Chile | Nummer 569/570 - November/Dezember 2021

HÜRDEN FÜR DEN UMBRUCH

Die Präsidentschaftswahlen sind richtungsweisend für die Arbeit des Verfassungskonvents

Die rechtsgerichtete Regierung von Sebastián Piñera steckt in der Krise. Obwohl in nur vier Monaten der Mandatswechsel stattfinden soll, wird in den Parlamentskammern eine Verfassungsklage vorbereitet, die ihn noch vor März seines Amtes entheben könnte. LN sprachen mit dem Mapuche und Kandidaten für den Regionalrat der Region Araucanía, Vicente Painel, über den Verfassungsprozess, die Ende November anstehenden Präsidentschaftswahlen und die Rolle der extremen Rechten für die Arbeit des Verfassungskonvents.

Interview & Übersetzung von: Malte Seiwerth

VICENTE PAINEL

ist Historiker und Philosoph. Er ist Mitbegründer einer genossenschaftlichen Gemeinschaftsbank der Mapuche zur Förderung einer endogenen Wirtschaft, basierend auf der genossenschaftlichen Organisation der Unternehmen. Im Mai 2021 war er Regionalgouverneurskandidat für die Araucanía, diese Region war jedoch die einzige, in der ein rechter Kandidat gewann. Für die Wahl am 21. November kandidiert Painel für den Regionalrat der Araucanía.
(Foto: privat)


 

Wie bewerten Sie die Situation, in der sich die chilenische Regierung aktuell befindet?
Wir befinden uns in einer Situation der politischen Unregierbarkeit. Das beunruhigt nicht nur die Menschen, die auf die Straße gehen und mehr soziale Sicherheit, Demokratie und die Achtung der Menschenrechte fordern, sondern auch die Wirtschaft. Eigentlich befinden sich die Unternehmen in einer sehr vorteilhaften Situation. Der Anstieg des Dollarpreises, der im Mai bei 700 Pesos lag und jetzt bei 800 Pesos, und die Erwartungen für den Export von Rohstoffen verlaufen zu ihren Gunsten, die Preise steigen. Wäre da nicht die politisch instabile Lage, für die auch die Geschäftswelt Piñera verantwortlich macht.
Der Präsident befindet sich in einer sehr schwachen und isolierten Position, er ist praktisch allein, da er dem Land keine Stabilität bringt und innerhalb der Bevölkerung sehr diskreditiert ist. Zudem könnte er wegen der Menschenrechtsverletzungen und Korruptionsfälle, in die er verwickelt ist, im Gefängnis landen. Dies ist in Peru der Fall, wo fast alle ehemaligen Präsidenten im Gefängnis sitzen, oder in Argentinien, wo gegen Mauricio Macri wegen ähnlicher Vorfälle ermittelt wird. Damit könnte ein Kreislauf der Straflosigkeit beendet werden, der in Chile seit mehreren Jahrzehnten besteht. Außerdem hat er praktisch keine Chance, politische Reformen anzustoßen, um aus der Situation heraus zu kommen.

Wie ist die Regierung in diese Situation geraten?
Es ist ein Teufelskreis: Jede Maßnahme, die Piñera ergreift, stößt auf Proteste, und das einzige, was die Regierung tut, ist zu unterdrücken und die Menschenrechte zu verletzen, was wiederum noch mehr Feindseligkeit erzeugt. Das grundlegende Problem ist aber die drohende soziale Krise der privaten Haushaltsschulden. Im Zuge der Rückkehr zur Demokratie versuchte die Concertación por la Democracia, die Koalition der demokratischen Parteien mit Ausnahme der Kommunistischen Partei, die Unzufriedenheit und Armut zu bekämpfen, indem sie die Konsumfähigkeit der Bevölkerung durch deren Verschuldung erhöhte. Dieser Mechanismus schuf ein Gefühl des wirtschaftlichen Wohlstands, das sich seit 2010 in einer ständigen Krise befindet. Diese kann auf herkömmliche Weise bekämpft werden, indem die Einkommen etwas besser verteilt werden, etwa durch eine höhere Steuer auf den Bergbau und mehr Sozialhilfe, oder indem das Wirtschaftsmodell durch eine vierte industrielle Revolution geändert wird, also durch den Übergang zu einer auf künstlicher Intelligenz basierenden Produktionsweise. Das würde aber bedeuten, dass wir in Innovation investieren müssten.

Zu Beginn des Jahres hat die Regierung mehrere Sozialleistungen eingeführt, wie das Familiennotstandsgeld (IFE), das eine Art universelles Grundeinkommen auf sehr niedrigem Niveau ist, oder auch Lohnsubventionen. Warum funktioniert das nicht?
Der IFE wurde gemeinsam mit den Parteien der Ex-Concertación konzipiert und ist eine Antwort auf die Art und Weise, wie die Regierung von Michelle Bachelet die soziale Krise lösen oder abfedern wollte. Etwa durch Boni, die das Wirtschaftsmodell nicht berühren, sondern nur den Rückgang des Konsums ersetzen. Der IFE ist jedoch ein schwaches Instrument, und seine Wirkung nimmt aufgrund der steigenden Inflation ab. Heute ist ein starker Anstieg der Ölpreise zu verzeichnen, der sich mittelfristig auf alle Bereiche der Wirtschaft auswirken wird.

Anstatt sich auf diese Krise zu konzentrieren, hat die Regierung kürzlich den Ausnahmezustand in der Araucanía ausgerufen und das Militär in das Mapuche-Gebiet geschickt, um Brandanschläge auf Forstunternehmen zu bekämpfen. Dabei wurden unlängst Zivilist*innen durch Schüsse des Militärs umgebracht.
Der Ausnahmezustand und die Entsendung des Militärs dienen einerseits der Einschüchterung der Mapuche-Bevölkerung der Region. Andererseits kam es seit der Entsendung des Militärs zu weiteren Anschlägen auf Forstmaschinen und sogar auf einen Zug, der Zellulose transportierte. Er hat also nicht zu mehr Kontrolle über das Gebiet geführt, und die Regierung weiß das. In ihren Erklärungen spricht sie deshalb von einem „erhöhten Sicherheitsgefühl“, das die militärische Präsenz vermitteln soll. Gleichzeitig sind die chilenischen Offiziere in einigen Fällen erfahrener als die Regierung selbst. Aus ihrer Zeit als Blauhelme in Haiti sind sie mit dem Völkerrecht vertraut und wissen, dass Menschenrechtsverletzungen auf internationaler Ebene verfolgt werden können. Daher sind ihre Aktivitäten in der Region recht gering. Mit Ausnahme der Marine, die bislang nicht an Auslandseinsätzen teilgenommen hat. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass die Schüsse auf zivile Personen an einem Kontrollposten von Marinesoldaten kamen.
Seit dem Mord an Camilo Catrillanca im Jahr 2018 behauptet die Regierung, dass der einzige Grund für die Gewalt die ausländische Intervention, der sogenannte „Drogenterrorismus“ und „überideologisierte Mapuche“ seien. Damit verschleiert sie die wahren Probleme: Solange es Armut gibt, wird es Rebellion geben. Das ist für mich eine historische Tatsache. Immer, wenn es große Armut und Ungleichheit gibt, gibt es auch kriminelle Aktivitäten und politische Gewalt gegen diese Situation. Die Araucanía ist die ärmste Region in Chile: Es fand eine militärische Besetzung statt, den Mapuche wurden ihre Ländereien mit Gewalt genommen. Zusätzlich scheiterten bislang alle Wirtschaftsprojekte für die Siedler. Seit der Militärdiktatur herrscht eine Politik, die die Araucanía unterentwickelt, Unternehmen der lokalen Entwicklung schliesst und sie zu einem Lieferanten von Zellulose herabsetzt.

Zurzeit tagt der Verfassungskonvent, der eine neue Verfassung ausarbeiten soll, um die aus der Militärdiktatur abzulösen. Wie kommt er seiner Aufgabe bislang nach?
Der Konvent hat keinen staatsgründenden Charakter und wird durch geltende Gesetze und internationale Verträge eingeengt. Dennoch macht er Fortschritte. Allein die Tatsache, dass eine Mapuche-Frau Präsidentin ist, bedeutet etwas. Nun hängt es davon ab, ob die Delegierten in der Lage sind, zumindest einige der Erwartungen zu erfüllen, die in den Konvent gesteckt wurden. Ein Problem ist jedoch, dass seine Mitglieder ohne klare politische Strategie gewählt wurden und viele von ihnen politisch wenig erfahren sind. Sie bedienen vielmehr eine emotionale Unzufriedenheit.

Der Konvent wird derzeit von einer neofaschistischen Rechten angegriffen, die offen eine diktatoriale Politik vorschlägt. Ihr Präsidentschaftskandidat, José Antonio Kast will die Möglichkeit eines Ausnahmezustands einführen, bei dem es klandestine Gefängnissen geben soll, und fordert den Austritt aus der UNO, um nicht mehr für Menschenrechtsverletzungen belangt zu werden. Wie schätzen Sie diesen rechten Flügel ein?
Der rechte Flügel ist isoliert und spielt seine letzten Karten aus, um die eigenen Privilegien zu erhalten. Er hat nicht nur keine mehrheitsfähige Unterstützung, sondern ist auch in mehreren Wahllisten gespalten, was nach dem derzeitigen Wahlsystem dazu führen wird, dass sie noch mehr Sitze verlieren werden. Das wird eine Katastrophe für die Rechte sein. Der Kandidat der weniger extremen Rechten, Sebastián Sichel, der die meisten Spenden aus der Wirtschaft erhalten hat, aber kaum in der Lage ist, die Wahlen zu gewinnen, überließ es den Abgeordneten seiner Koalition, für andere Kandidaten zu stimmen und Werbung zu machen. Für die Wirtschaft bedeutet dies, dass die christdemokratische Kandidatin Yasna Provoste dem Land offenbar mehr Stabilität und Regierbarkeit verheißt als der rechte Flügel. Dieser Ausschluss könnte die Rechte jedoch in eine terroristische Rechte verwandeln. Mit direkten Angriffen auf die Bevölkerung wird sie versuchen, Veränderungen zu verhindern. Dies wird eine echte Gefahr für die künftige Regierung darstellen.

Es besteht eine gute Chance, dass der Kandidat Ihres Parteienbündnisses, Apruebo Dignidad, diese Wahlen gewinnt. Sie vertreten jedoch einen Sektor, der den Kandidaten der Kommunistischen Partei, Daniel Jadue, bevorzugt hätte, weil er die Programmvorschläge des aktuellen Kandidaten Gabriel Boric zu moderat findet.
Es ist gut möglich, dass Boric die Wahlen im November gewinnt. Er gehört zu einem Sektor, der sich immer dafür eingesetzt hat, dass die ehemalige Concertación ihr eigenes Demokratisierungsprogramm erfüllt, das sie am Ende der Diktatur vorgeschlagen hatte. In diesem Sinne steht er für eine erneuerte Concertación und wird wahrscheinlich mit dem von ihm vorgeschlagenen Programm konsequent sein. Auf jeden Fall ist es wichtig, dass Boric oder die Christdemokratin Provoste an die Macht kommen, denn mit ihnen haben wir die Gewissheit, dass der Konvent seine Arbeit friedlich beenden kann. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die nächste Regierung nur zwei Jahre Bestand haben wird, denn mit Annahme der neuen Verfassung, mitsamt einer neuen Regierungsform, weniger präsidial, weniger zentralistisch, werden vermutlich Neuwahlen angesetzt.

Wenn Sie sagen, dass der Konvent nur mit zwei der Präsidentschaftskandidat*innen in der Lage sein wird, seine Arbeit reibungslos zu erledigen, bedeutet dies, dass der rechte Flügel den Prozess boykottieren wird.
Der rechte Flügel hat sich derzeit mit 20 bis 30 Prozent der Wählerstimmen etabliert. Die faschistische Rechte wurde in der chilenischen Geschichte nur einmal gestoppt, und zwar in den Dreißigerjahren von der traditionellen Rechten, die damals von Präsident Arturo Alessandri vertreten wurde. Darüber hinaus, sei es während der Regierung der Unidad Popular von Allende oder während der Militärdiktatur, war der Staat nicht in der Lage, ihr entgegenzutreten. Während der Diktatur agierte sie sogar im Sinne des Staates. Ich denke, die radikale Rechte muss zurückgedrängt werden, um die Rechtsstaatlichkeit durchsetzen zu können. Aber die Carabineros sind genauso unfähig, sich mit diesem Thema zu befassen, wie die Kriminalpolizei PDI. Auch die Streitkräfte werden die extreme Rechte nicht unterdrücken. Um diese Aufgabe zu bewältigen, wäre eine Strukturreform notwendig. Deshalb gibt es keinen anderen Ausweg, als auf die Selbstverteidigung zu setzen.

Sie selbst treten bei der Wahl im November als Kandidat für den Regionalrat der Araucanía an. Der Regionalrat ist ein eher unbedeutendes Gremium, das vor allem über die Verteilung bestimmter Gelder entscheidet. Warum diese Position?
Der Regionalrat ist, anders als viele glauben, einer der wichtigsten Erfolge der Dezentralisierungspolitik der letzten zehn Jahre. In den kommenden Jahren wird eine Reihe von Zuständigkeiten an die neuen Regionalgouverneure übertragen, die im Mai 2021 zum ersten Mal gewählt wurden. Hier wird der Regionalrat eine große Bedeutung für die Stärkung der Regionen gegenüber der Zentralmacht haben. Es gibt eine Vielzahl von Herausforderungen, vor allem auf regionaler Ebene, wie etwa die Förderung einer endogenen Entwicklung, die nicht vom Zentralstaat oder der Ausbeutung natürlicher Ressourcen abhängt. Von der Region aus können wir am besten die Umgestaltung vorantreiben und neue Institutionen schaffen, zum Beispiel eine Föderation der Regionalgouverneure, die die Dezentralisierung weiter vorantreiben würde. Ich glaube, dass von diesem Ort aus ein noch radikalerer Wandel möglich ist, als vom verfassungsgebenden Prozess aus.

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