Argentinien | Gender | Nummer 525 - März 2018

MENSCHLICHKEIT IM TIEFEN SINNE

Der argentinische Trans*-Aktivismus sucht nach einem Gegenentwurf für die gescheiterte Gesellschaft

Argentiniens Trans*-Community blickt auf eine lange Geschichte struktureller und sexualisierter Gewalt zurück. Aber auch die ihrer Organisierung und ihres Widerstandes begann bereits in den 90er Jahren und hat sich seither zunehmend politisiert. Die Community bewegt mit einem stark antikolonialen und queerfeministischen Diskurs radikale soziale Prozesse, hat eine Reihe von paradigmatischen Repräsentantinnen mit klarem politischen Profil hervorgebracht und wegweisende Gesetze zur Geschlechteridentität und LGBTIQ*-Rechten erkämpft. Über praktizierte sexuelle Dissidenz und den Travestismo als politische Identität sprachen die LN mit der argentinischen Travesti-Aktivistin Marlene Wayar.

Interview: Caroline Kim

Wir haben eine Rede von Lohana Berkins zum Travestismo als politische Identität abgedruckt. Können Sie nochmal sagen, was für Sie den argentinischen Travestismo ausmacht?
Unser Begriff Travesti unterscheidet sich von anderen Transgenderbewegungen im Bewusstsein und in der Komplexität, mit der wir uns selbst sehen. Wir sehen uns nicht aus einer Genderperspektive, ohne uns vorher aus der Klassenperspektive betrachtet zu haben. Die Trans- und Travesti-Community in Argentinien ist stark durch strukturelle und symbolische Armut geprägt. Wir beziehen uns in unserem Transgenderismus auf Subjektivität mit klarem eigenen Gehalt. Wir sind eine radikal andere Option der Identität. Wir wollen gar nicht in die Kategorien von Mann und Frau passen. Das ist eine Halluzination der Heterosexualität, dass wir euch imitieren wollen. Wir wollen weder Mann noch Frau sein, da beide ein gescheitertes Dasein haben.
Wir sehen Mann und Frau als systemisches Paar: Es ist nicht allein das Patriarchat und die Männer, es sind Männer und Frauen, die an dieser Gesellschaft, wie wir sie heute haben, schuld sind. Um diese Gesellschaft so derart scheitern zu lassen, haben sich Männer der Unterdrückung bedient. Aber Frauen sind mitverantwortlich, sie sind notwendig in diesem systemischen Paar. Sie tragen immer noch dazu bei, dass das Ganze erhalten bleibt. Bedauerlicherweise müssen sie anfangen, darüber nachzudenken.

Wird das nicht in der Frauenbewegung getan?
Der Feminismus ist eine notwendige Kritik, aber eine Kritik, die nicht die Veränderungen schafft, die die Welt braucht. Und das, was der Feminismus macht, um das Bestehende zu erhalten, macht er besonders gut. Jeden Tag erhält er das Patriarchat, den Kapitalismus und den Machismus, der heute weltweit die Gesellschaft ausmacht.
Die Wahlmöglichkeit der Frauenbewegung bleibt die der Frau, zu entscheiden, dass sie eine Frau sein will. Wir kommen nicht umhin, zuzugeben, dass der Ort der Frau vom Patriarchat und vom Mann konstruiert wurde. Der Mann definiert und er erlaubt, ob dieser Ort sich verändern kann oder nicht. Er erlaubt oder erlaubt nicht, dass heute für ,Ni una menos’ protestiert wird, er erlaubt heute, dass unsere Schwarze Bevölkerung nicht mehr verschleppt und versklavt wird und ob sich Bedingungen ändern.
Dass aber heute in meinem Land immer noch Menschen umgebracht werden, geschieht aufgrund eines systemischen Paars aus dominierendem Mann und funktionaler Frau. Und sogar die Frauen, der Feminismus und die Bewegungen, die aus der weiblichen Subjektivität heraus etwas schaffen wollen, sind immer noch zwingend notwendige Komplizinnen dieses systemischen Paars. Und solange, wie sie sich nicht aus dieser Illusion der obligatorischen Heterosexualität befreien, tun sie so, als ob sie keine Verantwortung dafür tragen würden, funktional für und mitschuldig an einem System zu sein, das tötet.

Können Sie genauer erklären, inwiefern die obligatorische Heterosexualität gescheitert ist und Tod produziert?
Das ist so offensichtlich, dass ich nicht weiß, was ich euch daran noch erklären soll. Ich könnte euch von religiösen Bewegungen erzählen, ganz beispielhaft von der katholischen Kirche mit ihrer Geschichte der Hexenverbrennungen und der Inquisition, Verbrechen, für die sie sich nie entschuldigt hat. Der Mittlere Osten ist ein permanenter Kriegsherd, der Imperialismus produziert immer weitere Tote. Und es regiert der Heterosexismus, um Kinder zu bekommen, ohne dass es irgendjemanden interessiert, ob diese Kinder auf dem Müll landen. Wir sehen nur zerstörte Kindheiten. Wir sehen die Verbrechen gegen die indigene Bevölkerung – Benetton kommt und kauft ein Stück Land und lässt Hunderte Mapuche umbringen; Wichis werden vertrieben, weil neues Soja angebaut werden muss, die Menschen werden mit Glyphosat vergiftet. Die heterosexuelle Welt definiert sich also über das Scheitern und den Tod. Die Diktaturen in Lateinamerika, die 30 000 Verschwundenen in Argentinien, die weiteren in der heutigen Demokratie – all diese Toten! Die Frauenmorde in Mexiko, die Kinder in der Produktion, bei den Paramilitärs der Drogenkartelle…
Die Heterosexualität ordnet die Welt auf diese Art und Weise. Wir verstehen nicht, dass wir euch, die Heterosexualität, Patriarchat und Kapitalismus aufrechterhalten, immer noch erklären müssen, dass ihr versagt habt und sehenden Auges Tod produziert.

Was sind unsere Möglichkeiten, die kulturell besetzten Machtbeziehungen zwischen Mann und Frau und die damit verknüpften konstruierten Identitäten zu ändern?
Der Mann ist heute Herr des Hauses und ihm gehört die Hegemonie. Egal ob das daher kommt, weil er Kapitalist, Patriarch oder Imperialist ist. Und er sagt: ‚Du bist Frau, du bist Travesti, du bist eine Schwuchtel, du bist homosexuell, du bist indigen, du bist, du bist, du bist.’ Und er definiert uns. Er definiert sich nicht selbst. Wir, der Rest der entwerteten Subjekte, definieren diesen Mann. Die überwältigende Mehrheit akzeptiert ihre sekundäre Rolle. Wenn wir Travestis davon sprechen, trans zu sein, geht es um eine politische Position, da wir dieses systemische Paar verlassen.
Auch heterosexuelle Männer und Frauen, schwule Männer und lesbische Frauen können trans sein, hinsichtlich einer neuen Kondition, die eindeutig politisch ist. Das bedeutet, sich nicht in diesem Binom und nicht in diesen alleinigen Kategorien von Mann und Frau zu denken – die außerdem von jeglicher Seite völlig widerlegt sind, auch von der Natur. Weil wir alle aus der Natur kommen, wir sind Intersexuelle, wir sind Lesben, Schwule, Heterosexuelle oder was auch immer. Außerdem handelt es sich um Konstrukte, in denen wir sehr viel mehr aufgrund der Unterdrückung, als aufgrund der Natur festgefahren sind. Der Gebrauch des Wortes Natur wird für Unruhe sorgen, da die Rechte es benutzt, um zu definieren, was natürlich ist. Oder es wird gesagt, dass Gott befiehlt, Mann oder Frau zu sein. Das ist eine völlige Lüge. Der natürliche Charakter des Menschen ist es, sich selbst und die Welt um ihn herum zu verändern, zu transformieren. Wir sind natürlicherweise kulturelle Wesen.

Was ist der politische Ansatz des Travestismo?
Unser Travestismo ist ein politischer Diskurs, wir berufen uns ganz klar auf die Menschenrechte. Wir sind Subjekte ohne jegliche Verhandlungsmacht. Aus dieser ,Unmacht‘ heraus verhandeln wir. Warum müssen wir immer noch fordern, das wir nicht gesteinigt, nicht umgebracht, nicht verhaftet, nicht verfolgt werden? Wenn das doch etwas Wesentliches des Menschlichen ist? Warum müssen wir darüber diskutieren, dass ich aufgrund meiner Geschlechter-identität nicht diskriminiert werden darf, dass mir keine Rechte verwehrt werden dürfen?
Aufgrund dieser schlimmen Erfahrungen tut es uns weh, dass der Feminismus so lange braucht, um klarzukriegen, ob Travestis nun Feministinnen sein können oder nicht, ob sie bei den Frauentreffen dabei sein können oder nicht. Es tut uns weh, dass viele emanzipatorische Bewegungen nicht den Anstand haben, die Türen nicht vor uns zu verschließen. Die Travesti-Bewegung in Argentinien bringt das Konzept ,Trans’ als politische Möglichkeit vor, wo alle hineinpassen, die aus dem obligatorischen Heterosexismus entflohen sind. Für mich ist ,Trans‘ ganz klar die Möglichkeit einer politischen Identität. Wie andere sagen würden rechts, links, demokratisch, republikanisch oder wie auch immer. All diese Politik ist alt und abgelaufen und hat ihr Scheitern in der Realität gezeigt.

Ihr sucht nach einer „anderen Art Weiblichkeit“. Wie soll die aussehen?
Wir gehen in einem radikalen Sinn in Richtung Weiblichkeit. Aber eine Weiblichkeit, die sich mächtig anfühlt und die sich nicht gemäß dem vorherrschenden Paradigma konstruieren muss. Nicht diese frauliche Weiblichkeit, hübsch sein zu müssen. Oder hässlich, dick, tätowiert zu sein, um intelligent sein zu können. Wir sind, wie wir sind. Jede will sein, wie sie sein will und in diesem Sein-Wollen, gebe ich dem Männlichen keinen Deut Macht. Ich bin mit Penis geboren und mit dem Bewusstsein erzogen worden, dass mein Phallus meine Macht bedeutet. Die Situation der Unmacht entsteht nicht dadurch, mich der Identifikation mit dem Maskulinen verweigert zu haben. Ich streite nicht ab, dass es Gewalt gibt, aber ich akzeptiere es nicht, abgewertet zu werden. Es gibt immer noch Frauen, die das zulassen.
Wir ertragen die Gewalt, aber trotzdem sind wir uns unseres Wertes absolut bewusst. Deswegen werden wir nicht unsere Träume und unsere Wünsche zurückstellen. Wir verhandeln nichts. Wir sind in der Welt und wir gehen nach vorne. Die männliche und weibliche Welt will uns auf die Straße setzen, uns umbringen, uns angreifen, uns Entwicklungsmöglichkeiten nehmen – ok. Das ist euer Ding. Ich bin das, was ich in dieser völlig gescheiterten und gewalttätigen Welt sein kann, die von Männern und Frauen in ihrem dichotomen heterosexistischen Paradigma geschaffen wurde. Diese Welt hat nichts mit Menschlichkeit im tieferen Sinne zu tun.
Diese andere Weiblichkeit, die wir suchen, wäre eine wirklich starke Weiblichkeit. Mit der Kraft des absoluten Wissens, das sein zu können, was wir sein wollen, ohne das Männliche zu imitieren. Das wäre, eine menschliche Margaret Thatcher zu sein, eine menschliche Condoleeza Rice, Merkel und CFK (Cristina Fernández de Kirchner) – welche politische Person auch immer. Und dabei absolut kohärent mit dem, was wir sind.

Was ist euer Gegenentwurf für hegemoniale Identitäten und Beziehungen?
So etwas wie das Märchen „Des Kaisers neue Kleider“. Erst als die Kinder in ihrer Unbedarftheit sagen, dass der Kaiser nichts anhat, merken plötzlich alle, dass sie von den Schneidern belogen worden sind. Sehr intelligent übrigens. Unser Gegenentwurf will die Gewalt sichtbar machen, die in dieser Welt Schritt für Schritt produziert wird.
Es wird überall gemordet, aktiv, indem mit Kriegsmaschinerie losgezogen wird, oder passiv, indem in Rindfleisch für wenige investiert wird, statt in Nahrungsmittel für alle. Wir erlauben, dass Kinder verhungern, dass es Sextourismus gibt und Vertreter der UNO und Militärs verschiedener Länder unsere Kinder prostituieren, wir erlauben Gewalt in Häusern, Schulen, Medien. Wir erlauben, dass die Gewalt sich in jedem Augenblick produziert und reproduziert. Wir ignorieren, dass es unser Ziel in der Welt ist, uns, Subjekte und Gesellschaften mit Vertrauen zu reproduzieren. Diese sollten frei von Gewalt, Armut und Demütigung sein. Das ist das, was das heterosexuelle, kapitalistische und patriarchale System produziert, mit dem wir alle so beschäftigt sind.

Was sind deine Vorstellungen von einer utopischen Gesellschaft?
Ich würde mir so wünschen, dass die Kinder, die in diese Welt kommen, in eine Welt kommen, in der alle Unterschiede in einer Umarmung aufgenommen werden können. Die Differenz zu radikalisieren und in dieser Differenz zu verstehen, dass die juristische, soziale, politische und wirtschaftliche Gleichheit radikal und intrinsisch notwendig ist. Da können wir eine Utopie erschaffen, in der wir eine Politik der Menschlichkeit im tieferen Sinne schaffen. Wo niemand seinen Körper, seine sexuellen Praktiken oder seine Formen, Beziehungen zu führen, ins Spiel bringen muss. In der wir uns einfach auf wirklich demokratische Weise neu erfinden.

Marlene Wayar ist Autorin, seit jungen Jahren politische Aktivistin und heute eine der wichtigsten Figuren der argentinischen Travesti-Bewegung. 2013 rief sie das Projekt El Teje ins Leben, die erste lateinamerikanischen Travesti-Zeitschrift, die außerdem die journalistische Ausbildung von Trans*Personen fördert. Sie ist Mitgründerin und Koordinatorin mehrerer Organisationen und Plattformen für Rechte von Travestis in Argentinien.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren