Fall, dass, nachdem eine Frau ihren Partner wegen häuslicher Gewalt angeklagt hat und für diesen eine Harmonisierung in der Gemeinde beschlossen wurde, vom Täter nach seiner Rückkehr nach Hause noch größere Gewalt ausgeht als vorher.

Gibt es innerhalb der autonomen Strukturen auch Unterstützungsstrukturen für Betroffene von sexualisierter Gewalt?
In Fällen von geschlechtsspezifischer Gewalt und Gewalt gegen Frauen und Kinder sind in den Gemeinderäten oftmals eigene Familienräte zuständig. Unter dem Schirm des Frauen- oder Familienprogramms des regionalen Zusammen-schlusses indigener Räte gibt es auch Zuständige, die diese Beschwerden entgegennehmen. Es gibt also verschiedene Räume und Instanzen, an die sich die Betroffenen wenden können; die wirkliche Unterstützung für die Opfer begrenzt sich aber weitestgehend auf psychologische Hilfe. Das ist ein schlimmer Missstand.

Obwohl wir indigene Völker sind und Wissen und Praktiken bewahrt haben, die uns das Überleben in über 5000 Jahren Patriarchat, bald 600 Jahren Kolonisierung und 200 Jahren des Nationalstaats gesichert haben, sind wir auch Produkte dieser Gesellschaft und von all diesen Formen der Unterdrückung geprägt. Obwohl wir also so lange überlebt haben, kann niemand leugnen, dass unsere Organisationen und wir selber von Patriarchat, Kolonialismus und Staat beherrscht sind. Das erklärt, dass Gerechtigkeit insbesondere für Frauen, die Opfer sexualisierter Gewalt werden, nicht funktioniert. Die indigene Rechtssprechung hat uns zumindest Land, Organisierung, Gemeinschaft, Bildung, Gesundheit und Unabhängigkeit von staatlicher Justiz gesichert sowie viele andere Errungenschaften gebracht. Aber wir müssen uns eingestehen, dass diese eigene Rechtssprechung im Fall patriarchaler Gewalt, vor allem wenn sie gegen Frauen gerichtet ist, nicht so gut greift wie in anderen Fällen. Das liegt auch daran, dass es vorwiegend Männer sind, die auch in den Strukturen der indigenen Rechtssprechung in den entscheidenden Ämtern sitzen, und oft sind dies Freunde oder Verwandte der Vergewaltiger.

Wie steht die Frauenbewegung im nördlichen Cauca zu diesen Misständen?
Die Frauen kämpfen schon lange gegen die Gewalt und Ungerechtigkeit, die uns widerfährt. In jüngster Zeit wird etwa das Konzept der Disharmonie, welches die letzten Jahrzehnte über verwendet wurde, von Frauen kritisiert, weil sie der Ansicht sind, dass mit diesem Konzept mehr das Wohlergehen des Täters als das der Opfer im Mittelpunkt steht. Tatsächlich zeigen die zunehmenden Fälle von Reviktimisierung von Frauen, dass es nur wenige wirklich gelöste Fälle von Gewalt gegen Frauen gibt.

Wenn wir das Ganze noch tiefergehender betrachten, sehen wir, dass es leider noch keine Struktur und keinen Prozess in der Gemeinschaft gibt, der sich mit patriarchaler Gewalt als solcher befasst. Diese kann nicht nur auf Aggression und Gewalt gegen Frauen reduziert werden, sondern schließt im weiteren Sinn auch die Disharmonisierung der Mutter Erde mit ein, die Umweltzerstörung in unseren Territorien. Die inneren Widersprüche der patriarchalen Gewalt werden aber weiter unter den Teppich gekehrt. Ebenso wie der Machismo, ein Übel, das in unseren Gemeinschaften sehr stark ist.

Ich möchte eine erwähnen, die besonders gegen diese Missstände gekämpft hat: die soziale Aktivistin Cristina Bautista Taquinás. Sie wurde am 29. Oktober 2019 gemeinsam mit vier kiwe tegnas (Nasa Wayu für indigene Sicherheitskräfte) von bewaffneten Akteuren geradezu massakriert, während eines Einsatzes zum Schutz der Gemeinschaften gegen die Narco-Industrie und die verschiedenen Formen der Gewalt gegen unsere Territorien. In den wenigen Jahren, die sie als indigene Autorität von Tacueyó gedient hat, war sie eine wichtige Verteidigerin der Frauen. Unter all unseren Autoritäten der letzten Jahrzehnte war sie diejenige, die sich am meisten dem Schmerz der Frauen angenommen und mit uns gefühlt hat. Denn sie hat selbst seit Kindestagen unter all den Formen der Gewalt gelitten, die wir Frauen in und außerhalb unserer Territorien erleben. Sie sagte: „Wenn wir sprechen, töten sie uns. Wenn wir schweigen, töten sie uns auch. Also sprechen wir!“

DIE TRÄNEN DES FALLENDEN PATRIARCHATS

No están solas! Auf der Plaza San Martín ist keine* mehr alleine (Foto: marcha.org.ar)

„Es gibt drei Mechanismen, die uns Frauen einschränken und die wir bekämpfen müssen: Die Schuld, die Scham und das Schweigen“, verkündet Sandra Morán, die erste und einzige lesbische Abgeordnete in Guatemalas Parlament, die extra zum Frauentreffen nach Argentinien gereist ist. „Deswegen werde ich jetzt ein Gedicht vortragen. Es heißt: Schluss mit dem Schweigen!“, ruft sie, trommelt wild auf eine kleine Djembe und schreit immer wieder in die Menge: „Schluss mit dem Schweigen!“ Jedes Mal schreit die Menge zurück: „Schluss damit!“ und hat damit ihren Ruf schon lautstark in die Tat umgesetzt.

„Schluss mit dem Schweigen!“

Es ist der zweite Tag des mittlerweile 34. Frauentreffens in Argentinien und auf einem der vielen Plätze der belagerten Stadt, der Plaza San Martín, findet eine riesige Asamblea (Versammlung) der antikolonialen Feminist*innen des Abya Yala statt. Abya Yala ist der Begriff in der Sprache der Kuna, unter dem der Kontinent Amerika vor der Ankunft Kolumbus‘ bekannt war. Wie viele Menschen auf dem Platz versammelt sind, ist unmöglich zu zählen, aber soweit das Auge reicht, sieht man in die Luft gestreckte Fäuste mit ums Handgelenk gebundenen grünen Tüchern, dem Zeichen des Kampfes für das Recht auf Abtreibung. An diesem Nachmittag sprechen hier viele Frauen* aus verschiedenen Regionen des Abya Yala, erzählen von ihren Kämpfen in ihren Territorien: Honduras, Ecuador, Wallmapu, dem sogenannten Chile und vielen anderen. Ihre Territorien sind eng verbunden mit ihren Körpern, ihren Leben und der sozialen Reproduktion. Viel zu oft handelt es sich dabei um Kämpfe, um diese Territorien zu verteidigen – gegen Ausbeutung, Plünderung und Gewalt, gegen den repressiven Staat, das internationale Kapital, das Patriarchat. „No están solas“ – „Ihr seid nicht allein!“ skandieren die tausenden Anwesenden immer wieder und ein warmes, aufregendes, das Herz zum Zerspringen bringendes Gefühl, nicht mehr allein mit den Kämpfen und Sorgen und dem Ungehorsam zu sein, hat die ganze Plaza eingenommen.

Seit 34 Jahren findet das selbstorganisierte Treffen statt

An allen Ecken und Enden der Kleinstadt, die nur etwa 60 Kilometer vom Zentrum von Buenos Aires entfernt liegt, finden dieser Tage Asambleas, Workshops, Talkrunden, Märkte und Aktionen statt. Jeder Raum, der nicht von Diskussionsrunden besetzt ist, dient als Unterkunft für die zehntausenden Frauen und Queers, die aus dem ganzen Land angereist sind, um an dem Treffen teilzunehmen – dem Grundpfeiler der feministischen Bewegung Argentiniens. Schon seit 34 Jahren findet das selbstorganisierte Treffen der Frauenbewegung statt. Zum ersten Treffen 1986 kamen etwa 300, von da an wuchs es beständig, auf 15.000 im Jahr 2007, auf 70.000 im Jahr 2017 und auf über 200.000 in diesem Jahr. Das Wort massiv fällt oft, innerhalb dieser Massen bekommt es jedoch erst eine wirkliche Bedeutung. Es ist ein Treffen, bei dem die ganze Stadt von Feminist*innen übernommen wird. Überall laufen und diskutieren, versammeln und drängeln sie sich, singen und marschieren sie in Gruppen durch die Straßen und schmettern Melodien aus dem schier unerschöpflichen Repertoire an Parolen gegen das Patriarchat: „Achtung, Achtung! Passt auf euch auf, Machistas, ganz Lateinamerika wird feministisch!“, oder „Hey, hey, wir sind die Enkelinnen der Hexen, die ihr nicht verbrennen konntet!“. Hier eine Demo, da eine asamblea, an dieser Plaza ein pañuelazo (Protestveranstaltung mit grünen Tüchern), an jener eine Kundgebung, hier eine Küfa, dort eine peña (Tanzveranstaltung) und alles voller singender Feminist*innen. Jedes Jahr wechselt der Ort des Treffens, die nächste ausrichtende Stadt wird auf der Abschlusskundgebung bestimmt. Manchmal sind es kleine Provinzhauptstädte mit 3.000 Hotelbetten wie vor zwei Jahren in der Provinz Chaco im armen Nordosten Argentiniens. Dieses Jahr ist der Austragungsort La Plata durch die geografische Nähe zur Hauptstadt und die zeitliche zur Präsidentschaftswahl besonders gut besucht und die Stimmung ebenso angespannt. Der erste Tag des Treffens fällt jedoch zunächst ins Wasser – die Tränen des fallenden Patriarchats, wie man munkelt – die Auftaktveranstaltung muss wegen Gewitters abgesagt werden. Wie in jedem Jahr wird als Vorsichtsmaßnahme die Kathedrale weitläufig mit Hamburger Gittern abgesperrt und von großem Polizeiaufgebot bewacht, denn die alljährliche Demonstration, das Herzstück des Treffens, führt immer einen radikaleren Teil der Demonstrant*innen, gerne oben ohne, an der Kirche vorbei, wo nicht selten Graffitis gegen die katholische Doppelmoral gesprüht werden, Mülleimer brennen und Mollis fliegen. Auch in diesem Jahr werden sieben Aktivistinnen vor der Kathedrale festgenommen, bald jedoch wieder freigelassen. Und während die größte feministische Demonstration, die es je auf einem Encuentro gegeben hat, langsam zu Ende geht, läuft im Fernsehen wie in einer Parallelwelt die erste TV-Debatte der Präsidentschaftskandidaten: sechs Männer diskutieren ernst vor schwarzem Hintergrund. Unzählige weitere unterhalten sich öffentlich darüber, was die sechs im Fernsehen gesagt haben. Von der Revolution in der Nachbarstadt scheint dort niemand was mitbekommen zu wollen.

„Achtung, Achtung! Passt auf euch auf, Machistas, ganz Lateinamerika wird feministisch!“

Die übergreifende Debatte, die sich durch alle der über 100 verschiedenen thematischen Workshops und unzähligen Nebenveranstaltungen zieht, ist wie auch schon im letzten Jahr die des Namens: der Umbenennung des Treffens von Nationales Treffen der Frauen in Plurinationales Treffen von Frauen, Lesben, Travestis, Trans, intersexuellen, bisexuellen und nicht-binären Personen. Auch in diesem Jahr hat das offizielle Organisationskomitee, das sich immer in der ausrichtenden Stadt zusammenfindet, allerdings meist von den Strukturen der kommunistischen Partei dominiert wird, keinen Raum zur Abstimmung über die Namensänderung eröffnet. Im Kampf um die Umbenennung hat sich eine nicht ganz selbstverständliche Allianz aus indigenen, migrantischen und queeren Aktivist*innen gebildet, zunächst zögernd, doch immer plausibler finden die verschiedenen Kämpfe um längst überfällige Inklusion solidarisch zueinander und mit ihnen ihre Protagonist*innen. So erobern Lolita Chávez, Maya k’iche’, Umweltaktivistin aus Guatemala und Claudia Vasquez Haro, Dozentin an der Universität von La Plata und Präsidentin des Vereins OTRANS, der für Rechte von Trans und Travestis in Argentinien eintritt, trotz Redeverbot mit vollem Körpereinsatz gemeinsam die Bühne der Abschlusskundgebung und rufen von dort unter johlendem Applaus die Umbenennung des Treffens aus. Denn die Realität des Treffens ist längst plurinational und queer, indigene Frauen* sind seit langer Zeit genauso wichtiger Teil der Bewegung wie verschiedene queere Identitäten. „Wir erkennen uns in diesem breiten Feminismus von unten wieder und kämpfen gegen jede Form von Gewalt, gegen Gewalt gegen Queers, gegen Xenophobie, gegen Rassismus“, ruft Vazquez Haro von der Bühne. „Compañeras, wir müssen lernen, uns gegenseitig zuzuhören und uns in unserer Verschiedenheit zu respektieren. Der Feind ist nicht hier unter uns, der Feind ist das Patriarchat!“ appelliert sie, jedoch bleibt die offizielle Anerkennung der Umbenennung auch in diesem Jahr aus. Eine Enttäuschung für die Feminist*innen des Abya Yala und die disidencias sexuales, der sexuellen Dissident*innen gegen die erzwungene Heteronormativität. Es bleibt unklar, ob das offizielle Organisationskomitee aus San Luis, dem Ort des Treffens im nächsten Jahr, die Namensänderung anerkennen wird.
Dennoch ist es wieder einmal vollbracht: Zehntausende Frauen und Queers haben sich organisiert, um oft etliche hunderte Kilometer zu dem wichtigsten Treffen des Jahres zu reisen. Und wie in jedem Jahr wird immer wieder gesungen: „¡Qué momento! A pesar de todo, les hicimos el encuentro“, will sagen: „Was für ein Moment! Trotz allem haben wir das Treffen gemacht“ – gegen „sie“, gegen die da oben, die, die nie zuhören wollen, die, die uns nie gesehen haben. Und es ist dieses Durchhaltevermögen einer jahrzehntelangen Tradition, sich gegen alle Hindernisse zu organisieren, sich zusammenzutun, um wieder zum nächsten Treffen zu reisen. Diese Praxis von Autonomie und Organisation und vor allem die Erfahrung, das Zusammensein zu zelebrieren, was die Bewegung in Argentinien so stark und mächtig gemacht hat. „Heute, compañeras, heute sind wir widerständig aufgewacht…” schließt Sandra Morán ihr gesungenes Gedicht, „und das Herz, das beinahe zu explodieren schien, hat es soeben getan!”

 

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