Ecuador | Nummer 589/590 - Juli/August 2023

Politik und Poesie

Interview mit der Autorin Sarawi Andrango über die indigene Bewegung Ecuadors und Poesie als politisches Instrument

Die ecuadorianische Autorin Sarawi Andrango hat im Juni in Berlin und ihren neuesten Gedichtband Somos vorgestellt. Mit den LN sprach sie über ihre Poesie, die indigenen Proteste in Ecuador, Leonidas Iza, den Präsidenten des indigenen Dachverbands CONAIE und über die bevorstehenden Präsident-schaftswahlen im Land.

Interview: Anika Pinz
Widerstand in Quito In der Hauptstadt Ecuadors kam es 2019 und 2022 zu Protesten (Foto: Karen Toro für laperiodica.net)

Wie haben Sie ihren Weg zur Poesie gefunden?

Ich schreibe schon, seit ich Kind bin. Ich war sehr introvertiert und die Umstände, unter denen ich aufwuchs, zwangen mich dazu, schnell erwachsen zu werden. Ich hatte immer das Gefühl, reifer zu sein, als die anderen Kinder in meinem Alter. Durch das Schreiben isolierte ich mich von ihnen. Die Lehrer bemerkten das und sagten: „Du kannst dein Gedicht schreiben“, wenn die anderen Kinder sangen oder tanzten. Mir gefiel das besser. Seitdem schreibe ich. Im Jahr 2017 habe ich mein erstes Buch veröffentlicht.

Wovon handelt Ihr erstes Buch?

Im Jahr 2006 ist mein Vater gestorben. Das war ein einschneidendes Erlebnis und ich begab mich auf die Suche nach mir selbst. In dem Umfeld, in dem ich aufwuchs, wurde ich nicht als indigen wahrgenommen, meine Indigenität wurde nicht anerkannt. Meine Familie gehört zwar der indigenen Bevölkerungsgruppe der Kayambi an, aber geboren bin ich im Territorium der Kitu Kara, etwa fünf Autostunden entfernt vom Rest meiner Familie. Ich bemerkte, dass meine Tanten und Onkel, zu denen ich zuvor kaum Kontakt hatte, Kichwa sprachen und sich anders kleideten. Das war ein Schock für mich. Ich hatte nie in die Welt der mestizos gepasst. Ich sah anders aus, hatte andere Gesichtszüge, andere Nachnamen. Ich gehörte den Kayambi an. Ich begann, mich mit den Ältesten der Gemeinschaft zu unterhalten, nahm an Zeremonien teil. Ich sammelte Eindrücke. Ich entdeckte die Kunst. Ich begann, das System infrage zu stellen, eine politische Position zu entwickeln. Das war erst möglich, nachdem ich meine eigene Identität gefunden hatte. Dieser Prozess dauerte zehn Jahre. Jemand sagte mir: „Das musst du aufschreiben.“ Und so kam es zu meinem ersten Buch.

Ihre Poesie ist sehr politisch und spricht viel über die Strukturen der indigenen Bewegung. Für die anstehenden Wahlen gab es einen indigenen Präsidentschaftskandidaten, der nun nicht mehr kandidiert. Warum?

Die Strukturen der indigenen Bewegung sind von außen schwer zu verstehen. Der Präsident der CONAIE sagt, dass es nicht seine eigene Entscheidung war, für die Präsidentschaftswahlen im August zu kandidieren, aber die Leute von außerhalb sagen: „Leonidas hat sich entschieden, zu kandidieren.“ Obwohl Leonidas selbst gar nicht kandidieren wollte. Er hat gesagt, dass die Bedingungen dafür nicht vorliegen, aber hat seine Kandidatur trotzdem eingereicht. Viele Menschen, die der Bewegung angehören, sehen nur, dass Leonidas einer von ihnen ist, und deswegen vertrauen sie ihm. Aber sie vergessen, die politische Situation zu analysieren. Andere von uns, die etwas mehr in den politischen Debatten stecken, wissen, dass die Bedingungen für eine Kandidatur gerade nicht gegeben sind. Die Entscheidung über die Kandidatur trifft eine Versammlung und Leonidas muss diese Entscheidung akzeptieren. Das hat er getan. Und als die Kandidatur zurückgezogen wurde, war es ebenso die Versammlung, die diese Entscheidung nach einer stundenlangen Debatte traf. Aber die großen Medien berichten, Leonidas hätte seine Kandidatur zurückgezogen. Das zeugt von einem Mangel an Verständnis. Es gibt in diesen Medien keine Journalist*innen, die das gemeinschaftliche System der indigenen Bewegung verstehen. Und so verbreitet sich dieser Diskurs landesweit.

Besonders der amtierende Präsident Guillerme Lasso hat Leonidas Iza regelmäßig beleidigt, ihm gedroht und ihn als Terroristen bezeichnet. Was macht das mit den Leuten?

Das macht die Menschen sehr wütend. Leonidas hat eine sehr wichtige Funktion, er repräsentiert die Bewegung und Lasso behandelt ihn wie einen Kriminellen. Diese Politiker wollen den Anführer der Bewegung zu Fall bringen und sie dadurch schwächen, aber sie verstehen die gemeinschaftliche Logik nicht. Seit 2019 ist ihnen das nicht gelungen und das wird wahrscheinlich auch so bleiben. Leonidas ist nicht nur jemand, der Entscheidungen fällt. Die Leute lieben und schätzen ihn. Er verbringt Zeit mit den Leuten. Wenn er Präsidentschaftskandidat wäre und es mit rechten Dingen zuginge, würde er gewinnen. Er würde die meisten Stimmen bekommen, weil wir, die Leute in den unteren Schichten, die armen Leute, mehr sind. Aber zum jetzigen Zeitpunkt sind die Voraussetzungen für eine Kandidatur nicht gegeben.

Welche Bedingungen müssten sich ändern, damit Iza bei künftigen Präsidentschaftswahlen kandidieren könnte?

Der Grund, warum eine Kandidatur zum jetzigen Zeitpunkt keinen Sinn macht, ist Pachakutik (Pachakutik ist die aus der indigenen Bewegung hervorgegangene politische Partei, die im Parlament vertreten ist, Anm. d. Red.). Viele Abgeordnete sind ihren Prinzipien und den Prinzipien der Partei nicht treu geblieben. Als sie an die Macht gelangt sind, haben sie ihre Stimmen verkauft und die Wähler betrogen. Sie wechselten zur politischen Rechten. Wir brauchen jedoch Abgeordnete, die sich treu bleiben. Leute, die an den Protesten 2019 und 2022 teilgenommen haben. Leute, die dafür gekämpft haben, dass das Öl im Yasuní Nationalpark im Boden bleibt. Diese Leute müssten aus der Bewegung heraus ernannt werden. Aber das ist momentan noch nicht der Fall.

Das politische Projekt des ehemaligen Präsi-denten Rafael Correa, die Revolución Ciudadana, gewinnt als Partei momentan wieder an Aufwind. Wie betrachten Sie diese Entwicklung und die Kandidatur von Luisa Gonzáles, die die erste Präsidentin Ecuadors werden könnte?

Woran ich als erstes denken muss, ist, dass diese Partei zehn Jahre lang alles dafür getan hat, um uns zu spalten. Dass sie sich als unbesiegbar hingestellt hat, als würden sie nichts und niemanden brauchen. So verhalten sie sich gerade wieder. Von der indigenen Bewegung als Einheit wird es keine Annäherung geben. Wenn wir uns eines Tages gemeinsam an einen Tisch setzen sollen, um uns im Sinne des Gemeinwohls zu unterhalten – zum Beispiel, wenn es um die Ressourcen im Yasuní Nationalpark geht – ist das möglich. Wenn es tatsächlich zum Wohle der Gemeinschaft ist, dann ja. Aber nicht, wenn es um das wirtschaftliche Wohlergehen ein paar Weniger geht. Eine Allianz wird es nicht geben. Und dass die aktuelle Kandidatin keine Berührungspunkte mit der feministischen Bewegung hat, ist ein großer Verlust. Die feministische Bewegung Ecuadors ist sehr breit aufgestellt und sie ist sehr stark geworden. Die Genossinnen haben hart gekämpft, um Räume zu erobern.

Um noch einmal auf Ihre Poesie zu sprechen zu kommen: Wie verbinden Sie Poesie und Politik?

Meine Inspiration finde ich im System der Gemeinschaft, in den Versammlungen der indigenen Gemeinden. Meine Poesie gehört eigentlich nicht mir. Ich transkribiere und veröffentliche sie nur. Für manche meiner Gedichte lese ich vierseitige Beschlüsse der CONAIE und fasse sie in einem poetischen Text zusammen. Das macht meine Gedichte zu kurzen Kommuniqués – nicht mehr und nicht weniger.

Was motiviert Sie, Ihre Poesie mit Menschen auf der ganzen Welt zu teilen?

Wenn wir eine Veranstaltung besuchen – zum Beispiel zum Thema Klimaschutz – sehen wir dort immer wieder dieselben Gesichter, dieselben engagierten Leute, die unsere Positionen teilen. Warum sollen wir also noch weiterreden? Wir müssen die Leute erreichen, die noch nicht überzeugt sind. Ich bin überzeugt davon, dass Kunst neue Räume erschließt. Ich möchte die Menschen erreichen, denen unsere Realität unbekannt ist. Die, die noch nicht überzeugt sind. In diese Räume gelangt Poesie. Darin möchte ich meine Energie investieren und diese Kraft habe ich in der Poesie gefunden.

SARAWI ANDRANGO TITUMAITA wurde 1983 in El Caupi, im zentralen Hochland Ecuadors geboren. Sarawi ist Schriftstellerin, Landwirtin, Goldschmiedin und Kulturmanagerin. Sie hat Jura, Politikwissenschaften und öffentliches Management studiert. Sie nimmt regelmäßig an internationalen Buchmessen und Poesiefestivals teil, z. B. in Venezuela, Peru, Bolivien, Mexiko und Ecuador.

Foto: Sarawi Andrango

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