Argentinien | Nummer 391 - Januar 2007

Aufschrei wegen Altbekanntem

Internationale Haftbefehle wegen Attentat auf jüdisches Gemeindezentrum

Bei einem Attentat auf das jüdische Gemeindezentrum AMIA (Asociación Mutual Israelita Argentina) in Buenos Aires wurden vor zwölf Jahren 85 Menschen getötet und mehr als 300 verletzt. Nun führte ein Gutachten zweier von Präsident Néstor Kirchner eingesetzter Sonderermittler zu internationalen Haftbefehlen gegen den iranischen Ex-Präsidenten Ali Akbar Haschemi Rafsandschani und sieben weitere Ex-Funktionäre. Doch wirklich neu sind die präsentierten Erkenntnisse nicht.

Sylvia Degen

Zwölf Jahre dauern die Ermittlungen nun schon an. Während dieser Zeit wurde das Wort AMIA in Argentinien zum Synonym für Vertuschung. Am 18. Juli 1994 war vor dem jüdischen Gemeindezentrum AMIA eine Autobombe explodiert und hatte 85 Menschen getötet. Mehr als 300 Personen wurden verletzt. Bis heu­te wurden die Drahtzieher des Anschlags nicht gefasst. Jetzt kommt ein neues, am 25. Oktober diesen Jahres veröffentlichtes Gutachten der argentinischen Staats­anwaltschaft zu dem Schluss, dass die damalige iranische Regierung für das Attentat verantwortlich sei.
Doch was wie eine sensationelle Neuigkeit klingen mag, ist in Wirklichkeit ein alter Hut. Die zwei von Präsident Néstor Kirchner eingesetzten Sonderermittler Alberto Nisman und Marcelo Martínez Burgos bestätigen lediglich, was für die israelischen Behörden bereits seit Jahren Gewissheit war: Die Entscheidung für das Attentat sei 1993 an höchster Stelle der damaligen Regierung im Iran gefallen, bekräftigte nun auch Nisman auf einer Pressekonferenz am 25. Oktober in Buenos Aires. Die Durchführung sei der im Libanon ansässigen Terrororganisation Hisbollah anvertraut worden. In dem 800 Seiten umfassenden Bericht heißt es, der Anschlag sei ein Racheakt gegen Argentinien gewesen, weil der damalige Präsident Carlos Menem zwei Jahre zuvor auf Druck der USA einen Vertrag über 30 Millionen US-Dollar über die Lieferung argentinischer Atomtechnologie an den Iran hatte platzen lassen.

Geplatzter Atom-Deal

Nach Prüfung des Berichts gab der argentinische Bundesrichter Rodol­fo Canicoba Corral am 9. November der Forderung der Sonderermittler nach und stellte inter­­na­tionale Haftbefehle gegen den damaligen Präsidenten Ali Akbar Haschemi Rafsandschani sowie zwei seiner damaligen Minister, zwei Diploma­ten und drei füh­rende Milizionäre aus. Der Vor­wurf: Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Der israelische Botschafter in Argentinien, Rafael Eldad, der 1992 ein Attentat auf die israelische Botschaft in Buenos Aires nur durch Zufall überlebte, da er sich gerade auf einer Konferenz im AMIA befand, begrüßte die Entscheidung. Dieser Schritt zeige, „dass es hier keine Straflosigkeit gibt.“
Obwohl auch die israelische Regierung, die verschiedenen jüdischen Verbände Argentiniens, Menschenrechtsorganisationen und Opfervertretungen sowie die Gruppe Memoria Activa (Lebendige Erinnerung) das Ergebnis des Berichts und die daraus resultierenden Haftbefehle begrüßen, fällt die Reaktion nicht überall so euphorisch aus. So schreibt die jüdische Tageszeitung Itón Gadol zum Thema: „Die Nennung Irans und der Hisbollah als Verantwortliche für den terroristischen Anschlag ist eine alte Forderung, die die örtliche jüdische Gemeinde und die Angehörigen der Opfer des Anschlags schon seit Jahren unterstützen.“
VertreterInnen des AMIA haben die Regierung bereits am 18. Juli – dem Jahrestag des Attentats – dazu aufgefordert, die diplo­ma­tischen Beziehungen zum Iran abzubrechen. Jorge Kirszen­baum vom Dach­verband der israelischen Organisationen in Argentinien (DAIA) erklärte, der Bericht sei ein schlagender Beweis für die Verantwortung Irans und der Hisbollah. Doch er fügte hinzu: „Das sagen wir schon seit fast zwölf Jahren.“ Auch Israel hatte schon jahrelang auf die Verantwortung der Hisbollah und des Iran für zwei Attentate in Buenos Aires hingewiesen: Neben dem Attentat auf das AMIA handelt es sich um den Angriff auf die israelische Botschaft in Buenos Aires am 17. März 1992, bei dem 29 Per­sonen ermordet und 242 verletzt wurden.
An Indizien hat es nie gemangelt. Beispielhaft für eine der vielen Spuren, denen nicht nachgegangen wurde, steht Moshe Rabanni. Der damalige iranische Kulturattaché in Buenos Aires, gegen den jetzt nach zwölf Jahren ein Haftbefehl vorliegt, war wenige Wochen vor dem Anschlag in einem Autohaus bei Kaufverhandlungen gefilmt worden. Gegenstand war ein Automobil genau des Typs, in dem später die Bombe explodierte. Auch gilt es schon lange als sicher, dass der Sprengstoff über die Stadt Ciudad del Este in Paraguay nach Argentinien gelangte. Verschiedene Geheimdienste halten die Stadt für ein Zentrum des internationalen Terrorismus. Doch auch diese Spur ist nicht weiter verfolgt worden – bis jetzt.

Heftige Reaktionen

Obwohl die „neuen“ Erkenntnisse also doch nicht ganz so überraschend sind, sorgt das Thema in der argentinischen Presse seit Wochen für Schlagzeilen. In der Auflagen stärksten Tageszeitung Clarín wurde es noch am 19. November zum „Sonntagsthema“, dem immer mehrere Seiten gewidmet sind. Gegenstand war jedoch kaum der Inhalt des Gutachtens als Grundlage für die erlassenen internationalen Haftbefehle, sondern vielmehr die Reaktionen darauf.
In Argentinien rechnet niemand ernsthaft damit, dass die iranische Regierung zur Zusammenarbeit mit der argentinischen Justiz zu bewegen ist. Das hat sie bisher nie getan und wird es unter Präsident Ahmadinedschad, bekennender Shoa-Leugner und Israel-Hasser, erst recht nicht tun. So bestand die Reaktion der iranischen Regierung darin, mit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu drohen. Der iranische Wirtschafts- und Han­delsattaché in Buenos Aires, Moshen Baharvand, spricht gar von „Iranophobie“, deren Urheber in den USA und in Israel zu finden seien: „Die Erklärung ist, dass sie sich (die USA, Anm. d. Autorin) weiterhin im Kalten Krieg befinden. Sie haben die Sowjetunion durch den Iran ersetzt.“ Auch die islamische Gemeinde in Argentinien reagierte empört auf die Entscheidung des Bundesrichters und erwägt im Gegenzug eine Anzeige wegen Diskriminierung gegen den Sonderermittler Nisman.
Nachdem Luis D’Elía in diesem Zusammenhang der iranischen Botschaft einen Solidaritäts-Besuch abstattete, musste der Unterstaatssekretär für sozialen Woh­nungsbau und Regierungsvertreter der Piquetero-Organisation Federación de Tierra y Vivienda (Verband Land und Wohn­raum, FTV) Mitte November zurücktreten. Auf einem Treffen mit Baharvand und zwei Mitgliedern des Casa para la Difusión del Islám (Haus zur Verbreitung des Islam) hatte D’Elía ein Papier verlesen, in dem er seine Solidarität mit dem iranischen Volk angesichts des Drucks durch die „kriegerische Politik von Bush und der israelischen Regierung“ bekundete: Der Fall AMIA sei ein Mittel zur Isolierung des Iran, die zum Ziel habe, eine „nordamerikanisch-israelische Militäraktion gegen die islamische Republik“ zu ermöglichen. Sowohl Vertreter der islamischen Gemeinde als auch der Casa para la Difusión del Islám sehen die Ursache für den Rücktritt D’Elías im „starken Druck durch die zionistische Lobby“, unter dem die Regierung Kirch­ner stehe.
Eine Einschätzung, die von einem Teil der argentinischen Bevölkerung geteilt wird. Denn nach wie vor gibt es viele Ungereimtheiten im Fall AMIA. So wird die Frage laut, warum die Ergebnisse gerade jetzt – direkt nach dem fatalen Wahlergebnis des US-Präsidenten Bush – auf den Tisch kommen oder warum die zweifelhafte Rolle argentinischer Behörden im Zusammenhang mit dem Attentat nicht thematisiert wird.
Diese Skepsis gegenüber Untersuchungsergebnissen von Regierungsstellen ist vor dem Hintergrund der argentinischen Ge­schichte nur zu verständlich. Statt einer adäquaten Antwort auf die offenen Fragen finden sich häufig verschwörungsideologische Erklärungsmuster. Auch in den großen Zeitungen ist immer wieder von „Druck und Beeinflussung der argentinischen Regierung durch die jüdische Führung in New York“ zu lesen.
Praxisorientiertere Gruppen und Verbände, die sich der argentinischen Linken zuordnen, gehen währenddessen auf die Straße. So organisierten Polo Obrero, Movimiento Socialista de Trabajadores (Sozialistische Arbeiterbewegung, MST), Quebracho – Movimiento Patriótico Revolucionario (Patriotische Revolutionäre Bewegung) und weitere Gruppen am 15. November eine Demonstration vor der israelischen Botschaft, um ihre Solidarität mit dem „iranischen und palästinensischen Volk“ zu zeigen. Mitglieder der linksradikalen Gruppe Quebracho hatten bereits wenige Wochen zuvor im Kontext des Libanon-Konflikts jüdische Israel-solidarische Jugendliche vor der iranischen Botschaft angegriffen, da diese „nicht-argentinische Leute“ seien und „die Regierung und ein befreundetes Volk wie das der Islamischen Republik Iran“ provoziert hätten.

Angriff auf die ganze Gesellschaft

Diese Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden als „nicht-ArgentinierInnen“ ist auch in Argentinien nichts Neues. Der Anschlag selbst ist in weiten Teilen der Gesellschaft als „Angriff gegen die Juden“ interpretiert worden. Dagegen versuchen VertreterInnen der jüdischen Verbände immer wieder auf eine Universalität hinzuweisen. Darauf, dass der Anschlag „alle etwas angeht“. In diesem Kontext muss auch der Hinweis aus der Pressemitteilung der Gruppe Angehörige und FreundInnen der Opfer des Attentats auf das AMIA vom 25. Oktober gelesen werden, die das Attentat „nicht ausschließlich als antisemitische Aggression gegen die jüdische Ge­mein­de in Argentinien“ verstanden wissen wollen, sondern auch „als Aggression eines Staates gegen einen anderen Staat“. Die argentinische Gesellschaft wird dazu aufgefordert, sich bewusst zu machen, dass dies „nicht nur ein Anschlag auf das neuralgische Zentrum der jüdischen Gemeinde unseres Landes war, sondern dass das Ziel ausgewählt wurde, um ein freies und demokratisches Land wie das unsere anzugreifen“. Auch Luis Grynwald, Vorsitzender des AMIA, betont: „Wenn die Mütter und Großmütter der Plaza de Mayo nach 30 Jahren weiterkämpfen und immer noch Enkel finden, dann kämpfen auch wir, die wir seit zwölf Jahren Gerechtigkeit fordern, weiter, um dieses Verbrechen aufzuklären, das sich sowohl gegen die Gemeinde wie auch gegen die Gesellschaft insgesamt richtet.“
Um zu erkennen, dass an diese vermeintliche Beliebigkeit bei der Auswahl des Ziels so recht niemand glauben will, genügt ein Blick auf den wiederaufgebauten Sitz des AMIA. Wer heute in das Gebäude möchte, muss zuerst aufwendige Sicherheitsvorkehrungen durchlaufen. In der Umgebung ist Fotografieren verboten, das Gebäude selbst ist von einer hohen Mauer umgeben und steht unter Polizeischutz. Neben den Regierungsgebäuden sind die jüdischen Einrichtungen wohl die am stärksten bewachten Gebäude der Stadt. Vor allen jüdischen Einrichtungen in Buenos Aires wurden Zementblöcke aufgestellt, um neue Attentate zu vermeiden. Die Bomben von 1992 und 1994 haben Angst und Unsicherheit hinterlassen.

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