Das Schweigen brechen
Keine neuen Perspektiven für die Mapuche trotz Einlenken der Regierung
„Mapuche-Territorium“ steht in weißen Lettern auf dem Metalltor des Studentenwohnheims „Hogar“ in der Provinzhauptstadt Temuco im Süden Chiles. Jugendliche Mapuche aus den umliegenden Gemeinden hatten das Gebäude aus Protest gegen den Mangel an Schlafplätzen bereits vor Jahren besetzt. Gleich nebenan in einem Lagerraum waren nun auch drei hungerstreikende Mapuche untergebracht, die auf Kaution aus der Haft entlassen worden waren – aus Mangel an Beweisen. „Trotzdem laufen das Verfahren und die Beweisaufnahme gegen uns weiter“, sagt einer von ihnen, der ungenannt bleiben möchte.
In den letzten Wochen wurde das Wohnheim zu einem emsigen Treffpunkt, wo Transparente gemalt wurden und Angehörige oder UnterstützerInnen der Hungerstreikenden übernachteten. So auch Jorge Charlet Huaiquinao, der sich während der letzten beiden Wochen solidarisch dem Hungerstreik angeschlossen hatte.
Auf einer Wäscheleine im Hof hängt noch ein Plakat mit der Aufschrift „Wir wollen und brauchen kein Anti-Terror-Gesetz“. Mit dieser Forderung hatte auch der Hungerstreik der 34 Gefangenen begonnen (siehe LN 435/436). Sie sehen in der Abschaffung des zur Zeit der Militärdiktatur erlassenen Anti-Terror-Gesetzes eine Grundvoraussetzung für einen fairen Prozess. Denn wer in Chile während der polizeilichen Ermittlungen anhand schwammiger Kriterien als TerroristIn bezeichnet wird, kann bis zu zwei Jahre in Untersuchungshaft festgehalten werden. AnwältInnen haben im ersten halben Jahr nach der Verhaftung keine Akteneinsicht und als Indizien sind auch Aussagen anonymer ZeugInnen zugelassen, deren kaum überprüfbare Anschuldigungen im Extremfall zu Haftstrafen von über hundert Jahren führen können. An einem Runden Tisch sollten staatliche VertreterInnen sich deshalb dafür verbürgen, diese legalen Richtlinien abzuschaffen. Und tatsächlich erzielten SprecherInnen der Hungerstreikenden und Regierungsvertreter unter Vermittlung des Erzbischofs von Concepción, Ricardo Ezzati, am 1. Oktober eine Übereinkunft, welche die Terroranklagen gegen die Mapuche aufhebt.
Doch ist damit auch das Anti-Terror-Gesetz vom Tisch? Keineswegs, denn diskutiert und beschlossen wurden Ende September im Parlament lediglich einige Modifikationen des umstrittenen Gesetzes mit der Nummer 18.314. „Das Gesetz besteht also trotz der heutigen Änderungen weiter und wird weiterhin Prozesse und Verteidigungen von Angeklagten beeinflussen“, resümiert der Abgeordnete Manuel Monsalve von der Sozialistischen Partei (PS). Der Vorschlag seiner Partei, im Parlament einen Übergangsartikel zu beschließen, an dessen Ende die Abschaffung des Gesetzes gestanden hätte, fand keine Mehrheit. Hugo Gutiérrez von der Kommunistischen Partei (PC) kritisiert außerdem, dass die Regierung die Gesetzesänderung formulierte, ohne den Dialog mit der parlamentarischen Opposition und den RepräsentantInnen der Mapuche zu suchen. Justizminister Felipe Bulnes hingegen sprach von einem „Fortschritt“, ohne weiter kommentieren zu wollen.
Hernán Montealegre, Anwalt und Menschenrechtsaktivist bestreitet, dass ein Fortschritt erzielt wurde. Er resümiert, dass „Modifikationen verabschiedet wurden, ohne die Typifizierung von Terrorismus als Straftat als solche zu verändern.“ Dabei kritisiert er besonders, dass Brandstiftung weiterhin als Terrorakt ausgelegt werden kann und der chilenische Staat damit klar dem Rechtsverständnis der Diktatur verbunden bleibe. Dieser Aspekt ist deshalb so bedeutsam, da viele der inhaftierten Mapuche von anonymen ZeugInnen beschuldigt werden, bei Protestaktionen Verwaltungsgebäude von Latifundien und der Forstwirtschaft in Araukanien angezündet zu haben. „Auch wenn die Gefangenen nun nicht davon betroffen sind, gibt es keine Garantie dafür, dass künftige soziale Proteste nicht erneut als Terrorismus kriminalisiert werden“, meint Jorge Charlet Huaiquinao. „Auch das Strafmaß wird nicht wesentlich verändert. Es kann nicht sein, dass die wenigen verurteilten Folterer und Mörder der Militärdiktatur Haftstrafen von durchschnittlich 15 Jahren erhalten haben und jemand, der eine Scheune anzündet, dafür doppelt so lange ins Gefängnis soll.“
Subsistenzwirtschaft auf ein bis zwei Hektar Land, Aushilfsjobs in Temuco oder eine Abwanderung nach Santiago: Zwischen diesen Optionen liegen die präkeren Zukunftsaussichten vieler Mapuche in der Region. Der Hungerstreik hat die meisten Angehörigen auch in finanzieller Hinsicht hart getroffen und daran wird sich so schnell nichts ändern, erzählt Zoila Blanco, Mutter von Claudio Sánchez Blanco, der seit fast zwei Jahren in Untersuchungshaft sitzt. „Mein Sohn hat seinen Job verloren, als er ins Gefängnis musste, und unsere Familie damit ein wichtiges Einkommen. Fast wäre er von der Universität geflogen. Nur mit viel Mühe haben wir durchsetzen können, dass er in der Haftanstalt seinen Abschluss machen konnte.“ Der Sohn von Lonko Juana Calfunao (siehe Interview ab Seite 15), der im dritten Jahr Jura studierte, hatte weniger Glück. Er wurde von seiner Universität für das weitere Studium gesperrt.
„Gerechtigkeit, nicht mehr und nicht weniger erwarten wir als Grundlage aller folgenden Verhandlungen“ sagt Monica Quesada, die sich inzwischen mit zu Jorge an den Tisch gesetzt hat. Monica kam vor zwei Jahren nach der Ermordung ihres Sohnes Matias Catrileo nach Temuco. Er wurde während einer Mapuche-Demonstration von einem Polizisten in den Rücken geschossen. Der Polizist verbüßt heute eine Bewährungsstrafe. Doch schon lange ist es Monica müde, immer wieder dieses Urteil zu kommentieren. „Heute geht es darum, das Schweigen in der chilenischen Gesellschaft zu brechen. Viele Chilenen setzen sich nicht wirklich mit den Argumenten der Mapuche auseinander“, sagt sie. „Auch wenn auf den letzten Demonstrationen in Santiago Tausende Menschen waren, wird dieser Erfolg schnell verpuffen, wenn wir nicht weiter Druck auf die Regierung ausüben. Und das fängt bei fortwährenden Protesten gegen das Anti-Terrorgestz an.“
Der Anwalt der Familien Quesada und Catrileo, Jaime Madariaga, wies bereits vor der Abstimmung darauf hin, dass der einzig wesentliche Unterschied der gesetzlichen Neufassung in einem „Ausschluss Minderjähriger vom Anti-Terrorgesetz“ bestehe. Dass künftig auch anonyme ZeugInnen ins Kreuzverhör genommen werden dürfen, hält er dagegen für einen schlechten Witz. „Das ändert fast nichts, denn die Fragen dürfen niemals darauf abzielen, den Zeugen identifizieren zu können.“
Damit bleibt das grundsätzliche Problem bestehen, dass die Glaubwürdigkeit dieser ZeugInnen kaum überprüft werden kann. Juana Calfunao und ihre Familie kritisieren seit Jahren die Praktiken des chilenischen Staates, mit denen belastende Aussagen „produziert werden.“ Neben den bekannten Aussagen Minderjähriger, die von ZivilpolizistInnen geschlagen und bedroht wurden, damit sie gegen Angeklagte als anonyme ZeugInnen aussagen, hat Juana auch Geständnisse von Mapuche gefilmt, die mit Geld angeworben wurden, um für längere Zeit nach Bedarf Aussagen zu liefern. Der chilenische Innenminister Rodrigo Hinzpeter gibt sich da optimistischer. Er spricht bezüglich des Verhältnisses zwischen Mapuche und Regierung von einer „neuen Etappe des Vertrauens.“ Dass er es noch bis vor Tagen ablehnte, sich mit den Mapuche an einen Tisch zu setzten, ihren Protest als Gewaltakt bezeichnete und ihnen dann ein Ultimatum stellte, endlich das Angebot der Regierung anzunehmen – all das war gestern. Heute gilt die Devise „Vorwärtsschauen“ auf dem Weg zu einer „multikulturellen Inklusion“, wie Präsident Sebastián Piñera das im September so blumig bei der UNO formulierte. Doch wenn Piñera seinen Appell sich „endlich wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren“ ernst meinte, dann müsste der chilenische Rechtsstaat künftig auch juristisch ausschließen, dass Indigene oder an sozialen Protesten beteiligte Menschen als TerroristInnen angeklagt werden können. Genau das empfehlen neben zahlreichen Menschenrechtsorganisationen auch die Vereinten Nationen bereits seit Jahren. Doch dazu müsste die chilenische Verfassung, noch bevor Fragen wie ein Autonomiestatus oder Selbstbestimmung diskutiert werden, zunächst einmal die Mapuche und weitere indigene Gruppen als Ethnien anerkennen.
Eine viel verbindlichere Grundlage hat der Hungerstreik bereits jetzt geschaffen. Die 34 Mapuche-Indigenas haben erreicht, was das Mitte-Links-Bündnis der Concertación während seiner 20-jährigen Regierungszeit (1990-2010) in Chile nie zu fordern wagte: eine Reform des Militärgesetzes. Denn neben der Abschaffung des Anti-Terror-Gesetzes forderten die Hungerstreikenden auch, dass ZivilistInnen künftig nicht mehr für den gleichen Strafbestand zusätzlich von Militärrichtern belangt werden können. Abgeordnetenhaus und Senat sprachen sich ohne Gegenstimme für diese Reform des Gesetzes aus. Damit werden neben den angeklagten Mapuche 4.500 offene Fälle angeklagter ZivilistInnen der Militärgerichtsbarkeit entzogen. Die Angeklagten können so – zumindest was den Punkt der doppelten Gerichtsbarkeit angeht – einen fairen Prozess bekommen. Die chilenische Internetzeitung Citizen Almeida kommentiert bereits vor der Abstimmung im Senat treffend: „Paradoxerweise sind es die Mapuche, die so oft von der Republik missbraucht wurden, die in diesen Tagen, ihr Leben aufs Spiel setzend, die Prinzipien des Rechtsstaats verteidigen.“