Chile | Nummer 391 - Januar 2007

Abgang am Tag der Menschenrechte

Ein Rückblick auf den Putsch und die Diktatur Pinochets

Während der knapp drei Jahrzehnte dauernden Militärdiktatur unter Augusto Pinochet wurden tausende Menschen ermordet und über 30.000 gefoltert. Der Putsch von 1973 gegen den sozialistischen Präsidenten Allende bedeutete das Ende eines linken Traums. Am 10. Dezember, dem Internationalen Tag der Menschenrechte, starb der 91-jährige ehemalige Diktator, von der Justiz noch immer unbehelligt, im Krankenhausbett.
Urs Müller-Plantenberg, der Autor dieses Beitrags, ist Mitbegründer der Lateinamerika Nachrichten.

Urs Müller-Plantenberg

Sein starres, maskenhaftes Antlitz mit der schwarzen Sonnenbrille wurde zu dem Symbol für Diktatur und Menschen­rechtsverletzungen überhaupt: General Augusto Pinochet, der ab 1973 Oberbefehlshaber des chilenischen Heeres war, verübte am 11. September desselben Jahres als Vorsitzender einer Militärjunta einen blutigen Putsch gegen die Regierung des sozialistischen Präsidenten Salvador Allende. Und der Chef der „Mörderbande“ hat sich bis zu seinem Lebensende damit gerühmt, ein reines Gewissen zu haben. Der aus einer Familie des gehobenen Mittelstands stammende Berufssoldat Pinochet hatte während seiner militärischen Karriere dreimal an US-amerikanischen Militärkursen teilgenommen. Und sein Buch über „Geopolitik“, das er 1968 als Professor an der Kriegsakademie veröffentlicht hatte, war mit seiner Betonung der organischen Harmonie von „Blut und Boden“ dem Denken der deutschen Nazis so stark verpflichtet, dass Pinochet selbst erstaunt war, dass ihn die linke Regierung von Salvador Allende bei ihrem Amtsantritt nicht sofort entlassen hatte.
Doch als der demokratisch gesinnte Oberbefehlshaber des Heeres, General Carlos Prats, unter dem Druck der Oberklasse von Santiago entnervt das Feld räumte, glaubte Allende, dass am ehesten Pinochet ihn vor einem drohenden Putsch schützen könnte. Und ernannte ihn zu Prats Nachfolger. Der Militärputsch von 1973 wurde möglich, weil die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen seit Mitte der sechziger Jahre eine vorher nicht gekannte Qualität gewonnen hatten. Demokratische Rechte für immer größere Teile der Bevölkerung hatten das Kräfteverhältnis stark zu Ungunsten der Oligarchie verschoben. Diese war jedoch nicht gewillt, auf ihre Privilegien zu verzichten.
Die damalige Verfassung Chiles machte es möglich, dass ein Präsident mit nur relativer Mehrheit gewählt werden konnte und dennoch weit reichende Vollmachten erhielt. So konnte bei den Wahlen von 1970 die Unidad Popular (UP), eine von Arbeiterparteien beherrschte Minderheitenkoalition, einen wichtigen Teil des Staatsapparates übernehmen. Mit den bestehenden Gesetzen konnte die UP die wirtschaftlichen Machtpositionen der herrschenden Schichten teils erobern, teils ernsthaft bedrohen. Damit war das Szenario für ein Laboratorium des Klassenkampfes eröffnet, wie man es sonst in einer solchen Vielfalt der Kampfformen und Schauplätze selten hat finden können.

Putsch auf Druck der USA

Zunächst ließ sich die Sache noch relativ friedlich an. Die Regierung Allende konnte im ersten Jahr die Einkommensstruktur zugunsten der sozial schwächeren Schichten – besonders aber der ArbeiterInnenklasse – verändern. Auf diese Weise wurde kurzfristig ein wirtschaftlicher Boom ausgelöst, der aber im Wesentlichen auf die bessere Ausnutzung bestehender Kapazitäten bei steigender Nachfrage zurückging. Diese anfänglichen Erfolge der UP erweiterten ihre politische Basis, besonders in den städtischen Armenvierteln und auf dem Land. Der scheinbar in die Defensive gedrängte (US-)Imperialismus antwortete von Anfang an mit dem, was man die „unsichtbare Blockade“ nannte: Die Sperrung von Krediten oder Ersatzteillieferungen. Zusätzlich weigerten sich die besser gestellten Schichten in die Wirtschaft zu investieren und steigerten stattdessen ihren Konsum, was angesichts eingeschränkter Importmöglichkeiten schnell zu Versorgungsproblemen und einer immer stärkeren Inflation führte. Teile des Kleinbürgertums, kehrten daraufhin der Unidad Popular den Rücken. Gleichzeitig rückten die reformistische Christdemokratie und die traditionelle Rechte in der Opposition näher zusammen, mit voller Unterstützung der US-Regierung unter Präsident Nixon. Inzwischen veröffentlichte Protokolle des US-Geheimdienstes CIA zeigen, mit welcher Energie und materiellen Mitteln von Seiten der USA auf einen Putsch hingewirkt wurde. Der damalige US-Außenminister Kissinger hatte klar ausgedrückt, es sei nicht hinzunehmen, dass ein Land demokratische Wahlen dazu benutze, den Kommunismus zu errichten.
Um das Bündnis mit dem Kleinbürgertum zu erneuern, wechselte die Regierung Allende Mitte 1972 zu einer Politik, die im Kern auf eine Rückkehr zur kapitalistischen Wirtschaftslogik hinauslief. Die Gespräche mit der Christdemokratie blieben jedoch ergebnislos. Die Inflation beschleunigte sich weiter, gleichzeitig breitete sich der Schwarzmarkt aus. Das Parlament, der Rechnungshof und der Justizapparat verweigerten der Regierung immer konsequenter die legalen Mittel, um der Lage durch drastische Maßnahmen beikommen zu können. Die zunehmende Politisierung der Unternehmens- und Berufsverbände führte schließlich im Oktober 1972 zu einem Streik von Transportunternehmen und Einzelhandelsgeschäften, der eine erste Großoffensive der neu vereinigten Opposition war. Die ArbeiterInnen waren ohne Vorbereitung gezwungen, die Produktion selber Aufrecht zu halten, die Betriebe zu bewachen und die wichtigsten Konsumgüter zu verteilen.
Schließlich glaubte die Regierung, mit der Aufnahme von führenden Vertretern des Militärs in das Kabinett eine Lösung für die Krise gefunden zu haben. Die Militärs galten als Garant für ein neutrales Verhalten des Staates. Die Opposition akzeptierte sie als Garantie für die Einhaltung bestimmter Zusagen an die Streikenden. Außerdem sollten sie die bevorstehende Parlamentswahl im März 1973 kontrollieren. Doch die Parlamentswahl, von der sich die Opposition die zur Absetzung des Präsidenten erforderliche Zweidrittelmehrheit erhofft hatte, endete mit einem Erfolg der Unidad Popular und besonders der marxistischen Parteien. Die Enttäuschung über den Wahlausgang führte darauf zu einer neuen Großoffensive der Rechten. Ein Teil der Beschäftigten im Kupferbergbau, der sich mit den Unternehmern verbündet hatte, streikte im April und Mai 1973. Es kam zu einem ersten Putschversuch am 29. Juni und zu einem neuen Streik des Transportsektors im August.
General Pinochet sagte später, dass sein Entschluss zum Putsch eine Folge des für ihn enttäuschenden Ergebnisses der Parlamentswahlen gewesen sei. Nach seiner Ernennung zum Oberkommandierenden des Heeres begann er mit seinen Komplizen sofort mit der Planung des Putsches. Er entfaltete eine Machtgier, wie man sie diesem eher unauffälligen Karrieresoldaten zunächst kaum zugetraut hatte. Alle ranghohen Offiziere der Polizei wurden so lange abgesetzt, bis mit General César Mendoza ein treuer Komplize gefunden war. So war es Pinochet dann ein Leichtes, sich zuerst zum Juntachef und Ende 1974 zum Staatspräsidenten ernennen zu las­sen.

Machthunger

Hatte die christdemokratische Opposition noch gehofft, dass ihnen der Putsch die Macht in die Hände spülen würde, so wurden sie von Pinochet bald eines anderen belehrt. Die linken Parteien wurden verboten, die des Zentrums und der Rechten zunächst suspendiert, später ebenfalls verboten. Vor allem aber machten die Menschenrechtsverletzungen des Geheimdienstes DINA jede Zusammenarbeit demokratischer Kräfte mit der Militärjunta unmöglich. Das gesellschaftliche Leitbild der Putschisten schien zunächst ein autoritärer Staat nach dem Muster Spaniens unter Franco zu sein, in dem klerikale, konservativ-autoritäre, aber auch wirtschaftsliberale Spielarten des Anti-Sozialismus ihren Platz finden sollten. Später setzte sich eine Gruppe von Ökonomen durch, deren gemeinsamer Nenner war, dass sie durch die Schule der neoliberalen Professoren Milton Friedman und Arnold Harberger an der Universität von Chicago gegangen waren.
Den so genannten Chicago Boys wurde es 1975 erlaubt, ein wirtschaftliches Schockprogramm umzusetzen, wie es die Welt noch nicht kannte. Ihr Programm beinhaltete die vollständige Liberalisierung aller Preise für Waren, die Öffnung des inneren Marktes für die Konkurrenz des Weltmarktes und eine drastische Reduzierung der Rolle des Staates. Das Ergebnis war zunächst die Zerstörung großer Teile der heimischen Industrie und eine Wirtschaftskrise größten Ausmaßes mit bis über 30 Prozent Arbeitslosigkeit.
Es handelte sich um eine Krise, die eine demokratische Regierung nie überstanden hätte. Doch die unbeschränkte Diktatur eines Man­nes, der auf niemanden Rücksicht nahm, bot die Möglichkeit, dass die Chicago Boys frei handeln konnten. In den folgenden fünfzehn Jahren konnte so nicht nur die Wirtschaft, sondern auch alle wichtigen Bereiche der Gesellschaft, wie Bildung, Gesundheitswesen, Rentensystem und Arbeitsrecht, mit so genannten „Modernisierungsprogrammen“ dem freien Spiel des Marktes ausgesetzt werden.
Eine zeitweilige Erholung der Wirtschaft nutzte Pinochet 1980 um sich in einer Volksabstimmung eine Verfassung genehmigen zu lassen, die den Übergang zu einer durch autoritäre Versatzstücke eingeschränkten Demokratie um weitere acht Jahre verschob, und ihm selbst für noch längere Zeit das Amt des Oberbefehlshabers des Heeres sichern sollte. Auch die zweite schwere Wirtschaftskrise von 1982 und die danach aufflammenden Proteste von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen konnten Pinochet nicht dazu bewegen, den Chicago Boys seine Schirmherrschaft zu entziehen oder gar die Diktatur aufzugeben. Einen Attentatsversuch im September 1986 überstand er ohne Schaden. Der in dieser Zeit einsetzende Aufschwung der chilenischen Wirtschaft reichte jedoch nicht aus, um ihm bei der Volksabstimmung über eine weitere Verlängerung seiner Präsidentschaft im Oktober 1988 eine Mehrheit zu sichern. Am 11. März 1990 musste Pinochet dann gemäß seinen eigenen Regeln das Präsidentenamt an den gewählten Christdemokraten Patricio Aylwin abtreten. Doch Pinochet blieb Oberbefehlshaber des Heeres und als solcher Mitglied des einflussreichen Rats der Nationalen Sicherheit. Von ihm bestimmte Senatoren und ein ausgeklügeltes Wahlrecht verschoben die Mehrheitsverhältnisse im Parlament zu seinen Gunsten. Eine gerichtliche Verfolgung der Verbrechen der Diktatur war schon deshalb unmöglich, weil an die Aufhebung eines 1978 erlassenen Amnestiegesetzes nicht zu denken war.

Reines Gewissen

Noch mehr auftrumpfen konnte Pinochet, weil dieselben Parteien, die in den 80er Jahren die neoliberalen Umwälzungen heftig kritisiert hatten, nun die Kontinuität der Wirtschaftspolitik um fast jeden Preis propagierten. Das gewonnene Wachstum sollte trotz seiner hohen sozialen und ökologischen Kosten nicht gefährdet werden. Chile wurde plötzlich zum „Modell“ für Lateinamerika und Pinochet betrachtete sich als derjenige, der den Grundstein dafür gelegt hatte.
Nur der Unermüdlichkeit des spanischen Untersuchungsrichters Baltasar Garzón ist es zu verdanken, dass Pinochet Ende der neunziger Jahre während eines Besuchs in London verhaftet und für fast 500 Tage unter Hausarrest gestellt wurde. Seither hatte er sich nur durch immer neue Vortäuschungen von Krankheiten vor einem Prozess retten können. Von sich selbst hatte er immer behauptet, ein reines Gewissen zu haben. Noch an seinem 91. Geburtstag Ende November bedankte er sich ausdrücklich bei allen Beteiligten am Putsch.
Die Ahndung der Menschenrechtsverletzungen unter Pinochet, wie auch jede ernsthafte demokratische Reform der autoritär geprägten Verfassung, ließen lange auf sich warten. Der seit 1989 regierenden Parteienkoalition aus Mitte-Links-Parteien, Concertación, erschien es als der sicherste Weg, für Ausgleich und Versöhnung einzutreten. Immerhin ist es in den letzten Jahren zu einer Reihe von Prozessen wegen Menschenrechtsverletzungen gekommen.
Als sich herausstellte, dass Pinochet und seine Familie Unterschlagungen im großen Stil begangen hatten, wandten sich schließlich auch große Teile der politischen Rechten von Pinochet ab. Dass er Chef einer Mörderbande war, hatte sie lange Jahre nicht gestört, aber mit einem gewöhnlichen Kriminellen wollten sie nichts zu tun haben.

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