Ecuador | Gender | Nummer 587 - Mai 2023

„Wir fordern, in Würde leben zu dürfen“

Transfeministische Aktivistinnen vom Kollektiv PachaQueer sprechen über die Gewalteskalation infolge der Lockerung des Waffenrechts

Aktivist*innen wie Jéssica Martínez, die wegen ihres Einsatzes für die Rechte von trans und cis Sexarbeiter*innen im Jahr 2022 ermordet wurde, sind in Ecuador regelmäßig unterschiedlichen Formen von Gewalt ausgesetzt. Diese prekäre Sicherheitslage werde sich laut den Gründerinnen des Kollektivs PachaQueer mit dem nun erleichterten Zugang zu Waffen weiter verschlechtern. Das Dekret 707, das am 1. April dieses Jahres in Kraft getreten ist, soll der zunehmenden Kriminalität entgegenwirken und erlaubt den privaten Besitz und das Tragen von Waffen zur persönlichen Verteidigung.

Interview: Valeria Bajaña Bilbao

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Was sind eurer Meinung nach die akutesten Probleme der Legalisierung des Waffentragens in Ecuador?

Das Dekret 707 wird unmittelbar zu einer Verschärfung der Gewalt führen und macht Gruppen vulnerabler, die bereits jetzt regelmäßig Gewalttaten ausgesetzt sind. Gleichzeitig verleiht die Legalisierung dem Patriarchat mehr Macht. Das Gesetz wirkt sich negativ auf die Sicherheit von trans Menschen, Frauen, Kindern und Jugendlichen aus, aber auch auf Menschen mit eingeschränkter Mobilität, auf rassifizierte und verarmte Menschen. Bevölkerungsgruppen, die ohnehin wenig Schutz in unserer Gesellschaft erfahren. Hier in Ecuador, wie auch im Rest Lateinamerikas und vielen anderen Regionen der Welt, gelten wir weiterhin als Menschen dritter Klasse und die Legalisierung des Tragens von Waffen bedeutet in diesem Kontext die Legalisierung unseres Todes.

Aber wer wird eurer Erfahrung nach vom Erlass profitieren? Welche Art von Sicherheit wird hierdurch priorisiert?

Das, was der Präsident mit dem Erlass durchsetzen möchte, ist nichts Neues. Für diejenigen, die schon immer Zugang zu Waffen hatten, wird sich nichts ändern. Das sind die Gruppen unserer Gesellschaft, die zwar noch keine eigene Waffe mit sich tragen, aber die die nötigen Mittel besitzen, um einen eigenen privaten Sicherheitsdienst oder Wächter einzustellen. Gleichzeitig werden diejenigen von uns, die diesen Luxus nie hatten, weiterhin schutzlos bleiben. Denn wir sprechen hier von einem Land, in dem wir nicht mal genug Geld haben, um unsere medizinische Grundversorgung zu sichern. Der Prozess für eine Waffengenehmigung kostet viel Geld. Wie sollen wir ein psychologisches Attest und eine Bescheinigung des Ministeriums bezahlen, die für einen Waffenschein vorausgesetzt werden? Also wem dient das Gesetz wirklich?

Und warum bedeutet dieser erleichterte Zugang eine Gefahr für Menschen aus marginalisierten Bevölkerungsgruppen?

Die Personen, die die Anforderungen für eine Genehmigung erfüllen können, sind Menschen, die einen höheren finanziellen Status genießen. Und unserer Erfahrungen nach überschneidet sich die Gruppe der „wohlhabenden“ Bürger ironischerweise mit den selbsternannten „Lebensschützer*innen“. Sie sind diejenigen, die ohne lange zu zögern auf eine trans Person, eine Sexarbeiterin oder einen obdachlosen Menschen schießen würden. Deshalb hat die erlassene Verordnung für uns auch viel mit sozialer Säuberung zu tun. Und das ist etwas, was wir vor allem in Bezug auf die Situation von trans Sexarbeiter*innen beobachtet haben.

Welche Rolle spielt die Zuspitzung dieser Gewalt seitens krimineller Banden?

Bandenkriminalität ist ein Phänomen, das sich seit der Pandemie in Ecuador eingebürgert hat. In dieser Phase entstanden Erpressungsmafias, die durch Gewaltanwendung und Drohungen trans und cis Frauen, die Sexarbeit nachgehen, für den Verkauf von Drogen rekrutieren. Seitdem breitet sich Gewalt in Bezug auf den Drogenhandel weiter aus. Und die Situation, die Jéssica Martínez durchlebte, ist ein klares Beispiel für die Normalisierung des Narco-Staates in Ecuador. Der Anstieg dieser Form von Kriminalität in Ecuador steht in direktem Zusammenhang mit den enormen sozialen Ungleichheiten und dem strukturellen Rassismus, die im Land herrschen. Ein Beispiel dafür sind die Lebensbedingungen von Millionen verarmten, von Diskriminierung betroffenen Jugendlichen die sich gezwungen sehen, unmenschliche Arbeiten wie Auftragsmorde auszuführen. So wachsen die Ausgrenzung und Diskriminierung weiter. Diese Lebenssituationen werden durch den fehlenden Zugang zu Bildung, Kultur, Kunst, Gesundheit und Beschäftigung befördert. Und es war nicht nur Jéssica, die letztes Jahr ermordet wurde. Im September letzten Jahres wurde auch auf uns ein Attentat verübt. Ihr Mord war eines von vielen Hassverbrechen, die unsere Schwestern und Kampfgenoss*innen in den letzten zehn Jahren erlitten haben. Deshalb klagen wir: WIR WERDEN ERMORDERT!

Könnt ihr uns mehr über den Angriff erzählen, den ihr letztes Jahr erlebt habt?

Was wir letztes Jahr erlebt haben, war ein Ausdruck von Transfeindlichkeit. Die Situation fing zwar wie ein gewöhnlicher Raubüberfall an, aber es änderte sich als unsere Angreifer bemerkten, dass wir trans Menschen und Travesti sind. Danach begannen sie mit hasserfüllten Aktionen, Beleidigungen, Schlägen und schließlich kam der Schuss. Dieser Vorfall zeigt, dass eine Waffe dem Hass einen tödlichen Ausdruck verleiht.

Was uns sehr verärgert hat, war, dass wir nicht wussten, warum wir diese Situation durchmachen mussten. Wir wussten nicht, ob es eine Folge der Kriminalität war, die durch die neoliberale Regierung verursacht wurde. Oder ob es sich um eine Form der politischen Verfolgung von Anführer*innen sozialer Bewegungen handelte. Und das sind wir. Wir haben unsere Stimme erhoben als Jéssica ermordet wurde und zwei Wochen später wurden wir angegriffen.

Welche Folgen hat ein freier Zugang zu Waffen und die damit einhergehende Eskalation der Gewalt für die prekäre Sicherheitslage, in der sich schon jetzt soziale, ökologische und politische Aktivist*innen, wie ihr, befinden?

Für uns ist das neue Gesetz eine Strategie, um bestimmte politische Ziele durch Gewalt zu erreichen. Alles was in Ecuador passiert, deutet darauf hin: Die Massaker in den Gefängnissen, die Polizeigewalt während des Streiks von 2022, das Verschwinden von sozialen Anführerinnen, insgesamt die Kriminalisierung des sozialen Kampfes. Das zeigen die Ermordung von Jéssica Martínez und auch unser Fall. Wir haben die Gemeinschaftsutopie der Befreiung und Emanzipation PachaQueer im Mai 2013 in Quito gegründet. Hier werden Räume des Dialogs geschaffen, um Paradigmen über Geschlecht, Identität und verschiedene Sexualitäten zu verändern. Wir haben es direkt in unserem eigenen Leben, an unserem eigenen Körper erfahren. Wir werden zum Schweigen gezwungen. Das erlebte auch das Kollektiv, dem Jéssica angehörte. Nach dem Tod beschlossen die Sexarbeiter*innen, ihre Aktivitäten einzustellen und den Verein zu schließen.

Weil das Kollektiv sich durch die Vorfälle bedroht fühlte?

Natürlich war es wegen der Einschüchterung, der Unterdrückung, der Erpressung und der Angstkultur, die vom Staat legitimiert wird.

Welche Rolle spielt der Staat bei der Unterdrückung von Aktivist*innen?

Das ist etwas, was wir natürlich nicht außer Acht lassen können. Wir sind der Meinung, dass die Regierung durch die Eskalation der Gewalt gegen Aktivist*innen ein Beispiel setzen möchte. Momentan werden viele Menschen wegen Terrorismus oder wegen dem, was der Staat als Terrorismus definiert, verfolgt. Dazu gehören kommunistische und sozialistische Aktivist*innen und Freidenker. Sie werden mit absurden Strafen von bis zu 13 Jahren bestraft, nur weil sie sich für den sozialen Kampf einsetzen.

Die Kriminalisierung des sozialen Kampfes durch den Staat macht also Aktivist*innen in verschiedenen Bereichen anfälliger für Gewalthandlungen ihrer Gegner*innen?

Genau, deshalb können wir die zahlreichen Morde an Menschen, die sich für Freiheit, Gerechtigkeit und Würde einsetzen, uns nicht zu eigen machen. In vielen dieser politischen Räume gibt es Morde. Und nicht alle kommen ans Licht. Ganz pragmatisch betrachtet: diejenigen, die nicht glauben, dass Waffen uns vor anderen schützen können, haben nie eine Waffe mit sich getragen und werden ihre Meinung aufgrund dieses Gesetzes nicht ändern. Aber es gibt auch Menschen, die davon profitieren werden, weil sie es gewohnt sind andere mit Gewalt zum Schweigen zu bringen. Was diese Politik bewirkt, ist eine weitere Polarisierung der Gesellschaft. Das Ziel ist es, die öffentliche Aufmerksamkeit von den sozialen Problemen abzulenken, damit die Straflosigkeit, die Ungerechtigkeit, die Ausbeutung und die Unterdrückung, die wir erleben, weiterbestehen können.

Wie lauten eure Forderungen angesichts der mangelnden Sicherheit und der Umsetzung eines Gesetzes, das den Bedürfnissen der gefährdeten Bevölkerungsgruppen nicht gerecht wird?

Was wir fordern, ist die Aufhebung des Dekrets 707 und die Absetzung des aktuellen Präsidenten. Zurzeit gibt es viel Wut, viel Empörung und deshalb fordern wir keine Friedenskultur. Die Kultur des Friedens hat oft einen sehr hohen Preis für ausgeschlossene Bevölkerungsgruppen. Wir können nicht in Frieden leben, wenn wir mit weniger als dem Mindestlohn unseren Lebensunterhalt bestreiten müssen. Wir können nicht in Frieden leben, wenn wir keinen Zugang zur einer umfassenden Gesundheitsversorgung oder diskriminierungsfreier Bildung haben. Wenn es keine Mindestanzahl an Arbeitsplätzen für trans Menschen gibt. Wie können wir in Frieden leben, wenn Menschen weiterhin der Zugang zu Wohnraum verwehrt wird oder wenn unsere Geschlechtsidentität nicht anerkannt wird? Wir fordern vor allem, in Würde leben zu können. Und in diesem Land werden wir mit jedem Tag der vergeht, mit jedem Mord und mit jeder verschwundenen Person unserer Würde beraubt. Deshalb fordern wir die notwendigen Maßnahmen und Mittel, um sie wiederzuerlangen.

CoCa Rodriguez & MoTa Fajardo

haben die Gemeinschaftsutopie der Befreiung und Emanzipation PachaQueer im Mai 2013 in Quito gegründet. Hier schaffen sie Räume des Dialogs, um Paradigmen über Geschlecht, Identität und verschiedene Sexualitäten zu verändern. (Foto: Esteban Naranjo)


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