Chile | Nummer 429 - März 2010

History is a battlefield

In Chiles Hauptstadt wurde am 11. Januar 2010 das Museum der Erinnerung und Menschenrechte eröffnet und sorgt für Diskussionsstoff

Santiago: Sechs Tage vor der Stichwahl des zukünftigen Präsidenten lud die im März aus dem Amt scheidende Michelle Bachelet zur Eröffnung des Museums. In dem großen lichtdurchfluteten Glasbau soll die Zeit der Diktatur 1973-1990 beleuchtet und den Opfern gedacht werden. Die Vorgeschichte des Putsches allerdings bleibt im Dunkeln …

Mareen Maaß

Ein riesiger Quader, in zahlreichen Facetten grünlich schimmernd, aufgebahrt auf zwei Betonfüßen und damit einen monumentalen Bogen bildend – so präsentiert sich das Museum der Erinnerung und Menschenrechte von Weitem. Auf einem ausgedehnten Platz erstreckt es sich mit 80 Metern Länge von Ost nach West. Die BesucherInnen müssen es zunächst unterlaufen, um den Eingang zu erreichen. Innen fällt das Tageslicht auf weiße Stahlträger, Trennwände und Holzfußböden und lässt die Räume hell erscheinen. Klarheit und Transparenz will diese Architektur in all ihren Teilen zeigen, ein Kontrast zu dem dunklen Kapitel chilenischer Geschichte, um das es in dem Bau geht.
Es war Bachelets persönliches Anliegen, dieses Museum, das sie erstmals im Mai 2007 als Projekt auf die Agenda rief. Ein Turbobau sollte es werden, um ihn noch in der Amtszeit Bachelets eröffnen zu können. Lediglich ein Jahr verstrich zwischen der Grundsteinlegung am 10. Dezember 2008 und der Einweihung des immensen Gebäudes im Januar.
Sichtlich bewegt zeigte sich die Präsidentin Michelle Bachelet in ihrer Eröffnungsrede, sie selbst war einige Monate zusammen mit ihrer Mutter im berüchtigten Foltergefängnis Villa Grimaldi inhaftiert gewesen, bevor sie 1975 unter anderem in die DDR ins Exil ging. „Die Einweihung dieses Museums ist ein mächtiges Zeichen der Stärke eines vereinten Landes,“ sagte die Präsidentin. Kritische Meinungen der Rechtskonservativen über die Ausblendung der Vorzeit des Putsches wehrte Bachelet mit den Worten ab, es könne für das, was damals passiert sei, viele Erklärungen, aber nicht eine einzige Rechtfertigung geben.
In ihrer Rede wurde Bachelet für einige Minuten unterbrochen, als zwei Mapuchefrauen die Präsidentin laut anklagten, die Menschenrechte gegenüber dem Volk der Mapuche zu verletzen. Eine der beiden Frauen war die Schwester von Matías Catrileo, der 2008 im Alter von 23 Jahren bei einer Landbesetzung von der Polizei erschossen wurde. Die Anwendung der Anti-Terror-Gesetze aus der Zeit der Diktatur gegen das Volk der Mapuche steht in der Tat in scharfem Kontrast zu dem Appell, welchen das Museum aussendet. Ein Makel auf der weißen Weste der Menschenrechtsrhetorik Bachelets.
Ein Museum der Erinnerung und der Menschenrechte soll es sein, schon in der Eingangshalle wird die Programmatik klar: Erinnern, um daraus zu lernen. Eine riesige Weltkarte ist da an einer Wand angebracht, ein Mosaik zusammengesetzt aus Fotos von Verbrechen und Unrecht überall auf der Welt. Darunter einzelne Schilder, welche Wahrheitskommissionen aus der ganzen Welt exemplarisch vorstellen. Gegenüber eine Vitrine, in der die Ergebnisse der chilenischen Wahrheitskommissionen ausgestellt liegen und darüber der Hinweis, dass die Ausstellung auf diesen Berichten fußt.
Die Wahrheit der Vergangenheit als Herausforderung für die Zukunft, so die Worte der Präsidentin, die zentral in dieser Halle prangen. Doch welche Vergangenheit wird in diesem Museum eigentlich erzählt?
Alles begann am 11. September 1973, diese Botschaft vermittelt die Ausstellung. In der ersten Etage setzt sie die Schau der der Diktaturzeit unmittelbar mit dem Putsch ein, das Davor wird nicht mit einem Wort erwähnt. Schon die Treppe in das Erinnerungsreich der Diktatur ist mit einer überdimensionalen Monumentalfotografie an der Wand gesäumt. Darauf Soldaten, welche die Moneda, den Regierungspalast stürmen.
Der Putsch als Zäsur, als negative Stunde Null. Der Tag, an dem die Demokratie verschwand. Minutiös im wahrsten Sinne des Wortes erzählt ein Zeitdiagramm den Verlauf des Tages nach, untermauert von einer Video-Audio-Installation, die Töne und Bilder dazu liefert. Zu sehen ist die Flotte vor Valparaíso, welche sich im Morgengrauen gegen die Regierung erhob. Helikopter über dem Regierungsviertel, Menschen, die in Panik flüchten. Soldaten mit Maschinengewehren. Die Worte Pinochets sind zu hören, der sich als Putschist zu erkennen gibt. Die letzte Radioansprache Allendes, in der er das chilenische Volk beschwört, nicht aufzugeben, er würde nicht weichen bis zum letzten Augenblick. Bilder des toten Allende in der Moneda. Auf anderen Bildschirmen sind die Meldungen der internationalen Tagespresse zu lesen.
Auf diese breite Darstellung des Putsches folgen Räume, welche die Konsequenzen des Putsches zeigen: Die Zeit der Dekrete, der vollkommenen Unterwanderung jeder demokratischen Institution wird in einem Bereich thematisiert. Von der Geschichte des Exils – für viele Chilenen der einzige Ausweg –erzählt ein weiterer Raum. Das düsterste Kapitel der chilenischen Diktatur wird im „Raum der Folter und des Todes“ aufgeschlagen, an einer Wand zeigen LED-Lampen auf einer Landkarte von Chile die zahlreichen Gefängnisse und Konzentrationslager, in den Vitrinen liegen die häufig letzten Zeugnisse der Gefangenen. Dem Schicksal der Kinder in der Diktatur ist ein spezieller Bereich gewidmet, in den Vitrinen liegen Zeichnungen mit Familien, in leuchtenden Farben, graue Schattenfiguren im Hintergrund.
Auf der nächsten Etage schließen sich weitere Stationen an: die Suche nach den Verschwundenen, die Gründung von Protest – und Hilfsorganisationen, die internationale Solidarität mit Chile und schließlich und endlich das Ende der Diktatur. Das letzte Kapitel endet mit der Kampagne des SÍ oder NO zum Verbleib Pinochets: 1988 plädierte das chilenische Volk mit fast 56% knapp für eine demokratische Nachfolge und gegen eine weitere Amtszeit Pinochets. Ein geteiltes Chile, bis auf den heutigen Tag. Eine letzte Videoinstallation führt das vor Augen: eine Landschaft, Felsen am Meer, geteilt in der Mitte und leicht verschoben ihre Teile in zwei verschiedenen Farbtönen. Weizenähren, die in der Mitte voneinander streben und nicht aufeinander passen wollen.
Geteilt waren auch die Meinungen zum Putsch als unmittelbarem Einstieg. Noch eine Woche vor der Eröffnung sorgte dies für Konfliktstoff innerhalb des Direktoriums im Museum selbst. Eine ausgebreitete Darstellung der Umstände vor 1973 sei nötig, wie der Direktor des chilenischen Instituts für Öffentlichkeitsstudien (CEP), Arturo Fontaine, durchsickern ließ. Eine Beschränkung auf die Terrorzeit der Diktatur forderten die anderen und pochten auf die Satzung des Museums, in welcher diese Zäsur festgehalten war.
Die Kritik kam nach der Eröffnung des Museums von vielen Seiten. Beispielsweise in dem offenen Brief des rechtskonservativen Abgeordneten Cristián Monckeberg, der darin die fehlende Kontextualisierung des Putsches bemängelte und stattdessen die Ursachen dargestellt wissen wollte, die zum politischen Chaos geführt hätten. Wer die Antworten auf diesen Leserbrief im Blog liest, dem stockt der Atem. Häufigster Vorwurf ist, das Museum erkläre nicht, wie und warum es zum Putsch 1973 kommen konnte, warum er gewissermaßen unvermeidbar war. Das Museum der Halbwahrheiten, kritisierte ein Blogger. Das Museum rufe nur Emotionen hervor, die den Hass nähren, die Vernunft und historische Wahrheit suche man vergeblich, schreibt ein anderer. Der Putsch wäre unvermeidbar gewesen. Bedrohungsszenarien von kommunistischer Unterwanderung werden heraufbeschworen, oder die Frage, was wäre gewesen, wenn das Militär nicht geputscht hätte. Bürgerkrieg? Kubanisches Modell?
Lieber habe man den Putsch und die Diktatur dafür in Kauf genommen. Von linker Seite wurde vorgebracht, dass es vor allem ein Museum der Opfer ist, die Geschichte des (organisierten) Widerstands würde darin kaum erwähnt, so Juana Aguilera Jaramilo, Gründungsmitglied und eine der Hauptfiguren der Ethischen Kommission gegen die Folter. Dies bleibe einem anderen Museum vorbehalten. Andere halten der Kritik des fehlenden Kontexts entgegen, das Museum wolle keine Interpretation der Ereignisse vornehmen, sondern sei in erster Linie dem Gedenken an die Opfer gewidmet. Nur geht das überhaupt – die Darstellung der Gewaltverbrechen, ohne eine Interpretation vorzunehmen? Es scheint so, als habe man dafür die konfliktreiche Betrachtung der Allendezeit umschiffen müssen.
Das zentrale Anliegen des Museums ist das Gedenken an die Opfer der Diktatur, dies spiegelt sich auch in seiner Architektur wider. Im Mittelpunkt des Gebäudes steht das Hauptschiff, ähnlich einer gotischen Kapelle. Darin erstreckt sich über alle drei Etagen eine riesige Wand des Gedenkens, an der 1600 Fotos von Verschwundenen hängen. Zwischen ihnen weiße und schwarze Rahmen, die sind leer. Sie verweisen auf das unbekannte Schicksal vieler Verschwundener. Gegenüber der Wand ein gläserner Raum, eine Gedenkkapelle, die am Boden ringsum mit flackernden Leuchtstäben versehen ist. In der Umgangssprache der Museumsmitarbeiter wird dieser Raum velatón genannt, in Analogie zu den in Chile praktizierten Kerzenmessen für die Verschwundenen.
Gedenken und Suche, das soll der Blick aus der Glaskapelle auf die Fotowand erreichen. Unterstützt wird die Suchbewegung durch den Computermonitor in der Mitte der Kapelle, in ihm sind die Namen von 3200 bekannten Verschwundenen gelistet. Angehörige und Bekannte können „ihren“ Verschwundenen ausfindig machen und ihn dann auf der Fotowand suchen.
„Manche Menschen kommen zu Besuch, sitzen dann hier auf dem Boden und tasten über Stunden die Fotowand mit den Augen ab“, so die Kuratorin der Ausstellung, Jimena Bravo. Das Ziel dieses Ensembles sei eine gemeinsame Konstruktion der Vergangenheit, die Suche nach dem Abwesenden. Denn wenn Angehörige den Namen eines Verschwundenen zwar im Computer finden, aber an der Wand sein Bild nicht entdecken, können sie ein Foto einreichen. Denkmal im Bau – das ist die Idee. In den ersten drei Wochen seit der Eröffnung sind bereits zehn Fotos eingegangen, um die Wand zu ergänzen. Jedes halbe Jahr sollen die eingereichten Fotos an der Wand installiert werden – Geschichte, die niemals enden wird. Vielleicht die passendste Symbolik im ganzen Museum, um die offene Wunde der Diktatur zu verdeutlichen.
Es stellt sich Frage, ob es einen Wandel im Museumskonzept geben wird, wenn Sebastián Piñera im März die Präsidentschaft antreten wird. In Piñeras Koalition mit ihren tendenziell pinochetnahen Parteien dürfte es viele Kritiker an der Darstellung der Diktaturzeit geben, soviel ist sicher. Und mit dem Regierungsantritt steht in Chile die Neubesetzung aller höheren Ämter zur Disposition. Davor ist das Museum insofern geschützt, als das es durch eine eigene Stiftung vertreten ist, die unabhängig von der Regierung Entscheidungen treffen kann. Niemand könne die Essenz der Ausstellung verändern, so Geschäftsführerin des Museums Maria Luisa Sepúlveda. Was zum Problem werden kann, ist die jährliche Neubestimmung des Etats in den staatlichen Ausschüssen.
Im Nachhinein wirkt die Eröffnung in Anwesenheit aller ehemaligen Präsidenten seit 1990 wie ein Schlussstein auf die zwanzigjährige Regierungsära der Concertación, insbesondere ihrer Vergangenheitsperspektive. Bleibt die Frage, ob die neue Regierungskoalition dieses Bollwerk concertacionistischer Geschichtsbetrachtung in den nächsten vier Jahren unbehelligt lassen wird. „Liebe Präsidentin“ – heißt es da im Besucherbuch – „hoffentlich müssen wir 2014 keinen weiteren Raum einweihen, einen der schlechten Erinnerungen an 2010.“

Kasten:

Die Erinnerungspolitik der Concertación
Unmittelbar nach dem Ende der Diktatur 1990 setzte der 1. demokratische Präsident Aylwin die Kommission für Wahrheit und Versöhnung (Rettig) ein, die in ihrem Bericht NUNCA MÁS! (Nie wieder!) 2296 Fälle von Verschwundenen auflistete. Der Bericht löste allerdings weder eine umfassende gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema aus, noch zog er juristische Konsequenzen nach sich. Mit dem 30. Jahrestag des Putsches 2003 fand erstmals eine breite öffentliche Debatte über den Putsch statt, in der vor allem die Vorzeit des Putsches und die Figur Allendes zu Streitthemen wurden. Im November 2004 brachte die zweite Wahrheitskommission gegen Haft und Folter (Valech) einen weiteren Bericht heraus, der 27.255 Fälle systematischer Folter feststellte. Mit dem Tod Pinochets flammte erneut die Debatte um den Putsch 1973 auf, den die Militärs und Konservativen als unvermeidbaren Ausweg aus der konfliktreichen Allendezeit sahen und die nachfolgende Diktatur als gesellschaftlich-wirtschaftliche Modernisierungsphase darstellten.


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