Politik und Poesie

Widerstand in Quito In der Hauptstadt Ecuadors kam es 2019 und 2022 zu Protesten (Foto: Karen Toro für laperiodica.net)

Wie haben Sie ihren Weg zur Poesie gefunden?

Ich schreibe schon, seit ich Kind bin. Ich war sehr introvertiert und die Umstände, unter denen ich aufwuchs, zwangen mich dazu, schnell erwachsen zu werden. Ich hatte immer das Gefühl, reifer zu sein, als die anderen Kinder in meinem Alter. Durch das Schreiben isolierte ich mich von ihnen. Die Lehrer bemerkten das und sagten: „Du kannst dein Gedicht schreiben“, wenn die anderen Kinder sangen oder tanzten. Mir gefiel das besser. Seitdem schreibe ich. Im Jahr 2017 habe ich mein erstes Buch veröffentlicht.

Wovon handelt Ihr erstes Buch?

Im Jahr 2006 ist mein Vater gestorben. Das war ein einschneidendes Erlebnis und ich begab mich auf die Suche nach mir selbst. In dem Umfeld, in dem ich aufwuchs, wurde ich nicht als indigen wahrgenommen, meine Indigenität wurde nicht anerkannt. Meine Familie gehört zwar der indigenen Bevölkerungsgruppe der Kayambi an, aber geboren bin ich im Territorium der Kitu Kara, etwa fünf Autostunden entfernt vom Rest meiner Familie. Ich bemerkte, dass meine Tanten und Onkel, zu denen ich zuvor kaum Kontakt hatte, Kichwa sprachen und sich anders kleideten. Das war ein Schock für mich. Ich hatte nie in die Welt der mestizos gepasst. Ich sah anders aus, hatte andere Gesichtszüge, andere Nachnamen. Ich gehörte den Kayambi an. Ich begann, mich mit den Ältesten der Gemeinschaft zu unterhalten, nahm an Zeremonien teil. Ich sammelte Eindrücke. Ich entdeckte die Kunst. Ich begann, das System infrage zu stellen, eine politische Position zu entwickeln. Das war erst möglich, nachdem ich meine eigene Identität gefunden hatte. Dieser Prozess dauerte zehn Jahre. Jemand sagte mir: „Das musst du aufschreiben.“ Und so kam es zu meinem ersten Buch.

Ihre Poesie ist sehr politisch und spricht viel über die Strukturen der indigenen Bewegung. Für die anstehenden Wahlen gab es einen indigenen Präsidentschaftskandidaten, der nun nicht mehr kandidiert. Warum?

Die Strukturen der indigenen Bewegung sind von außen schwer zu verstehen. Der Präsident der CONAIE sagt, dass es nicht seine eigene Entscheidung war, für die Präsidentschaftswahlen im August zu kandidieren, aber die Leute von außerhalb sagen: „Leonidas hat sich entschieden, zu kandidieren.“ Obwohl Leonidas selbst gar nicht kandidieren wollte. Er hat gesagt, dass die Bedingungen dafür nicht vorliegen, aber hat seine Kandidatur trotzdem eingereicht. Viele Menschen, die der Bewegung angehören, sehen nur, dass Leonidas einer von ihnen ist, und deswegen vertrauen sie ihm. Aber sie vergessen, die politische Situation zu analysieren. Andere von uns, die etwas mehr in den politischen Debatten stecken, wissen, dass die Bedingungen für eine Kandidatur gerade nicht gegeben sind. Die Entscheidung über die Kandidatur trifft eine Versammlung und Leonidas muss diese Entscheidung akzeptieren. Das hat er getan. Und als die Kandidatur zurückgezogen wurde, war es ebenso die Versammlung, die diese Entscheidung nach einer stundenlangen Debatte traf. Aber die großen Medien berichten, Leonidas hätte seine Kandidatur zurückgezogen. Das zeugt von einem Mangel an Verständnis. Es gibt in diesen Medien keine Journalist*innen, die das gemeinschaftliche System der indigenen Bewegung verstehen. Und so verbreitet sich dieser Diskurs landesweit.

Besonders der amtierende Präsident Guillerme Lasso hat Leonidas Iza regelmäßig beleidigt, ihm gedroht und ihn als Terroristen bezeichnet. Was macht das mit den Leuten?

Das macht die Menschen sehr wütend. Leonidas hat eine sehr wichtige Funktion, er repräsentiert die Bewegung und Lasso behandelt ihn wie einen Kriminellen. Diese Politiker wollen den Anführer der Bewegung zu Fall bringen und sie dadurch schwächen, aber sie verstehen die gemeinschaftliche Logik nicht. Seit 2019 ist ihnen das nicht gelungen und das wird wahrscheinlich auch so bleiben. Leonidas ist nicht nur jemand, der Entscheidungen fällt. Die Leute lieben und schätzen ihn. Er verbringt Zeit mit den Leuten. Wenn er Präsidentschaftskandidat wäre und es mit rechten Dingen zuginge, würde er gewinnen. Er würde die meisten Stimmen bekommen, weil wir, die Leute in den unteren Schichten, die armen Leute, mehr sind. Aber zum jetzigen Zeitpunkt sind die Voraussetzungen für eine Kandidatur nicht gegeben.

Welche Bedingungen müssten sich ändern, damit Iza bei künftigen Präsidentschaftswahlen kandidieren könnte?

Der Grund, warum eine Kandidatur zum jetzigen Zeitpunkt keinen Sinn macht, ist Pachakutik (Pachakutik ist die aus der indigenen Bewegung hervorgegangene politische Partei, die im Parlament vertreten ist, Anm. d. Red.). Viele Abgeordnete sind ihren Prinzipien und den Prinzipien der Partei nicht treu geblieben. Als sie an die Macht gelangt sind, haben sie ihre Stimmen verkauft und die Wähler betrogen. Sie wechselten zur politischen Rechten. Wir brauchen jedoch Abgeordnete, die sich treu bleiben. Leute, die an den Protesten 2019 und 2022 teilgenommen haben. Leute, die dafür gekämpft haben, dass das Öl im Yasuní Nationalpark im Boden bleibt. Diese Leute müssten aus der Bewegung heraus ernannt werden. Aber das ist momentan noch nicht der Fall.

Das politische Projekt des ehemaligen Präsi-denten Rafael Correa, die Revolución Ciudadana, gewinnt als Partei momentan wieder an Aufwind. Wie betrachten Sie diese Entwicklung und die Kandidatur von Luisa Gonzáles, die die erste Präsidentin Ecuadors werden könnte?

Woran ich als erstes denken muss, ist, dass diese Partei zehn Jahre lang alles dafür getan hat, um uns zu spalten. Dass sie sich als unbesiegbar hingestellt hat, als würden sie nichts und niemanden brauchen. So verhalten sie sich gerade wieder. Von der indigenen Bewegung als Einheit wird es keine Annäherung geben. Wenn wir uns eines Tages gemeinsam an einen Tisch setzen sollen, um uns im Sinne des Gemeinwohls zu unterhalten – zum Beispiel, wenn es um die Ressourcen im Yasuní Nationalpark geht – ist das möglich. Wenn es tatsächlich zum Wohle der Gemeinschaft ist, dann ja. Aber nicht, wenn es um das wirtschaftliche Wohlergehen ein paar Weniger geht. Eine Allianz wird es nicht geben. Und dass die aktuelle Kandidatin keine Berührungspunkte mit der feministischen Bewegung hat, ist ein großer Verlust. Die feministische Bewegung Ecuadors ist sehr breit aufgestellt und sie ist sehr stark geworden. Die Genossinnen haben hart gekämpft, um Räume zu erobern.

Um noch einmal auf Ihre Poesie zu sprechen zu kommen: Wie verbinden Sie Poesie und Politik?

Meine Inspiration finde ich im System der Gemeinschaft, in den Versammlungen der indigenen Gemeinden. Meine Poesie gehört eigentlich nicht mir. Ich transkribiere und veröffentliche sie nur. Für manche meiner Gedichte lese ich vierseitige Beschlüsse der CONAIE und fasse sie in einem poetischen Text zusammen. Das macht meine Gedichte zu kurzen Kommuniqués – nicht mehr und nicht weniger.

Was motiviert Sie, Ihre Poesie mit Menschen auf der ganzen Welt zu teilen?

Wenn wir eine Veranstaltung besuchen – zum Beispiel zum Thema Klimaschutz – sehen wir dort immer wieder dieselben Gesichter, dieselben engagierten Leute, die unsere Positionen teilen. Warum sollen wir also noch weiterreden? Wir müssen die Leute erreichen, die noch nicht überzeugt sind. Ich bin überzeugt davon, dass Kunst neue Räume erschließt. Ich möchte die Menschen erreichen, denen unsere Realität unbekannt ist. Die, die noch nicht überzeugt sind. In diese Räume gelangt Poesie. Darin möchte ich meine Energie investieren und diese Kraft habe ich in der Poesie gefunden.

AUTONOMIE IN BEWEGUNG

In ganz Lateinamerika gibt es Ansätze „von unten“, die das staatliche Gewaltmonopol herausfordern. Das zweifellos bekannteste Beispiel ist die zapatistische Bewegung. Seit dem Aufstand im Jahr 1994 wurde eine eigene Infrastruktur aufgebaut und eigene Strukturen der Selbstregierung etabliert. Dieses schillernde Beispiel gelebter Autonomie ist bei Weitem nicht das einzige. Vor allem innerhalb indigener Gemeinschaften wird Autonomie schon lange diskutiert, gefordert und gelebt.

Teils werden Autonomie-Prozesse vom Nationalstaat gefördert, etwa in der bolivianischen Verfassung ist das Recht auf indigene Autonomie verankert. Auch die kolumbianische Verfassung sieht unter anderem die Ausübung territorialer Autonomie für indigene Gemeinschaften vor. Der abgelehnte Verfassungsentwurf Chiles hätte für indigene Gemeinschaften „Autonomie und Selbstverwaltung“ innerhalb eines „plurinationalen und interkulturellen Staates“ beinhaltet.

Zudem unterstützen internationale Mechanismen wie die UN-Deklaration über die Rechte indigener Völker oder die ILO-Konvention 169 die Autonomie-Forderungen indigener Gemeinschaften.
Doch die Umsetzung in die Praxis ist schwierig. Gemeinschaften, die sich auf ihr Recht zur autonomen Kontrolle ihrer Territorien, einem Leben basierend auf den eigenen kulturellen Praktiken berufen, werden daran behindert und mit Repressionen überzogen.

Gleichzeitig wird innerhalb der Gemeinschaften teils kontrovers diskutiert, wie die Autonomierechte ausgelebt werden sollen und in welchem Verhältnis dazu der Nationalstaat stehen sollte.
Die tatsächliche Ausübung von Autonomie steht vielerorts am Anfang oder wird in kleinen Schritten erprobt. An dieser Stelle kann keine auch nur annähernd vollständige Übersicht der verschiedenen Prozesse erfolgen, aber einige wenige Schlaglichter auf weniger bekannte Ansätze sollen in einem Dossier, das sich mit „progressiven Regierungen“ in Lateinamerika beschäftigt, trotzdem nicht fehlen:

Guardias indígenas in Ecuador
Am Atrato-Fluss
In Guna Yala
Mapuche und indigene Autonomie

GUARDIAS INDÍGENAS IN ECUADOR

Ein aktuelles Beispiel für die Ausübung von Autonomie und Selbstbestimmung durch indigene Gemeinschaften in Ecuador sind die sogenannten gemeinschaftlichen Wächter*innen (guardias comunitarias y populares). In einer Stellungnahme der guardias indígenas vom 15. September 2022 wird die Position mehrerer Gemeinschaften in Bezug auf das, was sie als Strategie zur Verteidigung der Gebiete gegen den Extraktivismus und die Intervention der kolonisierenden Lebensweisen bezeichnen, dargestellt: „Auf der Grundlage des Rechts, in den angestammten Gebieten zu regieren und Gesetze zu erlassen, sind wir entschlossen, unsere gemeinschaftliche guardia indígena zu stärken, die aus dem Mandat unserer Ältesten hervorgegangen ist“. In diesem Ansatz wird der Logik des staatlichen Gewaltmonopols teils widersprochen.

Während der Mobilisierungen 2019 war die guardia indígena in den Städten aktiv, um die Selbstverteidigung der Demonstrierenden zu organisieren und auf die staatliche Repression zu reagieren.
Der ehemalige Präsident Lenin Moreno diffamierte in Komplizenschaft mit dem Medienapparat die organisierte Form der Verteidigung und bezeichnete die guardia indígena als Terroristen. Die rassistische Propaganda geht sogar so weit, die Organisationen als bewaffneten Arm von Drogenhändlern zu bezeichnen oder sie als Paramilitärs zu brandmarken. Die Kriminalisierung von autonomen Praktiken kommt nicht nur in Mobilisierungen wie denen vom Oktober 2019 oder Juni 2022 zum Ausdruck, sondern auch im täglichen Leben der Gemeinschaften und in ihrem Kampf gegen Bergbau, Monokultur und Vertreibung, insbesondere im Hochland und im ecuadorianischen Amazonasgebiet.

Die Handlungen des Staates stehen im Widerspruch zum Verfassungsauftrag, der Ecuador als plurinationalen Staat und das Selbstbestimmungsrecht der Bevölkerungen und Nationalitäten anerkennt. Viele staatliche Maßnahmen unterstützen dieses verfassungswidrige Handeln. Das 2011 erlassene Strafgesetzbuch stellt zum ersten Mal Tatbestände wie Terrorismus und Sabotage unter Strafe. Dies wird genutzt, um die Verteidigung der Territorien und Gemeinschaften, die von anderen Kosmovisonen geprägt sind, zu stigmatisieren und kriminalisieren.

Indigene und Afro-Gemeinschaften gründen ihre politische, soziale, spirituelle und wirtschaftliche Organisation auf die Gemeinschaft und der ihr innewohnenden Beziehung zum Territorium. All dies geschieht gegen den Strom, denn die Auferlegung einer neoliberalen Logik standardisiert die Lebensweisen in Richtung einer bestimmten Norm. Diejenigen, die sich ihr widersetzen, werden, wie die Kämpfe gegen Extraktivismus und Ausbeutung zeigen, kooptiert, kriminalisiert oder ermordet.

Dieser Artikel erschien in unserem Dossier „Sein oder Schein? – Die neue progressive Welle in Lateinamerika“. Das Dossier lag der Oktober/November-Ausgabe 2022 bei und kann hier kostenlos heruntergeladen werden.

IN GUNA YALA

Mola-Kunsthandwerk der Guna Tradition und Tourismus verbinden – eine der Herausforderungen für autonome indigene Strukturen (Foto: Lupo Cordero für Proyecto Nativo)

In Panama gibt es sechs indigene Autonomiegebiete, die zusammen etwa ein Viertel des Staatsgebietes einnehmen. Drei davon gehören zur Gruppe der Guna, je eines zu den Gruppen der Ngäbe-Buglé, der Emberá und der Naso. Das älteste Autonomiegebiet ist Guna Yala, ein etwa 200 Kilometer langer Streifen der karibischen Küste Panamas mit vorgelagerten Inseln, der erst seit einigen Jahren durch eine Straße mit dem Rest des Landes verbunden ist.

Bereits Kolumbien hatte 1870 ein ausgedehntes Autonomiegebiet der Guna anerkannt, dessen Status aber mit der Unabhängigkeit Panamas 1903 zunächst wieder erlosch. Im Jahr 1925 gab es nach territorialen Konflikten sowie Diskriminierungen und Misshandlungen seitens der vor Ort stationierten Polizeikräfte einen bewaffneten Aufstand der Guna, der schließlich zur offiziellen Anerkennung des Guna-Territoriums führte.
Kern der Selbstverwaltung sind zwei Versammlungen: der allgemeine, politische Kongress (Congreso general guna, CGG) sowie der spirituelle Kulturkongress (Congreso general de la cultura guna). Der CGG besteht aus Abgesandten aller Gemeinden und trifft politische Entscheidungen, die für alle Gemeinden verbindlich sind. Jedem Dorf sowie dem Gebiet als Ganzes stehen ein Sagla bzw. mehrere Saglagan (Plural) als politische und spirituelle Autoritäten vor. Der CGG hat einen Generalsekretär sowie verschiedene Sekretariate, etwa für die Verteidigung des Territoriums, für Information oder für Tourismus. Jede Gemeinde hat zusätzlich eigene Regeln.

Wirtschaftliche Interessen haben wie in vielen indigenen Gebieten stets zu Konflikten mit Staat und Unternehmen geführt. Ihre Autonomie und die geographische Abgeschiedenheit haben den Guna bisher jedoch dabei geholfen, sich erfolgreich gegen Großprojekte wie Staudämme oder Minen zu wehren. Herausforderungen für die Autonomie gibt es trotzdem. Der Bau der ersten Straße in das Gebiet wurde von den Einheimischen etwa mit dem Ziel vorangetrieben, Panama-Stadt schneller erreichen zu können. Mit der Straße kamen viele Tourist*innen, die zwar neue Verdienstmöglichkeiten, aber auch Müll und Umweltschäden brachten und auch die traditionelle Selbstversorger*innenwirtschaft störten. Ein Gleichgewicht zwischen Landwirtschaft und Tourismus wurde hier nicht von Anfang an mitgedacht.

Der Staat investiert zwar in Infrastruktur wie Schulen, Krankenstationen oder Wasserleitungen, für Projekte zur Stärkung ihrer Autonomie oder Kultur sind die Guna jedoch meist auf das Einwerben zusätzlicher Mittel angewiesen, etwa bei Entwicklungsbanken oder Botschaften. Gelungen ist ihnen dies etwa für die derzeit ablaufende, schrittweise Einführung zweisprachigen Unterrichts an den Schulen.

Junge Guna nehmen die Struktur des CGG zuweilen als anfällig für Korruption wahr, zudem sind politische Entscheidungsfindungen bei den Guna traditionell Männersache. Es werden Stimmen laut, die dies nicht mehr als zeitgemäß empfinden. Der Wandel braucht vermutlich etwas Zeit.

Dieser Artikel erschien in unserem Dossier “Sein oder Schein? – Die neue progressive Welle in Lateinamerika”. Das Dossier lag der Oktober/November-Ausgabe 2022 bei und kann hier kostenlos heruntergeladen werden.

MAPUCHE UND INDIGENE AUTONOMIE

Foto: Periódico Resumen via Flickr (CC BY-NC 2.0)

Innerhalb der Mapuche-Gemeinden auf chilenischem Staatsgebiet gibt es verschiedene Konzepte rund um das Thema Autonomie. All diese können jedoch aufgrund der restriktiven chilenischen Gesetzgebung, die jeden Anflug von Autonomie im Rahmen eines zentralistischen Einheitsstaates unterdrückt, in der Praxis nur schwer umgesetzt werden. Da es keine einheitliche Vertretung der Mapuche gibt, gibt es auch keinen Konsens wie Autonomie umgesetzt werden sollte.

Im Rahmen der Verfassungsdebatte wurde auch in der chilenischen Öffentlichkeit über das Konzept der Plurinationalität diskutiert. Diese Debatte war jedoch für viele Mapuche lebensfern und wurde darüber hinaus an den Wahlurnen abgelehnt. Das Konzept stellte lediglich einen institutionellen Ausweg dar, um das Recht der indigenen Bevölkerungen anzuerkennen, ihr Schicksal als „Nation“ zu bestimmen.

Ein weiterer Vorschlag stammt von der Organisation Wallmapuwen, die in der Vergangenheit versucht hat, sich als politische Partei zu etablieren. Wallmapuwen schlägt regionale Autonomien vor, in denen die Mapuche auf der Grundlage von Regionalparlamenten vertreten sein könnten. Der Versuch eine politische Kraft zu werden scheiterte jedoch.

Gänzlich außerhalb staatlicher Institutionen verfolgen Organisationen wie die Coordinadora Arauco-Malleco (CAM) de-facto-Landrückgewinnungs-Prozesse mittels Besetzungen von angestammten Territorien, die von Unternehmen bewirtschaftet, bzw. von Siedlern bewohnt waren. Dieses Vorgehen bedeutet, über die Ausübung „territorialer Kontrolle“, das Land in einen produktiven Raum zu verwandeln, der auf den Traditionen der Mapuche basiert und somit die „Entwicklung“ des Territoriums neu definiert. Zusammengefasst argumentiert die CAM, dass es ohne Territorium keine echte Autonomie geben kann.

Dieser Artikel erschien in unserem Dossier “Sein oder Schein? – Die neue progressive Welle in Lateinamerika”. Das Dossier lag der Oktober/November-Ausgabe 2022 bei und kann hier kostenlos heruntergeladen werden.

“KÖNNEN WIR NOCH WEITERE VIER JAHRE SO LEBEN?”

Foto: Katie Mähler @katie_maehler

Anfang Oktober sind Wahlen in Brasilien. Welche Erwartungen habt ihr mit Blick auf dieses Ereignis?
Alice: Ich hoffe sehr, dass ein anderer Kandidat als Bolsonaro gewinnt. Ich habe natürlich meine Präferenzen und konkrete Vorstellungen für die Zukunft, aber wie heißt es so schön: Das Leben ist kein Wunschkonzert. Auch wenn ein Kandidat erklärt, die indigenen Völker zu unterstützen, bedeutet das nicht unbedingt viel. Wir benötigen konkrete Aktionen. Während der Vorgängerregierungen hatten wir bereits bemerkt, dass es zwischen der indigenen Bewegung und der brasilianischen Politik eine tiefe Spaltung gibt. Und das müssen wir ein für alle Mal verändern. Ich hoffe wirklich sehr, dass die neue Regierung kompromissbereit sein wird und Verantwortung übernimmt. Denn bei Wahlkundgebungen ist es sehr einfach, Unterstützung zu zeigen. Doch sie in die Praxis umzusetzen und das Leben der Indigenen etwas zu erleichtern sowie endlich die Anerkennung der indigenen Territorien umzusetzen, das wäre für uns alle ideal.

Wie sind eure Erfahrungen als indigene Frauen und politische Führungspersönlichkeiten der Pataxó und der Uru Eu Wau Wau?
Tejubi: Bisher ist das eine gute Erfahrung für mich. Es ist zum Beispiel das erste Mal, dass ich als Vertreterin meines Volkes so weit gereist bin. Dass meine Tochter so weit weg ist, macht mir etwas Angst, weil ich oft an die Invasionen in unser Land denke und weiß, dass immer etwas Schlimmes passieren kann. Ich muss aber sagen, dass es nicht immer einfach war, mein Volk zu vertreten, denn ich wurde häufig diskriminiert und habe gehört, dass Frauen diese Aufgaben nicht übernehmen können. Aber ich stehe hier, um zu zeigen, dass wir es doch können.
Alice: Das ist ein extrem komplexes Thema. Wir sprechen von indigenen Völkern, die immer noch vom Patriarchat und gewissermaßen auch vom Machismo dominiert werden. Die Pataxós haben heute eine größere Offenheit, so sehe ich es, da es seit vielen Jahren Frauen gibt, die Führungspersönlichkeiten und Caciques sind. Diese Entwicklung nimmt zu. Heute sehe ich mehr Mädchen, die sich in politischen Räumen beteiligen und ihre Communities vertreten können. Das ist auch für uns sehr wichtig, denn wir bewegen uns von einer Position, in der wir nur als Frauen oder Mütter gesehen werden, zu einer anderen, in der wir eine politische, individuelle Person sein dürfen. Dabei geht es nicht nur um Zugang zur Politik, sondern auch um andere Möglichkeiten, wie zum Beispiel ein Studium. Das stärkt alle indigenen Frauen.

Wie blickt ihr auf die indigenen Kämpfe der letzten Jahre, in denen die Regierung Bolsonaro die territorialen Besetzungen und den Genozid an den indigenen Völkern vorangetrieben hat?
Alice: Der Genozid ist das Hauptmerkmal der Regierung von Bolsonaro. Ich habe noch nie eine solche Gesetzlosigkeit erlebt, sie erstickt die indigene Bevölkerung langsam. Die Suizidrate von Indigenen ist gestiegen, ebenso wie die von LGBT. Die Lage ist chaotisch, vor allem in Bezug auf die Pandemie. Es macht uns extrem traurig – umso mehr, wenn wir daran denken, dass Bolsonaro erneut kandidieren will. Falls er gewinnt, was werden wir tun, um mit seiner Politik umgehen zu können? Denn ehrlich gesagt, ist der Schaden nach vier Jahren seiner Regierung äußerst groß. Ich frage mich, ob wir noch weitere vier Jahre so leben können.
Tejubi: Seit Bolsonaro an der Macht ist, stellen alle fest, dass die Besetzungen in den indigenen Territorien beträchtlich zugenommen haben. Ich denke gerade an eine Geschichte, die bei uns passiert ist. Einige Invasoren sind in unser Land eingedrungen. Meine Verwandten sind zu ihnen gegangen und haben von ihnen gehört: „Das ist ein Befehl von oben. Wichtige Menschen haben uns erlaubt, das Land hier zu besetzen”. Wir Indigene und viele andere Brasilianer haben nur Probleme seit dem Beginn von Bolsonaros Amtszeit. Aber manche nehmen die Katastrophe nicht wahr, denn die Mehrheit seiner Unterstützer besitzen Land und Vieh und befürworten die Abschaffung indigener Territorien völlig.
Alice: Die Regierung Bolsonaro verfolgt eine politische Agenda, die sich gegen die indigenen Völker richtet und gegen die Menschen aus Favelas. Es ist für uns sehr schwer zu akzeptieren, dass das bestehende brasilianische System nur weiße Personen berücksichtigt, die über Privilegien und Ressourcen verfügen. Alle Vorstellungen von Entwicklung, die aktuell von der Regierung vertreten werden, basieren darauf. Auf Geld, auf Entwaldung, kurz: auf allem, was wir bekämpfen und seit langem versuchen zu verändern.

Welche Rolle spielte der digitale Aktivismus in euren politischen Kämpfen?
Alice: Ich arbeite heutzutage mit sozialen Medien. Sie sind ein Werkzeug mit großem Potenzial, das der indigenen Bewegung viel geben kann, denn sie dienen dazu, Menschen, die keinen Zugang zu unseren Communities haben, über unsere Bewegung und unsere Realität zu infor-*mieren. Es gibt eine riesige, nicht nur geographische, Distanz zwischen indigenen Dörfern und den Städten in Brasilien und dies hat natürlich Konsequenzen. Wir müssen aber gut aufpassen, denn dieses Werkzeug hat andererseits auch negative Effekte. Es gibt eine neue Generation, die langsam diesen virtuellen Raum besetzt, der ursprünglich nicht für uns geschaffen worden ist. Hier in Deutschland und Europa ist das Engagement über die sozialen Medien sehr stark, viele zeigen großes Interesse für die indigene Bewegung in Brasilien. Diese Annäherung wurde nur dank des Internets ermöglicht.
Tejubi: Alice ist die Influencerin von uns beiden (Gelächter).
Alice: Ich sehe mich nicht als Influencerin, denn ich beeinflusse Menschen nicht. Vielmehr kläre ich sie auf, denn das interessiert mich. Ich will nicht sagen, was die anderen tun sollten. “Influence” ist ein Begriff, der für die Kommerzialisierung konzipiert wurde und ich denke einfach anders.
Tejubi: Das Internet war für uns von Uru Eu Wau Wau sehr wichtig, denn so konnten wir etwas bekannter werden. Wir haben gelernt, Drohnen und GPS zu nutzen, um ein Harpyie-Nest (seltener, tropischer Greifvogel, der in den höchsten Baumkronen nistet, Anm. d. Red.) zu beobachten. Dies haben wir der FUNAI (Nationale Behörde für Indigene, Anm. d. Red.) gezeigt, um zu dokumentieren, dass dort Entwaldung stattfindet. Obwohl sie dem widersprochen haben – sie wären dort gewesen und hätten nichts gefunden, sagten sie – haben wir angefangen zu posten, was in unserem Territorium geschieht, und hoffen nun, dass uns dies helfen kann.

Wie stellt ihr euch das Engagement der jungen Generationen gegen die Entwaldung und für die Umwelt vor?
Alice: Junge Menschen können etwas tun, auch auf autonome Art und Weise. Mein Großvater hat mir immer gesagt, dass die Jugendlichen von heute die Führungsfiguren von morgen sein werden. In dieser Hinsicht ist unsere Bewegung sehr gewachsen und das ist extrem positiv. Ich hoffe, dass wir mehr Zugang zu Möglichkeiten erhalten sowie weniger Vorurteile und Diskriminierungen erleben werden, denn wir sind dagegen nicht immun. Unsere Jugend braucht auch mehr Engagement der neuen Generationen anderer Länder, um die echten Probleme besser angehen zu können.

In Bezug auf eure Reise nach Europa: Wie schätzt ihr die Möglichkeiten ein, mit internationalen Akteuren zu kooperieren?
Tejubi: Ich hoffe, dass unsere Reise nach Europa positive Folgen haben wird. Mein Volk würde sich sehr darüber freuen, wenn ich mit konkreten Ergebnissen zurückkehren könnte. Ich denke dabei an die Ermordung zweier meiner Onkel, die keine juristischen Konsequenzen hatte. Der eine war Lehrer und Mitglied einer Monitoring-Gruppe, er wurde vor zwei Jahren ermordet. Der andere erst vor drei Monaten, wahrscheinlich von einem Goldgräber in Guajará-Mirim. Wir haben dazu noch nichts erfahren, weder von Seiten der FUNAI, noch der Polizei. Es ist sehr schwierig für mich, wenn mich meine Großmutter fragt, ob ich hier schon etwas erreichen konnte, um die Verbrechen aufzuklären.
Alice: Ich finde es auf jeden Fall positiv und notwendig, die Realität unseres Kampfes in einem internationalen Kontext darstellen zu können. Beispielsweise können durch Kunst unsere Gefühle und andere Aspekte unserer Bewegung sehr effektiv kommuniziert werden. Auch wenn wir in den letzten Jahren mehr Raum in der nationalen wie internationalen Politik einnehmen konnten, kommen wir in vielerlei Hinsicht immer noch zuletzt, was sehr schade ist.

„WIR WERDEN NIE VERSCHWINDEN”

Zocalo, Mexiko-Stadt

Fotos: Johanna Shorack

Der Hauptplatz von Mexiko-Stadt, der Zócalo, war Schauplatz von zwei Veranstaltungen zum Gedenken an die Ankunft der spanischen Konquistadoren in Tenochtitlán. Während die mexikanische Regierung den Tag mit internationalen Gästen, aber unter Ausschluss der Öffentlichkeit beging, feierten die mexikanischen Indigenen das Jubiläum des letzten Tages ihrer Souveränität, den 12. August 1521, und teilten ihre eigene Geschichte anlässlich des halben Jahrtausends Widerstand seit der Invasion.

„Wir wollen der Welt mitteilen, dass sie gekommen sind, um uns verschwinden zu lassen, aber dass unsere Traditionen dennoch weiterleben“, sagte Don German X, einer der wichtigsten Anführer der Xochimilca, auf der Veranstaltung. „Die indigenen Völker sind und waren immer da, sie werden nie verschwinden”, bekräftigte er. Für die Xochimilca und andere ist das Gedenken vor allem ein spirituelles und begann in der Nacht zum 13. August mit Mahnwachen und Zeremonien.

Frau Indigene protestiert in Mexiko

In Xochimilco, im Südosten der Stadt, standen die Tlahucas und Xochimilcas die ganze Nacht über auf dem Zócalo, dem Hauptplatz der Gemeinde, um sich auf den großen Tag vorzubereiten und Chinampero-Mais anzubieten (Mais, der von den prähispanischen Inseln in Xochimilco kommt, Anm. d. Red.). Am nächsten Morgen brachen sie auf, um an der großen Demonstration im Stadtzentrum teilzunehmen.

Am Morgen des 13. August marschierten Dutzende von Gruppen, insgesamt mehr als tausend Menschen, vom Monumento de la Reforma zum Zócalo, um dem Aufruf zum Gedenken an den Widerstand von Tenochtitlán zu folgen und ihre kulturellen und spirituellen Werte zu feiern. Unter den Anwesenden waren Gruppen aus der aztekischen, der Chichimeca- und der Conchero-Tanztradition, wie zum Beispiel Azteca Xochiquetzal, Azteca Conchera, Ameyaltonal, die indigenen Völker von Xochimilco und Morelos und viele mehr.

Auf dem Zócalo angekommen, umkreisten die Gruppen einen riesigen Blumenaltar, auf dem sie tanzten und Opfergaben darbrachten.

Die Xochimilca gehören zu den Indigenen, die sich jährlich am 13. August an der Maisaussaat auf den Chinampas beteiligen. Die Chinampas sind eine Gruppe prähispanischer Inseln, die wegen ihrer großen Bedeutung für die Landwirtschaft und die Artenvielfalt zum Weltkulturerbe erklärt wurden. Während der Zeremonie wurde der Mais von der Darstellung eines großen Axolótl begleitet, einer besonderen Amphibienart, die in den Chinampas beheimatet ist und ein lebendiges Symbol für den Widerstand dieser Menschen darstellt. „Unser Volk, unser Mais und auch der Axolótl sind vom Aussterben bedroht”, sagte Don Germán. Er erklärte, dass immer weniger Menschen den lokalen Chinampero-Mais anbauten. Jedes Jahr nehmen die Xochimilca an der Zeremonie am 13. August teil, um an den indigenen Widerstand ihrer Vorfahren zu erinnern und mit der Ausübung ihrer eigenen Traditionen Widerstand zu leisten.

Don Germán stellte abschließend fest, dass sein Volk alles in seiner Macht Stehende tun würde, um kulturelle und ökologische Probleme zu lösen: „Der 13. August ist nicht nur ein Fest, das Wesentliche ist der spirituelle Teil. Mögen wir als Menschen die Spiritualität, gemeinsam mit der Verantwortung, welche wir tragen, weiter kultivieren.“

ALLE AUF DIE STRASSE

“Kampf um das Leben” Die Protestcamps haben eine lange Tradition im indigenen Widerstand (Fotos: Fabio Rodrigues Pozzebom, Agência Brasil)

„Während wir unsere Dörfer, unsere Territorien, unsere Gemeinden verlassen, sind wir Indigenen uns alle darüber im Klaren, dass Bolsonaro schlimmer ist als der Virus. Denn er ermordet nicht nur indigene Körper, er ermordet auch den Geist, das Gedächtnis und den Widerstand derjenigen, die es fortsetzen möchten, Leben über die Erde zu verbreiten“, sagte die Anthropologin und Kunstpädagogin Tai Kariri zu Beginn des Protestcamps „Kampf um das Leben“, das vom 22. August bis 2. September 2021 stattfand. Die Protestcamps in der Hauptstadt Brasília − in zwei Kilometern Entfernung von Kongress, Präsidentenpalast und Oberstem Gerichtshof − sind inzwischen eine 16-jährige Tradition des indigenen Widerstandes in Brasilien.

Die diesjährige Mobilisierung gegen den marco temporal, unter dem Motto „Unsere Geschichte begann nicht 1988“, wird von dem nationalen Zusammenschluss der indigenen Völker Brasiliens (Apib) in ihrem Ausmaß aber als historisch bezeichnet. Der Protest wird vom 7. bis zum 11. September mit dem Marsch der indigenen Frauen fortgesetzt und soll bis Ende 2021 als Dauerbesetzung bestehen – neben der Mobilisierung in den sozialen Netzwerken und den indigenen Territorien. Dabei versteht sich die indigene Bewegung als Teil der globalen Bewegung für den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen und der brasilianischen Demokratiebewegung.

Der Prozess des Obersten Gerichtshofes (STF) über eine Stichtagsregelung für die Anerkennung indigener Territorien begann am 26. August. In der ersten Woche wurden mehr als 30 Organisationen und Institutionen zum marco temporal angehört, darunter auch Vertreter*innen der Agro-Industrie, der Großgrundbesitzer*innen sowie der Generalstaatsanwaltschaften. Insgesamt gibt es – 33 Jahre nach Inkrafttreten der Verfassung von 1988, die die juristische Anerkennung von indigenen Territorien ausdrücklich vorsieht – noch immer 300 offene Prozesse um indigenes Land. Wird die Stichtagsregelung zum Gesetz, droht tausenden von indigenen Gemeinschaften die Vertreibung aus dem Gebiet, das sie bewohnen oder das für sie große spirituelle oder kulturelle Bedeutung hat. Andere könnten voraussichtlich ihre legitimen Ansprüche auf ein bestimmtes Territorium niemals juristisch durchsetzen. Insofern wurde die Entscheidung des Richters und Berichterstatters des STF, Edson Fachin, gegen die Stichtagsregelung vom Marsch der indigenen Frauen am 9. September mit großer Freude und Erleichterung aufgenommen – auch wenn der Prozess damit noch nicht entschieden ist. Sonia Bone Guajajara, indigene Führungspersönlichkeit und eine der Koordinatorinnen von Apib, twitterte: „Der erste Sieg der indigenen Völker in diesem Gerichtsverfahren, das für das Schicksal der Indigenen in ganz Brasilien so entscheidend ist.“

Neben der indigenen Mobilisierung erlebt Brasilien eine Welle von Protesten auf der Straße. Präsident Bolsonaro hatte seine Anhänger*innen dazu aufgerufen, am 7. September, dem brasilianischen Unabhängigkeitstag, massenhaft an Demonstrationen für die Regierungspolitik teilzunehmen. Gewerkschaften, soziale Bewegungen und linke Parteien mobilisierten daraufhin zu Gegenprotesten, oft gemeinsam mit dem traditionellen „Grito dos excluídos“ (Aufschrei der Ausgegrenzten). In insgesamt 160 Städten fanden Kundgebungen und Demonstrationen statt, die die Absetzung Bolsonaros und Sozialprogramme forderten. Verschärft durch die Pandemie, bleibt die Anzahl der Arbeitslosen in Brasilien auf einer Rekordhöhe von fast 15 Millionen Menschen, während bereits 40 Millionen Brasilianer*innen an Hunger leiden und mindestens weitere 85 Millionen von Ernährungsunsicherheit bedroht sind. Obwohl viele Gegner*innen von Bolsonaro den Aufrufen folgten, blieb die Mobilisierung der Opposition hinter der der Anhänger*innen des Präsidenten zurück. So versammelten sich in São Paulo rund 250.000 Anhänger*innen von Bolsonaro – deutlich weniger als die angekündigten zwei bis drei Millionen, aber dennoch deutlich mehr als die der Opposition.

Bolsonaro selbst sprach am 7. September auf Kundgebungen in Brasília und São Paulo. Er forderte den Präsidenten des Obersten Gerichtshofes, Luiz Fux, ultimativ auf, einen der STF-Richter, Alexandre de Moraes, zu entfernen. Er kündigte außerdem an, keine weiteren juristischen Entscheidungen von Moraes zu akzeptieren. Seine Reden lösten ein kleines Erdbeben im politischen Establishment aus, da es sich überdeutlich um einen Versuch handelte, die Unabhängigkeit der Justiz zu beenden. Bolsonaro, der sich ebenso wie seine Söhne juristisch in mehreren Fällen verantworten muss, versucht in seiner Anhängerschaft einen Diskurs zu etablieren, in dem jede Einschränkung der Macht des Präsidenten als „undemokratisch“ kritisiert wird. Dies ist ihm bereits weitgehend gelungen und ließ sich an den Plakaten der Demonstrationen ebenso deutlich ablesen, wie die Forderung nach einer Machtübernahme des Militärs.

Mit den öffentlichen Angriffen gegen das STF scheint Bolsonaro jedoch eine Grenze überschritten zu haben: Mehrere Parteien, darunter die mit Bolsonaro verbündete PSDB und die 18 Parteien des demokratischen Bündnisses Direitas Já – Fórum pela Democracia, kündigten erstmals an, ein Amtsenthebungsverfahren zu prüfen und seine Gesetzesvorhaben im Parlament nicht mehr zu unterstützen. Inzwischen liegen mehr als 120 Anträge auf Amtsenthebungsverfahren von Bolsonaro im Kongress vor, die der Parlamentspräsident Arthur Lira bisher nicht auf die Tagesordnung setzte. Der drohende Entzug der Unterstützung muss so deutlich gewesen sein, dass Bolsonaro unmittelbar zurückruderte. Am 9. September veröffentlichte er einen Brief – dem Vernehmen nach von seinem Vorgänger Michel Temer diktiert – in dem er seine demokratischen Grundüberzeugungen beteuert. Ein sehr durchsichtiges Manöver, das unter anderem von seinem Vorbild Trump bekannt ist. Eine Fortsetzung seiner Attacken auf die Justiz wird erwartet.

OFFENSIVE GEGEN INDIGENE

Gegen den marco temporal Protest vor dem Bundesgerichtshof (Foto: Fabio Rodrigues-Pozzebom, Agência Brasil)

Das Gesetzesvorhaben marco temporal steht im Fokus der aktuellen Auseinandersetzungen zwischen der brasilianischen Regierung und den Interessenvertretungen der indigenen Völker. Dabei geht es um die Einführung einer Stichtagsregelung, nach der die juristische Anerkennung jedes indigenen Territoriums von dem Nachweis seiner Nutzung am 5. Oktober 1988, dem Tag der Verkündung der heute gültigen Verfassung Brasiliens, abhängen soll. Die indigene Gemeinschaft, die Anspruch auf ein bestimmtes Gebiet erhebt, müsse am Stichtag auf diesem Land gelebt, sich in einem gerichtlichen Streit um das Land oder in einem direkten Konflikt mit Eindringlingen befunden haben. Für die Indigenen ist klar: So sollen mit einem Handstreich 500 Jahre kolonialer Ausbeutung und Landraub legalisiert werden. Der nationale Zusammenschluss der indigenen Völker (APIB) sieht deshalb den marco temporal als verfassungswidrig an, da dieser die Vertreibungen, Zwangsumsiedlungen und die Gewalt, die Angehörige verschiedener indigener Gemeinschaften vor 1988 erlitten haben, als Grundlagen des neuen Gesetzes anerkennt. Darüber hinaus werde die Tatsache ignoriert, dass es bis zum Inkrafttreten der Verfassung von 1988 für Indigene gar keine rechtliche Grundlage gab, um eigenständig ihre Rechte vor Gericht einzufordern. Hinzu kommt, dass der Nachweis der Nutzung eines Gebiets am 5.Oktober 1988 für viele indigene Gemeinschaften schwierig ist. In ihrer besonderen Beziehung zu ihrem Territorium ist nicht nur das Land identitätsstiftend, auf dem sie tatsächlich leben, sondern auch Gebiete, die eine kulturelle und spirituelle Bedeutung haben, aber nicht bewohnt werden.

Bereits im Wahlkampf hatte Jair Bolsonaro erklärt, dass unter seiner Präsidentschaft für indigene Gemeinschaften kein Zentimeter Land zusätzlich als Schutzgebiet ausgewiesen („demarkiert“) werden würde. Dieses Ziel hat er bisher umgesetzt: Unter seiner Regierung sind die Demarkationen indigener Territorien auf Null zurückgegangen. Die ausstehende juristische Entscheidung zum marco temporal diente der Regierung und einem Teil der Justiz als Rechtfertigung für die Lähmung der Demarkationspolitik. Ohne die juristische Anerkennung ihrer Territorien droht den Menschen dort die Vertreibung aus ihrer traditionellen Heimat, die untrennbar mit ihrer Kultur und ihren Lebensgrundlagen verwoben ist. Die möglichen Zwangsräumungen würden zur Auslöschung vieler indigener Gemeinschaften führen.

Legislative greift indigene Territorien an

Dabei schwelt der juristische Streit um die Stichtagsregelung schon länger. 2009 hatte der Oberste Gerichtshof (STF) bereits einmal über den marco temporal entschieden, als das indigene Territorium Raposa Serra do Sol anerkannt wurde. Das 1,7 Millionen Hektar große Gebiet in der nördlichen Hälfte des Bundesstaates Roraima ist die Heimat der Macuxi. Es ist das größte Schutzgebiet Brasiliens und eines der größten der Welt. Das 2009 erlassene Urteil wurde einerseits mit großer Erleichterung aufgenommen. Denn das Gericht erkannte an, dass die rechtliche Absicherung der indigenen Gebiete ein nationales Gebot ist – auch aufgrund der historischen Schuld gegenüber den indigenen Völkern. Anderseits führte das Urteil in seiner Begründung auch die bewiesene Besiedlung des Gebiets im Jahre 1988 an, berief sich also auf den Stichtag. Dies löste seinerzeit Befürchtungen aus, dass in diesem eigentlich positiven Urteil eine Zeitbombe versteckt sei. 2013 entschied der Oberste Gerichtshof in einem weiteren Verfahren, dass das Urteil von 2009 über das Gebiet Raposa Serra do Sol nur für diesen konkreten Fall gelte. Seitdem steht ein Grundsatzurteil zur Stichtagsregelung aus. Offen blieb damals auch, inwieweit ein Gesetz, wie zum Beispiel die Gesetzesinitiative PL 490 im Jahr 2007, den marco temporal etablieren könne. Damit war klar, dass Brasiliens Agrobusiness und die Agrarlobby der ruralistas wegen der Stichtagsregelung wieder vor Gericht ziehen würden. Dies geschah nun Anfang September dieses Jahres mit der Enteignungsklage der Regierung des Bundesstaates von Santa Catarina gegen das indigene Volk der Xokleng in Bezug auf deren Territorium Birama-Laklãnõ. Dieser Prozess führte nicht nur zu Protesten der Indigenen, sondern auch zu einer großen Mobilisierung des Agrarbusiness, das einhellig für eine Stichtagsregelung eintritt.

Der aktuelle Versuch, den marco temporal zu etablieren, ist nicht der einzige Angriff auf die Rechte der indigenen Völker. So hat Bolsonaro im Jahr 2020 die Gesetzesinitiative PL 191 den beiden Kammern des Nationalkongresses zur Entscheidung vorgelegt, die Bergbau und Wasserkraft in indigenen Territorien erlauben soll. Dies ist tragischerweise nicht durch die Verfassung ausgeschlossen. Die Legalisierung und Regulierung des Bergbaus wird damit zu einer zentralen Frage für die Zukunft der indigenen Völker in Brasilien.

Auch hier ist zu befürchten, dass die Mehrheitsfraktionen der Landwirtschaftslobby und der Bergbaulobby sich durchsetzen könnten. 280 der insgesamt 513 Mitglieder der Abgeordnetenkammer des brasilianischen Nationalkongresses sind Mitglieder der sogenannten „Ruralistas“-Fraktion, also des parteiübergreifenden Zusammenschlusses der Landwirtschaftslobby, der Frente Parlamentar da Agropecuária (FPA). Laut Recherchen der Nichtregierungsorganisation De Olho nos Ruralistas ging die mehrmalige Vertagung der Entscheidung des Obersten Gerichtshofes über die Stichtagsregelung auf den politischen Druck der FPA zurück. Die FPA verfolge damit das Ziel, zunächst in der Abgeordnetenkammer die Gesetzesinitiative PL 490/2007 durchzubringen. Dieser Gesetzentwurf soll maßgeblich Infrastrukturprojekte in indigenen Territorien gestatten, wenn es dem „relevanten öffentlichen Interesse des Bundes“ diene. Außerdem würde dieser Gesetzentwurf in der Praxis noch nicht abgeschlossene Demarkationsverfahren erheblich erschweren; die Anerkennung neuer Gebiete wäre praktisch unmöglich und darüber hinaus könnten sogar bereits bestehende Demarkationen rückgängig gemacht werden. Auch könnte mit indigenen Gruppen in freiwilliger Isolation leichter ein Kontakt erzwungen werden, was für diese Gemeinschaften lebensbedrohlich ist. Falls dieser Gesetzentwurf in Kraft tritt, wird sich die Lage der indigenen Völker Brasiliens weiter zuspitzen, Landraub und Konflikte sowie Entwaldung und Brandrodung werden zunehmen. Am 23. Juni dieses Jahres war der Gesetzesentwurf PL 490/2007 im zuständigen Ausschuss des brasilianischen Abgeordnetenhauses verabschiedet worden und muss nun im Parlamentsplenum beschlossen werden, bevor es dem Senat zur Entscheidung vorgelegt wird. Bereits im Juni hatten fast 1.000 indigene Repräsentant*innen vor dem Kongress in Brasília protestiert und die Gefahr von Landraub durch das Gesetz 490 sowie den darin ebenfalls enthaltenen Passus zum marco temporal wütend kritisiert.

Stichtagsregelung marco temporal

Weitere Gesetzesinitiativen sind zwei auch als „Landraubgesetze“ (PL da grilagem) bekannte Gesetzesvorhaben: eines im Nationalkongress (PL2633/2020), das andere im Senat (PL 510/2021), die beide unter anderem die illegale Aneignung von Land nachträglich legalisieren sollen.

Eine weitere zentrale Konfliktlinie ist die Zustimmung Brasiliens zur Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zum Schutz indigener Völker. Die Frente Parlamentar da Agropecuária hat am 12. August dieses Jahres ein Dokument veröffentlicht, in der sie den Austritt aus der ILO 169 fordert. Dort argumentiert das Agrobusiness, die ILO 169 beschneide Brasilien in den „Befugnissen zur Gesetzgebung, Verwaltung, Ausarbeitung und Bewertung nationaler und regionaler Entwicklungspläne und -programme, zum Bau von Straßen, Wasserkraftwerken und anderen Infrastrukturmaßnahmen – kurzum, zu souveränen Entscheidungen über das, was für den Fortschritt und die Entwicklung des Landes am nötigsten“ sei. Daher fordert die FPA, dass Brasilien zum nächstmöglichen Zeitpunkt aus der ILO 169 austreten solle. Nach den Regularien der ILO kann dies alle zehn Jahre geschehen. Da Brasilien die ILO-Konvention 169 im Jahr 2002 unterzeichnet hat, könne dieser Schritt bis zum 5. September 2022 vollzogen werden, so die Agrarlobby. Dies deckt sich mit Bolsonaros Vorstellungen. Denn auch er hatte bereits kurz nach seinem Amtsantritt geäußert, der Austritt Brasiliens aus der ILO 169 sei dringend notwendig, um die Entwicklung des Landes nicht weiter zu behindern. Ein Austritt Brasiliens aus der ILO 169 würde dem Trend hierzulande entgegenlaufen: Deutschland hat 2021 nach jahrzehntelanger zivilgesellschaftlicher Kampagne die ILO 169 endlich ratifiziert. Diese Ratifizierung sollte auch ein internationales Signal der Unterstützung der ILO 169 sein.
Brasilien ist für Deutschland der einzige sogenannte „strategische Partner“ in Südamerika und im Spätherbst stehen erneut hochrangige Regierungskonsultationen beider Partner-Länder an. Es bleibt zu hoffen, dass bei den Konsultationen jenseits von Dialog und gegenseitiger Partnerschafts-Beteuerung endlich auch einmal klare rote Linien gezogen werden: Ein drohender Austritt Brasiliens aus der ILO 169 sollte so eine rote Linie sein.

Die aktuellen Konflikte zeigen, dass der brasilianische Präsident jenseits aller rechtsradikalen Skurrilität eine konsistente Agenda verfolgt: Die Kampagne gegen die Rechte indigener Völker und traditioneller Gemeinschaften war bereits im Wahlkampf ein zentrales Thema Bolsonaros. Und die aktuelle Offensive geschieht mit der expliziten Unterstützung des mächtigen Agrobusiness und dessen massiver Präsenz im Parlament. Eine Kooperation mit dieser Regierung wird immer problematischer und unverständlicher.

DER KAMPF UM HARMONIE

CRIC „Wir befreien das Land für alle Lebewesen“ (Foto: Katherine Rodriguez)

Für die Sicherheit in der Gemeinschaft ist die Guardia Indígena (indigene Selbstverteidigung) zuständig, die in den indigenen Gemeinden die Polizei ersetzt: Die Guardia ist unbewaffnet und gewaltfrei, viele ihrer Mitglieder sind Kinder und Jugendliche, die auch unter den Älteren große Autorität genießen. Jede Familie stellt ein Mitglied, so dass der CRIC 20.000 Guardias zählt.

Bei der Jubiläumsveranstaltung schickt die Guardia nachts die Partygäste ins Bett, damit der Lärm die Ruhebedürftigen nicht stört und morgens um sechs Uhr weckt sie die gesamte versammelte Gemeinde mit Musik und lauten Rufen. Die Guardia steht als erstes auf und geht als letztes ins Bett, sie ist ein Vorbild an Disziplin und Einsatz für die Gemeinschaft.

Das Geld aus der Schattenökonomie ist der Treibstoff des Konflikts in Kolumbien

Die Guardia ist auch für die Verteidigung der Gemeinde nach außen zuständig: Im Cauca streiten sich das staatliche Militär, paramilitärische Gruppen und Deserteur*innen der FARC-Guerrilla, die sich wieder bewaffnet haben, um die Kontrolle der für den Drogenhandel strategisch wichtigen Region. Zum einen eignen sich die klimatischen Bedingungen hervorragend zum Anbau von Koka, Marihuana und Mohn, zum anderen ist besonders der nördliche Cauca ein wichtiger Schmuggelkorridor zum Hafen von Buenaventura, über den die Drogen in die Welt exportiert werden.

Das Geld aus der Schattenökonomie ist der Treibstoff des Konflikts in Kolumbien. Alle Konfliktparteien sind auf der Suche nach jugendlichen Kämpfer*innen, die sie auf aggressive Weise in den ländlichen Gemeinden rekrutieren – teilweise mit Zwang, teilweise mit Geld. Der Hunger und mangelnde Perspektiven treiben Massen von Minderjährigen und jungen Erwachsenen in die Hände der Todeskommandos.

Die unbewaffnete Guardia Indígena ist der radikalste Versuch, der Gewalt entgegenzutreten. Mit einem Holzstab gegen eine AK-47.

Die Menschen im CRIC sterben für ihre Überzeugung zur Gewaltfreiheit: 107 ihrer Anführer*innen wurden allein 2020 ermordet.

Während der Geburtstagsfeier des CRIC kreisen Hubschrauber der kolumbianischen Armee über dem Gelände und vor der nächstgelegenen Polizeistation stehen Panzerfahrzeuge der Aufstandsbekämpfungseinheit ESMAD; so als seien die unbewaffneten Indigenen die Bedrohung.

Stattdessen ist die Rolle des Staates fraglich: Wie kann es sein, dass täglich tausende Kilo Marihuana unbehelligt über die Landstraße an den Militär- und Polizeistationen vorbei transportiert werden?

Stück für Stück droht der Drogenanbau und die damit verbundene Gewalt das autonome indigene Projekt von innen auszuhöhlen. Besonders schmerzhaft ist, dass manche Anführer der bewaffneten Gruppen selbst Nasa sind, die in den Gemeinden aufwuchsen. Nachts leuchten an den Hängen in den Reservaten hunderte Laternen zur künstlichen Belichtung der Cannabisplantagen.

Fredy Campo hat die Nase voll und ruft mit seiner Gemeinde zur Selbstverteidigung und zu einer klaren Haltung gegen den Drogenhandel auf. Sein Territorium Sa’th Tama Kiwe hat sämtliche Cannabispflanzen zerstört und damit den Zorn der Bewaffneten auf sich gezogen. Gemeindemitglieder wurden bedroht, verfolgt und ermordet, aber sie haben sich gewehrt. „Wenn ein bewaffneter Akteur unser Gebiet betritt, dann kommt er nicht mehr heraus“, erklärt Ex-Gouverneur Fredy Campo kämpferisch. Als zuletzt ein Gemeindemitglied ermordet wurde, ermittelte die Guardia Indígena den Täter und nahm ihn fest, so dass er von der Gemeinde verurteilt werden konnte. Ein anderes Mal verfolgte die gesamte Gemeinde – knapp 1.000 Menschen – eine Gruppe von acht bewaffneten FARC-Deserteur*innen, die sich gegenüber der Masse ergaben. Die Gemeinde schmolz ihre Waffen ein und schickte die Indigenen unter ihnen in ein eigenes Rehabilitationszentrum, wo sie Gemeinschaftsarbeit leisten müssen und Impulse für eine politische und spirituelle Orientierung erhalten, um sich später wieder in die Gemeinschaft integrieren zu können. Die anderen Festgenommenen übergab die Gemeinde an staatliche Gefängnisse.

Die Rolle des Staates ist fraglich

„Wenn jemand schießt, erschrecken wir uns nicht, sondern begehren umso mehr auf, die Kraft liegt in der Basis“, beschreibt Campo die Selbstverteidigung. Er selbst wurde bereits zehnmal mit Pamphleten offen von verschiedenen illegalen Gruppen mit dem Tod bedroht.

So sehr sich die Menschen in Sa’th Tama Kiwe wehrten, so alleingelassen fühlten sie sich vom Dachverband CRIC.

„In anderen Reservaten wurden Anführende umgebracht und es gab quasi keine Reaktion. Andere wurden bedroht und flohen. Wie kann es sein, dass Anführende ihre Gemeinde und ihr Land verlassen?“, kritisiert Campo. „Viele haben heute Angst und lassen zu, dass die bewaffneten Gruppen die eigentlichen Herrscher des Territoriums sind. Das darf nicht sein.“ Mit einem offenen Brief wandte sich Campos Gemeinde an den CRIC und rief zu einer Reflexion über die eigenen Werte auf. Zu viele indigene Autoritäten tolerierten den Drogenanbau in ihren Gemeinden oder seien im Zuge der Institutionalisierung zu bequem geworden, um für ihr Territorium zu kämpfen.

Campo und seine Leute wollten bei einer Sitzung die höchsten CRIC-Autoritäten vom geschlossenen Kampf gegen den Drogenanbau überzeugen.

Doch stattdessen wurden zwei der Anwesenden, die eine besonders radikale Position gegen den Drogenhandel bezogen, nach dem Treffen von Unbekannten bedroht. Ein Hinweis darauf, dass die Infiltration durch bewaffnete Gruppen bis in die Führungsebene des CRIC hineinreicht.

Für Fredy Campo läuft der CRIC damit Gefahr, seine eigenen Werte zu verraten – in einer Zeit, in der die Einheit der Bewegung für die Verteidigung der Autonomie elementar wichtig ist. Mit den jüngsten Entdeckungen von Gold, Nickel und Coltanvorräten auf dem Empera Gebiet der Nasa und dem staatlichen Interesse an der Förderung des Bergbaus ist eine weiteres Schlachtfeld hinzugekommen.

Abseits der zunehmend institutionalisierten Strukturen des CRIC hat sich eine weitere Gruppe gebildet, die mittlerweile große Teile der Bewegung vereint: La Liberación de la Madre Tierra (Die Befreiung der Mutter Erde). Während die CRIC-Führungsebene mittlerweile vor allem auf Verhandlung zur Landrückgewinnung setzt, orientieren sich die Mutter-Erde-Befreier*innen an den Anfängen der Bewegung und besetzen Land, das einst den Nasa gehörte und heute von der Zuckerrohrindustrie ausgebeutet werden. Denn die fruchtbare Erde im Caucatal muss riesige Monokulturen aushalten, die so groß sind, dass sie mit Kleinstflugzeugen aus der Luft mit Pestiziden bespritzt werden. Wenige Großgrundbesitzer*innen scheffeln hier Gewinne mit dem Export von Ethanol für Biosprit. Die harte Arbeit auf den Feldern verrichtet im Wesentlichen die afrokolumbianische Bevölkerung zu Niedriglöhnen. Die Agrarindustrie verschmutzt das Wasser und vertreibt Tiere und deswegen erklärt Ana* von der Liberación: „Wir befreien das Land für alle Lebewesen.“

Angefangen haben sie damit 2014 auf einer geschichtsträchtigen Finca in der Nähe von Caloto im Norden des Caucas mit dem Namen La Empera Triste. Von hier starteten Paramilitärs im Dezember 1991, um im Auftrag von Großgrundbesitzer*innen auf der benachbarten Finca El Nilo 21 Nasa zu massakrieren, die dort Land besetzt hatten.

Heute ist La Empera Triste selbst besetzt. Auf einem grün-roten Schild im Eingangsbereich steht: „Wir sind tausendjährige Krieger“, daneben reiten zwei Jungs in Richtung eines kleinen Holzhauses. Sie gehören zu einer der Familien, die das Land besetzt haben und nun hier leben. „Zuckerrohr roden, um Essen zu pflanzen“ ist ihr Motto.

In der härtesten Zeit der Pandemie haben die Landbefreier*innen von hieraus mehrere Busse mit Lebensmitteln in die marginalisiertesten Viertel der Millionenstadt Cali gebracht und sie dort an Bedürftige verschenkt, erzählt Ana stolz. Damit taten sie das, was der kolumbianische Staat nur versprach. Dabei nehmen die Landbefreier*innen im Gegensatz zum CRIC keinerlei externe finanzielle Mittel an.

Dann lädt Ana in ihre Heimatgemeinde ein. Im Eingangszimmer ihres Hauses hat sie große Mengen an Kräutern zum Trocknen ausgebreitet, aus denen sie medizinische Getränke herstellt. „Wenn es einem Kind im Dorf nicht so gut geht, dann schicken sie es zu mir und ich bereite ihnen etwas zu“, sagt Ana, die noch etwas außergewöhnliches über die eigene Wasserversorgung des indigenen Reservats zu berichten hat: „Für fließendes Wasser zahle ich im Monat 50 Pesos (1 Cent)“, so hat es die Vollversammlung beschlossen.

Mit einem Holzstab gegen eine AK-47

Wenige Minuten von Anas Haus entfernt ist ein weiteres befreites Stück Land.

Wo vor fünf Jahren noch genmanipuliertes Zuckerrohr stand, tummeln sich nun zwischen Yucawurzeln und Mais die Insekten, Eichhörnchen und Vögel auf den Feldern. Als sie damals das Land befreiten, erhielten die bedürftigen Familien, die sich in die Befreiung eingebracht haben, jeweils einige Hektar, mit denen sie sich selbst versorgen konnten. Der größte Teil der befreiten Finca ist aber kollektives Land, auf dem wechselnde Arbeitsgruppen Lebensmittel für die Gemeinschaft produzieren. Jeden Samstag steht das gesamte Dorf auf dem Feld und packt gemeinsam an. So ist auch ein kleiner Dorfplatz entstanden und in einem offenen Haus aus Bambus ein Versammlungsort. Vor einem anderen Haus wirft eine Frau ein paar Maiskörner auf den Weg, um die sich Enten, Hühner, Schafe und kleine Schweine streiten, während ihre Mutter zwei Pferde anbindet und ihnen eine Ladung Yuca vom Rücken nimmt.

Dann sagt Ana „Ich zeig euch noch was“ und führt zu einem weiteren riesigen Stück Land, das sie befreit und dann der afrokolumbianischen Gemeinschaft aus dem angrenzenden Dorf übergeben haben. Ein Vorzeigeprojekt. Denn der große Teil der Afrokolumbianer*innen sieht in den Plantagenbesetzer*innen eine Gefahr für ihre Arbeitsplätze; statt Verbündete sind sie Gegner*innen der indigenen Befreiungsbewegung. „Die Regierung erklärt der afrokolumbianischen Community, dass sie Anspruch auf das Land hätte”, sagt Ana. Also versuchen die Befreier*innen auf sie zuzugehen; hier, in der Nähe von Caloto klappt das.

In der Nähe eines kollektiven Yucafeldes ruht sich eine kleine Familie in Hängematten im Schatten eines kleinen Bambushauses von der getanen Arbeit aus. Früher habe er Cannabis angebaut, erklärt der Familienvater. Das sei harte Arbeit gewesen und pro Kilogramm Marihuana habe der Händler ihm 8.000 Pesos, nicht ganz zwei Euro bezahlt. Dann schloss er sich den Mutter-Erde-Befreier*innen an und baut nun auf dem befreiten Land Lebensmittel an. Bald möchte er mit seiner Familie auch hierhin ziehen. Trotz der dauernden Bedrohung durch den kolumbianischen Staat. Für alle befreiten Fincas gibt es Räumungstitel. Jederzeit könnte das Militär oder die polizeiliche Aufstandsbekämpfungseinheit ESMAD auftauchen und mit Gewalt die Menschen von ihren Feldern und Häusern vertreiben. Mehr als 600 Räumungen auf 13 befreiten Fincas im Norden des Caucas gab es bereits, doch die Landbefreier*innen kamen immer zurück. „Und wenn es zehn, 20 oder 30 Jahre dauert – irgendwann ist es unser Land. Wir haben Zeit”, sagt Ana und fügt dann hinzu: „Wir haben in sechs Jahren 4.500 Hektar Land zurückerobert. Es fehlen aber noch weitere 400.000 Hektar Zuckerrohr-Monokulturen, die es in der Region gibt“. Sie schmunzelt.

Der Kampf der Nasa wird weitergehen. Auf der Jubiläumsveranstaltung des CRIC spielte am letzten Abend eine Band die Hymne der Guardia Indígena live. Tausende von Menschen reckten den Holzstab der Guardia Indígena in die Luft und sangen aus voller Seele: „Wir verteidigen unsere Rechte, auch wenn es uns das Leben kostet“ und „Für jeden toten Indio werden 1000 weitere geboren“. Die größtmögliche Liebeserklärung an die Bewegung.

*Name geändert

DER KAMPF UM HARMONIE

50 Jahre CRIC Mehr als 20.000 Menschen kommen zur Jubiläumsveranstaltung zusammen (Fotos: Katherine Rodriguez)

Dort, wo der Dorfweg von El Pital endet, ist das Eingangstor einer riesigen Finca. Über mehrere Hügel erstrecken sich in diesen Tagen kleine und große Zelte mit schwarzem Plastikdach gegen den Regen. Menschen schlendern über die schlammigen Wege dazwischen, die meisten in Richtung des größten Zeltes, das auf dem höchsten Hügel gelegen ist. Dort steht auch eine riesige Bühne mit Veranstaltungstechnik. Auf den ersten Blick sieht es aus wie auf einem Musikfestival. Hier, im kolumbianischen Departement Cauca, wo der bewaffnete Konflikt derzeit so viele Opfer fordert wie in keinem anderen Teil des Landes.

Auf der Bühne steht ein Mann mit braun-beigem Poncho und einem Strohhut, der mit grünem und rotem Stoff umkleidet ist, am Mikrofon. Jetzt ruft er aus voller Kehle in die Menge: „Wo ist das Volk der Yanacona?“ „Hier“ schreit es ihm von hinten rechts im Publikum entgegen. „Wo ist das Volk der Nisak?“ „Hier“ kommt das Echo etwas leiser von der linken Seite. „Und wo ist das große Volk der Nasa?“ Jetzt wird es richtig laut: „Hier!“

Dann tritt eine Band auf die Bühne. Als die Musiker mit grün-rotem Halstuch und Panflöte loslegen, klingt das ein bisschen nach andinem Schlager. Doch der Text hat es in sich: „Wir leisten weiter Widerstand gegen die Invasion und verteidigen unsere Rechte im Kampf gegen die Unterdrückung“, singen sie auf Spanisch.

Es ist die Veranstaltung zum 50-jährigen Jubiläum des Regionalen Indigenen Rates im Cauca, in dem sich die indigenen Gemeinden der Region organisieren, landesweit besser bekannt unter seinem Kürzel CRIC. Dazu sind mehr als 20.000 Menschen gekommen, um die wohl stärkste indigene Autonomiebewegung Südamerikas zu feiern. Diese umfasst unter dem Dach des CRIC zehn indigene Gemeinschaften, unter denen die prägendste die der Nasa sind, die seit 500 Jahren im Südwesten Kolumbiens Widerstand gegen die Kolonialisierung leisten. Damals wollten die spanischen Eroberer den Indigenen der Region Steuern aufzwingen und ermordeten einen Kaziken (höchstrangige indigene Adlige oder Anführer*innen, Anm. d. Red.), der sich widersetzte. Daraufhin führte die Kazikin Gaitana 1539 eine erfolgreiche Revolte gegen die Kolonisatoren an, die den Indigenen ein knappes Jahrhundert Freiheit verschaffte, bevor die Rache der Spanier sie fast vollständig ausrottete. Die Nasa sehen sich heute als Erben der 600 Überlebenden.

Es ist ein Gänsehautmoment, als der Moderator auf der Bühne, der gerade noch die Party animierte, eine Schweigeminute für „die vielen Toten und Ahnen, ohne die wir heute nicht hier wären“ einleitet.

Auch nach der Unabhängigkeit Kolumbiens Anfang des 19. Jahrhunderts wurde den Nasa weiter der Krieg aufgezwungen. Sie lebten in der Region mit der fruchtbarsten Erde Kolumbiens, das die Begierde der Großgrundbesitzer weckte, die die Nasa gewaltsam immer weiter zurück in die Berge in steiles und wenig produktives Land drängten.

Die jüngste Etappe des Widerstands leitete die Gründung des CRIC 1971 ein. Es war die Zeit, in der die kolumbianische Regierung den letzten ernsthaften Versuch einer Agrarreform in einem der Staaten mit der ungerechtesten Landverteilung der Welt ins Leere laufen ließ. Es war aber auch die Zeit, in der die Befreiungstheologie den Samen des Widerstands der Ausgebeuteten säte. So schlossen sich die Indigenen der Region zusammen, um für ihr Recht auf Land und Selbstbestimmung zu streiten. Sie besetzten Land, das einst ihnen gehört hatte, und erkämpften so Hektar für Hektar, stets unter großer Repression, die den Schmerz über ermordete Familienmitglieder dem Gedächtnis der indigenen Gemeinden eingebrannt hat. Dabei verfolgte die Bewegung verschiedene Strategien, um Land und damit die Möglichkeit der Versorgung zurückzugewinnen: besetzen, kaufen, juristisch erstreiten. Letzteres funktionierte besonders gut, seit in der Verfassung von 1991 umfassende indigene Rechte festgeschrieben wurden. So folgte der Legitimität auch die Legalität und die formale Anerkennung indigener Selbstverwaltung.

Das eigene Land ist dabei für die Nasa viel mehr als nur Anbaufläche. Das Leben beginnt mit der Verbindung zum Territorium, mit den Tieren und Pflanzen, mit der gesamten Umwelt, mit der zusammengelebt wird. Die Nasa nennen das: Harmonie. Ein allumfassender Begriff, der das Leben zwischen den Menschen und mit der Natur beschreibt. Den Weg dorthin weisen die Ältesten und Ahnen der Gemeinschaft, die mayores genannt werden. Der westliche Kapitalismus hingegen mit seinem Raubbau an Natur und Mensch erzeugt Disharmonie in den Beziehungen; das erklärt mayor Julio, wie er liebevoll genannt wird. Julio Cesar Caldón, so sein vollständiger Name, trägt eine Brille mit dicken Gläsern und dunklem Rand; er hat ein auffallend rundes Gesicht. Vor dem Interview pustet er Tabakrauch in die Luft und gen Erde und wiederholt das mehrfach. Er sei in Verbindung mit den Wolken getreten, um sich über den anstehenden Regen auszutauschen, erklärt er und im Gespräch wird deutlich, wie die Nasa die Welt denken. Der 53-Jährige ist dabei einer jener hochgeschätzten Älteren der Bewegung, die wesentliche Weichen des Autonomieprozesses mitgeprägt haben. 20 Jahre lang war er „Gouverneur“, gewählte Führungspersönlichkeit seines Cabildos, wie die Indigenen ihren Gemeinderat nennen. Über den Cabildos steht nur die Asamblea, die Vollversammlung, in der die wesentlichen Entscheidungen von allen Gemeindemitgliedern getroffen werden. Ein eigenes Regierungssystem erfordert auch ein eigenes Bildungssystem und so half mayor Julio dabei mit, die erste staatlich anerkannte indigene Universität Lateinamerikas aufzubauen: die UAIIN.

Es ist die Antwort auf ein Unbehagen: „Das staatliche Bildungssystem wurde uns aufgezwungen und wir haben 1.000 Dinge dadurch verloren. Wenn ich heute an einer Schule als Lehrer Koka kaue, dann werde ich schief angesehen. Außerdem wurden wir genötigt, Spanisch zu lernen und unsere eigenen Sprachen zu vergessen.“

Mayor Julios Stimme senkt sich etwas: „Ich spreche zum Beispiel keine unserer Sprachen und nur schlechtes Spanisch, weil es mich nicht ausdrückt in meiner Essenz, sondern ich das Gefühl habe, in einer fremden Sprache zu sprechen.“

Aber die Kritik geht noch tiefer: „Die staatliche Form von Bildung basiert auf Lehrplänen, die von oben nach unten funktionieren: vorgegebene Bücher lesen, Hefte führen, Tabellen ausfüllen“, erklärt Julio. „Es gab nie eine Schule, die wirklich anders funktionierte. Die Klassenzimmer hatten immer vier rechtwinklige Wände und eine Tür. Es sind Orte, die einen einsperren und nicht darüber hinaus denken lassen.“ Menschen Wege zu versperren und ihnen eine Richtung vorzugeben, erzeuge Disharmonie.

„Machen statt kopieren.“

Die Schulen des CRIC und die seit 2018 staatlich anerkannte Universität wollen es jetzt anders machen. Es gibt keine Lehrenden, sondern alle Beteiligten sind dinamizadores, etwa „Impulsgebende“. Die Universität hat keinen festen Standort, sondert wandert in die verschiedenen Reservate, wo der Unterricht stattfindet. „Wir haben immer gesagt: Die Universität sollte zu den Leuten in die Dörfer gehen und nicht anders herum, denn unser Ziel ist nicht, dass die jungen Leute ihre Dörfer verlassen, sondern sie darin zu bestärken, dass sie dort bleiben, während die anderen Universitäten die jungen Menschen in die Stadt locken, um dort dem Kapitalismus zu dienen.“

Die Klassenräume in den Dörfern haben nur ein Dach, aber keine Wände: „So kann die Bildung hinein und hinaus gehen.“ Überhaupt findet das Lernen aber eher unterwegs statt als an einem festen Ort. „Wir lernen bei der Gemeinschaftsarbeit oder bei jeder Begegnung.“ In der Schule wird Mathematik anhand des Webens von Stoffen gelehrt. Bei Reisen sollen die Studierenden die verschiedenen Reservate kennenlernen und so eine Einheit formen. Mayor Julio fasst das so zusammen: „Sprechen und machen statt kopieren.“

Aber: „Wir bilden uns zuerst zu 200 Prozent mit unserer eigenen Bildung und dann in der westlichen Form. Erst lernen wir, wo wir selbst herkommen und dann, was es außerhalb noch gibt. Aber das darf uns nicht von unserem eigenen Weg abbringen.“ So umfasst die Universität zehn Studienrichtungen, die hier „Gewebe“ genannt werden, zum Beispiel: Wiederbelebung der Mutter Erde, Indigene Justiz oder Buen Vivir („Gutes Leben“). Letzteres ist das Äquivalent zu Politikwissenschaft. „Dabei steht im Zentrum die Frage: Wie erträumen wir uns unser Leben und Land? Wie können wir in Kontakt mit Erde, Wasser und Sonne leben?“, erklärt Julio.

Der CRIC hat darauf in den letzten Jahren einige Antworten gefunden. So wurde eine eigene Krankenkasse gegründet, die mittlerweile staatlich so subventioniert ist, dass sie allen Indigenen kostenlose schulmedizinische Versorgung ebenso wie traditionelle Behandlungsmethoden und Rituale ermöglicht. Dazu kommt ein eigenes Rechtssystem: Mitglieder der Gemeinden, die gegen die Regeln des Zusammenlebens verstoßen, werden nicht vor einen Richter geführt oder gar ins Gefängnis gesteckt. Stattdessen berät die gesamte Gemeinschaft, welche Maßnahmen eine Veränderung des Straffälligen ermöglichen. Dabei leisten sie Gemeinschaftsarbeit oder erhalten in Rehabilitationszentren spirituelle Unterstützung.

Zunehmend versucht der CRIC auch auf eigenen wirtschaftlichen Beinen zu stehen. Manche indigene Gemeinden haben nach Jahrhunderten von Vertreibung nicht mehr genug fruchtbares Land, um sich selbst mit ausreichend Lebensmitteln zu versorgen. Außerdem schützen die Menschen im CRIC Wälder und Wasserläufe, sodass 60 Prozent ihres Territoriums Naturschutzgebiet sind. „Ökonomisch betrachtet ist das aber eine Herausforderung“, erklärt Aparicio Rios, Spezialist für indigene Ökonomie aus dem Reservat Paniquita. Seine Idee: „Wir müssen uns in dieser Welt mit anderen sozialen Bewegungen organisieren, um eine eigene Ökonomie aufzubauen.“ So organisierte er vor einigen Jahren mit der Zentralen Kooperative des CRIC den Import von 35 Tonnen Salz von den indigenen Wayuu im Nordosten des Landes um so einen solidarischen Handel zwischen indigenen Völkern aufzubauen. Mittlerweile sei das Projekt aber eingeschlafen. Alle zwei Jahre wechseln aus demokratischen Gründen alle Funktionsträger*innen im CRIC. „Aus administrativer Sicht ist das nicht gut. Alle zwei Jahre neue Leute auszubilden, die dann effizient arbeiten, ist schwierig“, bemängelt Rios mit Blick auf sein Ziel: „In dieser Welt ist die Wirtschaft der entscheidende Machtfaktor, damit wir dem kolumbianischen Staat wirklich auf Augenhöhe entgegentreten können.“ Noch hängen die Reservate am Tropf staatlicher Finanzierung oder ausländischer Fördermittel, welche die formalisierten Organisationen und Verbände akquirieren.

Wie es in Zukunft vielleicht einmal anders funktionieren könnte, zeigen die Stände unterhalb des großen Bühnenzeltes. Hier bewerben Kooperativen aus den indigenen Gemeinden ihre eigenen Produkte: Wein aus der Andenblaubeere, Öl aus der Inka-Erdnuss Sacha Inchi und Koka-Bier.

Während Neugierige hier unten die Produkte begutachten, schallt von der Hauptbühne der Lautsprecher über das Festgelände: „Compañeros, kauft lieber unsere eigenen Getränke als Coca-Cola.“ Es folgen weitere Hinweise für das Gemeinschaftsleben: „Compañeros, gestern Abend haben Leute mit Schuhen auf den Stühlen getanzt und jetzt sind die voll mit Schlamm.“ oder „Compañeros, der Chirrincho (Schnaps) ist lecker, aber wer nachts zu viel trinkt, verpasst morgens die politischen Diskussionen.“ Es wird kollektiv gedacht, nicht individuell. Dazu passend: Kaum jemand läuft unbegleitet über die Veranstaltungsfinca und auch alle Zelte sind in großen Gruppen mit Gemeinschaftsküchen organisiert.

Doch nicht alles ist harmonisch innerhalb der Gemeinschaft, darüber spricht Luciana Velazco, Regionalkoordinatorin des Programms für Frauen des CRIC. „Wir machen seit 26 Jahren Arbeit gegen patriarchale Gewalt, aber innerhalb der Organisation sind wir kaum sichtbar“, kritisiert sie. „Die Mehrheit unserer Frauen leiden unter psychischer und physischer Gewalt. Das wissen wir schon sehr lange. Aber wenn Frauen Vorfälle melden, hören ihnen die Autoritäten kaum zu.“ Deswegen organisieren Luciana und ihre Mitstreiterinnen Bildungsangebote für Frauen, um patriarchale Gewalt als solche zu erkennen und melden zu können. Doch es geht um mehr: „Dass andere wissen, dass ich misshandelt werde, erzeugt oft Scham. Aber in unseren Treffen schaffen wir einen vertrauensvollen Raum, in dem die Frauen von ihren Erfahrungen berichten“, erklärt Luciana. Eines der zentralen Probleme sei das fehlende Verständnis unter den gewählten Autoritäten, von denen ein Großteil Männer sind. Hinzu kommt: „Wir sind im CRIC nur drei Regionalkoordinatorinnen und das reicht einfach nicht aus, um mit allen Autoritäten ins Gespräch zu kommen.“

So wäre auch eine Weiterentwicklung des autonomen Justizsystems notwendig, „denn viele der Autoritäten sind der Meinung, dass häusliche Gewalt ein Problem ist, dass im Privaten gelöst werden muss und nicht von der gesamten Gesellschaft. Es gibt auch nicht wirklich eine Strategie für die Unterstützung von betroffenen Frauen, zum Beispiel durch psychologische Hilfe.“ Dazu komme es nach einer Anzeige oft zu einer Reviktimisierung durch den Ehemann, der Rache an seiner Frau übt. […]


Mayora Blanca Eine der ältesten und weiterhin aktiven CRIC-Mitglieder

Mayora Blanca Andrade: Die alte Radikale

Die mayora Blanca kommt nur langsam voran beim Gang durch die Menge. Ständig fragen sie Menschen, ob sie ein Foto mit ihr machen können. Dabei fällt auf: Es sind vor allem Jugendliche, die ein Bild mit einer der Gründer*innen des CRIC ergattern möchten. Die mayora Blanca nickt dann und lächelt, sie hat eine sehr zarte und liebevolle Art. Aber sie nimmt kein Blatt vor den Mund wenn es darum geht, die Jugend zu kritisieren: „Manchmal denke ich heute darüber nach, wie es damals war und dann denke ich: Heute ist der Kampf viel einfacher geworden. Viele Menschen kommen, um das bereits fertig gekochte Essen zu verspeisen.“ Sie meint die Früchte des jahrelangen schwierigen Kampfes der Vorgängergenerationen. Dank ihnen verfügen die Gemeinden heute über mehr Land und Ressourcen.

Die mayora Blanca nahm nach der Ermordung ihres Ehemanns 1982 eine Führungsposition im CRIC ein, während sie sich weiter um ihre drei Kinder kümmerte. „Wir haben nichts einfach so erreicht. Alles war ein Kampf und wir mussten laut sagen: Das sind unsere Rechte!“ Wer im CRIC war, hatte es schwer. Die Stigmatisierung war groß, berichtet die mayora. „Heute wollen alle Anführer des CRIC sein. Die Leute haben ihre Technik und ihre Autos. Sie laufen nicht mehr, deswegen sind die Anführer von heute dick geworden.“ Dabei ist klar, dass die mayora Blanca mit jedem Satz eine tiefere Bedeutung als das Profane ausspricht. Noch etwas passt ihr nicht von der aktuellen Linie mancher CRIC-Anführer*innen: „Früher hatten wir eine starke Abneigung gegen Verhandlungen mit dem Staat. Ich glaube, dass wir hier an Kraft verlieren. Ich hab immer gesagt: Wir als Indigene sind keine Bettler. Wir brauchen keine Legalität, weil wir Legitimität haben. Sie müssen uns zurückgeben, was sie uns über die vielen Jahre gestohlen haben, dafür braucht es keine Verhandlungen.“

Was sie sich für die nächsten 50 Jahre CRIC wünscht? „Manchmal denke ich: Warum sollte Kolumbien nicht auch mal einen indigenen Präsidenten haben so wie Bolivien?“

Fortsetzung aus unserer Juni-Ausgabe hier

HARMONISIERUNG STATT STRAFE

Foto: Israel Rivera, Cátedra Jorge Alonso, Universidad de Guadalajara

Wie wird in den indigenen Gemeinschaften im Norden des Cauca mit Fällen geschlechtsspezifischer Gewalt umgegangen?
In der kolumbianischen Verfassung von 1991 ist festgeschrieben, dass wir in unseren Territorien unser eigenes indigenes Rechtssystem ausüben. Es gibt viele Bereiche, in denen wir uns mit den vielen Formen von Gewalt auseinandersetzen: Erstens die cabildos, Räte, die regelmäßig aus Mitgliedern der indigenen Gemeinschaften gewählt werden. Die cabildos arbeiten jeweils mit einem Justizteam. Dieses Team nimmt alle Arten von Anklagen entgegen, führt Ermittlungen durch und ruft die asamblea ein. Die asamblea ist eine Versammlung der gesamten Gemeinschaft und gilt als höchste Autorität. In Anwesenheit aller werden dann die Anklage und die Beweise vorgetragen. In jedem Rat wird unter Mitarbeit verschiedener Kommissionen diskutiert und entschieden, welche Art von „Heilmittel“, das heißt welche Art von Behandlung im jeweiligen Fall angemessen ist. Von Bestrafung ist keine Rede, denn es wird davon ausgegangen, dass eine gewalttätige Person nicht in Harmonie ist und deshalb harmonisiert werden muss. Es wird also gemeinschaftlich bestimmt, welches Heilmittel dem oder der Täter*in zugesprochen wird.

Was können wir uns unter Harmonisierungen von Gewalttätern vorstellen und welche Heilmittel gibt es?
Im Gegensatz zu gewöhnlichen Gefängnisstrafen, bei denen isoliert und bestraft wird und die Sträflinge nach der Haft noch schlechter dastehen als zuvor, ist das Ziel, sie nicht noch weiter zu isolieren. Es wird stattdessen versucht, ein Heilmittel aus zwei Teilen anzuwenden: Je nach Gewaltdelikt, bestehendem Gefahrenpotential des oder der Täter*in und Systematik der Gewalt werden in den asambleas dafür Peitschenhiebe oder Zeit am Fußblock verhängt [hier wird der oder die Täter*in kopfüber zwischen zwei Holzpfählen aufgehängt; Anm. d. Red.]. Diese Maßnahmen werden von den Sicherheitskräften der Gemeinschaft ausgeübt. Andererseits findet auch ein Ritual mit spirituellen Anführer*innen statt, die auf Nasa Yuwe, der Sprache der Nasa, tegualas heißen: Mit Hilfe von spezifischen Geistern und Heilpflanzen, je nach Disharmonie, wird der oder die Täter*in kosmogonisch-spirituell orientiert und der Körper harmonisiert, damit es der Person anschließend besser geht. In der zweiten Instanz werden die Gewalttäter dann in fast allen Territorien in sogenannte Harmonisierungsstellen geschickt. Das sind Gemeinschaftshäuser, wo die Täter*innen bleiben und alle mögliche Arbeiten verrichten, die in der Gemeinschaft anfallen. Ob nun gerade Zuckerrohr geerntet, Mais gepflanzt, oder etwas anderes geschehen muss, die Täter*innen werden angehalten für das Wohl der Gemeinschaft zu arbeiten, und nicht in einer Zelle eingesperrt zu sein.

Wird das Rechtssystem des Staates mit eingebunden?
Ja, mit der staatlichen Justiz wird auch kooperiert. Bei besonders schweren Fällen, also bei Feminiziden oder auch bei anderen Tötungsdelikten werden von der Gemeinschaft Hafturteile von bis zu 20, 40 oder 60 Jahren verhängt. In diesen Fällen werden die Täter in die Gefängnisse der staatlichen Justiz geschickt. Der Gemeinderat bleibt für sie verantwortlich, aber sie gehen dennoch ins Gefängnis. Es sollte aber klar sein, dass sowohl das externe staatliche als auch unser internes Rechtssystem angesichts der Gewalt gegen Frauen nicht wirklich funktioniert. Frauen werden in all diesen Räumen in ihren Rechten verletzt. Die compañeras aus der Frauenbewegung sprechen häufig von einer Reviktimisierung der Betroffenen. So ist es häufig der Fall, dass, nachdem eine Frau ihren Partner wegen häuslicher Gewalt angeklagt hat und für diesen eine Harmonisierung in der Gemeinde beschlossen wurde, vom Täter nach seiner Rückkehr nach Hause noch größere Gewalt ausgeht als vorher.

Gibt es innerhalb der autonomen Strukturen auch Unterstützungsstrukturen für Betroffene von sexualisierter Gewalt?
In Fällen von geschlechtsspezifischer Gewalt und Gewalt gegen Frauen und Kinder sind in den Gemeinderäten oftmals eigene Familienräte zuständig. Unter dem Schirm des Frauen- oder Familienprogramms des regionalen Zusammen-schlusses indigener Räte gibt es auch Zuständige, die diese Beschwerden entgegennehmen. Es gibt also verschiedene Räume und Instanzen, an die sich die Betroffenen wenden können; die wirkliche Unterstützung für die Opfer begrenzt sich aber weitestgehend auf psychologische Hilfe. Das ist ein schlimmer Missstand.

Obwohl wir indigene Völker sind und Wissen und Praktiken bewahrt haben, die uns das Überleben in über 5000 Jahren Patriarchat, bald 600 Jahren Kolonisierung und 200 Jahren des Nationalstaats gesichert haben, sind wir auch Produkte dieser Gesellschaft und von all diesen Formen der Unterdrückung geprägt. Obwohl wir also so lange überlebt haben, kann niemand leugnen, dass unsere Organisationen und wir selber von Patriarchat, Kolonialismus und Staat beherrscht sind. Das erklärt, dass Gerechtigkeit insbesondere für Frauen, die Opfer sexualisierter Gewalt werden, nicht funktioniert. Die indigene Rechtssprechung hat uns zumindest Land, Organisierung, Gemeinschaft, Bildung, Gesundheit und Unabhängigkeit von staatlicher Justiz gesichert sowie viele andere Errungenschaften gebracht. Aber wir müssen uns eingestehen, dass diese eigene Rechtssprechung im Fall patriarchaler Gewalt, vor allem wenn sie gegen Frauen gerichtet ist, nicht so gut greift wie in anderen Fällen. Das liegt auch daran, dass es vorwiegend Männer sind, die auch in den Strukturen der indigenen Rechtssprechung in den entscheidenden Ämtern sitzen, und oft sind dies Freunde oder Verwandte der Vergewaltiger.

Wie steht die Frauenbewegung im nördlichen Cauca zu diesen Misständen?
Die Frauen kämpfen schon lange gegen die Gewalt und Ungerechtigkeit, die uns widerfährt. In jüngster Zeit wird etwa das Konzept der Disharmonie, welches die letzten Jahrzehnte über verwendet wurde, von Frauen kritisiert, weil sie der Ansicht sind, dass mit diesem Konzept mehr das Wohlergehen des Täters als das der Opfer im Mittelpunkt steht. Tatsächlich zeigen die zunehmenden Fälle von Reviktimisierung von Frauen, dass es nur wenige wirklich gelöste Fälle von Gewalt gegen Frauen gibt.

Wenn wir das Ganze noch tiefergehender betrachten, sehen wir, dass es leider noch keine Struktur und keinen Prozess in der Gemeinschaft gibt, der sich mit patriarchaler Gewalt als solcher befasst. Diese kann nicht nur auf Aggression und Gewalt gegen Frauen reduziert werden, sondern schließt im weiteren Sinn auch die Disharmonisierung der Mutter Erde mit ein, die Umweltzerstörung in unseren Territorien. Die inneren Widersprüche der patriarchalen Gewalt werden aber weiter unter den Teppich gekehrt. Ebenso wie der Machismo, ein Übel, das in unseren Gemeinschaften sehr stark ist.

Ich möchte eine erwähnen, die besonders gegen diese Missstände gekämpft hat: die soziale Aktivistin Cristina Bautista Taquinás. Sie wurde am 29. Oktober 2019 gemeinsam mit vier kiwe tegnas (Nasa Wayu für indigene Sicherheitskräfte) von bewaffneten Akteuren geradezu massakriert, während eines Einsatzes zum Schutz der Gemeinschaften gegen die Narco-Industrie und die verschiedenen Formen der Gewalt gegen unsere Territorien. In den wenigen Jahren, die sie als indigene Autorität von Tacueyó gedient hat, war sie eine wichtige Verteidigerin der Frauen. Unter all unseren Autoritäten der letzten Jahrzehnte war sie diejenige, die sich am meisten dem Schmerz der Frauen angenommen und mit uns gefühlt hat. Denn sie hat selbst seit Kindestagen unter all den Formen der Gewalt gelitten, die wir Frauen in und außerhalb unserer Territorien erleben. Sie sagte: „Wenn wir sprechen, töten sie uns. Wenn wir schweigen, töten sie uns auch. Also sprechen wir!“

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